Da sitzen wir nun also, wie die Brüderschaft des
Lynkeus von heute, »zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt«, und
schauen. Aber nicht Lynkeus scheint unser Patron, nicht unser
Vorbild. Und nicht wie er schauen wir. Sondern, da wir unser Haus
nicht verlassen, da wir lauern, dass die Beute uns ins Netz falle,
wie die Spinne. Zur Falle ist unser Haus geworden. Nur was in ihr
sich verfängt, ist uns Welt. Außerhalb ist nichts.
Günther Anders, Die Antiquiertheit des
Menschen
Nun sollen wir also zum Aussterben verurteilt sein. Diesen Eindruck
erhielt man jedenfalls, wenn man in diesem Frühjahr die Zeitungen
zu dem Thema befragte. Fast schon logischerweise, möchte ich sagen,
wurden wir im erstbesten Artikel beschworen, etwas im Sinne der bei
uns ins Abseits geratenen, ausgedienten Vorstellungen von Ehe,
Familie und Gemeinwohl zu unternehmen: dass es endlich an der Zeit
sei, mehr Kinder zu zeugen. Die Idee konnte jedoch vor unseren
Augen sogleich wieder zunichte gemacht werden, wenn man zum
nächsten Artikel fort schritt, nur um in Erfahrung zu bringen, dass
»der Zug ohnehin schon abgefahren« sei, wir also in der Welt der
Zukunft nichts mehr
zu bestellen hätten, da ja bereits eine
Generation auf dem Gebiet des Kinderkriegens »nahezu nichts
geleistet« habe. Dieser Reflex genügte vielen wahrscheinlich schon,
um das Thema schein-resignierend vom Tisch zu wischen. Für einige
Wochen schien es die Nachrichtenwelt zu beherrschen – wenn man von
›beherrschen‹ überhaupt reden darf. Das Wort ist hier
übertrieben, denn man liest in kürzeren oder längeren Zeitabständen
immer wieder nur sogenannte
aufschreckende Artikel und
Autorität beanspruchende Statistiken dazu. Das ist alles, was man
tun zu können meint. Als Leser glaubt man bald, alles Wichtige in
sich hineingesogen zu haben, also im Stand eines adäquaten Wissens
über die eigene Situation zu sein, ohne dass dies in einem selbst
auch nur etwas bewirken würde. Das scheint mir der Kardinalfehler
in der Sache zu sein: Wir bekommen täglich schon unglaublich viel
mitgeteilt – das Faktum allein ist uns nicht unbekannt – und alle
›wissen‹ ungefähr dasselbe. Der ›Erlebnis‹- und Darstellungsstil
ist bereits weitgehend auf den universalen Verbraucher hin
konditioniert und im Grund immer derselbe. Man nimmt das, was man
in sich hineinliest oder -hört – ja was man selbst mittels
stereotypen, unreflektierten Vokabulars auch ›in sich
hineindiskutiert‹ – nicht mehr für etwas tatsächlich Neues, und
sehr wahrscheinlich nehmen viele, die darüber druckreif reden zu
können meinen, überhaupt nicht richtig wahr, was sie sagen. Zu
kompliziert sind die Strukturen der Gegenwart und zu einfach die
medienabhängige Präsentation der Menschenprobleme: Sie wird über
sie gezogen wie eine Art Abdeckhaube auf Zeit, die dem Ganzen
ein zur gefälligen Ansicht fähiges Gesicht geben soll, bis sie
wieder durch etwas anderes – nicht etwa Neues – ersetzt wird. An
eine logische Kontinuität der Problembehandlung kann dabei ohnehin
kaum zu denken sein, weder in der sich als wissenschaftlich
etikettierenden Beschreibungsliteratur selbst noch in der Frequenz
des öffentlichen Erinnerns des Problems. Es liegt in der Natur der
modernen Nachrichtenaufbereitung und –übermittlung, dass vieles zum
Vorschein gebracht wird, ja zur Kenntnis gebracht werden muss.
Jedoch hat man dabei eher den Eindruck, dass selbst harte Fakten
verschwinden, um gelegentlich wieder aufzutauchen. Das ermöglicht
zwar ein längerfristiges Überdenken – im Sinn eines ›Brachliegens‹
– dieser vermittelten Ideen, die man mit neuem Material stützen und
ausstatten kann, einfacher macht es die Sache jedoch nicht, sonst
wüssten alle nicht nur dem Anschein nach über das demographische
Problem Bescheid. Dies geht nicht etwa nur eine einzelne
Gesellschaftsklasse an, sondern betrifft sämtliche Schichten der
sogenannten angestammten Bevölkerung, die sich in vielen Punkten
hilflos zeigt, da sie das Problem in seiner Totalität – und eine
solche liegt zwingend vor – nicht hinreichend ›mitbekommen‹ hat,
mit anderen Worten: weil sie sich vielleicht auch unbewusst dagegen
sträubt, es ausreichend zu erfassen.
Das Problem wird ja nicht erst seit kurzem journalistisch
›durchgezogen‹. Man kann auf eine jahrelange Behandlung in Medien
verschiedenster Art hinweisen. Es sind auch nicht etwa nur
Unberufene, die auf die Gefahr aufmerksam machen, die hinter der
bereits beharrlichen Kinderlosigkeit lauert. Wissenschaftlich
ausgerichtete Arbeiten und problembezogene Essays sind unbedingt
vonnöten, schon allein deshalb, um eine theoretisch
nachvollziehbare Ansicht der möglichen Phänomene und einen
möglichst praktisch geführten Überblick über die Situation zu
bekommen. Allerdings waren diese Arbeiten bisher nicht in der Lage,
bei einem Großteil der vom Ausbleiben der Kinder betroffenen
Bevölkerung nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, geschweige denn
den notwendigen Konsens über Gestalt und Ausmaß der Bedrohung
herzustellen. Einen Konsens, der wirksamer als ein Befehl oder
Aufruf – etwa nach der Formel »Bringt mehr Kinder zur Welt!« – eine
Änderung des Verhaltens einzuleiten versucht und eine wichtige
Vorbedingung einer Verhaltensänderung anspricht, nämlich den
Kinderwunsch unter der jungen Bevölkerung (und vielleicht
nicht nur unter dieser) zu urgieren oder wieder zu wecken.
Ergründbar wird dieser Kinderwunsch trotz aller angewandten
Analysen schwer oder gar nicht sein. So etwas ist dem Menschen eher
›eingegeben‹ – um nicht zu sagen ›angeboren‹. Selbst wenn der
Wunsch nach Kindern, was ja durchaus sein könnte, aus vielen
Komponenten resultiert, so kennt unsere Erfahrung nur das
Resultathafte, eine gewordene Ganzheit, die wir zu sehen bekommen,
wenn wir zum Beispiel sagen, jemand sei
kinderliebend, sei
eine gute Mutter oder ein guter Vater. Äußert ein Mädchen, sie
wünsche sich ein Kind von einem Mann, den sie liebt, dann ist dies
Ausdruck eines
Wollens, das immer hoch angesehen war und bei
dem Mann eine besondere Achtung vor diesem Mädchen hervorrief, das
uns jedoch auf Grund trivialer Zivilisationszwänge oder
gesellschaftlich wirksamer Überrumpelung (durch Werbeunternehmungen
aller Art) allzuoft bereits abhanden gekommen ist.
Experten wirken im Grunde einschränkend auf das ›einfache Volk‹,
und nicht nur auf dieses. Es wehren sich zum Großteil die
sogenannten Studierten – schon aus dem einfachen Grund, weil sie
das Prestige des Fachs, das sie studiert haben, nicht ungenützt
›verwittern‹ lassen, sondern mit Hilfe ihrer Person zur Geltung
bringen wollen. Der zum Experten Ernannte (oft auch von sich
selbst) wirkt mit seinem Anspruch auf Definitionsmacht und
Unfehlbarkeit (beides fragwürdige Attribute und Funktionen mit
potentiell schweren Folgen für die Betroffenen) im Sinn der
partiellen Entmündigung all jener, die seinen engeren Erfahrungs-
und Wirkungskreis betreffen, und denen er in der Not des
Erklärungsbedarfs etwas vorzumachen hat – wie er glaubt. Der
Geltungsbereich der Experten wird heute allgemein zu hoch
veranschlagt. Auch das ist ein Resultat der versuchten Ubiquität
oder Medienpräsenz, hat aber selbstverständlich seinen Urgrund in
der menschlichen Arbeitsteilung. Nicht jeder Experte ist ein
Scharlatan und berät die Menschheit falsch. Allerdings ist es nicht
immer leicht für den Unbedarften, die Echtheit der Expertenaussagen
über sein Gebiet zu prüfen. Der Experte ist den ›einfachen
Menschen‹ suspekt und unangenehm, so dass sie ihm gern aus dem Weg
gehen.
Im Fall des Geburtendefizits sieht sich der ›einfache Mensch‹
genötigt, das Wissen der Experten auf dem Weg über die Medien
(Zeitung, Radio, Fernsehen; die Computernachrichten werden noch
vergleichsweise wenig genützt) zu akzeptieren, da er selbst zu
wenig Schlüssiges weiß. Er kann und wird sich aber auch von dieser
beunruhigenden Expertise abwenden und in seiner Lebenspraxis
fortfahren, als existiere das Problem nicht. Diesen Weg dürften
ziemlich viele einschlagen, weil sie die gemeinhin ›schnoddrige‹,
belehrende Art unserer gesellschaftlichen Vormünder zu ihnen
zu sprechen zutiefst verabscheuen.
Bei Jean Paul, der bekanntlich ein für seine Zeit unerhörtes Wissen
in sich vereinigte, finden wir noch in unaufdringlicher Weise, da
literarisch dargeboten, Erkenntnisse verarbeitet, die uns in ihrer
heute fast schon nicht mehr nachvollziehbaren Natürlichkeit
ansprechen, mit der sie stilistisch aufbereitet sind. Die
›kleinen Verhältnisse‹, die in vielen seiner Erzählungen im
Vordergrund stehen, werden aber nicht etwa nur als solche (und
nicht mehr als diese) verstanden, sondern geben vielmehr ein
scharfes Abbild, eine bündige Abstraktion jener Kraft des
Lebendigen, die es uns ermöglicht, in einer Umgebung mit
gesellschaftlich bedingten Widrigkeiten zu
überleben. Jene
anscheinend so beschränkten und ständig Suppliken schreibenden
Schul-, Kanzlei- und Kirchengemeindeexistenzen – oder
Rumpf-Familien, die in halben Gartenhäusern ihr Unterkommen
gefunden haben und deren Zukunft keine ›Sicherheit‹ in unserem
heutigen Sinn verheißt; Mütter die auf die Heimkunft ihrer Söhne
warten und deren Erwartung aus nichts mehr als der Gewissheit der
beginnenden Schulferien, einer überbrachten Nachricht und der
Hoffnung auf einen gelungenen Kuchen gespeist werden; man könnte
von halben Märchenexistenzen reden – entwickeln entschieden mehr an
Lebensgeist, als uns dies heute selbst unter weit
günstigeren Verhältnissen gegeben zu sein scheint. Da diese
versunkene kleine Welt durch das ›Quarzglas des Humors‹gezeigt
wird, haben ihr Inhalt und seine Darstellung die Chance einer
weiten Verbreitung dank interessierter Leserschaft und
entsprechender Bildung nützen können – im Unterschied zu heutigen
geisteswissenschaftlichen Arbeiten, die ihre Adressaten nicht oder
nur schwer erreichen. Der literarische Humor, den der romantische
Schriftsteller pflegte, ist das Abbild einer besonderen, damals
weit verbreiteten Lebensauffassung, die aus den Zwängen und
Unstimmigkeiten der menschlichen Existenz aufstieg –
offensichtlich, um ihr eine neue und angenehme Dimension im Sinne
der Lebensrettung zu verleihen. Heute, selbstverständlich als das
Resultat einer Entwicklung in der Zeit zu sehen, in der sich die
Wissenschaft zu stark von der gängigen Lebenspraxis wegbewegt hat,
hält sich diese Art des kreativen Humors in Deutschland nicht mehr,
und auch der ledige Sinn und das bloß äußerliche Verständnis für
ihn (also eine ohnehin eher passive Art, die nur die Engegennahme
von Früchten eines besseren Vorfahren bedeuten kann) sind den
Menschen mehr und mehr abhanden gekommen. Der Humor als mögliche
Erkenntnisquelle wird disqualifiziert und allenfalls lässt man eine
matte, herbe, degenerierte Spielart desselben noch gelten, die in
ephemeren Witzblättern und gesonderten Kolumnen der Tageszeitungen
ihre Existenz behaupten darf; wahrscheinlich, weil es doch nicht
ganz ohne Humor gehen kann.
Es sei hier angemerkt, wie nicht nur mir auffiel, dass besonders
unter Geisteswissenschaftlern aber auch unter Schriftstellern
–Leuten also, die ständig in engster Weise mit der Sprache und
ihrem professionell betriebenen Fallenstellen und all der
subversiven Art, die Wörter zu gebrauchen, zu tun haben müssten
– seit Jahrzehnten in der Überzahl eigentlich nur mehr Raum
und Veranlassung zum Witzeln und zum Zweck einer momentanen
originellen Erscheinung, jedoch nicht mehr zu einem vollkörnigen
Witz oder wenigstens Grund zu einem schallenden Gelächter vorhanden
ist. Zu abgegriffen und in Stereotypie verhaftet ist das vorhandene
Material zur Hand, zu geschäftig und offensichtlich zu lebensfern
die Verwaltung der erlaubten Ausdrucksmöglichkeiten, die bereits
eine Satire unmöglich machen.
Sprachschatz nannte man das
früher, heute klingt das Wort wie ein Anachronismus, weil seine
allgemeine Verwendung primitiv geworden ist und bei jedem
Hinblicken – ich übertreibe damit absolut nicht – den Eindruck
einer intellektuellen Verwüstung hinterlässt. In dieser Sprache
allerdings sollte sich unsere
Phantasie gegenüber unserer
Lebenswelt spiegeln und gar zu einer gemeinsamen Aktion formieren –
wenn uns noch an derartigem gelegen ist. So wie wir die
Kinderlosigkeit in unserer Sprache abbilden, so werden wir auch im
einzelnen, jeder für sich, an das Problem herangehen, sie in
Zukunft einzudämmen und hoffentlich zu verhindern. Die Entfremdung
der Menschen ihrer Sprache gegenüber ist nicht nur ein Schlagwort;
sie zeigt sich an der Behandlung von Kardinalproblemen wie diesem
nur allzudeutlich.
Schon die Verdrängung der Regionalismen, von bestimmten Verlagen in
der Bundesrepublik praktiziert, kommt einem Anschlag auf die
Freiheit des sprachlichen Ausdrucks gleich und entspringt
bestenfalls einer akademischen Gedankenlosigkeit, müsste man doch
wissen, dass solche herbeigeführten ›Regelungen‹ oder
Unterlassungen sich langzeitlich negativ auf die Betroffenen
auswirken. Diese versuchte sprachthematische Verhinderung – sich
auszudrücken, wie man sich ›zu Hause‹ ausdrückt (also ein
sprachliches ›Gewohnheitsrecht‹ verletzend) – ist nur eine der
vielen Verhinderungen und Unmöglichmachungen, die uns die Gegenwart
ins Haus setzt. Von solchen werden seit Jahren immer wieder die
einen oder die anderen als Verursacher der steigenden
Kinderlosigkeit der Deutschen und deren Zeugungsmüdigkeit von
Experten aller Art im Detail untersucht und öffentlich genannt,
ohne dass man aber daraus schlüssig würde, was es nun eigentlich
wirklich ist, das uns ›verhindert‹.
Ein Schlagwort ist die
Kinderfeindlichkeit, leicht auf alles
anzuwenden, allerdings schwieriger zu beweisen, was man als eine
solche in einer großen Gemeinschaft von Fall zu Fall ansehen soll.
Da es an finanzieller Zuwendung und Ausstattung nicht so sehr
fehlen kann, muss es sich um etwas anderes handeln.
Sind es die ruhebedürftigen, in Senioren umbenannten Alten, die
sich täglich in ihrem Nickerchen nach Tisch belästigt fühlen, wenn
Kinder nebenan Lebensäußerungen von sich geben, wie sie es möchten?
Tatsache ist, dass Kinder - besonders in Neubauten - den darunter
Wohnenden den Eindruck von ›tanzenden Derwischen‹ vermitteln
können. Das lässt allerdings den Gedanken aufkommen, dass unsere
Empfindungen stark konditioniert sind durch eine industriell und
kaufmännisch geförderte Billigbauweise, die uns zwingen will, uns
vorsichtig und ruhig wie durch Leiden geschwächte Gäste in
Kurhäusern zu bewegen. Für jeden, der in Wien Schuberts Geburtshaus
besichtigt, stellt sich fast wie von selbst die Frage, wie eine
Familie mit fünfzehn Kindern in solch einer Wohnung existieren
konnte. Dort herrschte ganz bestimmt keine gedrückte,
depressive Stimmung, wie sie uns in modernen
Kasernierungsbauten mit hohen Einrichtungs-Standards
entgegenschlägt und die man heute nicht selten ins Feld führt, wenn
es darum geht, Gründe für die anhaltende Geburtenschwäche zu
suchen. Zu nennen wären die Auswüchse der
68-er Generation,
die nicht nur eine Art hedonistischer, autistischer Selbstfixierung
pflegte, sondern es noch dazu verabsäumt hat, ihrer
Kindergeneration grundsätzliches kulturelles (Bildungs-)Wissen – im
Sinne von Tradition – zu vermitteln, wodurch diese früher als
selbstverständlich geltender Wertekanons weitgehend verlustig
gegangen und daher in diesem Sinn orientierungslos geworden sind.
Man bedauert ferner die
fehlenden Strukturen für eine effiziente
Kinderbetreuung, da auch die Entfremdung unter
Familienmitgliedern sowie gegenüber den nächsten Nachbarn stark um
sich gegriffen hat. Während noch bis in die siebziger Jahre
regelmäßig Filme und Fernsehserien zu sehen waren, in denen die
Familie entweder eine dominierende Rolle spielte oder wenigstens
noch als starker Hintergrund diente, so ist diese Erscheinung
seither anderen Formen der Vergesellschaftung gewichen, in der sich
die fortschreitende Individualisierung und folgerichtig die
Isolierung des Menschen in größeren Massen deutlicher zeigt. Man
verdächtigt die Deutschen ferner eines
latent antiquierten
Frauenbildes, das möglicherweise noch vom Mutterkreuz-Ideal der
Nazis geprägt sei und daher keine außerhäuslichen
Kinderbetreuungsmöglichkeiten für berufstätige Frauen vorsehe.
Darüber hinaus macht sich ganz offen der vulgäre
Materialismus breit, innerhalb dessen das gesunde Gedeihen
von Kindern als unmöglich angesehen wird. Ich würde diesem
letzteren Befund auch persönlich zustimmen, weil eine solche
Verhaltensweise den Menschen von den naturgegebenen Bedingungen der
Weltexistenz abnabelt und ihn in die Vereinsamung treiben muss,
also keine gute Perspektive für heranwachsende Kinder bietet.
Der
Verlust christlicher Familien-Werte, die Kindern einen
gewissen Schutz garantierten, ist nicht zuletzt aus Misstrauen
gegenüber den Vertretern der wohlbestallten Amtskirchen erfolgt,
die sich in ihrer denkmalpflegerischen Sorge um ihre Kirchen- und
Klostergebäude der Finanzmacht anbiederten, sich aber um die
seelsorglichen Nöte nicht in dem Maß, in dem es notwendig gewesen
wäre, gekümmert haben. Die Geistlichen sind überdies in der letzten
Zeit zahlenmäßig in Bedrängnis geraten, und es ist fraglich, wie
sie auf die – gerade auch von politischer Seite initiierte
Neuorientierung auf der Suche nach kirchlichen Werten (die gerade
die politischen Ziele unterstützen sollen) – wirksam reagieren
können, wenn ein Gutteil der Intellektuellen nicht auf ihrer Seite
ist. Eine Tatsache, die in solchen Belangen gern ungenannt bleibt,
ist, dass in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts der
Anteil
an der Bauernschaft in der Bevölkerung – traditionell stark
kirchlich organisiert – so drastisch zurückging, dass nicht nur
eine gewaltige (von vielen dennoch unbemerkte) Umschichtung der
Bewohner ländlicher Gegenden, sondern auch ein regelrechter
Ausverkauf bodenständiger Kultursysteme und Einrichtungen
stattfand. Diese Systeme hatten selbstverständlich auch den
Nachwuchs der Bauernfamilien zum Gegenstand und regelten das
gesamte familienorientierte Erziehungsdenken. Ein Anreiz der
Bauern, Kinder zu haben, war schließlich auch die potentielle
Arbeitskraft ihrer Kinder. Man soll nicht vergessen, dass der nach
und nach sich vollziehende Ausfall dieser Systeme in der sich
arbeitsmäßig umstrukturierenden Bevölkerungsschicht auch einige
Unordnung in der Demographie der Länder hinterlassen haben muss,
die anfänglich noch durch Beibehaltung der Gewohnheiten abgefangen
werden mochte, jedoch in der darauffolgenden Generation bereits zur
merklichen Abschwächung der Geburtenrate führen konnte.
Die neueste Zeit, deren Anbruch man sehr optimistisch und mit
Hoffnung auf noch bessere Zustände (als man sie seit den sechziger
und siebziger Jahren kannte, die allerdings in Mitteleuropa als
Zeiten der politischen Spannungen zwischen Militärblöcken in die
Geschichte eingegangen sind und folglich auch den Pessimismus unter
der Bevölkerung geschürt haben) 1989 noch gefeiert hatte,
enttäuschte durch die
Krise der Arbeitslosigkeit, die Europa
seither nicht mehr los wurde und die sich folgenreich für die
weitere Nachkommenschaft auswirken kann, weil sie eine
Verarmung der heutigen Generation um die Dreißig nach sich
zieht, welche die offensichtlichen Verlierer der neuen Umverteilung
des unbeständigen Kapitals sind. Es ist daher sehr leicht möglich,
dass der Kinderwunsch einem weiteren Abschwung unterworfen sein
wird, besonders wenn das eintreten sollte, was Amerika von den
Europäern, besonders von den Deutschen, an Reformen fordert.
Blickt man über die Grenze nach Frankreich, so wundert man sich
über den Stand der Dinge dort: wo es tatsächlich von Kleinkindern
nur so wimmelt und fast alle jungen Frauen berufstätig sind. Drei
bis vier Kinder sind hier keine Seltenheit, ja sie sind sogar ein
Zeichen der ›upper class‹, die sich Au-pair-Mädchen,
Haushaltshilfen und größere Wohnungen leisten kann. In Deutschland
werden Kinder sofort als
potentielle Verarmungsfaktoren
gesehen, und es wird gleich statistisch zu errechnen versucht,
welche Beträge für sie bis zum Abitur aufgewendet werden müssen –
lauter Posten, die der Durchschnittsdeutsche lieber in
bausparfinanzierte Eigenheime, Weltreisen und Autos der Oberklasse
investiert. Dabei – um wieder nach Frankreich zu blicken – wenn es
um das Wohlbefinden und die Gesundheit der Frauen geht, machen
junge Französinnen mit ihrer Kinderschar (man beachte: fast alle
berufstätig!) einen wesentlich gepflegteren, fröhlicheren und
ausgeglicheneren Eindruck als die jungen deutschen Frauen, die
ständig über irgend etwas jammern und immer gehetzt, müde und wie
es so schön heißt: ›geschafft‹ wirken. In Frankreich wird das Thema
kaum öffentlich diskutiert – Kinder hat man eben – oder auch nicht.
Aus.
Absichtlich schreibe ich hier ein wenig leicht über die Dinge
hinweg, denn es geht mir an dieser Stelle in erster Linie nicht um
die Präsentation harter Fakten. Ich wollte auf das
Lebensgefühl aufmerksam machen, das hinter dem Phänomen des
Kinder-Habens oder Kinder-
Verweigerns mit allen seinen
Nebenerscheinungen steht. Das Lebensgefühl wird sicherlich von
jedem aufmerksamen Reisenden wahrgenommen, geschätzt und
ausgekostet – und von der heutigen Tourismuswirtschaft mit
ziemlichem Erfolg vermarktet. Somit beansprucht es einen
Realitätswert für sich. Selbstverständlich ist es nicht
eindimensional zu erfassen, und es wird kaum zu ergründen sein,
worauf es letztendlich zurückzuführen ist. Es lässt allerdings den
Schluss zu, dass die Beziehungen der Menschen zueinander mit ihm
einen Regelmechanismus erhalten, der sie in den Stand versetzt,
schwierigere, hochkomplizierte – letztlich nicht definierbare –
Dinge und Aufgaben, die für die Allgemeinheit von enormer
Wichtigkeit sind, gemeinsam zu lösen. Und das, ohne viele Worte
verlieren zu müssen. Eine stark
kultivierte Natur also.
Lebensgefühl ist, das sei hier betont, ein völlig deutsches Wort;
im Französischen ist es nicht bekannt und besitzt dort auch kein
Äquivalent. Man bedient sich offensichtlich dessen, was man nicht
nennt, das man jedoch nichtsdestoweniger in sich trägt. Es soll
hier nicht einmal der Versuch gemacht werden, auf eine deutsche
Adaption des französischen Modells anzuspielen, denn es leuchtet
ein, dass ein solches Problem wie das eben besprochene jedes Volk
für sich in der für es selbst plausibelsten Weise lösen muss.
Lernprozesse sind jedoch nicht ausgeschlossen. Dass es sich um ein
baldiges Umdenken auf breitester Ebene wird handeln müssen, wollen
wir jetzt schon in Aussicht gestellt haben.