Cordula Tutt
Schrumpfen ist schwer. Warum wir vieles
neu lernen, aber nicht verzagen müssen
Angeblich verändert sich
das Leben auf dem Land weniger als in der Stadt. Manchmal aber
merkt man gerade in entlegenen Flecken, wie die Republik sich
schleichend wandelt. Bauern im Rheinland oder in Mecklenburg haben
neue Nachbarn: Biber erobern Land zurück, graben Löcher in Dämme,
fluten Felder und lassen Teiche leer laufen. In Brandenburg und
Sachsen sind Luchs und Wolf wieder Bewohner menschenleerer Zonen.
In Oberfranken, in Sachsen oder im Saarland fehlen auf dem Land die
Schulkinder. In Kultusministerien wird durchgerechnet, wann welche
Schule schließen muss. Orte leeren sich langsam, weil die Jungen
fortziehen und nicht wiederkommen, wenn sie Familien gründen. Ohne
Aussicht auf neue Eigner stehen in manchen Dörfern Bäckereien,
Gaststätten und Auto-Werkstätten zum Verkauf.
Eigentlich sind die Zeiten noch gut. So komfortabel wird es für
viele bald nicht mehr sein, auch wenn sich die meisten Politiker
dieser Diagnose verweigern. Die Bevölkerung schrumpft, ebenso das
Wirtschaftswachstum und die Handlungsfähigkeit des Staates.
Schrumpfen bedeutet, dass die Unterschiede in Deutschland wachsen.
Die Kluft zwischen Arm und Reich weitet sich. Grob gilt: Wer hat,
dem wird noch mehr gegeben.
Einzelne können ihren Lebensstandard nicht mehr halten, ganze
Regionen steigen ab. Andere können im Schrumpfen profitieren und
ihre Position stärken. Gut Qualifizierte und Mobile werden
umworben, attraktive Regionen wachsen weiter und ziehen Menschen
an. Die übrigen, die ›Verlierer‹, müssen radikal umdenken. Wo die
Menschen aber bisherige Regeln über den Haufen werfen, wo sie
Kreativität gegen den Mangel einsetzen, entsteht bereits Neues. Das
kann Vorbild sein für andere, die die Macht des Schrumpfens noch
ignorieren.
Schon in fünf Jahren werden auch etliche Großstädte Einwohner
verloren haben, nicht mehr nur die im Ruhrgebiet oder im Osten.
Dann wird nach Aussage der Bundesbeauftragten für Integration,
Maria Böhmer, in vielen westdeutschen Großstädten die Hälfte der
Bevölkerung unter 40 Jahren aus Einwandererfamilien stammen. Die
Zuwanderer haben öfter Nachwuchs als die Eingesessenen, so steigt
ihr Anteil an der Bevölkerung im Schrumpfen deutlich. Seit 2003
sinkt statistisch bereits die Zahl der Menschen in Deutschland,
erst unmerklich, bald in höherem Tempo. 2005 wurden in Deutschland
nur 676.000 Kinder geboren, so wenige wie zuletzt 1945 zum
Kriegsende. Seit Jahren werden statistisch gesehen von jeder Frau
nur noch knapp 1,4 Kinder geboren. Das heißt, dass jede Generation
etwa um ein Drittel kleiner ist als die der Eltern. Von nun an wird
es wohl fast jedes Jahr neue solche Rekorde geben – allein schon
deshalb, weil es immer weniger Junge, weniger potentielle Eltern,
gibt. Auch die Zuwanderung kann nicht mehr wettmachen, dass seit
den 1970er Jahren im Land weniger Menschen geboren werden als
sterben.
Gleichzeitig altert Deutschland. Nach mittlerer Prognose des
Statistischen Bundesamtes (Destatis) wird 2050 die Hälfte der
Bevölkerung älter als 48 Jahre sein, ein Drittel sogar über 60
Jahre. Schon bald nach dem Jahr 2010 wird sich der Anteil der Alten
stark vergrößern. Die Rede ist von der Altenrepublik Deutschland.
Zur Zeit ist noch ein Fünftel der Menschen im Land jünger als 20.
Kinder und Jugendliche werden in 45 Jahren aber nur noch ein
Sechstel der Bevölkerung ausmachen. Dabei soll die Zahl der
Menschen in Deutschland insgesamt von heute 82,5 Millionen in 45
Jahren um rund zehn Millionen sinken.
Keine dieser Entwicklungen für sich genommen ist völlig neu,
zusammen genommen weist nun vieles in unserem Alltag in eine neue
Richtung. Sie verlangt von einzelnen, schneller und manchmal auch
schmerzhafter umzulernen als das in der westlichen Bundesrepublik
bisher nötig war. Nicht nur in der Westrepublik, auch in der DDR
galt früher das Postulat fortwährenden Wachstums – die Überschüsse
des Wohlstands wurden in Ost wie West verteilt. Konflikte ließen
sich lösen, bevor sie ausbrachen. Jetzt gilt es nicht nur,
Abstriche zu machen, sondern mit den verbleibenden Ressourcen
anders und intelligenter umzugehen. Manche Volkswirte sprechen
schon vom ›Verteilungsstress‹. Schrumpfen erhöht die
Ungleichheit.
Je nach Region oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe sind die
Voraussetzungen zur Anpassung sehr unterschiedlich. Es wird eine
Spaltung in Gewinner und Verlierer geben. Menschen mit guter
Ausbildung können sich ihre Jobs bald leichter aussuchen.
Qualifikation auf neuem Stand wird Mangelware.
Das gilt auch für Wohlstandsregionen wie das südliche Bayern und
Baden-Württemberg, die bereits jetzt die Jungen und Mobilen aus
anderen Gegenden anziehen. Dieser Sog wird stärker werden,
angetrieben von wirtschaftlichen Möglichkeiten, die den Rest der
Republik immer ärmer aussehen lassen. Der Auftrag im Grundgesetz,
gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, ist schon jetzt
überholt. Das Schrumpfen erledigt diesen Anspruch vollends.
Schrumpfen bedeutet also, dass die Unterschiede nicht nur zwischen
den Regionen, sondern insgesamt wachsen: zwischen Mobilen und
weniger Mobilen, zwischen einzelnen Firmen und Branchen, zwischen
Qualifizierten und jenen ohne Ausbildung, zwischen Familien und
jenen ohne Nachkommen, zwischen Städtern und Landbevölkerung. Nicht
der Konflikt zwischen Alt und Jung wird die schrumpfenden
Gesellschaften Europas prägen, sondern stärker das
Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich. Der Unterschied Stadt -
Land wird wachsen.
Es deutet einiges darauf hin, dass der Konflikt zwischen Arm und
Reich künftig härter ausgefochten wird. Kinderlose haben mehr Geld
als Familien. Wer erbt, steht besser da, als der, in dessen Familie
kein Geld übrig ist. Die Alten können bis zum Jahr 2010 in
Deutschland schätzungsweise 2,2 Billionen Euro vererben. Und
statistisch gesehen verschenken Großeltern im Monat etwa 300 Euro
an Kinder und Enkel, das hat das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW) errechnet. Nur fallen solche Wohltaten
sehr unterschiedlich aus. Viele Kinder und Enkel werden anders als
in vorigen Generationen ihr Erbe nicht mehr mit Geschwistern teilen
müssen. Besteht dann ein Erbe auch noch in einer Eigentumswohnung
in einem prosperierenden Ballungszentrum des Südens, lässt sich ein
Gewinnertyp in der Schrumpfung erkennen.
Es ist kein vorübergehender Konjunkturknick, den wir in Deutschland
erleben. Überall finden sich Zeichen des Schwunds. Das
demografische ›Alarmsignal‹ haben etliche vernommen und sind in
Angststarre verfallen. Dabei geht es um etwas ganz anderes: Nicht
das Alter oder die Zahl der Menschen sind in erster Linie
entscheidend, sondern was die Betroffenen aus dem Wandel machen.
Das fordert neue Ideen aus allen Bereichen, von der Architektur bis
zur Bildung. Es betrifft alle politischen Ebenen, die Wirtschaft
und vor allem uns als Bürger. Die Situation lässt sich nicht
umkehren und nur langfristig abmildern.
Der Spielraum des hoch verschuldeten Staates schwindet. Auch unsere
persönliche Zukunft ist davon beeinflusst. Wir können nicht mehr
von einem Stückchen mehr an Wohlstand und Sicherheit ausgehen, das
mit etwas Fleiß schon in jedem Lebensjahr dazu kommt. Unsere
Gesellschaft ist darauf nicht eingerichtet, seit der Nachkriegszeit
nehmen wir Wachstum als einzige Richtung in unserem persönlichen
Leben und für die Gesellschaft wahr. Schrumpfen bedeutet die Umkehr
bisheriger Annahmen. Es gibt nichts mehr zu verteilen, neue
Konflikte brechen auf. Zur Bewältigung brauchen wir gute Ideen und
eine andere Mentalität, die mehr Risiko und Unsicherheit zulässt.
Wir müssen Neues im Versuchslabor ausprobieren, statt auf dem Sofa
der Verzagten auszuharren. Das ist schwer, weil sich in unsicheren
Zeiten viele erst mal am Bisherigen festklammern.
Zwischen den Bundesländern werden sich die Unterschiede weiten.
Gute Schulen, moderne Sporteinrichtungen oder schnelle Verkehrswege
werden sich manche kaum noch leisten können. Ohne solche
Infrastruktur werden sich Berufstätige und Familien jedoch eher zum
Wegziehen entscheiden. Neue Firmen lassen sich ohne eine Umgebung
mit ›Freizeitqualität‹ und ohne passable Anbindung kaum locken.
Die Aufgabe von Politikern wird sein, den Schrumpfungsprozess zu
moderieren. Ausgleich wird künftig nicht mehr Rundum-Versorgung
durch den Staat zum Ziel haben können. Es geht darum, die
verschiedenen Gruppen gerecht zu beteiligen. Es geht darum, von der
Sozialversicherungspolitik zur Sozialbefähigungspolitik zu kommen.
Das würde zum Beispiel bedeuten, das Kindergeld in seiner heutigen
Form aufzugeben und stattdessen Geld für die Förderung von Kindern
aus sozial schwachen Familien einzusetzen. Das bedeutet freilich
auch, dass die Mittelschicht künftig weniger vom Staat bekommt.
Politiker wie Bundesfinanzminister Peer Steinbrück denken längst in
diese Richtung, wenn auch aus anderen Gründen. Der Bundesetat lässt
schon jetzt kaum noch anderes zu.
Es wird darum gehen, Schrumpfen nicht nur als Verlust zu
betrachten. Schrumpfen kann auch Abschied und Befreiung von
Annahmen sein, die längst nicht mehr passten. Räume, Orte und Dinge
müssen neu gedacht werden, weil sie ihre bisherige Funktion
verlieren. Beispiel Schule: Sind in einem Ort nicht mehr genügend
Schüler für eine herkömmliche Schule zu finden, gibt es
Alternativen zur Schließung. Eine neue Form der Zwergschule bietet
sich manchmal an – klassenübergreifendes Lernen haben innovative
Schulen auch anderswo längst für sich entdeckt. Das ändert aber
nicht nur Lehrpläne, sondern fordert auch von Lehrern neu zu
denken. Größere Unterschiede zwischen Schulen müssten mit
Bildungsstandards abgefedert werden. Die größere
Gestaltungsfreiheit könnte also das Bildungssystem erneuern.
Der Übergang vom Viel zum Wenig und von der Enge zur Weite ist aber
schwer zu organisieren. An etlichen Stellen fehlt ein wenig,
anderes bricht ganz weg. Außerdem wird es schwerer, Ressourcen zu
sammeln und den Bürgern mit dem Hinweis vorzuenthalten, dass mit
solchen Investitionen in einem zweiten Schritt zukunftsfähige
Einrichtungen entstehen. Diese kommen oft erst der nächsten
Generation zu Gute. Genau das müssten aber jene tun, die vom
Schrumpfen schon betroffen sind: Ressourcen bündeln, statt in
Konkurrenz von jedem gegen jeden zu treten. Das gilt zum Beispiel
für Dörfer und Kleinstädte in schrumpfenden Regionen. Solche
Gegenden werden bald in vielen Ecken des Landes zu finden sein – in
Sachsen-Anhalt, in Nordhessen, in der Pfalz. Allein ein C-förmiger
Gürtel von Hamburg über das westliche Niedersachsen, das Rheinland,
Rhein-Main, Baden-Württemberg und Bayern wird sich entziehen können
– auch auf Kosten der anderen Gegenden, die Menschen verlieren.
Bürgermeister, Landräte und Ministerpräsidenten reagieren bisher
auf den Verlust mit einer unguten Konkurrenz. Kaum eine
schrumpfende Kommune gibt einen Hinweis darauf, dass sie Einwohner
verliert oder in Zukunft wohl weiter verlieren wird. Viele fürchten
ein Verlierer-Image, keiner geht offensiv damit um. Gemeinden etwa
im Saarland verschulden sich zusätzlich, um verbilligtes Bauland
anzubieten. Das soll Familien anlocken – und sei es nur aus dem
Nachbardorf. So jagen sich die Bürgermeister die Leute ab, schaffen
Infrastruktur, die oft nicht tragfähig ist. Langsam gibt es aber
auch ein Umdenken: Professionelle ›Dorfplaner‹ befragen die
Bewohner und machen Vorschläge, wo künftig ein Laden bestehen soll
und was per Nachbarschaftshilfe organisiert werden könnte. Warum
sollten Kommunen nicht auch zusammenarbeiten und künftig gemeinsam
ein Kläranlage haben?
Lokalpolitiker, die sich dem Schwund stellen, durchlaufen meist
zwei Phasen. Zunächst sagen sie, dass aus ihrer Gegend nicht mehr
Menschen fortziehen als aus anderen Regionen. Nur die Zuzügler
fehlten eben. Wenn die Mobilen, die Jungen und potenziellen Eltern,
längst weg sind, heißt die Diagnose dann nur noch: Wir haben eben
viel mehr Todesfälle als Kinder nachkommen. Häufig stemmen sich die
Betroffenen engagiert gegen die Entwicklung. Sie verpassen dabei
aber, dass sie in direkter Konkurrenz mit den Erfolgreichen nicht
mithalten können. Sie müssten beginnen, ganz andere Lösungen zu
suchen.
Auch in der Wirtschaft macht sich das Schrumpfen bemerkbar.
Unternehmer müssen neue Märkte suchen, wo der Absatz bröckelt. Der
Wohlstand pro Kopf wird wohl weiter wachsen, dennoch bleibt kaum
etwas, wie es ist. Manche Produkte werden weniger nachgefragt
werden, wenn es weniger Köpfe und Hände gibt. Andere Produkte
lassen sich (fort)entwickeln, um den steigenden Ansprüchen einer
alternden Gesellschaft ohne viel Nachwuchs zu entsprechen. Wer
braucht künftig Windeln? Wer kauft noch in den großen Warenhäusern
ein und was suchen Kunden dort? Was passiert, wenn Bäcker nur noch
200 statt 300 Brote am Tag verkaufen? Wie erreicht ein Betrieb
Kunden und unterschiedlichste Zielgruppen, ohne dass die Kosten für
den Vertrieb explodieren? Was tun, wenn auch in anderen Ländern der
Markt schrumpft?
Arbeit wird im Schrumpfen immer ungleicher verteilt sein. Schon
jetzt fehlen in Ostdeutschland und teils schon in Westdeutschland
qualifizierte Kräfte für manche Branchen - trotz hoher
Arbeitslosigkeit. Firmen werden ihren gut qualifizierten
Mitarbeitern mehr bieten müssen. ›Missmatch‹, also Arbeitslosigkeit
zeitgleich mit Fachkräftemangel, wird Dauerthema. Hier müssen
Firmen ihre Rolle erweitern und sich stärker um die Qualifizierung
und Anwerbung von Mitarbeitern kümmern, die erst auf den zweiten
Blick zur Firma passen. Dabei geht es nicht nur um Geld und
Ausbildung, sondern etwa auch um familienfreundliche Arbeitszeiten,
um Entwicklungsmöglichkeiten. Unternehmer müssen sich zudem stärker
um die ›Fitness‹ ihrer Mitarbeiter kümmern. Fachkräfte aus dem
Ausland werden schwieriger anzulocken sein. Deutschland steht in
Konkurrenz mit anderen Schrumpf-Staaten.
Der Schwund in Deutschland sorgt auch dafür, dass die Infrastruktur
aus Straßen, Schienen, Kanälen, Rohren und Leitungen im jetzigen
Zustand nicht mehr erhalten werden kann. Räume, Orte und Dinge
müssen neu gedacht werden, weil sie ihre bisherige Funktion
verlieren. In entvölkerten Gebieten werden Straßen nicht erneuert
und in manchen Städten wird überlegt, wie Abwasserrohre verkleinert
werden können, damit die Brühe weiter rasch abfließt. Nicht nur in
Ostdeutschland heißt Rückbau, dass Plattenbauten gesprengt werden.
Auch im Ruhrgebiet sollen nun Hochhäuser abgerissen werden. Hier
zeigen sich wachsende Unterschiede. Jene Kommunen und Länder mit
geringen Einnahmen müssen besonders viel ändern. Das überfordert
viele. Schrumpfende Städte werden oft zerlöcherte Städte. Im Kern
breitet sich die Brache aus, oft wird aber am Rand Bauland für
Mittelschicht und Firmen ausgewiesen, die alle Stadtvertreter
umwerben und brauchen.
Die Infrastruktur aus Stahl und Beton schrumpft, die soziale
Infrastruktur auch. Allerdings müsste sie in dieser Situation an
vielen Stellen sogar ausgebaut werden. Beispiel Gesundheit: Wer auf
dem Land lebt, bekommt seltener einen Herzinfarkt als in der Stadt,
allerdings ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass er daran
stirbt. Schon jetzt ist in Ostdeutschland in einigen Gebieten weit
und breit kein Arzt mehr in Sicht, viele Ältere können sich auf dem
Land kaum noch versorgen, wenn die Wege länger werden. Neue
Technologien können einiges verbessern. Insgesamt wird es aber
nicht ohne größeres Engagement einzelner gehen. Nicht nur
Elternzeit, sondern auch Pflegezeit für kranke und alte Angehörige
wird zwischen Angestellten und Arbeitgebern zum Thema werden. Weil
der Mangel an sozialer und technischer Infrastruktur das Leben
einzelner direkt betrifft, müssen auch neue Wege der
Bürgerbeteiligung gefunden werden.
Schrumpfen hat für die Betroffenen zwei Nachteile, die sie zuerst
überwinden müssen. Bisherige Gewissheiten und Regeln gelten nicht
mehr, neue müssen erst gefunden werden. Zusätzlich hemmt die
Menschen in schrumpfenden Gebieten das Verlierer-Image. Als
Pioniere des Schrumpfens können sie aber alte Regeln über den
Haufen werfen, die nicht mehr passen. Am Ende könnten die Manager
des Mangels Vorbild werden für Deutschland, dessen
Nachkriegsordnung nicht mehr trägt.
Auf dem Land fällt Vereinen künftig eine größere Rolle zu. Sei es
die Freiwillige Feuer, die fast überall gut organisiert ist, seien
es andere Vereine. Der Verein für den Bürgerbus im
brandenburgischen Gransee ist ein Beispiel. Dort fielen öffentliche
Verkehrsverbindungen weg. Die Bürger organisierten sich ihr eigenes
›Sammeltaxi‹. Nun fahren ehrenamtliche Fahrer im Kleinbus. Damit
wird nicht nur ein Mangel ausgeglichen, die Bürger erobern sich
auch Einfluss zurück. Landleben wird mit Hilfe des Internet und
anderer Technologie einerseits enger mit den städtischen Zentren
verbunden sein. Andererseits wird der Lebensstil auch wieder dem
vergangener Tage ähnlicher – die Wege sind weit, öffentliche
Verkehrsmittel rar, das Angebot an Kultur gering und die Versorgung
durch Ärzte eher lückenhaft. In vielen entvölkerten Gebieten werden
Jeep und Handy zur Grundausrüstung. Brandenburgs Landesregierung
spielt bereits durch, wo künftig noch Straßen erneuert werden
sollen und wo im Winter noch der Schnee geräumt werden soll. Wer
Landleben will, bekommt es – Abgeschiedenheit inbegriffen.
In Ostdeutschland ist Schrumpfen bereits Alltag. Immer wieder
entsteht dort bereits neues Leben in den entleerten Regionen.
›Raumpioniere‹ entdecken die Leere. Gutshöfe werden saniert und zu
dörflichen Zentren ausgebaut. Naturtourismus zieht Städter an. Alte
Handwerke werden wiederbelebt. An der Grenze zu Polen und
Tschechien gibt es gemeinsame Projekte. Dinge entstehen, die
anderswo wegen hoher Kosten oder Platzmangel keine Chance hätten
oder gar nicht erst überlegt würden. Das ist innovativ.
Der Rückzug des Staates und das Auseinanderdriften von Lebenswelten
hat jedoch auch einen gegensätzlichen Aspekt. Manche nennen es die
Rückbesinnung auf Familie und auf Netzwerke aus Freunden und
Nachbarn. Die zugehörige Debatte um die neue Bürgerlichkeit und
konservative Werte kommt nicht umsonst in Zeiten des Schrumpfens
auf. Es zeigt sich, dass schrumpfende Gesellschaften gedanklich in
einem Dilemma stecken. Sie müssen innovativ und
experimentierfreudig sein. Viele reagieren aber mit dem Festhalten
am Bisherigen, weil die Zukunft Furcht auslöst. Eine Mischung aus
modern und traditionell scheint brauchbar. Innovative Regionen
haben oft zugleich starke Traditionen. Kommunen mit festem
Zusammenhalt in Vereinen oder Kirchengemeinden kommen besser mit
dem Schrumpfen zurecht als andere. Sie können durch das Engagement
und die Kreativität dieser Gruppen oft sogar den Schwund abwenden.
Dieser ›Blasmusik-Bonus‹, der Süddeutschland gegenüber Teilen
Norddeutschlands und vor allem den neuen Ländern zugeschrieben
wird, wurde früher als unbedeutend abgetan.
Wir werden weniger, älter und unterschiedlicher. Das hat zur Folge,
dass sich die Lebensformen immer mehr differenzieren. Schon jetzt
zeigen sich Konflikte zwischen Familien und Kinderlosen. Wenn
Ressourcen knapper werden, häufen sich Vorwürfe, wer von wem
profitiert. Wo die Fliehkraft in der Gesellschaft stärker wird,
kann künftig vor allem Bildung für Integration sorgen. Bildung ist
das brauchbarste Mittel gegen die negativen Folgen des Schrumpfens.
Sie muss zweierlei schaffen: Alle erreichen und fördern sowie
zugleich eine Elite der Qualifizierten herausbilden. Und das in
Zeiten schwindender öffentlicher Finanzen. Bildung und Schulen
werden nur den nötigen Stellenwert bekommen, wenn klar wird, wie
weit die Folgen schlechter Bildung und Integration reichen. So
werden etwa Jungs wesentlich häufiger im Bildungssystem ›abgehängt‹
als Mädchen.
Auf extreme Weise zeigt sich das in den sich leerenden Gegenden
Ostdeutschlands, wo gut ausgebildete junge Frauen in Scharen
abwandern und etliche Männer ohne Job zurückbleiben. Es zeigt sich
auch bei Hauptschülern und Jungen aus Zuwandererfamilien, die
Bildung oft nicht mehr als Chance sehen. Deutschland wird es sich
aber nicht leisten können, diese Jugendlichen weiter so schlecht
auszubilden. Ins Positive gewendet, liegt hier eine Chance für
Deutschland – wenn dieser Nachwuchs sich künftig als Teil der
Gesellschaft mit Entwicklungsmöglichkeiten verstehen kann.
Geld muss für Bildung statt für Agrarsubventionen und Häuslebauer
ausgegeben werden. Viele Subventionen ließen sich noch streichen.
Aber bedeutet das, dass die Wohltaten für die Mittelschicht
schwinden und Geld gezielt für die Förderung Benachteiligter
eingesetzt würde? Das wird Unmut erzeugen, auch wenn
Mittelschichtfamilien sich finanziell an der Bildung ihrer Kinder
beteiligen können. In Städten wie Berlin, wo die Möglichkeiten des
Staates stark schrumpfen, zeigt sich das in der steigenden Zahl von
Kindern, die in Privatschulen angemeldet werden. Hier zeigt sich,
dass die bildungsorientierte Mittelschicht relativ gute
Voraussetzungen für das Schrumpfen mitbringt. Es gilt aber auch,
dass sich die ›Gewinner‹ nicht von den ›Verlierern‹ loskoppeln
können, sondern im Allgemeininteresse Abstriche vom Bisherigen
machen und Benachteiligte unterstützen müssen. Der armen
Verwandtschaft ist kein Entkommen.
Literatur:
RAABE, KATHARINA / SZNAJDERMAN, MONIKA (Hg.), Last and Lost. Ein
Atlas des verschwindenden Europas,
Frankfurt/M.2006
KAUFMANN, FRANZ-XAVER, Schrumpfende Gesellschaft,
Frankfurt/M. 2005
DIENEL, CHRISTIANE (Hg), Abwanderung, Geburtenrückgang und
regionale Entwicklung. Ursachen und Folgen des
Bevölkerungsrückgangs in Ostdeutschland, Wiesbaden 2005
ULRICH, BERND, Deutsch, aber glücklich. Eine neue Politik in Zeiten
der Knappheit, Frankfurt/M. 2002
BIRG, HERWIG, Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über
unsere Zukunft sagt, München 2005
BERLIN-INSTITUT FÜR BEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG, Die demografische
Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen?
Daten, Fakten, Analysen, München, 2006