Cordula Tutt
Schrumpfen ist schwer. Warum wir vieles
neu lernen, aber nicht verzagen müssen

Angeblich verändert sich das Leben auf dem Land weniger als in der Stadt. Manchmal aber merkt man gerade in entlegenen Flecken, wie die Republik sich schleichend wandelt. Bauern im Rheinland oder in Mecklenburg haben neue Nachbarn: Biber erobern Land zurück, graben Löcher in Dämme, fluten Felder und lassen Teiche leer laufen. In Brandenburg und Sachsen sind Luchs und Wolf wieder Bewohner menschenleerer Zonen. In Oberfranken, in Sachsen oder im Saarland fehlen auf dem Land die Schulkinder. In Kultusministerien wird durchgerechnet, wann welche Schule schließen muss. Orte leeren sich langsam, weil die Jungen fortziehen und nicht wiederkommen, wenn sie Familien gründen. Ohne Aussicht auf neue Eigner stehen in manchen Dörfern Bäckereien, Gaststätten und Auto-Werkstätten zum Verkauf.
Eigentlich sind die Zeiten noch gut. So komfortabel wird es für viele bald nicht mehr sein, auch wenn sich die meisten Politiker dieser Diagnose verweigern. Die Bevölkerung schrumpft, ebenso das Wirtschaftswachstum und die Handlungsfähigkeit des Staates. Schrumpfen bedeutet, dass die Unterschiede in Deutschland wachsen. Die Kluft zwischen Arm und Reich weitet sich. Grob gilt: Wer hat, dem wird noch mehr gegeben.

Einzelne können ihren Lebensstandard nicht mehr halten, ganze Regionen steigen ab. Andere können im Schrumpfen profitieren und ihre Position stärken. Gut Qualifizierte und Mobile werden umworben, attraktive Regionen wachsen weiter und ziehen Menschen an. Die übrigen, die ›Verlierer‹, müssen radikal umdenken. Wo die Menschen aber bisherige Regeln über den Haufen werfen, wo sie Kreativität gegen den Mangel einsetzen, entsteht bereits Neues. Das kann Vorbild sein für andere, die die Macht des Schrumpfens noch ignorieren.

Schon in fünf Jahren werden auch etliche Großstädte Einwohner verloren haben, nicht mehr nur die im Ruhrgebiet oder im Osten. Dann wird nach Aussage der Bundesbeauftragten für Integration, Maria Böhmer, in vielen westdeutschen Großstädten die Hälfte der Bevölkerung unter 40 Jahren aus Einwandererfamilien stammen. Die Zuwanderer haben öfter Nachwuchs als die Eingesessenen, so steigt ihr Anteil an der Bevölkerung im Schrumpfen deutlich. Seit 2003 sinkt statistisch bereits die Zahl der Menschen in Deutschland, erst unmerklich, bald in höherem Tempo. 2005 wurden in Deutschland nur 676.000 Kinder geboren, so wenige wie zuletzt 1945 zum Kriegsende. Seit Jahren werden statistisch gesehen von jeder Frau nur noch knapp 1,4 Kinder geboren. Das heißt, dass jede Generation etwa um ein Drittel kleiner ist als die der Eltern. Von nun an wird es wohl fast jedes Jahr neue solche Rekorde geben – allein schon deshalb, weil es immer weniger Junge, weniger potentielle Eltern, gibt. Auch die Zuwanderung kann nicht mehr wettmachen, dass seit den 1970er Jahren im Land weniger Menschen geboren werden als sterben.

Gleichzeitig altert Deutschland. Nach mittlerer Prognose des Statistischen Bundesamtes (Destatis) wird 2050 die Hälfte der Bevölkerung älter als 48 Jahre sein, ein Drittel sogar über 60 Jahre. Schon bald nach dem Jahr 2010 wird sich der Anteil der Alten stark vergrößern. Die Rede ist von der Altenrepublik Deutschland. Zur Zeit ist noch ein Fünftel der Menschen im Land jünger als 20. Kinder und Jugendliche werden in 45 Jahren aber nur noch ein Sechstel der Bevölkerung ausmachen. Dabei soll die Zahl der Menschen in Deutschland insgesamt von heute 82,5 Millionen in 45 Jahren um rund zehn Millionen sinken.

Keine dieser Entwicklungen für sich genommen ist völlig neu, zusammen genommen weist nun vieles in unserem Alltag in eine neue Richtung. Sie verlangt von einzelnen, schneller und manchmal auch schmerzhafter umzulernen als das in der westlichen Bundesrepublik bisher nötig war. Nicht nur in der Westrepublik, auch in der DDR galt früher das Postulat fortwährenden Wachstums – die Überschüsse des Wohlstands wurden in Ost wie West verteilt. Konflikte ließen sich lösen, bevor sie ausbrachen. Jetzt gilt es nicht nur, Abstriche zu machen, sondern mit den verbleibenden Ressourcen anders und intelligenter umzugehen. Manche Volkswirte sprechen schon vom ›Verteilungsstress‹. Schrumpfen erhöht die Ungleichheit.

Je nach Region oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe sind die Voraussetzungen zur Anpassung sehr unterschiedlich. Es wird eine Spaltung in Gewinner und Verlierer geben. Menschen mit guter Ausbildung können sich ihre Jobs bald leichter aussuchen. Qualifikation auf neuem Stand wird Mangelware.

Das gilt auch für Wohlstandsregionen wie das südliche Bayern und Baden-Württemberg, die bereits jetzt die Jungen und Mobilen aus anderen Gegenden anziehen. Dieser Sog wird stärker werden, angetrieben von wirtschaftlichen Möglichkeiten, die den Rest der Republik immer ärmer aussehen lassen. Der Auftrag im Grundgesetz, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, ist schon jetzt überholt. Das Schrumpfen erledigt diesen Anspruch vollends.

Schrumpfen bedeutet also, dass die Unterschiede nicht nur zwischen den Regionen, sondern insgesamt wachsen: zwischen Mobilen und weniger Mobilen, zwischen einzelnen Firmen und Branchen, zwischen Qualifizierten und jenen ohne Ausbildung, zwischen Familien und jenen ohne Nachkommen, zwischen Städtern und Landbevölkerung. Nicht der Konflikt zwischen Alt und Jung wird die schrumpfenden Gesellschaften Europas prägen, sondern stärker das Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich. Der Unterschied Stadt - Land wird wachsen.

Es deutet einiges darauf hin, dass der Konflikt zwischen Arm und Reich künftig härter ausgefochten wird. Kinderlose haben mehr Geld als Familien. Wer erbt, steht besser da, als der, in dessen Familie kein Geld übrig ist. Die Alten können bis zum Jahr 2010 in Deutschland schätzungsweise 2,2 Billionen Euro vererben. Und statistisch gesehen verschenken Großeltern im Monat etwa 300 Euro an Kinder und Enkel, das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) errechnet. Nur fallen solche Wohltaten sehr unterschiedlich aus. Viele Kinder und Enkel werden anders als in vorigen Generationen ihr Erbe nicht mehr mit Geschwistern teilen müssen. Besteht dann ein Erbe auch noch in einer Eigentumswohnung in einem prosperierenden Ballungszentrum des Südens, lässt sich ein Gewinnertyp in der Schrumpfung erkennen.

Es ist kein vorübergehender Konjunkturknick, den wir in Deutschland erleben. Überall finden sich Zeichen des Schwunds. Das demografische ›Alarmsignal‹ haben etliche vernommen und sind in Angststarre verfallen. Dabei geht es um etwas ganz anderes: Nicht das Alter oder die Zahl der Menschen sind in erster Linie entscheidend, sondern was die Betroffenen aus dem Wandel machen. Das fordert neue Ideen aus allen Bereichen, von der Architektur bis zur Bildung. Es betrifft alle politischen Ebenen, die Wirtschaft und vor allem uns als Bürger. Die Situation lässt sich nicht umkehren und nur langfristig abmildern.

Der Spielraum des hoch verschuldeten Staates schwindet. Auch unsere persönliche Zukunft ist davon beeinflusst. Wir können nicht mehr von einem Stückchen mehr an Wohlstand und Sicherheit ausgehen, das mit etwas Fleiß schon in jedem Lebensjahr dazu kommt. Unsere Gesellschaft ist darauf nicht eingerichtet, seit der Nachkriegszeit nehmen wir Wachstum als einzige Richtung in unserem persönlichen Leben und für die Gesellschaft wahr. Schrumpfen bedeutet die Umkehr bisheriger Annahmen. Es gibt nichts mehr zu verteilen, neue Konflikte brechen auf. Zur Bewältigung brauchen wir gute Ideen und eine andere Mentalität, die mehr Risiko und Unsicherheit zulässt. Wir müssen Neues im Versuchslabor ausprobieren, statt auf dem Sofa der Verzagten auszuharren. Das ist schwer, weil sich in unsicheren Zeiten viele erst mal am Bisherigen festklammern.

Zwischen den Bundesländern werden sich die Unterschiede weiten. Gute Schulen, moderne Sporteinrichtungen oder schnelle Verkehrswege werden sich manche kaum noch leisten können. Ohne solche Infrastruktur werden sich Berufstätige und Familien jedoch eher zum Wegziehen entscheiden. Neue Firmen lassen sich ohne eine Umgebung mit ›Freizeitqualität‹ und ohne passable Anbindung kaum locken.

Die Aufgabe von Politikern wird sein, den Schrumpfungsprozess zu moderieren. Ausgleich wird künftig nicht mehr Rundum-Versorgung durch den Staat zum Ziel haben können. Es geht darum, die verschiedenen Gruppen gerecht zu beteiligen. Es geht darum, von der Sozialversicherungspolitik zur Sozialbefähigungspolitik zu kommen. Das würde zum Beispiel bedeuten, das Kindergeld in seiner heutigen Form aufzugeben und stattdessen Geld für die Förderung von Kindern aus sozial schwachen Familien einzusetzen. Das bedeutet freilich auch, dass die Mittelschicht künftig weniger vom Staat bekommt. Politiker wie Bundesfinanzminister Peer Steinbrück denken längst in diese Richtung, wenn auch aus anderen Gründen. Der Bundesetat lässt schon jetzt kaum noch anderes zu.

Es wird darum gehen, Schrumpfen nicht nur als Verlust zu betrachten. Schrumpfen kann auch Abschied und Befreiung von Annahmen sein, die längst nicht mehr passten. Räume, Orte und Dinge müssen neu gedacht werden, weil sie ihre bisherige Funktion verlieren. Beispiel Schule: Sind in einem Ort nicht mehr genügend Schüler für eine herkömmliche Schule zu finden, gibt es Alternativen zur Schließung. Eine neue Form der Zwergschule bietet sich manchmal an – klassenübergreifendes Lernen haben innovative Schulen auch anderswo längst für sich entdeckt. Das ändert aber nicht nur Lehrpläne, sondern fordert auch von Lehrern neu zu denken. Größere Unterschiede zwischen Schulen müssten mit Bildungsstandards abgefedert werden. Die größere Gestaltungsfreiheit könnte also das Bildungssystem erneuern.

Der Übergang vom Viel zum Wenig und von der Enge zur Weite ist aber schwer zu organisieren. An etlichen Stellen fehlt ein wenig, anderes bricht ganz weg. Außerdem wird es schwerer, Ressourcen zu sammeln und den Bürgern mit dem Hinweis vorzuenthalten, dass mit solchen Investitionen in einem zweiten Schritt zukunftsfähige Einrichtungen entstehen. Diese kommen oft erst der nächsten Generation zu Gute. Genau das müssten aber jene tun, die vom Schrumpfen schon betroffen sind: Ressourcen bündeln, statt in Konkurrenz von jedem gegen jeden zu treten. Das gilt zum Beispiel für Dörfer und Kleinstädte in schrumpfenden Regionen. Solche Gegenden werden bald in vielen Ecken des Landes zu finden sein – in Sachsen-Anhalt, in Nordhessen, in der Pfalz. Allein ein C-förmiger Gürtel von Hamburg über das westliche Niedersachsen, das Rheinland, Rhein-Main, Baden-Württemberg und Bayern wird sich entziehen können – auch auf Kosten der anderen Gegenden, die Menschen verlieren.

Bürgermeister, Landräte und Ministerpräsidenten reagieren bisher auf den Verlust mit einer unguten Konkurrenz. Kaum eine schrumpfende Kommune gibt einen Hinweis darauf, dass sie Einwohner verliert oder in Zukunft wohl weiter verlieren wird. Viele fürchten ein Verlierer-Image, keiner geht offensiv damit um. Gemeinden etwa im Saarland verschulden sich zusätzlich, um verbilligtes Bauland anzubieten. Das soll Familien anlocken – und sei es nur aus dem Nachbardorf. So jagen sich die Bürgermeister die Leute ab, schaffen Infrastruktur, die oft nicht tragfähig ist. Langsam gibt es aber auch ein Umdenken: Professionelle ›Dorfplaner‹ befragen die Bewohner und machen Vorschläge, wo künftig ein Laden bestehen soll und was per Nachbarschaftshilfe organisiert werden könnte. Warum sollten Kommunen nicht auch zusammenarbeiten und künftig gemeinsam ein Kläranlage haben?

Lokalpolitiker, die sich dem Schwund stellen, durchlaufen meist zwei Phasen. Zunächst sagen sie, dass aus ihrer Gegend nicht mehr Menschen fortziehen als aus anderen Regionen. Nur die Zuzügler fehlten eben. Wenn die Mobilen, die Jungen und potenziellen Eltern, längst weg sind, heißt die Diagnose dann nur noch: Wir haben eben viel mehr Todesfälle als Kinder nachkommen. Häufig stemmen sich die Betroffenen engagiert gegen die Entwicklung. Sie verpassen dabei aber, dass sie in direkter Konkurrenz mit den Erfolgreichen nicht mithalten können. Sie müssten beginnen, ganz andere Lösungen zu suchen.

Auch in der Wirtschaft macht sich das Schrumpfen bemerkbar. Unternehmer müssen neue Märkte suchen, wo der Absatz bröckelt. Der Wohlstand pro Kopf wird wohl weiter wachsen, dennoch bleibt kaum etwas, wie es ist. Manche Produkte werden weniger nachgefragt werden, wenn es weniger Köpfe und Hände gibt. Andere Produkte lassen sich (fort)entwickeln, um den steigenden Ansprüchen einer alternden Gesellschaft ohne viel Nachwuchs zu entsprechen. Wer braucht künftig Windeln? Wer kauft noch in den großen Warenhäusern ein und was suchen Kunden dort? Was passiert, wenn Bäcker nur noch 200 statt 300 Brote am Tag verkaufen? Wie erreicht ein Betrieb Kunden und unterschiedlichste Zielgruppen, ohne dass die Kosten für den Vertrieb explodieren? Was tun, wenn auch in anderen Ländern der Markt schrumpft?

Arbeit wird im Schrumpfen immer ungleicher verteilt sein. Schon jetzt fehlen in Ostdeutschland und teils schon in Westdeutschland qualifizierte Kräfte für manche Branchen - trotz hoher Arbeitslosigkeit. Firmen werden ihren gut qualifizierten Mitarbeitern mehr bieten müssen. ›Missmatch‹, also Arbeitslosigkeit zeitgleich mit Fachkräftemangel, wird Dauerthema. Hier müssen Firmen ihre Rolle erweitern und sich stärker um die Qualifizierung und Anwerbung von Mitarbeitern kümmern, die erst auf den zweiten Blick zur Firma passen. Dabei geht es nicht nur um Geld und Ausbildung, sondern etwa auch um familienfreundliche Arbeitszeiten, um Entwicklungsmöglichkeiten. Unternehmer müssen sich zudem stärker um die ›Fitness‹ ihrer Mitarbeiter kümmern. Fachkräfte aus dem Ausland werden schwieriger anzulocken sein. Deutschland steht in Konkurrenz mit anderen Schrumpf-Staaten.

Der Schwund in Deutschland sorgt auch dafür, dass die Infrastruktur aus Straßen, Schienen, Kanälen, Rohren und Leitungen im jetzigen Zustand nicht mehr erhalten werden kann. Räume, Orte und Dinge müssen neu gedacht werden, weil sie ihre bisherige Funktion verlieren. In entvölkerten Gebieten werden Straßen nicht erneuert und in manchen Städten wird überlegt, wie Abwasserrohre verkleinert werden können, damit die Brühe weiter rasch abfließt. Nicht nur in Ostdeutschland heißt Rückbau, dass Plattenbauten gesprengt werden. Auch im Ruhrgebiet sollen nun Hochhäuser abgerissen werden. Hier zeigen sich wachsende Unterschiede. Jene Kommunen und Länder mit geringen Einnahmen müssen besonders viel ändern. Das überfordert viele. Schrumpfende Städte werden oft zerlöcherte Städte. Im Kern breitet sich die Brache aus, oft wird aber am Rand Bauland für Mittelschicht und Firmen ausgewiesen, die alle Stadtvertreter umwerben und brauchen.

Die Infrastruktur aus Stahl und Beton schrumpft, die soziale Infrastruktur auch. Allerdings müsste sie in dieser Situation an vielen Stellen sogar ausgebaut werden. Beispiel Gesundheit: Wer auf dem Land lebt, bekommt seltener einen Herzinfarkt als in der Stadt, allerdings ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass er daran stirbt. Schon jetzt ist in Ostdeutschland in einigen Gebieten weit und breit kein Arzt mehr in Sicht, viele Ältere können sich auf dem Land kaum noch versorgen, wenn die Wege länger werden. Neue Technologien können einiges verbessern. Insgesamt wird es aber nicht ohne größeres Engagement einzelner gehen. Nicht nur Elternzeit, sondern auch Pflegezeit für kranke und alte Angehörige wird zwischen Angestellten und Arbeitgebern zum Thema werden. Weil der Mangel an sozialer und technischer Infrastruktur das Leben einzelner direkt betrifft, müssen auch neue Wege der Bürgerbeteiligung gefunden werden.

Schrumpfen hat für die Betroffenen zwei Nachteile, die sie zuerst überwinden müssen. Bisherige Gewissheiten und Regeln gelten nicht mehr, neue müssen erst gefunden werden. Zusätzlich hemmt die Menschen in schrumpfenden Gebieten das Verlierer-Image. Als Pioniere des Schrumpfens können sie aber alte Regeln über den Haufen werfen, die nicht mehr passen. Am Ende könnten die Manager des Mangels Vorbild werden für Deutschland, dessen Nachkriegsordnung nicht mehr trägt.
Auf dem Land fällt Vereinen künftig eine größere Rolle zu. Sei es die Freiwillige Feuer, die fast überall gut organisiert ist, seien es andere Vereine. Der Verein für den Bürgerbus im brandenburgischen Gransee ist ein Beispiel. Dort fielen öffentliche Verkehrsverbindungen weg. Die Bürger organisierten sich ihr eigenes ›Sammeltaxi‹. Nun fahren ehrenamtliche Fahrer im Kleinbus. Damit wird nicht nur ein Mangel ausgeglichen, die Bürger erobern sich auch Einfluss zurück. Landleben wird mit Hilfe des Internet und anderer Technologie einerseits enger mit den städtischen Zentren verbunden sein. Andererseits wird der Lebensstil auch wieder dem vergangener Tage ähnlicher – die Wege sind weit, öffentliche Verkehrsmittel rar, das Angebot an Kultur gering und die Versorgung durch Ärzte eher lückenhaft. In vielen entvölkerten Gebieten werden Jeep und Handy zur Grundausrüstung. Brandenburgs Landesregierung spielt bereits durch, wo künftig noch Straßen erneuert werden sollen und wo im Winter noch der Schnee geräumt werden soll. Wer Landleben will, bekommt es – Abgeschiedenheit inbegriffen.

In Ostdeutschland ist Schrumpfen bereits Alltag. Immer wieder entsteht dort bereits neues Leben in den entleerten Regionen. ›Raumpioniere‹ entdecken die Leere. Gutshöfe werden saniert und zu dörflichen Zentren ausgebaut. Naturtourismus zieht Städter an. Alte Handwerke werden wiederbelebt. An der Grenze zu Polen und Tschechien gibt es gemeinsame Projekte. Dinge entstehen, die anderswo wegen hoher Kosten oder Platzmangel keine Chance hätten oder gar nicht erst überlegt würden. Das ist innovativ.

Der Rückzug des Staates und das Auseinanderdriften von Lebenswelten hat jedoch auch einen gegensätzlichen Aspekt. Manche nennen es die Rückbesinnung auf Familie und auf Netzwerke aus Freunden und Nachbarn. Die zugehörige Debatte um die neue Bürgerlichkeit und konservative Werte kommt nicht umsonst in Zeiten des Schrumpfens auf. Es zeigt sich, dass schrumpfende Gesellschaften gedanklich in einem Dilemma stecken. Sie müssen innovativ und experimentierfreudig sein. Viele reagieren aber mit dem Festhalten am Bisherigen, weil die Zukunft Furcht auslöst. Eine Mischung aus modern und traditionell scheint brauchbar. Innovative Regionen haben oft zugleich starke Traditionen. Kommunen mit festem Zusammenhalt in Vereinen oder Kirchengemeinden kommen besser mit dem Schrumpfen zurecht als andere. Sie können durch das Engagement und die Kreativität dieser Gruppen oft sogar den Schwund abwenden. Dieser ›Blasmusik-Bonus‹, der Süddeutschland gegenüber Teilen Norddeutschlands und vor allem den neuen Ländern zugeschrieben wird, wurde früher als unbedeutend abgetan.

Wir werden weniger, älter und unterschiedlicher. Das hat zur Folge, dass sich die Lebensformen immer mehr differenzieren. Schon jetzt zeigen sich Konflikte zwischen Familien und Kinderlosen. Wenn Ressourcen knapper werden, häufen sich Vorwürfe, wer von wem profitiert. Wo die Fliehkraft in der Gesellschaft stärker wird, kann künftig vor allem Bildung für Integration sorgen. Bildung ist das brauchbarste Mittel gegen die negativen Folgen des Schrumpfens. Sie muss zweierlei schaffen: Alle erreichen und fördern sowie zugleich eine Elite der Qualifizierten herausbilden. Und das in Zeiten schwindender öffentlicher Finanzen. Bildung und Schulen werden nur den nötigen Stellenwert bekommen, wenn klar wird, wie weit die Folgen schlechter Bildung und Integration reichen. So werden etwa Jungs wesentlich häufiger im Bildungssystem ›abgehängt‹ als Mädchen.

Auf extreme Weise zeigt sich das in den sich leerenden Gegenden Ostdeutschlands, wo gut ausgebildete junge Frauen in Scharen abwandern und etliche Männer ohne Job zurückbleiben. Es zeigt sich auch bei Hauptschülern und Jungen aus Zuwandererfamilien, die Bildung oft nicht mehr als Chance sehen. Deutschland wird es sich aber nicht leisten können, diese Jugendlichen weiter so schlecht auszubilden. Ins Positive gewendet, liegt hier eine Chance für Deutschland – wenn dieser Nachwuchs sich künftig als Teil der Gesellschaft mit Entwicklungsmöglichkeiten verstehen kann.

Geld muss für Bildung statt für Agrarsubventionen und Häuslebauer ausgegeben werden. Viele Subventionen ließen sich noch streichen. Aber bedeutet das, dass die Wohltaten für die Mittelschicht schwinden und Geld gezielt für die Förderung Benachteiligter eingesetzt würde? Das wird Unmut erzeugen, auch wenn Mittelschichtfamilien sich finanziell an der Bildung ihrer Kinder beteiligen können. In Städten wie Berlin, wo die Möglichkeiten des Staates stark schrumpfen, zeigt sich das in der steigenden Zahl von Kindern, die in Privatschulen angemeldet werden. Hier zeigt sich, dass die bildungsorientierte Mittelschicht relativ gute Voraussetzungen für das Schrumpfen mitbringt. Es gilt aber auch, dass sich die ›Gewinner‹ nicht von den ›Verlierern‹ loskoppeln können, sondern im Allgemeininteresse Abstriche vom Bisherigen machen und Benachteiligte unterstützen müssen. Der armen Verwandtschaft ist kein Entkommen.

Literatur:
RAABE, KATHARINA / SZNAJDERMAN, MONIKA (Hg.), Last and Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas, Frankfurt/M.2006   
KAUFMANN, FRANZ-XAVER,  Schrumpfende Gesellschaft, Frankfurt/M. 2005
DIENEL, CHRISTIANE (Hg), Abwanderung, Geburtenrückgang und regionale Entwicklung. Ursachen und Folgen des Bevölkerungsrückgangs in Ostdeutschland, Wiesbaden 2005
ULRICH, BERND, Deutsch, aber glücklich. Eine neue Politik in Zeiten der Knappheit, Frankfurt/M. 2002
BIRG, HERWIG, Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über unsere Zukunft sagt,  München 2005
BERLIN-INSTITUT FÜR BEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG, Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? Daten, Fakten, Analysen, München, 2006