Gilles Boileau
______________

Fleisch und Eis


Das Problem der Reform, so wie es heute allerseits bewegt, bezieht sich vorwiegend auf Reformen der Wirtschaft. Die Dynamik wirtschaftlicher Reformen aber zielt, sich selbst überlassen, auf den radikalen Abbau des bestehenden Netzes sozialer Sicherungen. Hieraus ergeben sich Ängste und Befürchtungen vor dem Schwinden eines letzten Minimums an Stabilität, die massive Widerstände gegen das gesamte Reformprojekt erzeugen. Reform erweist sich als unmöglich. Es ist eine Unmöglichkeit, die sich aus einem Konflikt zwischen dem Streben nach Instabilität und dem nach Stabilität oder auch zwischen zwei Typen von Intelligenz verstehen lässt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konzentrierte man sich einerseits auf den Wiederaufbau der europäischen Staaten und andererseits auf die Fortsetzung einer Politik, die sowohl auf die freie Entwicklung der wirtschaftlichen Kräfte achten als auch soziale Sicherheit gewährleisten wollte. Die Beteiligung der Staaten an den Aktivitäten der Wirtschaft nahm dabei erheblich zu. Hinzu kam eine weitere Beschleunigung des Prozesses der Individualisierung. Begonnen hatte dieser bereits mit den protestantischen Reformen, die das Recht des Individuums betont und die konkrete Person in der Vieldimensionalität ihrer Bindungen in den Hintergrund gerückt hatten. Die innere Lockerung der katholischen Kirche, die sich immer als Horizont einer Gesellschaft verstanden hatte, in der jeder einzelne ein über das Natürliche hinausgehendes Ziel hat, tat ein Übriges.

Versuche einer Rationalisierung der staatlichen Fürsorge stoßen in Europa auf erhebliche Widerstände. Projekte dieser Art sehen sich als Reform, nicht als Revolution. Wie kann man diese beiden Begriffe definieren?

Revolution zielt darauf ab, und dies in der Regel durch Gewaltmittel, die dominierende Ordnung einer gegebenen Gesellschaft oder sogar der ganzen Menschheit zu vernichten und durch eine andere zu ersetzen. Die neue Ordnung, die sie will, speist sich gemeinhin aus der Utopie einer Ordnung, die im Wesen keiner Veränderungen mehr bedarf, mithin ohne die stetige Refiguration der Kräfte und ihrer Beziehungen auskommt, die für Politik das Wesentliche ist (Freund 2004, S.112-3). Man strebt gleichsam danach, sich der Ordnung der Dinge oder der Geschichte anzuschmiegen und so eine Gesellschaft zu bauen, die sich nicht immer wieder neu reguliert, sondern im Ganzen der universalen Vernunft aufgeht und damit per definitionem stabil ist. Reform, andererseits, sieht sich vielerlei Diskursen und Praktiken verpflichtet, unter anderem denen der Religion und der Politik. Das französische Wort ›reforme‹ bedeutet ein Zweifaches. Einmal meint es einen Prozess graduellen Wandels, in dem sich Institutionen oder auch Sitten und Gebräuche einer Lage anpassen, mit der sie ohne Wandel nicht mehr zu Recht kämen. Meist handelt es sich dabei um einen Prozess der Vereinfachung. In bestimmten Fällen bringt dieser Prozess Bedingungen hervor, die radikalere Veränderungen auslösen als die Initiatoren der Reform vorhergesehen haben. Zweitens meint der Ausdruck einen Akt der Ausmusterung und der Verschrottung. ›Reforme‹ erzeugt im Französischen also die Vorstellung einer Transformation und die einer Elimination. Reform wäre Revolution, wenn es nicht immer den Überschuss des Bewahrens gäbe. Anders als der Revolution geht es der Reform darum, durch Transformation und Elimination Bedingungen der Bewahrung zu etablieren. Sie will Stabilität, wenigstens in einem vorläufigen Sinne. Ihr Versuch, Bedingungen der Bewahrung zu etablieren, kann auch zu einer vollständigen Auflösung und Umkehrung einer Formation von Stabilität führen. Dies wird aber immer politisch geschehen, nämlich durch kontrollierte, auf die Gegebenheiten des Augenblicks bezogene Schritte, und kaum je mit dem Anspruch auf irgendeine Art von System.

Eine religiöse Reform kann mehrere Aspekte annehmen, nicht selten gleichzeitig. Die großen Reformer des Katholizismus bemühten sich um innere Reformen. Sie wollten die Sitten des Volkes und auch der Geistlichen korrigieren und in Einklang mit den Entscheidungen der Institution bringen. Nicht die Institution wollten sie verändern, sondern das persönliche und auch soziale Handeln der Menschen den Forderungen der Institution näher bringen. Die protestantischen Reformen Luthers und Calvins wollten im Gegensatz dazu eine Rückkehr zum ›wahren‹ Leben des Glaubens, idealiter zu den Sitten der Urkirche, die als unhinterschreitbarer Horizont des Wahren angesehen wurde. Neuerungen, eingeführt von Kirchenvätern oder Konzilien, galten als Missbrauch oder unangemessene und sogar gefährliche Verkomplizierung des Glaubenslebens (siehe Belloc 1928, S. 88-140). Einer der Unterschiede zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus ist der unterschiedliche Bezug zu Reinheit und zur Zeit. Während die Lehren des Katholizismus zu einer immer weiter fortschreitenden Differenzierung, damit auch zu einer Zunahme von Komplexität und Kompliziertheit neigen, tendieren die protestantischen Reformen zu einer Fixierung auf die Kontinuität eines Ausgangspunkts und Ursprungs. Die protestantischen Reformen entsprechen damit eher dem Paradigma der Revolution als dem der Reform. Anders als Revolutionen marxistischer Prägung, die sich an eine immanente, idealisierte und gänzlich körperlose Zukunft binden, hängen sie an einer entkörperten, vom Fleisch geschichtlicher Verortung abgelösten Vergangenheit.

Die Ideen der Reform und der Revolution gravitieren beide um zwei Begriffe, den der Stabilität und der Instabilität. Revolution will eine abschließende und endgültige Form von Stabilität, die sie mit allen Mitteln zu etablieren sucht. Reform will ein dynamisches Gleichgewicht zwischen unberechenbaren Kräften der Geschichte und den Erforderungen der Ordnung. Sie definiert einen Horizont kontinuierlicher Anpassung an das Neue, aber auch einen der Treue und der Bewahrung.

Reformen haben gemeinhin eine politische, eine moralische und eine wirtschaftliche Dimension. In politischer Hinsicht sind sie von der Sorge um Stabilität geleitet. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, dass Politik ihrem Wesen nach verschwände, wenn dabei mehr gelänge als eine Stabilisierung der politischen Institutionen. In moralischer Hinsicht besteht eine der Versuchungen moderner Reformpolitik darin, sich den Anschein einer lückenlosen Zuständigkeit und Jurisdiktion zu geben. Dies war nicht immer so. Frankreich wurde während des größten Teils seiner Geschichte zwar auf der Grundlage eines Regelwerks regiert, das man als Fundamentalgesetz des Königreichs betrachtete, dieses aber wurde nie in schriftlicher Form niedergelegt. Im alten China begannen die Staaten Zheng und Jin damit, die Strafgesetze auf eisernen Dreifüßen jedermann bekannt zu machen (Vgl. Zuozhuan, Zhaogong 6, in Shisanjing Zhushu, [Beijing: Zhonghua, 1983], 43.34 und Zhaogong 29, in Shisanjing Zhushu, 53.422-3). Eine der Quellen zitiert dazu einen, möglicherweise apokryphen, Ausspruch des Konfuzius. Die schriftliche Niederlegung der Gesetze, so heißt es da, kündige das bevorstehende Ende des Staates Jin an. Sie zeige, dass die Regeln des Zusammenlebens keine Grundlage mehr in der Innerlichkeit der Beziehungen der Menschen untereinander hätten. Reform wurde im alten China dann oft als moralische Reform des Herrschers verstanden. Der Begründer der Shang-Dynastie, Tang der Siegreiche, nimmt die Hauptverantwortung für die Unordnung des Reiches auf sich.  All die Erscheinungen des Monströsen unter den Menschen und in der Natur, die das Reich beunruhigten, seien eine Folge seines eigenen Verhaltens. Um der weiteren Verschärfung der Unordnung Einhalt zu gebieten, bringe er sich selber als Opfer dar (Kap. Tanggao, Shisanjing Zhushu, 8. 50).

Bleibt die dritte Reformdimension, die der Ökonomie. Ein Vergleich des alten China mit der Moderne zeigt die nahezu vollständige Entkopplung des Ökonomischen als Charakteristikum der Modernisierung. Die Ökonomie wird zur umgreifenden Dimension. Sie ist nicht nur entkoppelt von den anderen Dimensionen des sozialen und politischen Lebens, sondern fungiert auch, zumindest idealiter, als Prinzip der Letztprägung. Das soziale Leben insgesamt wird gesehen als beständiger Austausch von Gütern und Dienstleistungen, deren Wert quantifizierbar und deren Erwerb durch den Reiz des Gewinns motiviert ist (vergl. Polanyi 1944). Das beständige Fließen der ökonomischen Austauschbeziehungen tendiert dazu, alle anderen sozialen und sogar politischen Aktivitäten, die ihnen einen Ort und auch die erforderliche Manövriermasse bieten, in seinen Dienst zu stellen. Das Ökonomische spielte zwar auch in den sozialen und politischen Beziehungen der alten Gesellschaften eine Rolle, kaum aber eine in diesem Sinne primäre. Sie blieb gebunden an Forderungen und Ziele, die nicht durch die Ökonomie allein bestimmt waren. Konsum, etwa der einer bestimmten Art von Fleisch, war im alten China nicht durch die Verfügbarkeit wirtschaftlicher und finanzieller Mittel bestimmt, sondern durch den Rang. Im Kapitel yuzao des Liji heißt es: »Der Prinz kann nicht, ohne einen Grund, ein Rind töten, noch der Großoffizier ein Schaf oder der gemeine Adlige ein Schwein oder einen Hund.« (Shisanjing ed., 29.246) Als Gründe galten bestimmte Formen des Opfers. Die Ressource Fleisch also war kein ausschließlich ökonomisches Faktum.

Die dominierende Rolle der Ökonomie, so wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert herausgebildet hat, hat viel mit einer internen Problematik der protestantischen Reformen zu tun. Von früh an waren diese genötigt, tiefgehende theologische Differenzen zu neutralisieren. Ökonomisches Handeln wurde zum harmonisch vereinenden Band. Sehr schön illustriert dies eine Erzählung von Voltaire (1993, S. 333). Diese handelt vom Erstaunen eines italienischen Edelmanns, der in Holland ankommt und auf der Straße mit einem Dutzend unterschiedlicher und theologisch gegensätzlicher protestantischer Denominationen konfrontiert wird. Weit davon entfernt, in wechselseitige Massaker zu verfallen, wie der Besucher erwartet, finden sich die Sektierer an der Börse zusammen, um dort lukrative und friedliche Geschäfte zu tätigen. Die Theologie, Agent der absoluten Wahrheit und Stabilität, und die Ökonomie, Agent des Relativen und des ständigen Wandels, haben im Dialog von Individuum und Gesellschaft die Funktionen getauscht. Die Ökonomie ist zum sozialen Band geworden, das damit die Form erlaubten und schließlich vorgeschriebenen Austauschs angenommen hat. Die Theologie hat sich auf den Bereich des Individuellen und Privaten zurückgezogen, der autonom geworden ist, sich dabei aber auch atomisiert hat. Anders als Voltaire meinte, hat diese Entwicklung dem Krieg aber kein Ende gemacht. Das strategisch-kriegerische Denken hat stattdessen das der Wirtschaft erobert und umgeprägt.

Im Bereich der Ökonomie ist alles verhandelbar, jedes Gut kann, zumindest theoretisch, veräußert oder auch erworben werden. Er bietet deshalb keinerlei Grundlage für Stabilität. Der Widerstand gegen Reformen im Sinne dieses Prinzips zeigt, dass Stabilität dennoch nötig ist. Auch unabhängig davon lässt sich zeigen, dass das Prinzip ständigen Fließens zu seiner Verwirklichung das Fortbestehen oder die Wiederkehr einer Art verletzlicher Stabilität benötigt, der sie dann freien Lauf lassen kann. Wie J. Sapir dargestellt hat, erfüllen politische und soziale Institutionen diese Funktion lokal und temporal begrenzter Insel von Stabilität (2005, S. 142, 152).

Der komplexe Dialog von Stabilität und Instabilität lässt sich durch ein Ritual des archaischen China illustrieren, das vorschrieb, den Adligen, deren sozialer Status es ihnen erlaubte, Stücke von Opferfleisch zu empfangen, zusammen mit diesem auch Eis zu schenken.

Das Fleisch-Geschenk galt als Bekundung der Fähigkeit und der Macht, einen Genuss zu konzedieren. Das Eis erlaubte es dem Empfänger, das Fleisch zu bewahren, vom Konsum also abzusehen. Das Geschenk gab ein Doppeltes, die Unmittelbarkeit des Genusses und deren Heilung, die Verwandlung von Unmittelbarkeit in Stabilität. Indem der König oder Prinz dem Fleisch-Geschenk die relative Dauer des Eises verlieh, übergab er mit dieser Dauer auch ein Element seiner eigenen Macht. Dies erzeugt ein Paradox. Macht bekundet sich in der Fähigkeit, das Geschenk zu geben und zusammen mit diesem auch Dauer. Das auf Dauer gestellte Geschenk befreit den Empfänger aber für einige Zeit von der Angst um den Fortbestand des Wohlwollens, dem er das Geschenk verdankt. Dies reduziert die Macht des Schenkenden. Zwar bleibt diesem der Vorbehalt, das Eis-Geschenk jederzeit zu widerrufen und damit das Fleisch wieder seiner ursprünglichen Verderblichkeit auszusetzen. Das Eis-Geschenk bleibt dennoch Übergabe eines Quantums der Macht des Schenkenden, wenn auch temporär und widerrufbar. Nach der Errichtung des Reiches gab es das nicht mehr. Die sich etablierende Macht achtete auf die Unbeständigkeit von Geschenken, um so den Nutzen der Dauer, die sie einst mit anderen zu teilen sich verpflichtet gefühlt hatte, allein für sich zu behalten. Den Unterworfenen bleibt allein der Status der Instabilität.

Eine der Aufgaben jeder Regierung ist die Stabilisierung der Gesellschaft im Ganzen. Der philosophische Taoismus hat dazu ein vieldiskutiertes Programm ausgearbeitet. Der klassische Text ist das vermutlich im dritten vorchristlichen Jahrhundert entstandene Werk, das man DaoDejing nennt. Bestimmend für das genannte Programm sind zwei Leitgesichtspunkte. Einmal geht es um die Rückkehr zu einer ›antiken‹ Einfachheit und Schlichtheit. Das Ideal einer guten Regierung sei nur zu verwirklichen durch die Etablierung eines geographisch eng begrenzten Staatswesens, in dem die Austauschbeziehungen ein Niveau vergleichsweise niedriger Komplexität nicht überschreiten (Vgl. Dao Dejing, Kap. 80). Zweitens müsse die Regierung darauf achten, Fermente des Disputs schon im Ansatz zu blockieren, indem sie jede Öffentlichkeit der Debatten unter Intellektuellen unterbindet. (Der erste Kaiser Chinas ließ darüber hinaus einige hundert Intellektuelle lebendig begraben! – Vgl. Shiji, Beijing: Zhonghua, 1985, juan 6 p. 258.) Auch habe sich die vom Weg im Sinne des Dao geleitete Regierung so zu positionieren, dass sie nie genötigt ist, direkt zu handeln. Es ist dies das berühmte Nicht-Tun der taoistischen Meister. Angestrebt wird eine Totalassimilation an die immanenten Gesetze des Universums und damit an eine Unbedingtheit, die so wenig bezweifelt werden kann wie der Lauf der Jahreszeiten. Dieses Ideal der Etablierung von Macht durch Selbstauflösung ist nicht ohne Paradoxie. Es ist nicht zu sehen, wie die Ausübung einer so etablierten Macht aussehen sollte. Sichtbare Implementierung ausdrücklich getroffener Entscheidungen kann Machtausübung hier jedenfalls nicht sein (vergl. Freund, S. 215).
Der taoistische Diskurs über die »Natürlichkeit der Macht« (siehe Zhuangzi , Kap. Tiandao, S. 182, 209) lässt sich als Theorie der apophatischen Natur der Macht lesen. Die ersten vier Zeilen des DaoDejing formulieren das so: »Der Weg, der gesagt werden kann, ist nicht der natürliche (konstante) Weg; der Name der ausgesprochen werden kann ist nicht der wahre Name.« Macht, apophatisch verstanden, ist mit Politik nicht vereinbar. Diese setzt bei der öffentlich erkennbaren Verfasstheit der Dinge an. Bezogen auf diese entwirft sie Handlungsperspektiven und trifft Entscheidungen, die sie sodann zu verwirklichen sucht. Politik, die sich an natürlicher Immanenz orientiert, kann es nicht geben. Fragt man nach der Motivation einer apophatischen Auffassung von Macht, gestützt auf den Traum oder das Phantasma letztinstanzlicher Natürlichkeit, so hat diese sicherlich auch mit dem Bestreben zu tun, sich jeder Kritik zu entziehen. In diesem Punkt ergibt sich eine überraschende Nähe zur Rhetorik der Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen, so wie sie allenthalben an uns herantritt.

Das klassisch-liberalistische Vokabular, inspiriert durch Locke und Adam Smith, aber auch durch Quesnel und die Protagonisten des ›Laissez-faire‹, bindet das Prinzip sozialer Stabilität an das vorgeblich ›natürliche‹ und deshalb notwendige Fließen des Austauschs. Nimmt man das Bild vom Eis und vom Fleisch und die darin ausgedrückte Dynamik der Beziehung zwischen Stabilität und Instabilität als Hintergrund, so wird erkennbar, dass der Liberalismus jede auf ihn sich berufende Regierung mit der Versuchung konfrontiert, auf Kosten derer, die sie regiert, Stabilität an sich zu ziehen. Die Dynamik der Ökonomie und deren Gesetze werden als Fakten der Natur dargestellt, denen man sich zu fügen habe. Politik müsse sich diesen Gesetzen anmessen. Die von ihnen erzeugte Instabilität sei unvermeidbar. Es ist eine Politik des Politikverzichts. Seltsam nur, dass ultra-liberale Politik seit Reagan überall dazu geführt hat, die Macht des modernen Staates zu steigern.

Am Anfang der Geschichte des Primats der Ökonomie in der gesamtgesellschaftlichen Lebensgestaltung steht England. Der englische Staat hat diesen Primat vorbereitet und seine Herausbildung begleitet. Polanyi weist in diesem Zusammenhang auf eine bedenkenswerte Eigenart des englischen Staates hin. Anders als der französische Staat und die Staatsbildungen im deutschen Kulturraum, habe der englische Staat die katholische Kirche vollständig in sich aufgenommen und »nationalisiert«. Damit habe er zusammen mit der politischen Macht auch die der geistlichen Leitung übernommen. Es hat, so kann man auch sagen, eine vollständige Übernahme der religiösen auctoritas durch die königliche potestas stattgefunden, was vor der Ankunft des Christentums allerdings die Regel war, denn Herrscher galten als Söhne von Göttern oder auch des Himmels. Indem der englische Staat das Hervortreten des Ökonomischen zu einer unabhängigen und tendenziell alles umgreifenden Kraft des Handelns in der Welt billigte und in der ersten Phase selber erst ermöglichte, musste er diesem Prozess die gleiche in der göttlichen Vorsehung gründende Legitimität zuschreiben, die er selber beanspruchte. Illustriert wird dieser vorgebliche Zusammenhang von Ökonomie und Vorsehung durch den Begriff der ›unsichtbaren Hand‹. Mit dem Wesen von Politik allerdings steht er in einem unlösbaren Konflikt.

Das Bestreben der Reformen im Bereich des Moralischen, den einzelnen von sozialen Zwängen und Bevormundungen zu befreien, kehrt den Zielpunkt des Widerstands gegen wirtschaftliche Reformen um. Moralische Autonomie statt eines Lebens nach festen Regeln bedeutet weniger Stabilität. An deren Reduzierung durch wirtschaftliche Reformen aber stößt sich der Widerstand gegen diese gerade. Einer der treibenden Faktoren der Reformen im moralischen Bereich war die Befreiung des intellektuellen Diskurses vom normativen Rahmen der katholischen Kirche, von dieser selber gebilligt durch die Ausarbeitung einer sich rational und diskursiv gebenden Theologie. Diese Freisetzung des intellektuellen Diskurses war aber auch eine der Bedingungen für die sich herausbildende Autonomie des Ökonomischen, gegen deren Forderungen sich der Widerstand gegen wirtschaftliche Reformen dann richtet.

Es gehört zum Wesen der diskursiven Intelligenz, die Analyse ohne jede Grenzsetzung und Sorge um das soziale Wohl fortzuführen. Bergson sah darin eine besondere Art des Egoismus (1992, S.33, 126). Intellektualität agiert auf ihre Weise wie eine Form des Handels, eben eines Handels mit Ideen. Sie zielt ebenso auf ein unablässiges Fließen wie die zum autonomen Faktor gewordene Ökonomie. Die Politik sieht sich mit zwei Instanzen konfrontiert, die Instabilität erzeugen. Ihre Antwort auf den Markt einerseits und die Intellektuellen andererseits ist aber nicht die gleiche. Im ersten Falle stellt sie sich in den Dienst der Forderungen nach wenigstens temporärer Stabilität, so wie sie von der Gesellschaft ausgehen. Im zweiten Falle wird sie selber Akteur, Kunde und Käufer auf dem Markt intellektueller Hervorbringungen, wie Hanfeizi schon im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung feststellte (Kap. waichushuoyou, Zhuzi jicheng ed. 14.35.), damit auch eine formende Kraft, die intellektuelle Strömungen so schafft oder zu schaffen sucht, wie sie für sie nützlich sind. Im alten China war die Einführung der kaiserlichen Examina in dieser Hinsicht ein meisterlicher Schachzug. Nahezu alle intellektuellen Aktivitäten wurden damit in den Dienst des eben etablierten Reiches gestellt.

Dumézil hat in seiner Analyse des Loki, einer eigentümlichen Figur der nordischen Mythologie, die ebenso konflikthaften wie intimen Bande zweier sehr unterschiedlicher Typen von Intelligenz herausgearbeitet. Da ist einmal die Intelligenz des Souveräns, verkörpert durch Odin, daneben eine »diabolische« Intelligenz, die auf halbem Wege zwischen Auflösung und Lösung zu finden ist. Lösung ist hier zugleich Auflösung. Sie entsteht durch Vereinfachung. Positioniert zwischen zwei Extremen, der unendlich fortschreitenden Analyse und der auflösenden Lösung eines Problems durch Vereinfachung, ist es die Aufgabe der diskursiven Intelligenz, der Intelligenz des Souveräns Lösungen für die Aufgaben vorzuschlagen, die dieser übertragen sind. Diese Vereinfachung, welche die Intelligenz des Souveräns auf Grund ihrer Natur als handelnde Macht fordert, wird jener damit zugleich auch auferlegt. Die Intelligenz des Souveräns orientiert sich dabei am Ganzen der Gruppe oder Gesellschaft, für deren Stabilität sie zu sorgen hat. Sie kann versuchen, sich dabei der Immanenz der Gesetze der Natur anzuschmiegen, faktisch aber wird das auflösende Handeln eher auf ein temporäres Suspendieren natürlicher Abläufe hinauslaufen. Wird das Fleisch nicht durch Eis gekühlt, so verdirbt es. Es löst sich auf. Eis und Fleisch stehen für die zwei Grenzpunkte, zwischen denen das Denken des Souveräns oszilliert, absolute Stabilität eben und absolute Instabilität. Absolute Stabilität gehört in die Welt der Träume, wenn nicht sogar der Albträume. Temporäre Stabilität, ein Analogon etwa zur Gewohnheit, ist notwendige Voraussetzung gerade auch für jeden Wandel (vgl. Guitton 1978, S. 611). So wie aber das sich selbst überlassene Fleisch zerfällt und das menschliche Denken, bleibt es ohne Widerstand, sich in der Unendlichkeit seiner Unterscheidungen auflöst, zerstört auch die sich selber überlassene Ökonomie die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit, die Stabilität der Pole, die für jede Art von Tausch erforderlich sind. In historischer Perspektive mag es wohl sein, dass sich der Widerstand gegen wirtschaftliche Reformen als quasi-archaische Reaktion gegen die Erfordernisse des Marktes darstellt. So eine Sicht aber greift zu kurz. In Wahrheit handelt es sich hier um ein Festhalten an Notwendigkeiten der menschlichen Natur angesichts einer Dynamik, an deren Ende nur deren Auflösung stehen könnte.

Aus dem Französischen übertragen von Reinhard Düßel


Literatur

BELLOC, HILAIRE, How the Reformation Happened, New York: R. M. McBride and Co, 1928.
BERGSON, HENRI, Les deux sources de la morale et de la religion, Paris: PUF, 1992.
BLOCH, MAURICE, Ritual, History and Power, Oxford: Berg, 2004.
BOILEAU, GILLES, Conferring meat in archaic China: between reward and humiliation, Asiatische Studien/Etudes asiatiques (LX 4 dec. 2006, pp. 867-902).
DAO DEJING, Zhuzi jicheng ed. ed. Yang Jialuo ,Taipei: Shijie, 1955
DUMEZIL, GEORGES, Loki, Paris : Flammarion, 1986.
FREUND, JULIEN, L’essence du politique, Paris: Dalloz, 2004.
GUITTON, JEAN, L’existence temporelle, in: ders. Œuvres complètes, Philosophie, Paris: Desclée de Brouwer, 1978.
POLANYI, KARL, La grande transformation (the great transformation ed. originale 1944), Paris: Gallimard, 1983.
SAPIR, JACQUES, Quelle économie pour le XXIème siècle?, Paris: Odile Jacob, 2005.
STERCKX, ROEL, Food and Philosophy in Early China. Of Tripod and Palate, (R. Sterckx ed.), New-York: Palgrave and Macmillan, 2004.
VOLTAIRE,  Pot pourri,  in : Zadig et autres contes, Paris: Booking international 1993
ZUOZHUAN, Zhaogong, in : Shisanjing Zhushu, Beijing: Zhonghua, 1983