Das
Problem der Reform, so wie es heute allerseits bewegt, bezieht sich
vorwiegend auf Reformen der Wirtschaft. Die Dynamik wirtschaftlicher
Reformen aber zielt, sich selbst überlassen, auf den radikalen
Abbau des bestehenden Netzes sozialer Sicherungen. Hieraus ergeben sich
Ängste und Befürchtungen vor dem Schwinden eines
letzten
Minimums an Stabilität, die massive Widerstände gegen
das
gesamte Reformprojekt erzeugen. Reform erweist sich als
unmöglich.
Es ist eine Unmöglichkeit, die sich aus einem Konflikt
zwischen
dem Streben nach Instabilität und dem nach Stabilität
oder
auch zwischen zwei Typen von Intelligenz verstehen lässt.
Nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs konzentrierte man sich einerseits auf
den Wiederaufbau der europäischen Staaten und andererseits auf
die
Fortsetzung einer Politik, die sowohl auf die freie Entwicklung der
wirtschaftlichen Kräfte achten als auch soziale Sicherheit
gewährleisten wollte. Die Beteiligung der Staaten an den
Aktivitäten der Wirtschaft nahm dabei erheblich zu. Hinzu kam
eine
weitere Beschleunigung des Prozesses der Individualisierung. Begonnen
hatte dieser bereits mit den protestantischen Reformen, die das Recht
des Individuums betont und die konkrete Person in der
Vieldimensionalität ihrer Bindungen in den Hintergrund
gerückt hatten. Die innere Lockerung der katholischen Kirche,
die
sich immer als Horizont einer Gesellschaft verstanden hatte, in der
jeder einzelne ein über das Natürliche hinausgehendes
Ziel
hat, tat ein Übriges.
Versuche einer
Rationalisierung der
staatlichen Fürsorge stoßen in Europa auf erhebliche
Widerstände. Projekte dieser Art sehen sich als Reform, nicht
als
Revolution. Wie kann man diese beiden Begriffe definieren?
Revolution
zielt darauf ab, und dies in der Regel durch Gewaltmittel, die
dominierende Ordnung einer gegebenen Gesellschaft oder sogar der ganzen
Menschheit zu vernichten und durch eine andere zu ersetzen. Die neue
Ordnung, die sie will, speist sich gemeinhin aus der Utopie einer
Ordnung, die im Wesen keiner Veränderungen mehr bedarf, mithin
ohne die stetige Refiguration der Kräfte und ihrer Beziehungen
auskommt, die für Politik das Wesentliche ist (Freund 2004,
S.112-3). Man strebt gleichsam danach, sich der Ordnung der Dinge oder
der Geschichte anzuschmiegen und so eine Gesellschaft zu bauen, die
sich nicht immer wieder neu reguliert, sondern im Ganzen der
universalen Vernunft aufgeht und damit
per definitionem
stabil
ist. Reform, andererseits, sieht sich vielerlei Diskursen und Praktiken
verpflichtet, unter anderem denen der Religion und der Politik. Das
französische Wort ›reforme‹ bedeutet ein
Zweifaches.
Einmal meint es einen Prozess graduellen Wandels, in dem sich
Institutionen oder auch Sitten und Gebräuche einer Lage
anpassen,
mit der sie ohne Wandel nicht mehr zu Recht kämen. Meist
handelt
es sich dabei um einen Prozess der Vereinfachung. In bestimmten
Fällen bringt dieser Prozess Bedingungen hervor, die
radikalere
Veränderungen auslösen als die Initiatoren der Reform
vorhergesehen haben. Zweitens meint der Ausdruck einen Akt der
Ausmusterung und der Verschrottung. ›Reforme‹
erzeugt im
Französischen also die Vorstellung einer Transformation und
die
einer Elimination. Reform wäre Revolution, wenn es nicht immer
den
Überschuss des Bewahrens gäbe. Anders als der
Revolution geht
es der Reform darum, durch Transformation und Elimination Bedingungen
der Bewahrung zu etablieren. Sie will Stabilität, wenigstens
in
einem vorläufigen Sinne. Ihr Versuch, Bedingungen der
Bewahrung zu
etablieren, kann auch zu einer vollständigen
Auflösung und
Umkehrung einer Formation von Stabilität führen. Dies
wird
aber immer politisch geschehen, nämlich durch kontrollierte,
auf
die Gegebenheiten des Augenblicks bezogene Schritte, und kaum je mit
dem Anspruch auf irgendeine Art von System.
Eine
religiöse Reform kann mehrere Aspekte annehmen, nicht selten
gleichzeitig. Die großen Reformer des Katholizismus
bemühten
sich um innere Reformen. Sie wollten die Sitten des Volkes und auch der
Geistlichen korrigieren und in Einklang mit den Entscheidungen der
Institution bringen. Nicht die Institution wollten sie
verändern,
sondern das persönliche und auch soziale Handeln der Menschen
den
Forderungen der Institution näher bringen. Die
protestantischen
Reformen Luthers und Calvins wollten im Gegensatz dazu eine
Rückkehr zum ›wahren‹ Leben des
Glaubens, idealiter
zu den Sitten der Urkirche, die als unhinterschreitbarer Horizont des
Wahren angesehen wurde. Neuerungen, eingeführt von
Kirchenvätern oder Konzilien, galten als Missbrauch oder
unangemessene und sogar gefährliche Verkomplizierung des
Glaubenslebens (siehe Belloc 1928, S. 88-140). Einer der Unterschiede
zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus ist der
unterschiedliche Bezug zu Reinheit und zur Zeit. Während die
Lehren des Katholizismus zu einer immer weiter fortschreitenden
Differenzierung, damit auch zu einer Zunahme von Komplexität
und
Kompliziertheit neigen, tendieren die protestantischen Reformen zu
einer Fixierung auf die Kontinuität eines Ausgangspunkts und
Ursprungs. Die protestantischen Reformen entsprechen damit eher dem
Paradigma der Revolution als dem der Reform. Anders als Revolutionen
marxistischer Prägung, die sich an eine immanente,
idealisierte
und gänzlich körperlose Zukunft binden,
hängen sie an
einer entkörperten, vom Fleisch geschichtlicher Verortung
abgelösten Vergangenheit.
Die Ideen der
Reform und der
Revolution gravitieren beide um zwei Begriffe, den der
Stabilität
und der Instabilität. Revolution will eine
abschließende und
endgültige Form von Stabilität, die sie mit allen
Mitteln zu
etablieren sucht. Reform will ein dynamisches Gleichgewicht zwischen
unberechenbaren Kräften der Geschichte und den Erforderungen
der
Ordnung. Sie definiert einen Horizont kontinuierlicher Anpassung an das
Neue, aber auch einen der Treue und der Bewahrung.
Reformen
haben gemeinhin eine politische, eine moralische und eine
wirtschaftliche Dimension. In politischer Hinsicht sind sie von der
Sorge um Stabilität geleitet. Dabei ist freilich nicht zu
vergessen, dass Politik ihrem Wesen nach verschwände, wenn
dabei
mehr gelänge als eine Stabilisierung der politischen
Institutionen. In moralischer Hinsicht besteht eine der Versuchungen
moderner Reformpolitik darin, sich den Anschein einer
lückenlosen
Zuständigkeit und Jurisdiktion zu geben. Dies war nicht immer
so.
Frankreich wurde während des größten Teils
seiner
Geschichte zwar auf der Grundlage eines Regelwerks regiert, das man als
Fundamentalgesetz des Königreichs betrachtete, dieses aber
wurde
nie in schriftlicher Form niedergelegt. Im alten China begannen die
Staaten
Zheng und
Jin damit,
die Strafgesetze auf
eisernen Dreifüßen jedermann bekannt zu machen (Vgl.
Zuozhuan, Zhaogong 6, in Shisanjing Zhushu, [Beijing: Zhonghua, 1983],
43.34 und Zhaogong 29, in Shisanjing Zhushu, 53.422-3). Eine der
Quellen zitiert dazu einen, möglicherweise apokryphen,
Ausspruch
des Konfuzius. Die schriftliche Niederlegung der Gesetze, so
heißt es da, kündige das bevorstehende Ende des
Staates
Jin
an. Sie zeige, dass die Regeln des Zusammenlebens keine Grundlage mehr
in der Innerlichkeit der Beziehungen der Menschen untereinander
hätten. Reform wurde im alten China dann oft als moralische
Reform
des Herrschers verstanden. Der Begründer der Shang-Dynastie,
Tang
der Siegreiche, nimmt die Hauptverantwortung für die Unordnung
des
Reiches auf sich. All die Erscheinungen des
Monströsen unter
den Menschen und in der Natur, die das Reich beunruhigten, seien eine
Folge seines eigenen Verhaltens. Um der weiteren Verschärfung
der
Unordnung Einhalt zu gebieten, bringe er sich selber als Opfer dar
(Kap. Tanggao, Shisanjing Zhushu, 8. 50).
Bleibt
die dritte
Reformdimension, die der Ökonomie. Ein Vergleich des alten
China
mit der Moderne zeigt die nahezu vollständige Entkopplung des
Ökonomischen als Charakteristikum der Modernisierung. Die
Ökonomie wird zur umgreifenden Dimension. Sie ist nicht nur
entkoppelt von den anderen Dimensionen des sozialen und politischen
Lebens, sondern fungiert auch, zumindest idealiter, als Prinzip der
Letztprägung. Das soziale Leben insgesamt wird gesehen als
beständiger Austausch von Gütern und
Dienstleistungen, deren
Wert quantifizierbar und deren Erwerb durch den Reiz des Gewinns
motiviert ist (vergl. Polanyi 1944). Das beständige
Fließen
der ökonomischen Austauschbeziehungen tendiert dazu, alle
anderen
sozialen und sogar politischen Aktivitäten, die ihnen einen
Ort
und auch die erforderliche Manövriermasse bieten, in seinen
Dienst
zu stellen. Das Ökonomische spielte zwar auch in den sozialen
und
politischen Beziehungen der alten Gesellschaften eine Rolle, kaum aber
eine in diesem Sinne primäre. Sie blieb gebunden an
Forderungen
und Ziele, die nicht durch die Ökonomie allein bestimmt waren.
Konsum, etwa der einer bestimmten Art von Fleisch, war im alten China
nicht durch die Verfügbarkeit wirtschaftlicher und
finanzieller
Mittel bestimmt, sondern durch den Rang. Im Kapitel
yuzao
des
Liji
heißt es: »Der Prinz kann nicht, ohne einen Grund,
ein Rind
töten, noch der Großoffizier ein Schaf oder der
gemeine
Adlige ein Schwein oder einen Hund.« (Shisanjing ed., 29.246)
Als
Gründe galten bestimmte Formen des Opfers. Die Ressource
Fleisch
also war kein ausschließlich ökonomisches Faktum.
Die
dominierende Rolle der Ökonomie, so wie sie sich seit dem 16.
Jahrhundert herausgebildet hat, hat viel mit einer internen Problematik
der protestantischen Reformen zu tun. Von früh an waren diese
genötigt, tiefgehende theologische Differenzen zu
neutralisieren.
Ökonomisches Handeln wurde zum harmonisch vereinenden Band.
Sehr
schön illustriert dies eine Erzählung von Voltaire
(1993, S.
333). Diese handelt vom Erstaunen eines italienischen Edelmanns, der in
Holland ankommt und auf der Straße mit einem Dutzend
unterschiedlicher und theologisch gegensätzlicher
protestantischer
Denominationen konfrontiert wird. Weit davon entfernt, in
wechselseitige Massaker zu verfallen, wie der Besucher erwartet, finden
sich die Sektierer an der Börse zusammen, um dort lukrative
und
friedliche Geschäfte zu tätigen. Die Theologie, Agent
der
absoluten Wahrheit und Stabilität, und die Ökonomie,
Agent
des Relativen und des ständigen Wandels, haben im Dialog von
Individuum und Gesellschaft die Funktionen getauscht. Die
Ökonomie
ist zum sozialen Band geworden, das damit die Form erlaubten und
schließlich vorgeschriebenen Austauschs angenommen hat. Die
Theologie hat sich auf den Bereich des Individuellen und Privaten
zurückgezogen, der autonom geworden ist, sich dabei aber auch
atomisiert hat. Anders als Voltaire meinte, hat diese Entwicklung dem
Krieg aber kein Ende gemacht. Das strategisch-kriegerische Denken hat
stattdessen das der Wirtschaft erobert und umgeprägt.
Im
Bereich der Ökonomie ist alles verhandelbar, jedes Gut kann,
zumindest theoretisch, veräußert oder auch erworben
werden.
Er bietet deshalb keinerlei Grundlage für Stabilität.
Der
Widerstand gegen Reformen im Sinne dieses Prinzips zeigt, dass
Stabilität dennoch nötig ist. Auch
unabhängig davon
lässt sich zeigen, dass das Prinzip ständigen
Fließens
zu seiner Verwirklichung das Fortbestehen oder die Wiederkehr einer Art
verletzlicher Stabilität benötigt, der sie dann
freien Lauf
lassen kann. Wie J. Sapir dargestellt hat, erfüllen politische
und
soziale Institutionen diese Funktion lokal und temporal begrenzter
Insel von Stabilität (2005, S. 142, 152).
Der
komplexe
Dialog von Stabilität und Instabilität lässt
sich durch
ein Ritual des archaischen China illustrieren, das vorschrieb, den
Adligen, deren sozialer Status es ihnen erlaubte, Stücke von
Opferfleisch zu empfangen, zusammen mit diesem auch Eis zu schenken.
Das
Fleisch-Geschenk galt als Bekundung der Fähigkeit und der
Macht,
einen Genuss zu konzedieren. Das Eis erlaubte es dem
Empfänger,
das Fleisch zu bewahren, vom Konsum also abzusehen. Das Geschenk gab
ein Doppeltes, die Unmittelbarkeit des Genusses und deren Heilung, die
Verwandlung von Unmittelbarkeit in Stabilität. Indem der
König oder Prinz dem Fleisch-Geschenk die relative Dauer des
Eises
verlieh, übergab er mit dieser Dauer auch ein Element seiner
eigenen Macht. Dies erzeugt ein Paradox. Macht bekundet sich in der
Fähigkeit, das Geschenk zu geben und zusammen mit diesem auch
Dauer. Das auf Dauer gestellte Geschenk befreit den Empfänger
aber
für einige Zeit von der Angst um den Fortbestand des
Wohlwollens,
dem er das Geschenk verdankt. Dies reduziert die Macht des Schenkenden.
Zwar bleibt diesem der Vorbehalt, das Eis-Geschenk jederzeit zu
widerrufen und damit das Fleisch wieder seiner ursprünglichen
Verderblichkeit auszusetzen. Das Eis-Geschenk bleibt dennoch
Übergabe eines Quantums der Macht des Schenkenden, wenn auch
temporär und widerrufbar. Nach der Errichtung des Reiches gab
es
das nicht mehr. Die sich etablierende Macht achtete auf die
Unbeständigkeit von Geschenken, um so den Nutzen der Dauer,
die
sie einst mit anderen zu teilen sich verpflichtet gefühlt
hatte,
allein für sich zu behalten. Den Unterworfenen bleibt allein
der
Status der Instabilität.
Eine der Aufgaben
jeder Regierung
ist die Stabilisierung der Gesellschaft im Ganzen. Der philosophische
Taoismus hat dazu ein vieldiskutiertes Programm ausgearbeitet. Der
klassische Text ist das vermutlich im dritten vorchristlichen
Jahrhundert entstandene Werk, das man
DaoDejing
nennt.
Bestimmend für das genannte Programm sind zwei
Leitgesichtspunkte.
Einmal geht es um die Rückkehr zu einer
›antiken‹
Einfachheit und Schlichtheit. Das Ideal einer guten Regierung sei nur
zu verwirklichen durch die Etablierung eines geographisch eng
begrenzten Staatswesens, in dem die Austauschbeziehungen ein Niveau
vergleichsweise niedriger Komplexität nicht
überschreiten
(Vgl. Dao Dejing, Kap. 80). Zweitens müsse die Regierung
darauf
achten, Fermente des Disputs schon im Ansatz zu blockieren, indem sie
jede Öffentlichkeit der Debatten unter Intellektuellen
unterbindet. (Der erste Kaiser Chinas ließ darüber
hinaus
einige hundert Intellektuelle lebendig begraben! – Vgl.
Shiji,
Beijing: Zhonghua, 1985, juan 6 p. 258.) Auch habe sich die vom Weg im
Sinne des
Dao geleitete Regierung so zu
positionieren, dass sie
nie genötigt ist, direkt zu handeln. Es ist dies das
berühmte
Nicht-Tun der taoistischen Meister. Angestrebt wird eine
Totalassimilation an die immanenten Gesetze des Universums und damit an
eine Unbedingtheit, die so wenig bezweifelt werden kann wie der Lauf
der Jahreszeiten. Dieses Ideal der Etablierung von Macht durch
Selbstauflösung ist nicht ohne Paradoxie. Es ist nicht zu
sehen,
wie die Ausübung einer so etablierten Macht aussehen sollte.
Sichtbare Implementierung ausdrücklich getroffener
Entscheidungen
kann Machtausübung hier jedenfalls nicht sein (vergl. Freund,
S.
215).
Der taoistische Diskurs über die
»Natürlichkeit der Macht« (siehe Zhuangzi
, Kap.
Tiandao, S. 182, 209) lässt sich als Theorie der apophatischen
Natur der Macht lesen. Die ersten vier Zeilen des
DaoDejing
formulieren das so: »Der Weg, der gesagt werden kann, ist
nicht
der natürliche (konstante) Weg; der Name der ausgesprochen
werden
kann ist nicht der wahre Name.« Macht, apophatisch
verstanden,
ist mit Politik nicht vereinbar. Diese setzt bei der
öffentlich
erkennbaren Verfasstheit der Dinge an. Bezogen auf diese entwirft sie
Handlungsperspektiven und trifft Entscheidungen, die sie sodann zu
verwirklichen sucht. Politik, die sich an natürlicher Immanenz
orientiert, kann es nicht geben. Fragt man nach der Motivation einer
apophatischen Auffassung von Macht, gestützt auf den Traum
oder
das Phantasma letztinstanzlicher Natürlichkeit, so hat diese
sicherlich auch mit dem Bestreben zu tun, sich jeder Kritik zu
entziehen. In diesem Punkt ergibt sich eine überraschende
Nähe zur Rhetorik der Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen,
so
wie sie allenthalben an uns herantritt.
Das
klassisch-liberalistische Vokabular, inspiriert durch Locke und Adam
Smith, aber auch durch Quesnel und die Protagonisten des
›Laissez-faire‹, bindet das Prinzip sozialer
Stabilität an das vorgeblich
›natürliche‹ und
deshalb notwendige Fließen des Austauschs. Nimmt man das Bild
vom
Eis und vom Fleisch und die darin ausgedrückte Dynamik der
Beziehung zwischen Stabilität und Instabilität als
Hintergrund, so wird erkennbar, dass der Liberalismus jede auf ihn sich
berufende Regierung mit der Versuchung konfrontiert, auf Kosten derer,
die sie regiert, Stabilität an sich zu ziehen. Die Dynamik der
Ökonomie und deren Gesetze werden als Fakten der Natur
dargestellt, denen man sich zu fügen habe. Politik
müsse sich
diesen Gesetzen anmessen. Die von ihnen erzeugte Instabilität
sei
unvermeidbar. Es ist eine Politik des Politikverzichts. Seltsam nur,
dass ultra-liberale Politik seit Reagan überall dazu
geführt
hat, die Macht des modernen Staates zu steigern.
Am
Anfang der
Geschichte des Primats der Ökonomie in der
gesamtgesellschaftlichen Lebensgestaltung steht England. Der englische
Staat hat diesen Primat vorbereitet und seine Herausbildung begleitet.
Polanyi weist in diesem Zusammenhang auf eine bedenkenswerte Eigenart
des englischen Staates hin. Anders als der französische Staat
und
die Staatsbildungen im deutschen Kulturraum, habe der englische Staat
die katholische Kirche vollständig in sich aufgenommen und
»nationalisiert«. Damit habe er zusammen mit der
politischen Macht auch die der geistlichen Leitung übernommen.
Es
hat, so kann man auch sagen, eine vollständige
Übernahme der
religiösen
auctoritas durch die
königliche
potestas
stattgefunden, was vor der Ankunft des Christentums allerdings die
Regel war, denn Herrscher galten als Söhne von
Göttern oder
auch des Himmels. Indem der englische Staat das Hervortreten des
Ökonomischen zu einer unabhängigen und tendenziell
alles
umgreifenden Kraft des Handelns in der Welt billigte und in der ersten
Phase selber erst ermöglichte, musste er diesem Prozess die
gleiche in der göttlichen Vorsehung gründende
Legitimität zuschreiben, die er selber beanspruchte.
Illustriert
wird dieser vorgebliche Zusammenhang von Ökonomie und
Vorsehung
durch den Begriff der ›unsichtbaren Hand‹. Mit
dem Wesen
von Politik allerdings steht er in einem unlösbaren Konflikt.
Das
Bestreben der Reformen im Bereich des Moralischen, den einzelnen von
sozialen Zwängen und Bevormundungen zu befreien, kehrt den
Zielpunkt des Widerstands gegen wirtschaftliche Reformen um. Moralische
Autonomie statt eines Lebens nach festen Regeln bedeutet weniger
Stabilität. An deren Reduzierung durch wirtschaftliche
Reformen
aber stößt sich der Widerstand gegen diese gerade.
Einer der
treibenden Faktoren der Reformen im moralischen Bereich war die
Befreiung des intellektuellen Diskurses vom normativen Rahmen der
katholischen Kirche, von dieser selber gebilligt durch die Ausarbeitung
einer sich rational und diskursiv gebenden Theologie. Diese Freisetzung
des intellektuellen Diskurses war aber auch eine der Bedingungen
für die sich herausbildende Autonomie des
Ökonomischen, gegen
deren Forderungen sich der Widerstand gegen wirtschaftliche Reformen
dann richtet.
Es gehört zum Wesen der
diskursiven
Intelligenz, die Analyse ohne jede Grenzsetzung und Sorge um das
soziale Wohl fortzuführen. Bergson sah darin eine besondere
Art
des Egoismus (1992, S.33, 126). Intellektualität agiert auf
ihre
Weise wie eine Form des Handels, eben eines Handels mit Ideen. Sie
zielt ebenso auf ein unablässiges Fließen wie die
zum
autonomen Faktor gewordene Ökonomie. Die Politik sieht sich
mit
zwei Instanzen konfrontiert, die Instabilität erzeugen. Ihre
Antwort auf den Markt einerseits und die Intellektuellen andererseits
ist aber nicht die gleiche. Im ersten Falle stellt sie sich in den
Dienst der Forderungen nach wenigstens temporärer
Stabilität,
so wie sie von der Gesellschaft ausgehen. Im zweiten Falle wird sie
selber Akteur, Kunde und Käufer auf dem Markt intellektueller
Hervorbringungen, wie Hanfeizi schon im dritten Jahrhundert vor unserer
Zeitrechnung feststellte (Kap. waichushuoyou, Zhuzi jicheng ed.
14.35.), damit auch eine formende Kraft, die intellektuelle
Strömungen so schafft oder zu schaffen sucht, wie sie
für sie
nützlich sind. Im alten China war die Einführung der
kaiserlichen Examina in dieser Hinsicht ein meisterlicher Schachzug.
Nahezu alle intellektuellen Aktivitäten wurden damit in den
Dienst
des eben etablierten Reiches gestellt.
Dumézil
hat in
seiner Analyse des Loki, einer eigentümlichen Figur der
nordischen
Mythologie, die ebenso konflikthaften wie intimen Bande zweier sehr
unterschiedlicher Typen von Intelligenz herausgearbeitet. Da ist einmal
die Intelligenz des Souveräns, verkörpert durch Odin,
daneben
eine »diabolische« Intelligenz, die auf halbem Wege
zwischen Auflösung und Lösung zu finden ist.
Lösung ist
hier zugleich Auflösung. Sie entsteht durch Vereinfachung.
Positioniert zwischen zwei Extremen, der unendlich fortschreitenden
Analyse und der auflösenden Lösung eines Problems
durch
Vereinfachung, ist es die Aufgabe der diskursiven Intelligenz, der
Intelligenz des Souveräns Lösungen für die
Aufgaben
vorzuschlagen, die dieser übertragen sind. Diese
Vereinfachung,
welche die Intelligenz des Souveräns auf Grund ihrer Natur als
handelnde Macht fordert, wird jener damit zugleich auch auferlegt. Die
Intelligenz des Souveräns orientiert sich dabei am Ganzen der
Gruppe oder Gesellschaft, für deren Stabilität sie zu
sorgen
hat. Sie kann versuchen, sich dabei der Immanenz der Gesetze der Natur
anzuschmiegen, faktisch aber wird das auflösende Handeln eher
auf
ein temporäres Suspendieren natürlicher
Abläufe
hinauslaufen. Wird das Fleisch nicht durch Eis gekühlt, so
verdirbt es. Es löst sich auf. Eis und Fleisch stehen
für die
zwei Grenzpunkte, zwischen denen das Denken des Souveräns
oszilliert, absolute Stabilität eben und absolute
Instabilität. Absolute Stabilität gehört in
die Welt der
Träume, wenn nicht sogar der Albträume.
Temporäre
Stabilität, ein Analogon etwa zur Gewohnheit, ist notwendige
Voraussetzung gerade auch für jeden Wandel (vgl. Guitton 1978,
S.
611). So wie aber das sich selbst überlassene Fleisch
zerfällt und das menschliche Denken, bleibt es ohne
Widerstand,
sich in der Unendlichkeit seiner Unterscheidungen auflöst,
zerstört auch die sich selber überlassene
Ökonomie die
Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit, die Stabilität
der
Pole, die für jede Art von Tausch erforderlich sind. In
historischer Perspektive mag es wohl sein, dass sich der Widerstand
gegen wirtschaftliche Reformen als quasi-archaische Reaktion gegen die
Erfordernisse des Marktes darstellt. So eine Sicht aber greift zu kurz.
In Wahrheit handelt es sich hier um ein Festhalten an Notwendigkeiten
der menschlichen Natur angesichts einer Dynamik, an deren Ende nur
deren Auflösung stehen könnte.
Aus dem Französischen
übertragen von Reinhard Düßel
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