Peter Brandt
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Kultur der Reform
Der
Brockhaus verzeichnet in seiner 14. Auflage (1898)
›Reform‹ als »planmäßige Umgestaltung
bestehender Einrichtungen mit Abstellung der sich zeigenden
Übelstände«. Ganz ähnliche Definitionen kann man
in späteren Lexikon-Ausgaben finden. In der Encyclopaedia
Britannica (Ausgabe 1963) fehlt das Stichwort ›reform‹.
Auf ›reformation‹ folgt ein Artikel ›reform
movement‹, der die Wahlrechtskämpfe in Großbritannien zwischen 1769-1832 und in Frankreich zwischen 1832-1848
behandelt.
Seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert wurden vor
allem Forderungen nach Besserung der kirchlichen Zustände unter
dem Schlagwort ›Reformation‹ (Brunner u.a., Bd.5, 1984,
313-360, auch für das Folgende) erhoben. Aber auch Bemühungen um
weltliche Reform, um eine ›reformatio‹ der
Reichsverfassung, entstanden im Gefolge des kirchlichen Konziliarismus.
Reich und Kirche wurden noch immer in hohem Maß als Einheit
empfunden, so dass der Gedanke an eine Reform der Kirche ähnliche
Überlegungen für den staatlichen Bereich nahe legte. Indem
sich die Einheit von ›imperium‹ und
›sacerdotium‹ auflöste, trat der weltlich-politische
Charakter der Reformation verstärkt hervor. Allerdings
stand der Begriff ›reformatio‹ im 15. und 16. Jahrhundert
noch austauschbar in einer Reihe mit anderen Termini wie
›regeneratio‹ oder ›restitutio‹. Ein
idealisiertes Bild der Vergangenheit – die christliche Urgemeinde
bzw. die christlich begründete Ordnung des alten und dauerhaft
gültigen Rechts und der guten Sitte – kontrastierte mit der
schlechten, dekadenten Gegenwart.
Diese rückwärtige
Orientierung lässt sich noch in den politischen Revolutionen der
Frühneuzeit finden: Die ›Glorious Revolution‹ 1688
und sogar die amerikanische Unabhängigkeits- und
Verfassungsrevolution 1776/87 wurden teilweise als Rückkehr zu
einem alten, vorher verletzten Rechtszustand interpretiert. Neben diese
Deutung schob sich im 17. und 18. Jahrhundert jedoch mehr und mehr die
Idee der Neuordnung im Sinne eines politisch-gesellschaftlichen
Fortschritts. Die Neuzeit begann, sich in die Zukunft zu öffnen.
Wandel konnte als Innovation verstanden werden, anstatt dass seine
Ergebnisse in Dekadenz- und Kreislauf-Analogien ausgedrückt werden
mussten. Renaissance und lutherische bzw. calvinistische Reformation
hatten bereits deutlich gemacht, dass der Versuch, das gute Alte in
einer neuen Zeit wiederherzustellen, eben nicht in einer Neuauflage des
Vergangenen endete. In einem langen begrifflich-gedanklichen
Umformungsprozess, der in der radikalen Aufklärung und der
Französischen Revolution resultierte, wurde von dem quasi
restaurativen Verständnis von ›Reform‹ wie auch
›Revolution‹ zugunsten der vernunftgemäßen
Einrichtung des Gemeinwesens Abstand genommen.
Der politische
Begriff der Reform setzte sich im deutschsprachigen Mitteleuropa seit
dem späten 18. Jahrhundert durch und wurde in einer teils eher
liberalen, teils eher konservativen, an britische
Äußerungen, nicht zuletzt an Edmund Burke, anknüpfenden
Lesart als Antwort auf die Radikalisierungsphase der Französischen
Revolution entfaltet, wobei ›Evolution‹ für die
selbstläufige Entwicklung, ›Reform‹ für den
planvollen Eingriff zur Sicherung des Wandels in der Kontinuität
stand. So wollte Immanuel Kant die Herrschaft der Gesetze »nicht
revolutionsmäßig, durch einen Sprung«, also
»durch gewaltsame Umstürzung einer bisher bestandenen
fehlerhaften [Verfassung]« erreichen, »sondern durch
allmähliche Reform nach festen Grundsätzen« (Kant 1907,
221f.). Und Burke formulierte beinahe klassisch: »Ein Staat, dem
es an allen Zweifeln zu einer Veränderung fehlt, entbehrt die
Mittel zu seiner Erhaltung. Ohne solche Mittel läuft er Gefahr,
selbst den Teil seiner Konstitution, den er am Heiligsten zu bewahren
wünschte, zu verlieren.« (Burke 1967,53).
Der durch die
Französische Revolution bzw. die politisch-industrielle
»Doppelrevolution« (E. Hobsbawm) Europas markierte
Epochenbruch ging einerseits so tief, wurde als so unhintergehbar
empfunden, dass auch Konservative, von der zahlenmäßig
begrenzten Fraktion ›reaktionärer‹ Ultras abgesehen,
sich der reformerischen Rhetorik und somit der Einsicht in die
Notwendigkeit kontrollierten Wandels nicht ganz entziehen konnten.
Andererseits war der Revolutionsbegriff durch den Terror und die
Sansculotterie dermaßen diskreditiert, dass sogar radikale
Demokraten eher mit dem Reformbegriff als mit dem Begriff der
Revolution operierten. So meinte Arnold Ruge 1838, wenn die quasi
natürliche Entwicklung der Gesellschaft nicht gewaltsam und
künstlich aufgehalten, sondern wie im Königreich
Preußen nach 1806 gemäß dem »reformierenden
Prinzip« gehandelt werde, bestehe weder die Notwendigkeit noch
die Möglichkeit der Revolution, ein Gedanke, der sich in
ähnlichen Formulierungen bei den Vertretern der verschiedenen
Strömungen fast über das gesamte politische Spektrum findet.
Als
die wichtigsten Kennzeichen von ›Reform‹ als ein sich um
1800 kristallisierender Gegenbegriff zu ›Revolution‹
können festgehalten werden: »Veränderungen im Rahmen
des bestehenden [wie immer definierten] Systems, verbessert durch
Abschaffung veralterter und von den Zeitgegebenheiten überholter
Formen, Anpassung an neue Bedingungen, Verfassungsgemäßheit,
Gewaltlosigkeit, Vorsicht und Behutsamkeit bei den erforderlichen
Eingriffen, längerer Zeitraum der Durchführung, Initiative
durch die rechtmäßigen Verfassungsorgane, Notwendigkeit der
Übereinstimmung des Reformkonzeptes mit der allgemeinen
Überzeugung« (Brunner u.a., Bd.5, 1984, 344).
Fehlt
eines dieser Kriterien (oder mehrere), wird jedoch die Grenze zur
politischen Revolution mit den harten Unterscheidungsmerkmalen der
Plötzlichkeit und der Gewaltsamkeit fließend, begrifflich
nicht anders als in der historischen Realität. Das gilt sogar
für die erst nachträglich so genannte Periode der
›Preußischen Reformen‹ nach 1806, die – zwar
aus dem Staatsapparat hervorgegangen, mit der Spitzenbürokratie
als Betreiberin und im formellen Sinn im Rahmen der bestehenden
Monarchie – doch auf eine qualitative Umgestaltung von Staat und
Gesellschaft zielte. Die Protagonisten sprachen von
»Regeneration« oder, so Hardenberg in seiner Rigaer
Denkschrift (Hardenberg 1931, 305f.) von einer »Revolution im
guten Sinn«.
Bei den Initiatoren des Preß- und
Vaterlandsvereins und des Hambacher Festes von 1832, den radikalen
Journalisten J.G.A. Wirth und Philipp Jakob Siebenpfeiffer, enthielt
der Aufruf zur friedlichen »politischen Reform unseres
Vaterlandes« (Schneider 1897, 168) faktisch ein
revolutionäres Programm: die Herstellung eines einheitlichen,
liberal-demokratisch verfassten großdeutschen Nationalstaates.
Die
frühe sozialistische Arbeiterbewegung Deutschlands gab vor,
allerdings ohne Verwendung des Reform-Begriffs, auf friedlichem und
gesetzlichem Weg den Sozialismus einführen zu wollen. Für die
Sozialdemokratie um 1900 unterschied Karl Kautsky (1903), in gewisser
Weise daran anknüpfend, die durchaus positiv bewertete
»soziale Reform« im Rahmen des Kapitalismus von der
»sozialen Revolution«, bei der die Macht aus den
Händen der bisher herrschenden Klasse in die der bisher
unterdrückten und ausgebeuteten Klasse übergehe. Die Frage
der Gewaltsamkeit oder Friedlichkeit des Vorgangs spiele für diese
Wesensbestimmung keine Rolle, so Kautsky gegen revisionistische (laut
Eduard Bernstein 1973,230, sollte die SPD sich uneingeschränkt als
»demokratisch-sozialistische Reformpartei«
präsentieren) wie gegen linksradikale (laut Rosa Luxemburg 1970,
403, bestand die Funktion des »Kampfes um die Sozialreform«
lediglich in der Heranführung an die »soziale
Umwälzung«) Abweichler von der Parteilinie. Auf dem linken
Flügel der Arbeiterbewegung wurde ›Reformismus‹ nach
dem Ersten Weltkrieg zum Schimpfwort.
Es hatte sich in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Reformbegriff weit
aufgefächert, seitdem Lorenz von Stein als den Inhalt der
erforderlichen ›sozialen Reform‹ die Möglichkeit
für die Lohnabhängigen, Besitz zu erwerben, ausgemacht hatte.
Es sei die Aufgabe des konstitutionellen Königtums als eines
»Königtums der gesellschaftlichen Reform«, die
Verbindung mit der unterworfenen Masse herzustellen und den Staat vor
dem Egoismus der sozial Herrschenden zu sichern (Stein 1850, Zitat
Bd.3, S.48).
Zunehmend wurden nun alle geplanten und
vermeintlich verbessernden Veränderungen als
›Reform‹ bezeichnet. Die Vereinigung der Steuer- und
Wirtschaftsreformer von 1876 war z.B. eine Organisation, die im
Interesse der Großagrarier für die Einführung von
Schutzzöllen wirkte, welche u.a. höhere Lebensmittelpreise
nach sich zogen. Selbst die Antisemiten-Parteien, die in den 1880er
Jahren entstanden, operierten mit dem Reformbegriff. Und außerdem
wurde er auch zu einem unpolitischen Schlagwort: Die bürgerliche
›Lebensreform‹ am Anfang des 20. Jahrhunderts schloss
›Reformkost‹ ebenso ein wie
›Reformkleidung‹; auch die
›Reformpädagogik‹ gehörte dazu. Nach und nach
wurde ›Reform‹ somit zu einem fast beliebig verwendbaren
Terminus der Anpassung, Erneuerung, Veränderung und Verbesserung,
der in allen Bereichen des staatlichen, gesellschaftlichen und sogar
privaten Lebens Anwendung finden konnte. Der inflationierte
Reformbegriff blieb stets positiv besetzt, musste aber, wie schon
angedeutet, nicht unbedingt progressiv, auf Demokratisierung, soziale
Inklusion und Gleichheit gerichtet sein. Die als
›Währungsreform‹ bezeichnete Einführung der
D-Mark im Juni 1948 in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands
stellte – nach der Zwangswirtschaft des Krieges und der ersten
drei Nachkriegsjahre – den ›normalen‹
marktkapitalistischen Funktionsmechanismus wieder her, verdeutlichte
und verschärfte aber zugleich die in der
Zusammenbruchsgesellschaft verdeckten Klassenverhältnisse. Die
›Wahlrechtsreform‹-Diskussion während der 1960er
Jahre zielte auf eine Stabilisierung der parlamentarischen Demokratie;
dabei nahm man die Verzerrung des Volkswillen durch das relative
Mehrheitswahlrecht billigend in Kauf.
Hatte der Reformbegriff schon im
19. Jahrhundert seine Konturen und Differenzierungen erhalten, so
lässt sich von einem gesellschaftlich-kulturellen Reformparadigma
erst für das 20. Jahrhundert sprechen. Seine Durchsetzung hat mit
jener zweiten großen neuzeitlichen Epochenscheide nach derjenigen
um 1800 zu tun, die um 1900 die tief greifende soziale und geistige
Wandlung des Westens einleitete, die Wandlung hin zu dem, was man mit
Panajotis Kondylis als »moderne Massendemokratie«
bezeichnen kann, welche den »oligarchischen Liberalismus«
des 19. Jahrhunderts abgelöst habe. Kondylis geht so weit, den
Umbruch um 1900 auf der Ebene der geistigen Produktion mit einem Ende
der bürgerlichen Kultur gleich zu setzen, was ich hier nicht
diskutieren will. Mir geht es um die prononcierte Beschreibung des
ideellen und sozialen Einschnitts um 1900. Stichworte sind der absolute
Vorrang funktionaler Gesichtspunkte, die Atomisierung, Mobilisierung und
Kommerzialisierung der zunehmend globalisierten Gesellschaft. Dabei
habe die Erweiterung des politischen Gleichheitspostulats – erst
in den Jahrzehnten um 1900 nahm der europäische Verfassungsstaat
einen mehr und mehr demokratisch-parlamentarischen Charakter an –
in die soziale Sphäre, also die Verheißung materieller
Gleichheit, eine wesentliche Rolle gespielt. Zu Recht weist Kondylis
darauf hin, und das unterstreicht die epochale Bedeutung der
egalisierenden Tendenz bzw. des egalisierenden Anspruchs, dass nicht
nur Radikaldemokraten und Sozialisten verschiedener Ausprägung
für dieses Ideal eintraten, sondern auch weite Kreise des
Liberalismus, des Konservatismus und des politischen Katholizismus sich
für den Auf- und Ausbau des Sozialstaates, die soziale Reform,
einsetzten (Kondylis 1994; vgl. ders. 1991).
Was die soziale bzw.
soziokulturelle Wirklichkeit der fortgeschrittenen Länder des
Westens betrifft, wird man sich indessen hüten müssen, die
Durchsetzung im erwähnten Sinn massendemokratischer und
konsumkapitalistischer Verhältnisse zu früh anzusetzen.
Für Deutschland, wie für Westeuropa, entstanden erst in den
zwei bis drei Jahrzehnten nach 1945 die materiellen Bedingungen
dafür, die dann auch die Veränderung der Alltagskultur mit
dem vielfach diagnostizierten ›Wertewandel‹,
ermöglichten. Stichworte sind: die Rekonstruktion eines
liberalisierten Weltmarktes unter US-amerikanischer Hegemonie
angesichts des Ost-West-Konflikts; die lang anhaltende ökonomische
Wideraufbau- und Prosperitätsphas; das
›fordistische‹ Produktionsmodell; die Massenproduktion
langlebiger Konsumgüter wie Fernsehapparate und Pkws, die im Zuge
eines historisch einmaligen Anstiegs des Lebensstandards, auch des
Reallohns der Arbeiter, nun auch den unteren Schichten der
Bevölkerung zugute kommen; die Installation bzw. Perfektionierung
sozialer Sicherungssysteme neuer Qualität; ›Rheinischer
Kapitalismus‹ als sozialstaatlich eingehegte und koordinierte
Marktwirtschaft ((2) Conze/Lepsius 1995).
Nachdem der
Reformbegriff in der NS-Zeit ganz zurückgetreten war – der
ideologisch vorgegebene Dezisionismus ließ ihn nicht zu – und
nachdem etwa ab 1948 die antifaschistisch motivierten Ansätze
eines gesellschaftlichen Neubaus im Westen Deutschlands in eine
konservativ getönte, doch zugleich modernisierende
Wiederaufbauperiode übergegangen waren, mehrten sich in den
frühen und mittleren 1960er Jahren die Anzeichen für einen
Reformstau in etlichen Bereichen des westdeutschen Gemeinwesens. Die
zunehmende Bereitschaft zu Reformen war nicht nur bestimmt durch einen
gewissen liberal-demokratischen Nachholbedarf. Sie war auch der
erkennbare Ausdruck eines Generationswechsels, der durch die
spätere Reduzierung der Volljährigkeit und des Wahlalters
noch unterstrichen wurde. Inwieweit es sich um objektiv zwingende
Reformnotwendigkeiten handelte – sofern es so etwas gibt –,
müsste im Einzelnen analysiert werden. An dieser Stelle reicht es,
das Bewusstsein sowohl der einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen,
der Publizistik und eines großen Teils der politischen Akteure
wie der Bevölkerung festzuhalten, das Bewusstsein, dass die
CDU-Parole der 1950er Jahre: »Keine Experimente!« nicht
mehr zeitgemäß sei, vielmehr ein reformerischer
Handlungsbedarf bestehe. 1970 waren über zwei Drittel der
Westdeutschen der Meinung, man müsse die Gesellschaft Schritt
für Schritt reformieren, und weit über ein Drittel meinten
gar, grundlegende Reformen seien angebracht.
Neben der
Abgrenzung von der vermeintlich restaurativen frühen
Nachkriegszeit und der permanenten Herausforderung durch den anderen,
sich als sozialistisch definierenden deutschen Staat spielte auch die
antiautoritäre Studenten- und Jugendrebellion seit 1966/67 eine
Rolle, die ihrerseits nur in einer veränderten politischen und
kulturellen Atmosphäre aufkommen konnte –, eine durchaus
ambivalente Rolle, weil die Protestbewegung rasch eine
systemfeindliche Tendenz entwickelte und funktionale Anpassungsreformen
eher negativ bewertete, zugleich aber nicht unerheblich zu einem
progressistischen, reformfreundlichen Meinungsklima beitrug. Zudem
waren die inhaltlichen und personellen Überlappungen zwischen der
Außerparlamentarischen Opposition und den Radikal-Reformern in
den Parlamenten beträchtlich (Schonauer 1980). Aus der
analytischen Vogelperspektive erscheint das Jahrzehnt zwischen den
mittleren 1960ern und den mittleren 1970er Jahren als diejenige
Zeitspanne, in der das Reformparadigma stärker prägend war
als jemals zuvor und jemals danach in der deutschen Geschichte.
(Übrigens wurde auch der Effektivierungs-, Liberalisierungs- und
Demokratisierungsbedarf des Ostblock-Systems im Hinblick auf weit
reichende Erwartungen an eine spezifische Reformpolitik, etwa nach
dem Muster des Prager Frühlings, rezipiert.)
Grob gesagt, lassen
sich zwei Motivstränge unterscheiden: erstens ein
modernisierend-technokratischer bzw. modernisierend-liberaliserender,
der während der Regierung der Großen Koalition (1966-69)
vorherrschte: Stabilitätsgesetz und Finanzreform, Strafrecht, Ehe-
und Familienrecht u.a. Zweitens ein emanzipatorisch-demokratisierender,
wie es die Rhetorik der ersten sozial-liberalen Regierung
Brandt-Scheel, die sich selbst als Regierung der inneren Reformen
bezeichnete, bestimmte und deren Handeln mit leitete – auch wenn,
gemessen daran, die Ergebnisse bescheiden blieben, so etwa bei der
Erweiterung der Mitbestimmung in Großunternehmen, der Gestaltung
der Berufsausbildung, der Erweiterung der Sozialversicherung für
zusätzliche Bevölkerungsschichten sowie der Schul- und
Hochschulreform (Bracher u.a. 1986).
Am Beispiel der Hochschul-
oder (allgemeiner) der Bildungsreform, für die Georg Pichts
Aufsehen erregende Warnung vor einer
›Bildungskatastrophe‹ schon 1964 zum Schlachtruf wurde,
lässt sich zeigen, wie unterschiedliche Ziele und Motive
einerseits erst in ihrer Kombination den Neuerungen zum Durchbruch
verhalfen, sie andererseits aber auch in einem Spannungsverhältnis
zueinander stehen konnten. Die Erschließung von
Begabtenressourcen außerhalb des Besitz- und
Bildungsbürgertums war nicht automatisch gleichbedeutend mit einer
sozial gerechten Verteilung von Bildungschancen, und beides musste nicht
Hand in Hand gehen mit der Demokratisierung von Inhalten und
Selbstveraltungsgremien etwa der Universitäten.
1968
veröffentlichte eine Gruppe von Autoren »Sozialdemokratische
Perspektiven im Übergang zu den 70er Jahren«: in einer
erstaunlichen Auflage von 1 Million Exemplaren. Dort wurden als
allgemeine Ziele genannt: »Vertiefung der sozialen
Demokratie«, »Humanisierung der Gesellschaft« und
»Stärkung der Freiheit des Einzelnen« (endgültige
Version im SPD-Parteitagsprotokoll 1968). Das Motto der ersten
Regierungserklärung von Willy Brandt als Kanzler: »Mehr
Demokratie wagen«, wurde bekanntlich geradezu zum
geflügelten Wort.
Im Zuge dessen, was Kritiker bald als
›Reformeuphorie‹ bezeichneten, traten auch in der
ursprünglich eher rechtsliberalen Koalitionspartei FDP, vor allem
zur Amtszeit des Generalsekretärs Karl Hermann Flach,
vorübergehend sozial-liberale Positionen in den Vordergrund
(Freiburger Thesen von 1971), die sich aber zu keinem Zeitpunkt voll in
der Regierungsarbeit niederschlugen. Dieser linksliberale oder
pseudolinksliberale Schwenk der FDP um 1970 macht jedoch deutlich,
wie stark der reformerische Sog zu diesem Zeitpunkt war. Der Zug der
Zeit ließ übrigens auch die CDU-Opposition und ihr Umfeld
nicht unberührt. Ferner wurde in den späten 60er und
frühen 70er Jahren auf dem äußeren linken Flügel
der Sozialdemokratie und links davon der Reform-Terminus benutzt, um
einen revolutionären Bruch nicht mit der parlamentarischen
Demokratie, aber mit dem Kapitalismus bzw. die Heranführung an
einen solchen Bruch zu umreißen, wenn von einer Strategie
»systemüberwindender Reformen« oder einem Programm
»antikapitalistischer Strukturreformen« die Rede war (z.B.
Vilmar 1974).
Ohne hier ins Detail zu gehen, kann man dem
Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt folgen, der (1978, 201ff.)
resümiert hat, es habe sich bei der Reformpolitik der Jahre ab
1969 mehr um eine Addition von Ressortaktivitäten auf der Basis
eines weiten Reformbegriffs gehandelt als um eine geschlossene Politik,
die auf der Grundlage einer kombinierten Aufgaben- und
Ressourcenplanung Prioritätsentscheidungen getroffen hätte.
Auf der Basis des Konsenses lassen sich nur selten Reformen
durchführen. Vielmehr ist es unvermeidlich, dass Teile der
Gesellschaft jeweils unbefriedigt bleiben, sich verunsichert oder gar
negativ herausgefordert fühlen. Das heißt, es wird in jedem
Fall mehr oder weniger zu Enttäuschungen kommen, besonders wenn
– wie in den frühen 1970er Jahren in der Bundesrepublik
– die viel besagte Reformeuphorie an eine lange Phase
wirtschaftlich-sozialen Aufstiegs der Masse des Volkes und entsprechend
steigender Erwartungen anknüpft. Gewisse Erlahmungserscheinungen
im Regierungshandeln und der Kanzlerwechsel im Mai 1974,
hauptsächlich indessen der Übergang der Weltwirtschaft in
eine stärker krisenhafte Phase langsameren Wachstums, nicht
verursacht, aber ausgelöst u.a. durch den Ölpreisschock vom
Herbst 1973, markierten bereits den Übergang zur Defensive der
Reformkräfte. Unter dem Druck der parlamentarischen Opposition und
von ihr beeinflusster Initiativen (z.B. der Kampagne gegen die
Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen) wurde ›Reform‹
binnen weniger Jahre fast zu einem Negativ-Begriff. Ein konservatives
oder liberal-konservatives Politikverständnis wurde wieder
verstärkt artikuliert, so von dem Freiburger
Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis (1977), der (einstmals selbst
SPD-Mitglied) gegen den SPD-Orientierungsrahmen 1985 und dessen
zielorientiertes Politikverständnis eine »Politik der
Ordnungsgestaltung« setzte und die Gefahr eines rigorosen
Reformismus, einer Art, letztlich verfassungsfeindlicher, permanenter
Reform beschwor, der begegnet werden müsse. Für die
Bevölkerungsmehrheit trat wieder die Sicherung des Erreichten in
den Vordergrund. Allerdings differenzierte und verschob sich das Bild
erheblich, wenn nach einzelnen Aufgaben und Politikfeldern gefragt
wurde. Repräsentative Umfragen zeigen nämlich seit
Jahrzehnten konstant große Mehrheiten für die Erhaltung des
Sozialstaats und für ein solidarisches Gesellschaftsmodell (Vester
u.a. 2001).
Das ist nun in der Tat bemerkenswert, weil sich mit
der Restrukturierung der Kapitalakkumulation seit den 1980er Jahren
(Dritte Industrielle Revolution, neue Qualität der Globalisierung
mit der Vorherrschaft des Finanzkapitals) und ihren sozialen Folgen
– Vergrößerung der materiellen Ungleichheit, relatives
Sinken des Arbeitseinkommens, Prekarisierung der Arbeitsbeziehungen
Massenarbeitslosigkeit als Dauererscheinung – die Stoßrichtung der
Reformparole in der Gesellschaft vollkommen veränderte; und es
stellt sich die Frage, inwieweit man hier überhaupt von der
Fortsetzung ein und desselben Reformparadigmas sprechen kann.
Die
neoliberale Bewusstseinsrevolution, die seit rund drei Jahrzehnten im
Gang ist, betrifft zunächst die Wirtschaftswissenschaft, wo
Anhänger keynesianischer Positionen kaum noch eine Chance erhalten
haben, teils auch systematisch aus wichtigen Stellungen verdrängt
worden sind. Ferner die etablierten Politiker aller Parteien –
gewiss in unterschiedlichem Ausmaß. Und nicht zuletzt die
Publizistik und von Interessengruppen unterhaltene, meinungsbildende
Einrichtungen wie die im Jahr 2000 gegründete »Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft«. Mehr oder weniger radikal steht im
Zentrum der Kampagnen die These, die jahrelang schwache Konjunktur und
die angeblich mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Wirtschaft auf den globalisierten Märkten seien der Konstruktion
der deutschen Sozialsysteme, dem Steuerniveau und den Lohnkosten bzw.
generell den Arbeitsbedingungen geschuldet. ›Reform‹
steht hier in der Regel für Privatisierung, Deregulierung und
Abbau sozialer Leistungen.
Auf die Spitze getrieben wurde das
offene Plädoyer für die Ökonomisierung der Gesellschaft
und die entsprechende Funktionalisierung der Individuen in dem 2004
erschienenen Bestseller des Spiegel-Redakteurs Gabor Steingart, der
(nebenbei) eine geradezu kabarettreife Uminterpretation der deutschen
Nachkriegsgeschichte vornimmt (Steingart argumentiert inzwischen
hauptsächlich in eine andere Richtung.) Demgegenüber bedient
sich Kurt Biedenkopf in seinem neusten Buch (2006) einer Argumentation
und einer Sprache, die die Apotheose des freien Marktes vermeidet,
stattdessen unter Berufung auf die kommenden Generationen die
Selbstverantwortung der Einzelnen und somit einen »neuen
Grundkonsens«, eine »Reformation unseres Denkens«
beschwört und einen »Weg zurück zur Vernunft«
aufzeigen will. Biedenkopf und seinem Kompagnon Meinhard Miegel (2005)
geht es hauptsächlich um die Überwindung des tradierten,
vermeintlich »entgrenzten« deutschen Sozialstaats.
Ziemlich
präzise seit dem Jahr 2005 mehren sich auch in Deutschland die
gegenüber dem Neoliberalismus bzw. Marktradikalismus kritischen
Stimmen und finden wieder verstärkt Resonanz. Dazu gehören
international vergleichende wirtschafts- und sozialwissenschaftliche
Untersuchungen wie die von Werner Abelshauser, Wolfgang Merkel u.a. und
Thomas Meyer u.a., die jetzt neben den Schwächen auch die
Stärken und die Widerstandsfähigkeit der koordinierten
Marktwirtschaften Kontinentaleuropas im internationalen Wettbewerb
betonen, sofern die ›richtigen‹ systemstabilisierenden
Reformen vorgenommen würden und eine unideologische
Wirtschaftspolitik durchgeführt würde (Schettkat/Langkau
2007), wobei in hohem Maß Nordeuropa als Vorbild dient.
Einflussreicher sind demgegenüber Publikationen wie die Zeit-Serie aus dem Sommer 2005: Die Zukunft des Kapitalismus, mit
Beiträgen von Jens Jessen, Robert Menasse u.a. sowie vor allem die
beiden 2004 und 2006 erschienenen Bücher von Albrecht Müller,
dessen eines den bezeichnenden Titel trägt: Die Reformlüge.
Während sich die politischen Vorschläge der
Neoliberalismus-Kritiker nicht unerheblich unterscheiden – sie
bewegen sich im Feld zwischen reiner Abwehr, antikapitalistischer
Offensive und ›Effektivierung‹ des Sozialstaats bzw. des
Arbeitsmarkts bei gleichzeitiger Reaktivierung makroökonomischer
Steuerung und öffentlicher Investitionstätigkeit – ist
deren neuerliche Resonanz wohl eher Ausdruck als Ursache des Scheiterns
der volkspädagogischen Anstrengungen solcher Vereinigungen wie der
»Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«.
Es gibt
indessen – vor allem in der Analyse – Überschneidungen
zwischen neoliberalen und sozialdemokratischen Kritikern des Status
quo. Das betrifft in erster Linie die auf das politische System
zurückgehenden Reformblockaden, etwa in Gestalt des
bundesdeutschen Föderalismus. Historisch bedingt und
verstärkt durch die Negativfolie im NS-Regime, ist die
Bundesrepublik durch »besonders hohe institutionelle Hürden
für Politikwechsel« (Merkel 2007, S. 32) bzw., in der Sprache
der Politikwissenschaft, durch ein »Vetospieler« –
Potential gekennzeichnet.
Mir stellen sich am Ende dieser Betrachtung vor allem zwei Fragen:
1.)
Was bedeutet die neoliberale ›Reform‹-Offensive für
die Zukunft der Demokratie in Europa, die ihre gewohnte Stabilität
– eventuell abgesehen von Großbritannien – erst nach
dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung mit dem Sozialstaat und dem relativ
hohem Niveau des Lebensstandards erlangte. Ich denke dabei vor allem an
das, was ›politische Kultur‹ genannt wird. Natürlich
stellt sich diese Frage jeweils anders, je nachdem, ob man von einer
unvermeidlichen Durchsetzung der liberalistischen Kapitalismus-Variante
und der entsprechenden Ideologie ausgeht oder ob man reale
Entwicklungsalternativen annimmt. Die Rehabilitierung bzw.
Rekonstruktion eines demokratisch-gemeinwohlorientierten Reformbegriffs
mag eher ein politisches als eine wissenschaftliches Anliegen sein;
jedenfalls erscheint sie mir wichtig.
2.) Welche Rolle spielt
die kulturelle Sphäre im engeren Sinn im marktradikalen
›Reform‹- bzw. Anpassungsprozess? Es ist zu Recht immer
wieder angemerkt worden, dass Schriftsteller und Künstler sich in
großer Zahl für das sozialliberale Reformprojekt um 1970
engagierten, wobei offenbar der veränderte, weniger obrigkeitliche
Politikstil besonders positiv aufgenommen wurde. Später ließ
dieses Engagement stark nach, und heutzutage hört man aus berufenem
Mund (so Strasser 2005) Klagen darüber, wie passiv sich
Kulturschaffende (und auch Wissenschaftler) zu den brisanten
Kontroversen der Gegenwart verhielten. (Dabei ist sicherlich auch der
Abstand dieses Personenkreises zu ökonomischen und
sozialpolitischen Problemen in Rechnung zu stellen). Es scheint mir
noch nicht ganz ausgemacht, wie sich der etablierte bzw.
nicht-etablierte Kulturbetrieb zur Ökonomisierung und zur
neoliberalen Offensive verhält, oder besser, wie er darauf
einwirkt und umgekehrt natürlich auch beeinflusst wird. Meine
Vermutung geht dahin, dass hier starke hemmende Faktoren auszumachen
sind, während manche Formen der populären Unterhaltungskultur
zu den Beschleunigung- und Verstärkungsfaktoren gehören
dürften.
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