Rüdiger Fikentscher (Hg.): Kultur in Europa. Einheit und Vielfalt
Halle(Saale)
2004, mdv aktuell
Rüdiger Fikentscher (Hg.): Europäische
Gruppenkulturen
Familie, Freizeit, Rituale
Halle
(Saale) 2006, mdv aktuell
In
seiner Untersuchung über die »Entstehung des
neuzeitlichen Selbst« (Untertitel) bezeichnet der kanadische
Philosoph Charles Taylor (Quellen des Selbst, Frankfurt/Main 1994) die
»Bejahung des gewöhnlichen Lebens« als
eines der Konstituentien der modernen Auffassung von
Identität. Zunächst unterscheidet diese sich durch
die Aufwertung der bürgerlich-ökonomischen
Tätigkeit von der früher dominierenden hierarchisch
strukturierten mit ihrem Primat der aristokratisch-kriegerischen Rolle;
sie ist aber keineswegs auf die Sicherung der materiellen Grundlagen
beschränkt, sondern umfasst auch die darauf aufbauenden
kulturellen Leistungen und Wertschätzungen.
Dem
›alten‹ Kontinent Europa ist es nach
Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen mit der Schaffung der
Europäischen Union gelungen, die Entfaltung dieser modernen
Auffassung durch einen stabilen politischen Prozess abzusichern, der
die kulturellen Eigenheiten der Völker zu bewahren
sucht und gleichzeitig den friedlichen Austausch und die
Beförderung gegenseitigen Verständnisses an die
Stelle unversöhnlicher Interessenkonflikte und
machtpolitischer Bestrebungen setzt. Die Beiträge der beiden
vorliegenden Bände haben sich zum Ziel gesetzt, die vom
europäischen Projekt geprägte
›Alltagskultur‹ zu beleuchten. Dabei kommen auch
die Probleme zur Sprache, die aus der Verwirklichung insbesondere der
ökonomischen Einheit bisweilen für die eine oder
andere Regionalkultur resultieren, zugleich wird aber auch deutlich
gemacht, wie die Menschen durch einen kreativen Umgang mit diesen
Problemen zur Erhaltung der Vielfalt beitragen können. Die in
den Bänden versammelten kurzen, leicht zu lesenden Texte gehen
zurück auf eine 2004 initiierte Vortragsreihe des Kulturforums
der Sozialdemokratie Sachsen-Anhalt e. V. in Magdeburg und wurden
für die Buchpublikation um zwei Aufsätze erweitert.
Herausgeber
Fikentscher, zugleich Vorsitzender des Kulturforums, fasst in seinem
einleitenden Vortrag über das Spannungsfeld
Kultur die Herausforderungen zusammen, vor denen die
Europäische Union angesichts einer immer stärker auf
den ökonomischen Vorteil fixierten Welt steht. Kultur als das
dem Menschen notwendige »Extra« (S. 10) ist ein
Recht, das jedem zusteht. Die größten Gefahren
für die kulturelle Vielfalt Europas sieht er in einer
»von pekuniären Interessen geleitete[n]
Kulturindustrie« (S. 11), warnt aber davor, dass die
»Tendenz zum Isolationismus« (ebd.) letztlich
untauglich sei, dem wirksam zu begegnen. Einzig eine Bildung, die ein
Bewusstsein für die kulturelle Vielfalt schaffe,
könne der »Verflachung und
Vereinheitlichung« und damit der
»Herausbildung einer vulgär-egalitären
Massenkultur« (S. 12) entgegenwirken.
Olaf Schwencke
sieht in der politischen Union Europas »die Verwirklichung
der Kulturidee«, die sich in der langen humanistischen
Tradition herausgebildet hat. Mit Jeremy Rifkin grenzt er diese
»Vision« (S. 16) gegen die vorherrschende
amerikanische Hegemonialpolitik ab. Auch er betont die Rolle der
Bildung für die zukünftige Ausgestaltung der
europäischen Einheit und Vielfalt. Sein Vortrag
schließt mit dem Plädoyer für eine
europäische Kulturpolitik als »Strukturelement, das
politisches Handeln erfordert« und mehr sein müsse
als ein »Dach der Nationen« (S. 22).
Karin
Junker schließt sich dieser Forderung mit einer mehr ins
Detail gehenden Betrachtung der Entwicklungen vor allem auf den
Gebieten der Medien- und Kulturförderungspolitik der EU an.
Besonders im Bereich des Urheberrechts müsse durch
»fortschreitende gesetzgeberische Maßnahmen
[…] eine europäische, transnationale Antwort auf
die Globalisierung und Standardisierung der Multimediaindustrie
gefunden werden« (S. 33). Allerdings warnt sie auch davor,
dass auf diesem Wege Einfluss auf die Inhalte genommen werden
könnte. Als Mittel gegen die Vereinnahmung der Medien sowohl
durch die Politik als auch durch kommerzielle Interessen empfiehlt sie
die Stärkung des öffentlich rechtlichen Rundfunks und
eine »Begrenzung der Medienkonzentration« (S. 39).
Im Hinblick auf die Globalisierung sei die an der »Konvention
zum Schutz der kulturellen Vielfalt« der UNESCO orientierte
EU-Politik »dringend nötig als Gegengewicht zur
Politik der Welthandelsorganisation (WTO). Denn diese definiert Kultur
als eine Dienstleistung, die unter das allgemeine Abkommen zum Handel
mit Dienstleistungen (GATS) fällt und daher entsprechend
liberalisiert werden soll« (S. 42).
Erwecken
die Texte bis hierher zuweilen den Eindruck, bei der Harmonisierung der
europäischen Vielfalt gehe es vorwiegend darum, die
kulturellen Diversitäten Europas vor dem Zugriff des
globalisierten Kapitals und mit ihm verbandelter Politiker zu
schützen, so bietet der Vortrag des Abgeordneten Ulrich
Stockmann einen kleinen Einblick in die Praxis des
europäischen Parlaments, in dem das Aufeinandertreffen
unterschiedlicher »politischer Kulturen« (S. 43) zu
»Störungen« im politischen Diskurs
führt, die problemträchtiger sind als die
sprachlichen Barrieren, da sie »nicht begründete
Voraussetzungen, Wertvorstellungen, Glaubenssätze, Tabuthemen
oder unangemesseneVorgehensweisen« (S. 44) beinhalten. Als
Beispiel für die »sozialen
Prägungen« der Politiker, verweist er
zunächst auf das symbolträchtige Jahr 1968, das in
Osteuropa vor allem mit dem »Prager Frühling und der
folgenden Niederschlagung der Demokratisierungsversuche in der
Tschechoslowakei« (S. 45) verknüpft wird,
während es im Westen den Beginn der Studentenrevolte markiert.
Infolgedessen tendierten »Ostpolitiker der 68er Generation
[…] eher dazu, den Schutz der Demokratie in den Mittelpunkt
zu stellen als den Schutz des Einzelnen vor dem Staat«
(ebd.). Auch auf nationaler Ebene gebe es unterschiedliche Tabuthemen:
Für Frankreich sei dies die Atomenergie, die als
»Garant der nationalen Autarkie« (S. 46) betrachtet
werde, während die Italiener auf der anderen Seite einen
starken Zentralstaat ablehnten (und deshalb ihrer Regierung auch den
verantwortungsvollen Umgang mit der Atomkraft nicht zutrauten); bei
britischen Abgeordneten sei vor allem das Thema Steuern tabu. Die
unterschiedlichen Politikkulturen spiegeln sich auch in abweichenden
Zielvorstellungen bezüglich der europäischen
Integration. Während nach deutschem und französischem
Verständnis »durch die Überführung
von nationaler Souveränität in die so genannte
›Gemeinschaftsmethode‹ ein gewollter Zuwachs an
gemeinsamer Gestaltungsmacht entsteht« sei für Polen
und andere osteuropäische Neumitglieder die
»Souveränitätsabgabe, historisch
verständlich, ein ›Unthema‹«
(S. 47). Für die Briten gelte gar: »Europa als
Freihandelszohne ist ihnen genug« (ebd.). Trotz dieser
Gegensätze beobachtet Stockmann die Herausbildung einer
»europäischen Politikkultur« (S. 48). Zum
einen gebe es im »Institutionengefüge« des
Europäischen Parlaments keine Regierungs- und
Oppositionsfraktionen, da dessen Gegenüber der Ministerrat und
die EU-Kommission seien. Daraus resultiere die »Notwendigkeit
und große Bereitschaft zu einer überparteilichen
Konsensfindung durch themenzentrierte Zusammenarbeit« (ebd.).
Zum anderen entspreche die Anzahl der nationalen Abgeordneten nicht
strikt der »proportionalen Verteilung entsprechend der
Bevölkerungszahl« (S. 49) was den kleineren
Ländern die »angstfreie Übertragung
nationaler Souveränität« (ebd.)
erleichtere. Dies kombiniert mit der Vergabepraxis bei Ämtern
und dem Rotationsprinzip bei der Ratspräsidentschaft
stärke die »Integrationskraft der
Europäischen Union«. Zum Abschluss kommt Stockmann
noch auf die Diskrepanz zwischen der erfolgreichen Arbeit des
EU-Parlaments und ihrem schlechten Abschneiden in der
öffentlichen Darstellung zu sprechen. Den Grund
hierfür sieht er in der »geringe[n] Transparenz
ihrer Willens- und Entscheidungsfindung«. Dies hält
er für ein grundsätzliches Problem: »Die
konflikt- und ergebnisorientierte Medienlogik mit ihren kurzen
Zeitintervallen widerspricht im Grunde der Verhandlungslogik
parlamentarischer Arbeit. Auch ist die von den Medien geforderte
Personalisierung für eine themenzentrierte Arbeit
inadäquat« (S. 50). Deshalb benötige die
Europäische Union »als ›Spiegel und
Resonanzkörper‹ eine europäische
Öffentlichkeit und die Vermittlung durch europäische
Medien« (ebd.). Als Politikmodell gewinne die
Europäische Union auch in anderen Teilen der Welt an
Attraktivität.
Ein etwas eigenwilliges,
stark von persönlichen Erfahrungen geprägtes
Plädoyer für den Willen zur Verständigung
auch in (unzureichend beherrschten) Fremdsprachen schließt
sich mit Friedrich O. J. Rolls Vortrag Wer spricht
europäisch? an. Sein Fazit: Je
vielfältiger der »sprachenstrauss« desto
besser, denn: »Einander verstehen wollen, ist europaeisch
sprechen.« – Ob allerdings die forcierte
Kleinschreibung und der Verzicht auf Umlaute, wie sie im gedruckten
Text vorliegen, das Ziel befördern, mag bezweifelt werden.
Insgesamt verströmt der Vortrag eher den etwas angestaubten
Charme der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Erheblich
zupackender und mit einem guten Schuss Esprit zeigt sich da schon der
(aus dem Amerikanischen übersetzte) Text von Marcia Pally, der
dem Zusammenhang von Sprache und kultureller Identität durch
einen Vergleich zwischen Europa und den USA
nachspürt. Sie räumt mit dem (europäischen?)
Vorurteil auf, die Vereinigten Staaten von Amerika verfügten
aufgrund ihrer relativen sprachlichen Homogenität auch
über eine größere kulturelle und politische
Einheit. In den USA gebe es, anders als in Europa, keine
»zentralen Diskussionen«. Obgleich es eine Vielzahl
landesweit verbreiteter Publikationen gebe, würden diese
offensichtlich nicht überall auf dieselbe Weise gelesen:
»Wir teilen keine gemeinsamen Ansichten. Wir gehen einander
an die Kehlen, so sieht die Wahrheit aus« (S. 62).
Im Gegensatz dazu teilten die Europäer
»eine gemeinsame, ineinander verflochtene Kultur- und
Geistesgeschichte« (S. 63). Den Grund für diesen
qualitativen Unterschied sieht sie in der Schulbildung: »Es
gibt Schulkinder, die nach der biblischen Schöpfungslehre
erzogen werden, und andere, die man die Evolutionstheorie lehrt.
Europäische Abiturienten haben eine konsistentere Ausbildung
erfahren als US-amerikanische College-Absolventen« (S. 64).
Insgesamt hält sie die kulturpolitischen Debatten in Europa
für fehlgeleitet. Denjenigen, die diese mit Blick auf das
vermeintlich homogenere Amerika führen, rät sie, sie
sollten »unterscheiden lernen, wann es wirklich um eine
gemeinsame Kultur geht, und wann um Wirtschaft und Politik«
(S. 66).
Gottfried Langenstein kommt in seinem
Vortrag noch einmal auf die Medienlandschaft Europas zurück.
Die Sicherung der kulturellen Vielfalt sieht auch er vor allem in den
Händen der öffentlich-rechtlichen Sender. Am Beispiel
der britischen BBC beschreibt er die Gefahren, die durch die
Einführung des digitalen Fernsehens bei gleichzeitiger
Liberalisierung des Medienmarktes für diese Programme drohen.
Durch die schiere Zahl der digitalen Kanäle ist der Konsument
auf elektronische Programmführer angewiesen. Die
Erreichbarkeit eines Programms hängt davon ab, welchen Platz
ein Sender auf diesen zugewiesen bekommt. Da sich die
Programmführer im Besitz globaler Medienkonzerne befinden,
wird kommerziellen Angeboten der Vorrang gewährt. Deshalb
plädiert Langenstein für politische Regeln, die
sicherstellen, »dass die für die Entwicklung unserer
Kultur und für die Bildung unserer Gesellschaft essenziellen
und relevanten Programme auch eine angemessene Chance haben, vom
Zuschauer überhaupt aufgefunden zu werden« (S. 73).
Einen
etwas plakativen Kommentar zur Mode in Europa liefern Thomas Greis und
Joachim Schielicke unter dem Titel Europäische
Kleidung – an den Kleidern sollt Ihr sie erkennen?! Ob
hinter der Überschrift ein Frage- oder Ausrufezeichen stehen
sollte, wird durch die Lektüre des Textes nicht klarer. Nach
einem Stakkato gestanzter Allgemeinplätze wie »Mode
ist ein soziales Totalphänomen geworden
[…]«, »Mode ist ein dankbarer und
vielschichtiger Gegenstand der Beobachtung und Reflexion, sie ist ein
viel- und feingliedriges Vermittlungsinstrument der Gesellschaft, sie
ist […]« (usw., usw. S. 75) folgen einige
kulturwissenschaftlich inspirierte Mutmaßungen
darüber, »warum wir tragen, was wir
tragen« (S.76). Dabei kommen dann
›Einsichten‹ wie die folgende heraus:
»Unsere Kleider sind heute sowohl Code als auch Maske, und
das Gefühl, dass die Kleidung auch Geheimnisse verraten kann,
kommt aus dem Wissen, dass jede Wahl im Rahmen der erreichbaren
Alternativen des Bekleidungsangebots nicht völlig der
bewussten Kontrolle unterliegt« (S. 76). Wer wissen
möchte, wieso, sollte an dieser Stelle lieber den Text der
beiden Professoren für Modedesign aus der Hand legen und
stattdessen zu Richard Sennetts kulturgeschichtlicher Untersuchung Verfall
und Ende des öffenlichen Lebens greifen, in der auf
über 400 Seiten genau dieses Problem erörtert wird.
Greis und Schielicke gelingt es hingegen nicht, die
Widersprüchlichkeit zwischen der offenkundigen
Uniformität der heute in den urbanen Zentren der Welt
verbreiteten Kleidung und dem Anspruch, in der Mode einen Ausdruck von
Individualität zu sehen, auch nur ansatzweise
aufzulösen. Der obligatorische Hinweis auf die
»Globalisierung« (S. 81) als Ursache der Monotonie
zeugt angesichts der Tatsache, dass diese sich bereits in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa beobachten
lässt, weniger von jener oben beschworenen
»Reflexion« als vielmehr von dem Wunsch,
›dazuzugehören‹. – Auch
Intellektualität kennt eben ihre Moden!
Kulturgeschichtlich
wesentlich besser informiert zeigt sich Rafael Arnold mit seinem
launigen Blick auf die »kulturelle Vielfalt im Spiegel der
Speisekarte Europas.« Gegen die globalisierungsfeindliche
Ablehnung ›fremder‹ Einflüsse auf die
europäische Küche stellt er klar, dass selbst die
Zutaten der traditionellen mediterranen Küche im vorderen
Orient oder Südamerika ihren Ursprung hatten und dass folglich
die – heute mehr und mehr obsolete – Aufteilung in
ein nördliches »Bier- und Butterland« und
ein südliches »Öl- und Weinland«
in römischer Zeit schon einmal ganz anders ausgesehen hat:
»Liest man Texte griechischer und römischer Autoren,
die sich auf die Geschichte des Bieres und der Butter beziehen, so
staunt man, wie ausgedehnt einst das Gebiet beider jetzt für
nordisch gehaltener Lebensmittel gewesen ist und wie ganze
Länder und Völker erst allmählich von ihm
abgefallen sind« (S. 84). Arnolds Blick reicht von diesen
frühesten Einflüssen über die Entwicklung
bei Ethno-, Fast- und Functional-Food bis hin zum Wandel der
Tischsitten. Sein Beitrag führt vor, wofür die
anderen bloß plädieren: Dass Bildung davor bewahrt,
das Neue und Fremde von vornherein abzulehnen. Sein Fazit:
»Die Stärke Europas und der europäischen
Küche war es immer, aus Fremdem Eigenes zu schaffen, von
früher und anderswo erreichtem Kulturgewinn zu profitieren und
durch kollektive Leistung den Speisen einen kulturellen Mehrwert
beizufügen, der sie zu ›echten
Europäern‹ macht« (S. 95).
Dass
die europäische Einheit das Reisen nicht nur erleichtert und
befördert, sondern selbst durch intensive
Reiseaktivitäten der Völker vorangebracht worden ist,
führt Matilde Sophie Groß in ihrem Aufsatz Reisekultur
in Europa aus. Der detaillierte Bericht über Formen
und Motive des Reisens zeigt, dass es in dieser Hinsicht viele
Gemeinsamkeiten, aber auch signifikante Unterschiede bei den
europäischen Völkern gibt – eben Einheit
und Vielfalt.
Der Beitritt zur EU bringt nicht nur
ökonomische und politische Vorteile, sondern erfordert auch
die Aufgabe (oder wenigstens Modifikation) so mancher eingefleischter
Praxis: Dies ist eine Erfahrung, die nicht nur die nach dem Ende der
Ost-West-Konfrontation neu hinzugekommenen Kandidaten machen; auch in
den Staaten des ›alten Europa‹ hat die
Harmonisierung von Produktionsstandards in Industrie und Landwirtschaft
ihre Spuren hinterlassen. Wie traditionelle Erzeugnisse
womöglich dennoch eine Chance haben, wenigstens im regionalen
Umfeld weiterzubestehen und wie Kulturschaffende dabei helfen
können, das erläutern Alexander Fahrenholtz und Lutz
Nitsche am Beispiel des »Cheese and Cream Project
Zagreb«, das von der kroatischen Künstlerin Kristina
Leko initiiert wurde, um den 500 Milchfrauen, die
allwöchentlich ihre auf traditionelle Weise selbst
hergestellten Milchprodukte auf dem Zagreber Markt verkaufen, vor dem
Zugriff der EU-Milchverordnung zu schützen. Diese schreibt
bestimmte Verfahren bei der Herstellung und Vermarktung vor, die
allerdings auf Massenproduktion und lange Vertriebswege zugeschnitten
sind, so dass die kleinen kroatischen Erzeuger sie schlechterdings
nicht erfüllen können. Das Projekt zeigt auf, dass
die Zagreber Milchfrauen nicht nur ein wirtschaftliches, sondern ebenso
ein kulturelles Phänomen und deshalb schützenswert
sind. Für regionale Produkte und Herstellungsweisen sieht die
Milchverordnung Sonderregelungen durchaus vor, allerdings
müssen sie »von den Mitgliedsstaaten administrativ
behauptet werden« (S. 117). Dies setzt aber ein Bewusstsein
für solche kulturellen Eigenheiten voraus, das durch Projekte
wie das vorgestellte gefördert werden kann.
Bei
der europaweiten Verbreitung solcher und ähnlicher Projekte
hat sich, das stellt der Beitrag abschließend dar, das
Internet mit seinen Publikationsformen wie dem Perlentaucher
bewährt. Hier wird jener kulturelle Reichtum Europas in nuce
sichtbar, auf den bereits Marcia Pally in ihrem Vergleich zwischen den
USA und der EU hingewiesen hatte.
Zum Schluss setzt
Matthias Puhle mit seiner Betrachtung der europäischen
Museumskultur noch einmal einen eher nachdenklichen Akzent. Er streicht
die welthistorische Einmaligkeit des Projektes der
europäischen Einheit heraus, das, obgleich ohne direkte
Vorbilder, doch über historische Wurzeln verfüge, die
allerdings durchaus widersprüchlich sein könnten. Die
Vielfalt der geschichtlichen Interpretationen, die in den
europäischen Museen zum Ausdruck komme, dürfe indes
nicht »zwanghaft eingeebnet werden« (S. 127).
Der
zweite Band will sich explizit mit dem Handeln unterschiedlicher
Gruppen auseinandersetzen. Dass der verwendete Begriff
›Gruppenkulturen‹ nicht unproblematisch ist,
verdeutlicht schon der einleitende Vortrag von Rüdiger
Fikentscher. Als Beispiel wählt er folkloristische
Darbietungen nordamerikanischer Indianer. Als er in seiner Jugend aus
Erzählungen gehört habe, wie dieselben Leute, die in
traditionellem Federschmuck vor Touristen die überlieferten
Tänze aufgeführt hätten,
anschließend »mit ihren Jeans in moderne Autos
stiegen und davonbrausten« (S. 11), sei er entsetzt gewesen.
Auch wenn er sich eingestehen muss, dass sein Bild von den
amerikanischen Ureinwohnern damals von der in Romanen ausgebreiteten
Wildwestromantik beeinflusst gewesen ist, gelangt er zu dem Urteil:
»Mit Kultur hat das […] nichts mehr zu
tun« (ebd.). Anders liege der Fall jedoch, wenn es sich um
Schauspieler handele, »die uns zeigen, wie es einmal gewesen
ist« (ebd.). Anhand welcher Kriterien er zwischen
›legitimer‹ schauspielerischer Leistung und
›illegitimem‹ Kommerz unterscheiden will, sagt er
indes nicht. Hier vermischen sich offensichtlich Vorstellungen von
schauspielerischer Darstellung aus der Hochkultur unreflektiert mit dem
Anspruch, der Alltagskultur nachzuspüren. Wenn man aber
konstatiert, dass die angesprochenen indianischen Tänze nicht
mehr der gelebten Kultur der amerikanischen Ureinwohner entsprechen,
dann ändert daran auch die schauspielerische Darbietung
nichts. Letztendlich ist es wohl Auslegungssache, was eine
›Gruppenkultur‹ ist und was nicht.
Christoph
Zöpel versucht in seinem Vortrag, dem Begriff mit analytischen
Mitteln beizukommen und weist zunächst darauf hin, dass gerade
mit Blick auf die europäische Integration der Begriff
›Gruppe‹ problembehaftet ist: »Das
beginnt bei einer Gruppenintegration, die Exklusion anderer, nicht zur
Gruppe Gehöriger, bedeutet, und führt zur
gefährlichen Problematik kollektiver Identitäten
großer politischer Einheiten« (S. 14). Und auch dem
Begriff der Kultur ist diese Problematik von Integration und Exklusion
inhärent. Er weist darauf hin, dass die europäische
Geschichte voller Beispiele ist, wie die Exklusion bestimmter Gruppen
zu gewalttätigen Konflikten geführt hat. Deshalb gebe
es eine »generelle Grenze« für die
Gruppenkultur: »Das Individuum kommt im Zweifel vor der
Gruppe. Menschenrechte, das Recht des Individuums in Europa,
müssen es erlauben, der Gruppe auch den Rücken kehren
zu dürfen. Das Recht des Einzelnen geht dem Recht der Gruppe
unverzichtbar vor« (S. 29).
Nicht ganz so ernst
klingt es, wenn die Rheinländerin Karin Juncker den
Unterschieden zwischen Deutschen und Franzosen nachspürt.
Besonders kuriose Sprachverwirrungen lauern auf kulinarischem Gebiet,
wie sie zu berichten weiß. Probate Mittel für eine
bessere interkulturelle Verständigung seien, das zeigt sie mit
ihrer deutsch-französischen Tour d’Horizon
bravourös, »Humor und Toleranz« (S. 29).
Von
ersterem zumindest zeigt sich der Vortrag von Christa Randzio-Plath Zur
Rolle der Frau in der europäischen Kultur
gänzlich unbeleckt. Sie konstatiert gleich zu Beginn
»Europa ist in eine tiefe Krise geraten« (S. 30).
Die Feststellung bezieht sich vorderhand auf das Scheitern des
Verfassungsvertrages durch die beiden ablehnenden Referenden in
Frankreich und den Niederlanden, die sie als Zeichen deutet, dass
Europa zwar gelebte, »aber nicht akzeptierte
Wirklichkeit« sei (ebd.). Dieser Sichtweise ließe
sich sicherlich mit Gründen widersprechen, was aber
überflüssig ist, weil es der Autorin gar nicht um die
Akzeptanz Europas geht, sondern um die
»Geschlechtergleichheit« für
europäische Kulturschaffende, wie sie übergangslos
ausführt. Diese zu fordern, begründet sich aus einer
fundamentalen Nichtgleichheit: »Frauen lesen anders,
schreiben anders, sehen anders, malen anders, hören und
verstehen anders, komponieren, musizieren und schauspielern
anders« (S. 31) – und offensichtlich
argumentieren sie auch anders. Wie diese
›Andersheit‹ Grundlage von
›Gleichheit‹ werden soll, erschließt
sich dem geneigten Leser, wenn er sich an das Thema des Buches,
›Gruppenkulturen‹, erinnert (und Christoph
Zöpels Warnungen in den Wind schlägt). Doch
zunächst geht es um die historische Begründung des
Anspruchs: »Seit Beginn der Menschheitsgeschichte sind Frauen
aktiv an der kulturellen Entwicklung Europas beteiligt. Die Existenz
von Künstlerinnen in der Antike ist belegt. Schon im 12. und
13. Jahrhundert gab es weibliche Spielleute und Troubadoure, die
Höfe mit Spiel und Gesang unterhielten. Bis ins 18.
Jahrhundert hinein hatten Adelsfamilien wie die Medici, die
Habsburger, die Tudors oder Viscontis Künstlerinnen
für Mußestunden zu Gast« (S. 31). Das ist
nett gesagt, täuscht aber (absichtsvoll?) darüber
hinweg, dass die Künstler ( weibliche und
männliche ) im Mittelalter und noch bis in die frühe
Neuzeit hinein den gesellschaftlichen Status von Vagabunden innehatten,
ehe sie an den Höfen der absolutistischen Adligen
(männlichen und weiblichen) in den Rang
von Bediensteten ›aufstiegen‹. Ihre Kunst hat
sicher vielen Zwecken gedient, ganz bestimmt aber nicht dem der
expressiven Selbstverwirklichung der Künstler. –
Verve kann mitreißend sein, auf der
sicheren Seite ist man aber nur, wenn sie sich mit Kenntnis (und
vielleicht ein bisschen Esprit) paart. Ranzio-Plath kommt
leider nicht über die sattsam bekannten Argumente
des feministischen Diskurses des späten zwanzigsten
Jahrhunderts hinaus, der, sich an postkolonialistische Theoreme
anlehnend, unterschwellig ›die Frauen‹ mit den
unterdrückten Menschen der sogenannten Dritten Welt
identifiziert. Daraus (und nicht aus der gewiss berechtigten Forderung
nach Gleichbehandlung) erklärt sich der Bezug zu den
›Gruppenkulturen‹, aus dem sich wiederum der
Anspruch auf »Frauenfilmfestivals« und eigene
»Europäische Kulturpreise« (S. 40)
ableitet. Letztendlich geht es also auch nicht um die so ganz andere
Kunst (über die wir übrigens nichts weiter erfahren),
letztendlich geht es um ungehinderten Zugriff auf die
Geldtöpfe der EU. Ob das die Akzeptanz Europas bei den
Menschen (männlichen und weiblichen), die
diese Gelder erarbeiten müssen, merklich erhöht?
Worin
die ›andere‹ Kultur der Frauen vielleicht
bestehen könnte, erfahren wir aus dem Beitrag von Eva
Labouvie, Frauenkulturen in Europa: Geburt und
Schwangerschaft zwischen Körperritual, Erlebnisraum und der
Medikalisierung von Mentalitäten. Ideologisch
basiert der Text, wie bereits der Titel verrät, auf demselben
dekonstruktivistischen, poststrukturalistischen, postkolonialistischen
Theoriegewebe wie der vorige. Die westliche, naturwissenschaftlich
fundierte Medizin wird als männliche Machtergreifung
über den weiblichen Körper
›dekonstruiert‹, diagnostische Verfahren
kurzerhand zu »Ritualen« (S. 53) umdefiniert, um
ihnen als Alternative eine idealtypisch konstruierte
»Frauenkultur« gegenüberstellen zu
können, die ihr Vorbild in vormodernen Gesellschaften sucht,
wo Schwangerschaft und Geburt als ganzheitliches Erlebnis aufgefasst
worden seien: »Auch wenn diese individuelle
Unterstützung während der konkreten Geburtsarbeit an
Grenzen stoßen konnte, war durch die traditionelle
Frauengemeinschaft der gegenseitigen Hilfe ein gemeinsames
Überstehen aller Phasen der Niederkunft
gewährleistet, in denen einmal auf Zuspruch und Ermutigung,
dann mehr auf die Eindämmung von Ängsten und
Schmerzen, schließlich auf körperliche
Unterstützung des Geburtsvorgangs und endlich entweder auf die
Versorgung von Mutter und Kind oder auf die gemeinsame
Bewältigung einer so genannten
›unglücklichen Geburt‹ durch Gebete,
Trost und kollektive Rituale Wert gelegt wurde« (S. 44). Dass
insbesondere letzteres in der ›guten alten Zeit‹
wesentlich häufiger notwendig wurde als heute, weil die
Sterblichkeit von Säuglingen und Wöchnerinnen auf
einem Niveau lag, das heute gesellschaftlich kaum mehr zu vermitteln
wäre, wird geflissentlich verschwiegen. Die ganze
Hilflosigkeit des naiv applizierten ethnologischen Blicks auf die
eigene Kultur enthüllt sich aber, wenn die Autorin sich fragt,
warum werdende Mütter sich heute lieber medizinisch geschulten
Fachkräften anvertrauen als ihren Freundinnen, Nachbarinnen,
Schwestern, Müttern, Großmüttern, Cousinen
oder Tanten: »Stecken dahinter Hilflosigkeit, Verunsicherung,
Technologiegläubigkeit, Konsumentengeist, Propagandamacht
– oder vielleicht doch die Suggestionskraft der versteckten
Rituale und der symbolischen Prägekraft ihrer
vielfältigen Prozeduren?« (S. 53). Könnte
es vielleicht einfach nur die Einsicht sein, dass es nicht unbedingt
Fügung des Schicksals ist, sein Leben auf dem Wochenbett
hinzugeben, dass vielmehr die richtige Behandlung zur rechten Zeit mehr
bewirken kann als irgendein Ritual?
Dass es auch
echte ethnologische Forschung gibt, die zu einem wirklichen
Erkenntnisfortschritt führt, zeigt Krisztina Kehl-Bodrogi mit
ihrer Untersuchung über Bestattungsbräuche
und Umgang mit dem Tod bei Türken. Nach
ausführlicher Beschreibung der islamischen
Übergangs-, Begräbnis- und Trauerrituale in der
Türkei werden die Schwierigkeiten erläutert, auf die
deren Ausübung im institutionellen Rahmen der deutschen
Gesellschaft (Krankenhaus und Friedhof mit den entsprechenden
Vorschriften und Einschränkungen) stößt.
Während auf der einen Seite versucht wird, den Anforderungen
der Muslime ansatzweise gerecht zu werden, führen auf der
anderen Seite die fortbestehenden Probleme zu einer
allmählichen Veränderung der hergebrachten Riten. Und
so lautet denn auch das Fazit der Autorin angesichts einer trotz der
geschilderten Probleme steigenden Zahl von Türken, die ihre
Angehörigen nicht in die Heimat überführen,
sondern hier bestatten lassen: »Auch an diesem kleinen
Ausschnitt aus der ›türkischen Kultur‹
zeigt sich, dass Kulturen keine statischen Größen
sind. Vielmehr ist jede Kultur in einem mehr oder minder steten Wandel
begriffen und wird immer wieder neu ausgehandelt unter denen, die sich
ihr zugehörig fühlen« (S. 67). Diese
Einsicht sei besonders all denen ins Stammbuch geschrieben, die als
christliche oder muslimische Fundamentalisten den ›Kampf der
Kulturen‹ forcieren wollen.
Ebenso
fundiert präsentiert sich der Bericht über das
Forschungsprojekt KASS (Kinship and Social Security) des
Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle
(Saale). Astrid Baerwolf und Tatjana Thelen stellen die Ergebnisse der
Untersuchung über Familiengründung und
Retraditionalisierung in Ostdeutschland vor. Seit der
Wiedervereinigung finde dort eine verstärkte Orientierung am
»Ideal der Kernfamilie« statt, während zu
Zeiten der DDR noch auf möglichst frühzeitige
Kinderbetreuung durch den Staat und volle Erwerbstätigkeit der
Frauen gedrungen wurde. Die »tägliche
Praxis« allerdings zeige, dass das Ideal nicht im Sinne einer
Rückwendung zu traditionellen Verhältnissen umgesetzt
werde, sondern »unterschiedlichste familale
Lebensformen« entstanden seien. Ein erkennbarer Trend sei
aber, dass sich auch bei Frauen in Ostdeutschland das im Westen seit
langem zu beobachtende »zeitliche Nacheinander von Familie
und Beruf« (S. 81) etabliere.
Einen
interessanten und informativen Blick in den Süden Europas
wirft Christiane Dienel mit ihrer Darstellung der Abwanderungskulturen
in Süditalien. Das wirtschaftliche Gefälle
zwischen dem industrialisierten Norden und dem in dieser Hinsicht trotz
aller Fördermaßnahmen aus Rom und Brüssel
rückständigen Süden hat bereits in der
Geschichte zu mehreren Auswanderungswellen geführt und
trägt bis heute dazu bei, dass die Städte und
Dörfer der betroffenen Regionen dünn besiedelt sind
und die Altersstruktur so weit nach oben verschoben, dass etwa in dem
beispielhaft untersuchten Dorf Cirigliano in der Basilicata
»80 bis 90 % der Einwohner […] von ihrer
Rente« (S. 90) leben. Dienel zeigt, dass die Tradition der
Auswanderung nicht zu einem Verlust der Identität
geführt hat. Vielmehr blieb die Bindung an die alte Heimat
auch in der Diaspora erhalten und immer wieder kam (und kommt es auch
zu »Rückwanderungen«). Zum Schluss wird
beschrieben, wie Vereine auch mit Hilfe moderner
Kommunikationstechniken dazu beitragen, das Bewusstsein für
die lokalen Kulturen lebendig zu erhalten. Darin sieht die Autorin auch
ein Beispiel für Orte in ländlich strukturierten
ostdeutschen Regionen, die eine ähnliche Entwicklung
durchmachen.
Der
›Bologna-Prozess‹ soll die europäische
Hochschullandschaft vereinheitlichen und, wie das von Politikern so
gern verwendete Schlagwort lautet,
›zukunftsfähig‹ machen. Dass dieses
Vorhaben bei weitem nicht so einfach ist wie die Normierung
industrieller Verpackungsgrößen (und auch nicht
unbedingt zum angestrebten Ergebnis führen muss), stellt
Reinhard Kreckel mit seinem Aufsatz Universitätskulturen
sehr eindringlich dar. Der Autor blickt auf eine langjährige
Erfahrung als Student und Lehrer zurück, die ihn an
Universitäten in Westdeutschland, Frankreich,
Großbritannien, Amerika und schließlich
Ostdeutschland geführt haben. Er kommt zu dem Ergebnis, dass
die Vielfalt der Universitätskulturen eine Bereicherung
für Europa darstellt, die nicht einfach administrativ
eingeebnet werden sollte.
Joachim Otto Habeck gibt
in seinem Beitrag einen faszinierenden Einblick in »die
Musikszene einer russischen Großstatt«. Sein Blick
gilt dabei einer Region, die denkbar weit von Europa entfernt ist, gar
als eine Art »Anti-Europa« angesehen werden
könnte und die vor allem wegen ihrer Bodenschätze in
den Horizont der globalisierten Wirtschaft gerückt ist:
Sibiren. Nach dem Ende des Sowjetsystems haben die Einrichtungen der
Hochkultur wie Opernhäuser und Ballettschulen ihr Niveau und
ihre internationale Reputation halten können. Als
Ausbildungsstätten reicht ihr Einfluss bis in die Popkultur
hinein, wo allerdings inzwischen die westliche Kultur dominiert. Neue
Formen entstehen aus der Auseinandersetzung mit den indigenen Kulturen
der dort ansässigen Völker, die ansatzweise auch
wieder in die Welt auszustrahlen beginnt.
Das
Verhältnis von Hoch- und Pop- bzw. Jugendkultur ist auch das
Thema des Aufsatzes von Lutz Nitsche über die Kultur
des Skateboarding. Er weist vor allem auf das subversive
Element hin, das mit dieser immerhin seit 50 Jahren bestehenden urbanen
Sportart verbunden ist. Die in Ansätzen vorhandene Forschung
sieht im Skaten, die zwar »eine ›Gruppenkultur in
Europa‹, keineswegs aber eine europäische
Gruppenkultur« (S. 143) sei, eine »Antithese zur
bürgerlichen Lebenswelt« (ebd.) und eine
»Kritik der Stadt« (S. 144).
Zum
Schluss präsentiert Theo Austermühle noch
soziologische Einblicke in die Fankultur im Sport.
Herausgehobenes Studienobjekt ist wegen seiner Massenwirksamkeit der
Fußball. Hier wird zwischen drei Gruppen von Fans
unterschieden, je nachdem, welcher Aspekt des Sports bzw. der
Aktivitäten in seinem Umfeld im Vordergrund stehen: Konsum,
das Spiel selbst oder das Massenerlebnis. Dass beim
›fanatischen‹ Engagement für den Sport
seit frühesten Zeiten auch schon Gewalt eine Rolle spielt,
darauf weist der Autor zu Beginn seiner Ausführungen mit einem
historischen Beispiel hin. Dennoch sei der
»Hooliganismus«, der zur dritten Fangruppe
gezählt wird, »kein originär aus dem Sport
heraus begründbares Phänomen« (S. 156),
sondern resultiere aus der »Massenanziehungskraft«.
Die
hier vorgestellten Aufsätze und Vorträge leisten,
wenngleich in unterschiedlichem Maße, einen wichtigen
Beitrag, Europa in seiner Vielfalt auch für Leser
außerhalb des akademischen Elfenbeinturms greifbarer zu
machen. Herausgehoben zu werden verdient dabei die Arbeit der jungen
ostdeutschen Forscher, die jenen in poststrukturalistischen Diskursen
des späten zwanzigsten Jahrhunderts befangenen etablierten
Autoren des Westens einen Erkenntnishunger und frischen Blick
entgegensetzen, der nicht so leicht in die ideologische Falle tappt.
Doch auch diejenigen Wissenschaftler, Journalisten und Politiker, die
durch die gelebten Traditonen Westeuropas zu einer erweiterten
Perspektive gefunden haben, steuern wertvolle Einsichten bei, die dazu
angetan sind, den Reichtum der europäischen Kultur ins
richtige Licht zu rücken.
Jörg
Büsching