Die Geschichte
sei, wie Georg Büchner einmal verzweifelnd schrieb,
vom
lieben Herrgott nicht zu einer Lectüre für junge
Frauenzimmer geschaffen worden; man werde nämlich
wie
zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der
Geschichte zurückgelassen. Immerfort dasselbe:
Quälen
und töten, töten und quälen, und ich lese es
auf tausend Arten immer wieder, immer dasselbe (Elias
Canetti).
Das sollte und müsste endlich,
endlich
einmal vorbei sein! Das, was noch nie guter Wille oder eine
entschlossene Idee zustandegebracht hatten, weder mit Gottesfurcht oder
aus Rechtsbegriffen, dass Menschen freundlich, frei und satt werden
könnten auf Erden, verkündete und begründete
in der Neuzeit der Kommunismus. Der versprach – durch Marx
– zweierlei: zunächst jede praktische Angelegenheit
künftig an der Wurzel zu packen, (a)
radikal
zu sein, um dann (b) »alle Verhältnisse
umzustürzen, in denen der Mensch ein geknechtetes, beleidigtes
und erniedrigtes Wesen ist«. Es galt also die Macht zu
erringen, um genau das zu tun:
alles
umzustürzen. Das heißt, abzuschaffen, was
offensichtlich den Menschen von seinesgleichen entfremdet (und was
diese Entfremdung ideell verklärt), allem voran die Eigentums-
und Geldverhältnisse, das damit überkommene Recht,
Handel, Administration, Parlamentarismus, natürlich die Kultur
dieser ›Alten‹, wie Religion, Kunst,
Pädagogik, Philosophie, etc. Hierzu war der zu erwartende
Widerstand alles Alten radikal zu brechen, wie Lenin 1920 gefordert
hat, »durch nichts eingeschränkte, durch keinerlei
Gesetze, absolut durch keinerlei Regeln gehemmte, sich unmittelbar auf
die Gewalt stützende Macht«.
Das
Nachsichtigste, was man über jene außer Rand und
Band geratenen Leute (von Lenin bis Lin Piao, von Molotow bis Mielke,
von Berija bis ›Presidente Gonzalo‹), die alle so
oder so Söhne des Roten Oktober waren, sagen könnte,
war allerdings schon in Dostojewskijs
Die Brüder
Karamasow nachzulesen: Sie waren
nicht gewachsen
dem Aufruhr, den sie selber anzettelten. Ein Erschrecken
macht sich breit bei der Ahnung, dass es sich dabei nicht
bloß um üble und übliche
Begleitumstände der Geburt von etwas
›Neuem‹ handelt, um sogenannte
›Kinderkrankheiten‹, sondern dass die
Konstruktionsidee, die Idee des Kommunismus selber von Beginn an falsch
gewesen sein könnte. Seine Schrecken wären
womöglich als Verkehrsform der
kommunistischen
Lösung der sozialen Frage zu begreifen: als die
immerwährende, alltägliche empirische Negation
aller
herkömmlichen Konventionen im Umgang zwischen Menschen, ohne
die es niemals auch nur kurzfristig gelingen könnte, das
(markt-unfähige) Gemeineigentum als Lebensform vorzuschreiben.
Der Terror des Bolschewismus wäre also die erste, bald
ständige, wiederholte Erfahrung des Scheiterns der alten Idee
des Politischen als der Kunst des Möglichen und des Scheiterns
des modernen Projekts von Gesellschaft als einer formal-
rechtlich
verfassten Assoziation von austauschenden Individuen. Die Frage bleibt,
ob es denn überhaupt nur ein
Scheitern
war, oder nicht vielmehr in der
Absicht lag, genau
jenes ›Ganz Andere‹ mit ganz anderen Mitteln zu
realisieren. An die Stelle des Politischen (als machbar
Gegenwärtigem) trat die Engführung des Blicks aufs
allein Künftige (weit über das Morgen hinaus): Das
Utopische substituiert das Politische und die Gemeinschaft die
Gesellschaft. Dies allerdings ist ein übergreifendes Motiv
aller radikalen, revolutionären Kapitalismus-Kritik bis heute.
Übrig bleibt als praktische, massenhafte
Erfahrung des Menschengeschlechts eine grauenvolle Bilanz jener
Kommunistischen Revolutionen, so dass, mit Immanuel Kants Kritik der
Revolution (der Franzosen) gesprochen, »ein wohldenkender
Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmal unternehmend glücklich
auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf
solche Kosten zu machen nie beschließen würde.«
Könnte man etwa – wie einst noch Kant von der
Französischen Revolution vermutete – auf eine
moralische
Anlage im Menschengeschlecht abheben? Hier dürfte
doch inzwischen jeder ›Dispositionskredit‹
für Diskontinuitätsprojekte überzogen sein.
Wenn nach Auschwitz noch nicht einmal mehr Gedichte möglich
sein sollten, kann dann nach dem Gulag immer wieder eine Revolution
denkbar sein? Das sollte zumindest nicht selbstverständlich
sein.
Es bleiben mindestens zwei Fragen:
1.
Was war der entscheidende mentale Antrieb in jener ›Diktatur
des Proletariats‹?
2. Ist es sinnvoll,
Differenzierungen im ›Diktatur‹-Begriff
vorzunehmen?
1. Eine der singulären Folgen
der russischen Revolution vom Oktober 1917 war ihre
globale
Dimension. Sie wurde von den Akteuren der Revolution auch sofort als
notwendige Bedingung und Konsequenz ihres Erfolges gesehen. »Die
ganze Welt hat sich in Weiße und Rote geteilt, nicht nur in
Russland, sondern überall«, so definierte Georgi
Sinowjew in einer Rede von 1919 die neue Situation. Dass dieser Umsturz
nicht nur die im europäischen Mächtevergleich
zurückgebliebene russische Gesellschaft modernisieren wollte,
sondern vielmehr genuin als der Beginn einer ›Neuen
Moderne‹ gelten können sollte, war Antrieb bei
Akteuren und Sympathisanten der Revolution wie Albtraum ihrer Gegner.
Und so begann im Selbstbehauptungskampf des Roten Russland gegen die
Weltkriegsgewinner Europas und Amerika das, was man dann den
Weltbürgerkrieg
nannte.
Dabei entwickelte sich ganz
ursprünglich auf Seiten derer, die mit einem neuen
emanzipatorischen Anspruch die geschichtliche Bühne betraten,
eine bisher ungekannte Dynamik der Selbsttranszendenz des (mediokren)
Menschen. Ihre leitende Idee war kommunistisch und ihre Verkehrsform
die Gewalt. Deren unbegreifliche Triumphe, das
Unvergessliche
Jahr 1919, der Weg durch Zentralasien bis zum Stillen Ozean
ließ viele an ein erneutes, hoffnungsvolles Passionsgeschehen
denken.
Und sie schreiten majestätisch
Hinten: Hund und Hungerleid;
Aber
vorn: mit blutiger Fahne,
Gegen
Blick und Blei gefeit;
Um
den Kranz aus weißen Rosen
Und
voll Sanftheit jeder Schritt,
Schreitet
Jesus Christus mit...
So heißt
es in Aleksander Bloks Poem
Die Zwölf von
1918. Diese neue, (unbewusst) religiös konnotierte Kultur der
Selbsttranszendenz, die alle bisherigen Normen und Maße des
Politischen und Parlamentarischen hinter sich ließ, hatte
unmittelbar die Faszination der Welt für sich. Selbst ihre
Widersacher konnten sich ihr kaum entziehen. Ist das, so fragte sich
ein junger deutscher Fahnenjunker in den Reihen Admiral Koltschaks, »nicht
so alt wie die Menschheit selbst, zum wenigsten so alt wie Christus
und seine Lehre?«
Aber: Warum wurde in
diesem ›Neuen Russland‹ Dostojewskijs Legende vom
Großinquisitor so schnell geschichtliche
Realität? Das heißt: warum wurde eine
für die Existenz der neuen Räterepublik schlechthin
konstitutive Personengruppe (die Macher des Oktober 1917)
staatsförmig totgeschlagen? Denn, wie wir heute
längst wissen, die Feind- und Sabotagekennungen namentlich der
Dreißiger Jahre bezeichneten und identifizierten
gerade
das, was nicht ist. Die als
›(Volks)Feinde‹ stigmatisierten Menschen waren ja
gerade keine Feinde und Saboteure. Indem man sie als solche markierte,
vollzog man ein monströses Herrschaftsspiel. Der Terror war
(als physische und geistige Auslöschung) die
demonstrativ-öffentliche Vergeltung an den zuvor erzeugten
Feinden und Saboteuren. Wozu brauchte man das? – Um sich in
einem
Endkampf zukunftswärts
(himmelwärts) hochzurevolutionieren und sich nicht etwa
bloß (irrtum-integrierend) ›nach oben‹
zu parlamentieren. Der Terror war eine Folgelast, die man zu tragen
hat, wenn man die Kultur des Politischen aufgibt, ja austreibt. Man
sollte sehen, dass jene Schreckenszeit nicht
›bloß‹ eine Verirrung im
(rechts)politischen
Handeln der KPdSU(B) war (›es gab Verletzungen der
sozialistischen Gesetzlichkeit‹), sondern dass sie
eine fundamentale
politisch-theologische Dimension
deutlich macht.
Was meint das? Es hat zu tun mit
dem Wollen der Kommunisten jener Zeit, eine
qualitativ
andere, endgültig befreite Menschenwelt zu
organisieren und nicht bloß wieder einen Staat neben anderen.
(Nebenbei: Die Hymne der Sowjetunion war auch kein aus der nationalen
Tradition Russlands oder einer anderen Sowjetrepublik stammendes
Musikstück, sondern die
Internationale.
Jedenfalls bis sie im ›Heiligen Vaterländischen
Krieg‹ 1943 durch ein patriotisches Lied ersetzt wurde).
Dies war
keine im herkömmlichen Sinne
politische
Aufgabe (bei der es Fehlerdiskussion, Konsenskultur und Umkehr geben
könnte),
sondern tatsächlich ein
politisch-theologisches
Begehren nach Erlösung überhaupt. – Nun
klappte aber dieses Begehren nirgends im Alltag jener Umkrempelungen.
Das muss erklärt werden. Aber wie? – Die
Revolutionäre erlebten etwas, was die frühesten
Christen auch erleben mussten: die (zeitliche) Verzögerung des
Heilsgeschehens. Das heißt, nicht nur die endgültige
Befreiung kommt nicht in Sicht, auch Verbesserungen bleiben aus; in den
Worten des späten Bertolt Brecht: Versprochen worden sind
Äpfel, ausgeblieben ist Brot.
Also,
theologisch gesprochen: Der tendenzielle Fall der ›Parusieerwartung‹
(d.h. die Parusieverzögerung) verlangt in jener Zeit erstmals
eine umfassende Kompensationsstrategie, um nicht
soteriologisch
(d.h. erlösungspraktisch) zu erschlaffen, und um den Bedarf
ständig steigender Heilsenergien (für das
Herbeiarbeiten des Kommunismus) sicherstellen zu können. Es
musste eine neuartige Konditionierung begonnen werden, der neue
Terminus dafür war:
ideologische Arbeit,
um die vorgefundene – zu befreiende – Welt
sukzessive durch eine ›zweite –
befreite
– Natur‹ zu substituieren bzw. als schon
substituiert zu erklären. Und man braucht in diesem Prozess,
in dieser permanenten Kampagne natürlich auch ›die
Anderen‹, die der Befreiung ebenso permanent entgegenwirken
(nicht solche, die sich irren, mit denen zu reden wäre, die,
im Grunde gleichgesinnt, bloß andere politische Wege
versuchen, etc.). So wie die Befreier mit einem
absoluten
Anspruch, ›das Licht‹, den
›Morgen‹ zu bringen, auftreten, braucht man auf
der anderen Seite Leute (je vormals bedeutender um so besser!), die mit
einem ebenso
absoluten Anspruch die
›Dunkelheit‹, das ›Gestern‹
vertreten.
Der sowjetische Herrschaftsalltag der
Dreißiger Jahre –
Je
näher man dem Sozialismus ist, um so mehr verschärft
sich der Klassenkampf –, ist diese
theologisch-politische Gnostik. »Russlands Unglück
war«, so schrieb in jenen Jahren der schon erwähnte
deutsche Fahnenjunker, »dass die Ausführung des
Versuchs einer kommunistischen Staatsordnung aus den Händen
von Experimentierenden in die Hände von Gläubigen
geriet. Wenn der Versuch in der Hand lediglich herzkalt Rechnender
geblieben wäre, hätte man ihn nach einem halben Jahr,
nach Gewinn der Erkenntnis, dass er keinerlei
Lebensmöglichkeit besitzt, sicher wieder abgebrochen. Dadurch
jedoch, dass er den Zügeln dieser Rechnenden entglitt und in
die starke Hand Lenins und seiner Gläubigen geriet, wurde aus
dem wissenschaftlichen Experiment eine Glaubenslehre.« Der
polnisch-jüdische Schriftsteller Aleksander Wat erinnert sich
einer Episode mit Stalin aus den Vorkriegsjahren, die ihm sein Freund
Paustowski erzählt hat und die diese religiöse
Dimension deutlich werden lässt: Bei einem Komsomolkongress
wird die ›Epiphanie‹ des
Väterchens
herbeiapplaudiert – nach einer inbrünstigen halben
Stunde kommt ER – weitere »zehn Minuten lauscht er
nicht nur, er trinkt diesen Schrei: Stalin, Stalin, Stalin, Stalin, der
in immer höheren Tonlagen erschallt, die schon ins Hysterische
übergehen.«
2. Die schlichte
Erklärung: Kommunismus sei eben bloß anders
›gefärbter‹ Nazismus, beides aber
totalitäre Gewaltformen, Diktaturen, besagt über
beide fast nichts. Hilft also eine
›Totalitarismus‹-Theorie weiter, die sich um
einen vereinheitlichbaren Begriff von Diktatur bemüht? Das
leisten weder die ›strukturelle‹ (Hannah Arendt)
noch die ›historisch-genetische‹ (Ernst Nolte)
Variante. Deren Begriffe und Methoden müssen (und wollen) die
höchst unterschiedlichen historischen, empirischen und
kulturellen Sachverhalte in den totalitären Gesellschaften auf
Vergleichbares hin reduzieren. Dabei bleiben häufig nur ein
paar augenfällige Übereinstimmungen in der
›Ästhetik‹ und im Gepränge der
Macht übrig: Aufmärsche, Propagandageschrei,
Gemeinschaftstümelei, lustige
Schützenkönig-Uniformen etc. Es wäre ein
wenig so, als würde man einen Panje-Wagen und einen Daimler
als
Fahrzeuge aufeinander reduzieren wollen. Wenn ein Zugewinn an
Erkenntnissen über die je unterschiedlichen inneren Formen
jener Gewaltherrschaften zu machen wäre, dann wohl nur unter
der Vermutung:
Jeder Totalitarismus ist singulär. Gelänge
es, die Analyse beider Diktaturen auf das Problem der
Selbsterhaltung
des Einzelnen zu fokussieren, würden viele
Unvergleichbarkeiten deutlich. Der Einzelne hat es im Stalinismus z.B.
mit ungleich unverlässlicheren Institutionen (in Verwaltung,
Partei, Recht oder Militär) zu tun, als in jeder anderen
Diktatur. Gleichgültig, ob parteiloser Arbeiter, General,
Bauer, Rückkehrer, Professor, Polarflieger oder Volkskommissar
für Inneres, im Stalinismus gab es
keine
kalkulierbare Lebens- oder Berufsform, mit der man sich vor dem
gewaltsamen Tod (verursacht durch die eigenen
›Gleichgesinnten‹) bevorzugt hätte
schützen können. Der Staatsterror war
spätestens seit Stalins Triumph (1934),
dem ›zweiten
Bolschewismus‹ (F. Furet), nicht mehr an soziologischen
›Klassen‹-Kriterien orientiert, sondern
wütete übergreifend zwischen allen Schichten jener
unglücklichen Gesellschaft, in allen Berufen und Regionen, bei
Privilegierten wie bei entlegenen sibirischen Ethnien, bei Siegern wie
Besiegten im Bürgerkrieg, unter den ›Erbauern des
Kommunismus‹ ebenso wie unter Abtrünnigen. Gerade
in dieser Zeit des Großen Terrors wurden
Unwägbarkeiten, Unsicherheiten, Improvisationen und ein
unübersehbares Täuschungschaos offenbar, von dem man
nichts verstünde, wenn man auch alles über die
Justiz- und Verwaltungsformen in Nazi-Deutschland (besonders vor dem
Krieg) wüsste. Das, was beispielsweise Roland Freisler bei
seinem offiziellen Besuch des ersten Moskauer Schauprozesses 1936
hätte lernen können, war schlechterdings auf die
zeitgleiche Prozesskultur im nationalsozialistischen Deutschland nicht
anwendbar. Weniger aus mentalen Gründen, er hatte sicherlich
die gleiche kriminelle Energie wie Wyschinskij, als aus
Gründen einer völlig anderen, nämlich
weitgehend noch – mit Ausnahme des Parlamentarismus
– intakten und (von den Deutschen!) mehrheitlich freiwillig
und als selbstverständlich akzeptierten
autoritär-bürgerlichen Herrschaftsform, eines Lebens
(für Deutsche!) in obrigkeitsstaatlicher Normalität
und Sekurität. Selbst dort, wo seit der Kaiserzeit die
Preußische Gefängnisordnung galt, wurde der
(deutsche!) Gefangene – anders als im KZ – als
bürgerliche Person behandelt. Der Nazijurist Freisler
hätte in Friedenszeiten niemals die staats- und
ideologietragende Militär-, Partei- oder Diplomatenelite des
›Dritten Reichs‹
wie
tollwütige Hunde erschießen lassen können.
Umgekehrt
fänden die Schrecken der rassistischen, xenophobischen
Auslöschungs-Exzesse des deutschen Nationalsozialismus (allen
voran gegen Juden und Slawen, Sinti und Roma) keine hinreichende
Erklärung, wenn man die Gründe und Formen des
›Klassenkampfes‹ (exemplarisch gegen die
›Kulaken‹), die der Stalinismus aufbot, zum
Verständnis von Auschwitz heranzöge. Das Konzept des
Totalitarismus erlaube zwar, so betonte neulich François
Furet zutreffend,
zu vergleichen, was vergleichbar ist, aber
es reicht nicht aus, weder was die Ursprünge und
Verläufe noch was den Alltag beider betrifft. Die Tatsache,
dass es dort um den Kampf gegen Rassen, hier um den Kampf gegen Klassen
gegangen sei, mache beide Diktaturen nicht schon symmetrisch.
Reimereien
sind keine Argumente, um Schicksalszusammenhänge zu verstehen.
Die Judenfrage
als Rassenproblem
zu lösen, das hieß schon in der Theorie, die Juden
zu exekutieren. Die Kulaken
als Klasse zu
beseitigen, das hieß nach der Lehre von Lenin und Stalin, die
Kulaken zu expropriieren. Der Unterschied ist – theoretisch
– immerhin der zwischen Tod und Leben. Die stalinistische
Gewalt-Kampagne, die Bauern in kürzester Zeit und massenhaft
von ihrem Eigentum zu trennen, hatte allerdings unter
Sowjetbedingungen
sofort einen Verwaltungs-, Verkehrs- und Ernährungskollaps zur
Folge, der von ›oben‹ kaum noch zu beherrschen
war (da kam auch Stalins Bremsversuch 1930 mit seinem Appell
Vor
Erfolgen von Schwindel befallen zu spät). Die
grauenhaften Folgen – Millionen von Hungertoten (Anfang der
Dreißiger) – hatte das ganze Land zu tragen und
nicht etwa ›nur‹ die Zielgruppe der Enteigneten.
Dieser Vorgang ist jedoch von den Gründen, Umständen
und Ausmaßen her in keiner Weise kopiegleich mit dem
gezielten Verhungernlassen jüdischer Ghettos in den von
Deutschland besetzten Ostgebieten (zu Beginn der Vierziger). Zumal jene
verhängnisvollen politischen Entscheidungen gegen die Bauern
in der Sowjetunion von damals das ganze Land (nicht nur in
Kriegszeiten) in einen anhaltenden Zustand universeller
Mangelversorgung gebracht hat, regional auch immer wieder einmal an die
Grenze des Hungers. Diese chronische Unterversorgung hielt an bis zum
Ende des Kommunismus und traf auf fast alle kommunistischen
Länder zu. Eine hinreichende Erklärung des
›Warum‹ jenes kommunistischen Leviathanismus
bleibt aus. Weder Merleau-Pontys geschichtsphilosophischer Hinweis
(1946) auf die
Vorstellung einer dialektischen Geschichte
noch Courtois’ Beschreibung (1997) der
typisch
russischen Dimension jener formidablen Henker erfasst auch
nur annähernd die Gründe dieses
Zivilisationsbruchs.