Nicht von
ungefähr ist aus der Reformation die Reform geworden.
Hans Blumenberg
1.
Einem
kritischen Stereotyp zufolge scheitern Reformen immer. Das scheint zum
Begriff ›Reform‹ zu gehören. Demzufolge
wäre
eine ›Reform‹ ein bestimmter organisatorischer,
gesellschaftlicher Handlungsvollzug innerhalb eines politisch
regulierten Zeitabschnitts (Legislaturperiode), dessen Resultat als
genau das Defizit identifiziert wird, das auszugleichen eine
–
neue – Reform nötig macht.
2.
Dass
Reformen
›nachher‹ niemals das erfüllen, was sie
zuvor
versprachen, ist ein Widerspruch, der mit den Bedingungen ihrer
Möglichkeit zusammenhängt: dass sie exklusiv auf dem
(immer
nur beschränkten)
Handeln des Menschen
gründen. Sie gründen also nicht auf
Natur,
wie exemplarisch bei Georg Forster, dem z.B. Revolutionen ein Werk der
Gerechtigkeit
der Natur waren, aber sie gründen auch nicht auf
Offenbarungen
(gleich welcher Observanz).
3.
Reformen
sind gegenwartsbezogen und wegen dieser Eigenschaft auch begrifflich
nicht auf einer Ebene mit dem Phänomen
›Revolution‹,
etwa als deren bloß ›reduzierte‹
(›verräterische‹) Form. Revolutionen
wollen immer
das gegenüber der (bedürftigen) Gegenwart reine
(vollständige) Andere – das von Gestern (Theokratie)
oder
das von Übermorgen (Kommunismus). In Revolutionen (jedenfalls
bei
denen, die diesen Namen verdienen) wird schon programmatisch die
anthropologische Basis der in Aussicht genommenen Emanzipation mit in
die Umwälzung (= der Wortsinn von
Revolution)
einbezogen.
Sie will alle korruptiblen Verhältnisse, in denen Menschen
stehen
und zugleich auch die Selbstverhältnisse des Menschen
aufsprengen
und ihn dieser fesselnden, d.h. ihn aller eigentlich fremden sozialen
und natürlichen Verkehrsformen entbinden – hin zur,
wie es
dann exemplarisch bei Marx heißt ›Ineinssetzung
von
Humanisierung der Natur und
Naturalisierung
des Menschen‹. Das ist das
identitätsphilosophische
Axiom von Revolution.
Diejenigen Aktionen, die man dagegen
Reformen
nennt, wollen in den mit ihnen verbundenen emanzipativen Akten deren
anthropologische Basis selber unangetastet lassen. Wenn man hier ein
philosophisches Prinzip heranziehen wollte, dann eines aus einer
Philosophie
des Werdens. 4.
Das definiert
einen grundlegenden Unterschied beider Handlungstypen: einerseits den
instrumentalistischen
Impetus der Reform und andererseits den
kreationistischen
Anspruch der Revolution. Dabei ist es egal, ob man sie metaphorisch als
Lokomotive (Marx) oder
Notbremse
(Benjamin) im Menschenbetrieb betrachtet – es geht immer um
die
quasi ›soteriologischen‹ Dimensionen, die zu
bewältigen seien, um die Freisetzung des wirklich
menschlichen
Menschen
zu bewerkstelligen. Das eint theokratische wie soziale
Erlösungsanstrengungen. Und deshalb ist auch – ganz
anders
als bei der Reform – der vollständige Begriff der
Revolution
klar bestimmt. Aber auch ihr Ende: Diese letzte Phase von Revolution
wird (seit dem Ende der Großen Revolution der Franzosen) mit
einem abstrakten allgemeinen Namen bezeichnet, gewissermaßen
ihre
Pathosformel:
Thermidor. Das ist der Zeitpunkt, da
–
meist angezeigt durch einen symbolischen (häufig blutigen) Akt
– das Apogäum der Erlösungsarbeit
überschritten
wird.
5.
Reformen nun haben nicht diesen
›letzten‹, konsequentialistischen Anspruch, sie
wollen Aktionen im
politischen
Raum bleiben. – Aber: Dieser ihr
›mittlerer‹
Einsatz und Anspruch ist eben auch gleichermaßen deren
Bedingung
wie Konsequenz. Zugleich also Gewähr für (a) die
›irenische‹ Verlaufsform und (b) ihr
immerwährendes
Verlaufen (im Doppelsinn des Wortes).
Wollte man mit der
Revolution
über den
(›alten‹)
Menschen hinaus
– und (so alle bisherige Erfahrung) musste dabei am Menschen
scheitern, so ist es bei
Reformen
paradoxerweise gerade auch wieder der anthropologische Bestand, der ihr
jeden ›absoluten, finalen Zustand‹
unmöglich werden
lässt.
6.
›Gelingen‹
hieße dann in
Bezug auf Reformen, dass etwas mit einem Prozessbegriff zu erfassen
wäre; es ginge um die entsprechende Markierung bzw. Bestimmung
eines Stabilen innerhalb einer dynamischen, amorphen Verlaufsform.
›Gelingen‹ bezeichnet dann hier immer etwas nur
temporäres.
So sieht man betroffen einen
Widerspruch: dass
dem Anthropos
nicht zu entkommen ist, gleichwohl man ihm zu entfliehen sucht. Bliebe
vielleicht nur die Religion? Nein, gerade die Politik ist
zunächst
die alte Kulturtechnik, den Menschen mit seiner exzentrischen
Positionalität nicht ins Schlingern geraten zu lassen.
7.
Eine
dieser paradoxalen Verkehrsformen ist also die
Politik, ihre
alltägliche Konfiguration – die
Reform.
Sie wird unternommen zu einem einzigen Zweck, der zugleich der Zweck
von Politik ist: Freiheit – in der Polis – zu
garantieren.
Freiheit nicht als ein subjekt-beliebiges, sondern als ein durch
Institutionen produziertes und getragenes Dasein zu begreifen. Sie wird
nicht ein für allemal erreicht, sondern via politischem
Handeln
(als Abweichungskorrektiv, das wegen einer anthropologischen Dynamik
der menschlichen Verkehrsverhältnisse immer erforderlich
bleibt).
Reformen sind unter diesen Auspizien ständige
»Selbsttransformationen des affektiven Lebens«
(Manfred
Walther, 1992 in einer Kondylis-Rezension).
8.
Reformen
sollen vor allem, und daran werden sie gemessen,
Entlastung
garantieren. Entlastungen, die wegen der naturgeschichtlich geformten
Sonderbedingungen von uns Menschen (die wir uns nicht mehr
instinktgeleitet verhalten) erforderlich werden. Diese Entlastungen
werden institutionsförmig organisiert, d.h. wir als Menschen
erhalten uns untereinander mittels dieser praktisch-geistigen
Institutionen, die wir aber nicht parasitär nutzen, sondern an
deren Regeln wir uns binden, wodurch wir dann einen Mehrwert an
Freiheit erzielen. Damit rückt aber die
Reformfähigkeit
zu einem schlechthin zentralen Kriterium der Bedingung der
Möglichkeit von Freiheit auf.
9.
Das
heißt aber auch: Reformfähigkeit ist nicht nur eine
Leistung
(oder die Erwartung) der die Menschen integrierenden –
äußeren – Institutionen, sondern hat
selber eine
anthropologische Dimension. Die wird im Begriff des Menschen als eines
Selbstverhältnisses
(des Subjekts, das ein ›zugleich‹ von Ich und
eines
Anderen, nichtfaktischen Selbst ist) namhaft gemacht. Das meint
kant-technisch ausgedrückt das folgende
›Wechselspiel‹ im Menschen: Die
Reflexionsleistung des
Subjekts auf sich selbst als empirisches, so Kant (in der
Religionsschrift, Allg. Anm. z. ersten Stck.) wäre zu
begreifen
als
die allmähliche Reform für die Sinnesart
und die ist zugleich kontrastiert mit einer
Revolution
für die Denkungsart,
die die transzendental-kognitive Dimension desselben Subjekts betrifft.
D. h. der Selbstbezug des Ich auf seine interindividuelle Signatur
erscheint nach ›außen‹ gewendet als
–
allmähliche –
Reform,
während er nach ›innen‹ – auf
die Spontanität des Denkens bezogen – als
Revolution
erscheint. In der Alltagskommunikation meint das, dass man im
Denken
schneller, radikaler, variabler, experimenteller ist als im
Fühlen.
10.
In
Staatsverhältnissen nun gibt es – auch wieder in der
Kantischen Sicht – eine solche Gegenläufigkeit, dass
sich
bei einer
übereilten Reform immer auch das
Kontrastbild einer
gründlichen Reform
herausbildet (so der Terminus im ersten Anhang
Zum ewigen
Frieden). Mit der ersteren Bezeichnung wird von Kant die
durch das ›Ungestüm einer von schlechter Verfassung
erzeugte[...]
Revolution‹ umrissen.
Dem
steht entgegen ein Verfahren, das dann
Reform aus Prinzipien
genannt wird. Da es eine der anthropologischen Einsichten aus jener
Epoche der Denk- und Kulturkritik ist, dass der
Besitz der
Gewalt gerade das
freie Urteil der Vernunft
verderbe, so ist seit Kant ausgemacht, dass solche Reformen nicht von
einer machtgestützten Vernunft, also nicht von
›Philosophen-Königen‹ ausgehen
könne. Seither
sind Politiker und Philosophen begrifflich zu unterscheiden:
während jene der (Staats-)Klugheit verpflichtet sind, obliegt
diesen die Reflexion auf das ›freie Urteil‹.
11.
Reformen
denken, heißt dann u.a.
›Übergänge‹ zu
verstehen. – Das aber wird durchs Denken dann verstellt, wenn
man, was gegenwärtig leichtfiele, dem anhängt, was
Kant die
›terroristische‹, also die
schreckensförmige,
Vorstellungsart der Menschengeschichte nannte (in
Der Streit
der Fakultäten)
- wie exemplarisch Simmel in der Beschreibung der
›Tragödie
der Kultur‹ (1911) oder Walter Benjamin, der (dann nach dem
Großen Krieg) unser Menschengeschick nicht so sehr auf eine
Katastrophe zutreiben sieht, sondern meint, dass es gerade so immer
weitergehe, sei die Katastrophe… Nicht besser wäre
es um
das Gegenbild dieser Vorstellung bestellt, die dann von
Königsberg
aus ›eudämonistisch‹ genannte
Denkungsart, die
unserer Gattung einen unverzagten Fortgang zum Besseren unterstellt.
12.
Ein
›Drittes‹ wäre es nun, im Denken nicht
auf so oder
so konfigurierte finale Zustände hinzustreben, sondern den
Blick
auf
Lebensprozesse (Cassirer, 110) selber wieder
zurückzuwenden, auf dasjenige Medium also, dessen Betriebsform
es
eben ist, in den Worten Ernst Cassirers, zum »Vermittler
zwischen
Ich und Du [zu werden], nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem
einen auf das andere überträgt, sondern indem sich an
der
Tätigkeit des einen die des anderen
entzündet.« Und
hieran erkenne man auch, so Cassirer weiter, »warum die
wahrhaft
grossen Werke der Kultur uns niemals als etwas schlechthin Starres,
Verfestigtes gegenüberstehen, das in dieser Starrheit die
freie
Bewegung des Geistes einengt und hemmt.« (Ib., 111)
›Reform‹
wäre dann der andere Name für das, was man den
schöpferischen
Prozess
selber nennen könnte, dem das je Geschaffene nun nicht einfach
gegenüber- oder entgegen steht, sondern deren
geprägte Formen
immer wieder von neuer Dynamik rekonfiguriert werden, wodurch das
Geschaffene nicht in Starre verfällt, sondern dem Leben
verwandt
bleibt. Solche Unternehmungen verlaufen natürlich nicht in
kurzen
Zeitsequenzen, sondern eher in langen Wellen. Oder, mit den Worten von
Kurt Röttgers: »Das Denken des Übergangs
ist ein
rastloses Denken.« (Röttgers, 414).
13.
Reformen
sind experimentalphilosophisch betrachtet – mit diesem
Kürzel bezeichnete Kant einmal seine Anthropologie –
die je
bestimmten Konstruktionsphasen des immerwährenden
Selbstexperiments des Menschen –, allerdings mit der auch
immerwährenden Folgelast, dass man sich so zwar der
als
›Joch‹ erkannten Macht der
Umstände zu entziehen sucht, aber sich zugleich an etwas
ausliefert, das man eigentlich viel
weniger kennt
– nämlich sich selbst (vgl. Arnold Gehlens St.
Gallener Vortrag v. 15. 1. 1952).
Dass
also Reformen scheitern, dem wäre nicht nur resignativ zu
begegnen, sondern es wäre nahezu ein Signum des Lebendigen.
Denn:
Reformen müssen scheitern, wie sonst könnten wir uns
empor
irren?
Literatur
BLUMENBERG,
HANS, Begriffe in Geschichten, Frankfurt/Main 1998
CASSIRER,
ERNST, Logik der Kulturwissenschaft,Darmstadt 61994
RÖTTGERS,
KURT, Metabasis. Philosophie der Übergänge, Berlin
2002
WALTHER, MANFRED,
Kondylisrezension,
in: Studia Spinozana, 8 (1992)