Burckhard Dücker
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Visualisierung als Alterationsfaktor
Zur
Funktion von Sichtbarmachung
und Sichtbarkeit für
Wandlungsprozesse
1.
Einleitung
In der öffentlichen
Kommunikation westlich orientierter Gesellschaften der Moderne haben
der Begriff ›Reform‹ und seine Komposita ein
breites Verwendungsspektrum und eine überaus hohe
Verwendungsfrequenz. Für den Diskurszusammenhang von
Globalisierungs- und Modernisierungsprozessen scheint das semantische
Feld ›Reform‹ im Sinne von Umgestaltung,
Veränderung, Transformation, Wiederherstellung, Wandlung und
auch Innovation geradezu konstitutiv zu sein. Dabei wird das Wissen um
Veränderungs- bzw. Alterationsprozesse nicht allein
sprachlich, sondern zunehmend bildlich vermittelt. Innerhalb der
visuellen Kultur der Moderne werden auch Wissen und Erkenntnis visuell
generiert und übertragen.
Weil damit
Körperlichkeit, Ereignishaftigkeit und Eventisierung immer
mehr in den Mittelpunkt einer Aufmerksamkeitsform rücken, bei
der eine intellektuell begriffliche oder
»logozentrische« von einer emotional bildlichen
oder »ikonozentrischen« (Hofmann 1999, 8) Dimension
zunehmend dominiert wird, scheint Visualisierung ihre dokumentierende
Funktion zugunsten einer konstruktiven aufzugeben. So wird
Visualisierung, verstanden als Kombination aus den Komponenten
Sichtbarmachung und Sichtbarkeit, ein generatives Vermögen
zugeschrieben, das Wandlungsprozesse in einem weiten Sinn hervorbringt
oder zumindest unterstützt. Im politischen Feld ist die Macht
der Bilder schon so weit anerkannt, dass Politik sich »als
eine Abfolge von Bildern und kameragerechten
Scheinereignissen« präsentiert,
»die an die Stelle von Information, Interpretation und
Diskurs treten« (Meyer 1998, 47. Hervorhebung im Orig.).
Wenn
mit inszenierten Bildern Politik gemacht wird, dann ist das zentrale
Erfordernis dieser symbolischen Politik, dass ständig
wechselnde Ereignisbilder gezeigt werden, bei denen es sich um visuell
verdichtete Erzählungen handelt, die auf die
gefühlten Zustände der Adressaten ausgerichtet sind.
So wird das Sicherheitsgefühl dadurch bedient, dass sichtbar
Baumaßnahmen für die Sicherheitsorgane
ausgeführt werden und dass diese sich
regelmäßig besonders an öffentlich
Brennpunkten zeigen. Fotos von Politikern in Kindergärten,
Schulen, Pflegeeinrichtungen usw. sollen Kompetenz und Einsatz im
jeweiligen Politikfeld sichtbar machen. Katastrophen, Skandale und
Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit bieten Politikern
Gelegenheit, sich durch die dichte visuelle Berichterstattung
über die Bewältigung des Einzelfalls insgesamt als
Krisenmanager und Macher zu profilieren (Halo-Effekt). Durch die
kontinuierliche und ubiquitäre anlassbezogene Sichtbarkeit
modifiziert sich ihr öffentliches Bild, sie sammeln
»symbolisches Kapital« (Pierre Bourdieu). Die
Visualisierung betrifft die Gesamtsituation der inszenierten
Performanz. Vor allem hat diese Sichtbarkeit eine narrative Struktur;
das Ereignisbild setzt einen Anfang und ein daraus sich entwickelndes
Handlungsziel, d.h. es ermöglicht eine narrativ hergestellte
Sinngebung. Auf diese Weise wird das Bild, das immer statisch ist und
einen isolierte Situaion zeigt, in einen Ablauf eingepasst.
Die
Bedeutung der Sichtbarkeit für die öffentliche
Geltung und deren Modifikation macht sich zunehmend auch im
literarischen Feld bemerklich. Lesungen sind zu Veranstaltungen
mutiert, bei denen Autoren ihre Texte in einer Performance
verkörpern, sie führen sich auf und müssen
ihr Buch nicht einmal aufschlagen (vgl. Dücker 2005). Dies
entspricht dem Wunsch der Leser zu wissen, mit wem man es zu tun hat.
Körperliche Präsenz des
›Autors‹ hat in der Regel die Dezentrierung des
Texts oder allgemein des Objekts zur Folge, weil der Körper
selbst zum Objekt des Sehens als »multisensorische«
(Faßler 2002, 38) Aktivität geworden ist.
Dass
die Handlungsform Sichtbarmachung wie auch die visuelle Information
schon immer einen festen Platz in der Alltagskommunikation haben,
dafür stehen zahlreiche Redensarten und Sprichwörter.
Zu erwähnen sind z.B. die Wendungen ›ein Bild von
etwas oder jemand im Kopf haben‹, ›sich ein Bild
von etwas oder jemand machen‹ oder ›ein Bild sagt
mehr als tausend Worte‹, ›in Bildern
reden‹, ›im Bilde sein‹,
›jemand ins Bild setzen‹ und ›etwas
mit eigenen Augen sehen‹.
Alteration und
Visualisierung scheinen eine soziokulturelle Funktionsstelle
wechselseitiger Wirksamkeit zu formen, eine Interdependenz, die auch
zeitgenössische Fotochronisten programmatisch einsetzen. Im
Folgenden geht es deskriptiv und analytisch um eine Annäherung
an diese Funktionsstelle. Als in diesem Beitrag nicht
ausgeführte Forschungsperspektive lässt sich ein
kulturkomparatistischer Ansatz in Bezug auf diese und andere
Funktionsstellen entwickeln. Ich beginne mit einigen Beispielen zum
Reformparadigma in der öffentlichen Sprache der Medien.
2.
›Reform‹ und ›Reformen‹ in
der öffentlichen Sprache der Medien
Die
Politiker hätten – wie es heißt
– »2007 zum Reformjahr ausgerufen und ein
Sammelsurium von Reformvorhaben angekündigt: in der
Gesundheit, der Pflege, der Unternehmens- und der Erbschaftssteuer
sowie, nicht zu vergessen, im Arbeitsmarkt«. Daher sei der
»Vorwurf der Reformmüdigkeit«
unberechtigt, im nächsten Jahr gehe es »auf dem
schmalen Reformpfad weiter« (von Borstel in Die Welt
11.01.2007).
In Leserbriefen zur
»radikalen Bildungsreform« wird auf deren
unrealistischen Ansatz hingewiesen, darauf »dass eine Reform
unweigerlich sofort weitere Reformen nach sich zieht. [...]
Kernstück scheint die Privatisierung des Lehrberufs zu
sein.« Um zur Realität zurückzukehren,
empfiehlt der Leserbriefschreiber den »Vergleich«
mit »normalen amerikanischen High Schools« (Jakob
in SZ 14.03.2007).
In einer Rezension von Konrad
Paul Liessmanns Buch Theorie der Unbildung. Die
Irrtümer der Wissensgesellschaft (2006) wird der
Autor zustimmend zitiert. »Mit jeder Reform steigt der
Reformbedarf. Denn alle Probleme, die Reformen nach sich ziehen,
können nur wieder durch Reformen gelöst werden. [...]
Nur ein sehr reiches oder ein sehr dummes Land kann es sich leisten,
für jede Studentengeneration eine neue Studienarchitektur zu
erfinden.« Der Rezensent weist zustimmend auf die Reformfalle
hin, denn Liessmann werde eine neue »Reformwelle«
auslösen, diesmal für die »Mode der
Kontinuität« (Müller in SZ 19.01.2007).
Liessmann evoziere das Bild einer permanenten Umbaustelle, was dazu
führe, dass das Haus letztlich nicht bewohnbar sei oder es
niemals werde. Zugleich weist das Bild von der sich selbst
fortzeugenden Reform daraufhin, dass eine Reform Gewinner und Verlierer
hat, dass unterschiedliche Interessen beteiligt sind, die sich alle
möglichst rein und unversehrt – aber nicht in der
Mischform Kompromiss – durchsetzen wollen. Im häufig
benutzten Bild der Reformwelle wird dies deutlich: Wellen kommen und
gehen regelmäßig, sie steigen an, haben einen
kurzzeitigen Höhepunkt im Wellenkamm und fallen dann in sich
zusammen, um der nächsten Welle Platz zu machen.
Beim
Dreikönigstreffen der FDP 2007 sicherte deren Vorsitzender
Guido Westerwelle der Regierung die Unterstützung seiner
Partei »bei allen notwendigen
Reformbemühungen« zu, es komme darauf an,
»unser Land nachhaltig auf einem dynamischen Reformkurs zu
halten«, der »Ängste» nehme und
»Vertrauen« schaffe, wie der
nordrhein-westfälische Innovationsminister Andreas Pinkwart
(FDP) formulierte. Besonders forderte dieser, »die
Sozialpolitik nicht aus[zu]blenden.« Dem Bericht ist ein Foto
beigegeben, auf dem Westerwelle mit einem überdimensionierten
»Mehrwertsteuer-Hammer« zu sehen ist, der die
Aufschrift »19%« trägt. Der Politiker
macht sich sichtbar, inszeniert sich als einer, der – so kann
der Text zusammengefasst werden – sich der sozialen Sorgen
der Menschen annehme, weil dieses Feld von der Großen
Koalition eher unterbesetzt sei. Prinzipiell müsse sich die
FDP angesichts der »permanenten
Medienpräsenz« der Koalition nicht zuletzt wegen der
deutschen EU-Präsidentschaft und des Treffens der G8-Staaten
medial behaupten. Auf diese Weise soll das Bild eines Politikers
vermittelt werden, der sich verbal um Reformen bemüht und
»vor einer ›Reformpause‹«
(Blechschmidt in SZ 5./6./7.01.2007) warnt, um seine eigene Position zu
verbessern.
»Ein Gerüst empfing
[...] die Besucher im Kölner Congress-Centrum. Rote
Warnschilder kündeten von Baustellen. Mit diesen Symbolen wies
der Deutsche Beamtenbund (dbb) auf das Motto seiner
diesjährigen Gewerkschaftstagung hin: Um die
›Reformbaustelle Deutschland‹ ging es und um die
Folgen für den öffentlichen Dienst«. Dann
ist von Verschlechterung, Stellenabbau, »Kürzung von
Weihnachts- und Urlaubsgeld, Einkommens-Nullrunden und
längere[n] Arbeitszeiten« die Rede. Sichtbar werden
soll das Bild des Niedergangs, Komparative und die
Vorher-Nachher-Polarität zeigen dies. Dennoch sei der
Beamtenbund bereit, seinen »Beitrag zu notwendigen
Reformen« zu leisten. »Doch er macht Grenzen
deutlich« (Averesch in BZ 09.01.2007). Reform hat offenbar
trotz allem noch einen so positiven Klang, dass auch die Reformkritiker
sich nicht nur negativ daran binden wollen. Weil Kritik und
Dekonstruktion immer schon einen konstruktiven Grundzug haben,
nämlich den der eigenen Position, um deren Durchsetzung es
geht, folgen einige Reformvorschläge aus der Sicht des
Beamtenbundes.
Die Kanzlerin weist daraufhin, dass
2007 »›ein entscheidendes Jahr für die
Fortsetzung der Reformpolitik« sei. »Zentrale
Reformvorhaben« seien »die Reform der
Pflegeversicherung, die Gesundheitsreform, eine Reform der
Unfallversicherung. ›Psychologisch ganz wichtig‹
seien die anstehenden Beratungen über die Reformen der
Unternehmens- und der Erbschaftssteuer und das
Unternehmensbeteiligungsgesetz, mit dem der Einsatz von Wagniskapital
geregelt werden soll.« Daher wolle die Regierung
»ihren Reformkurs unbeirrt fortsetzen und damit für
eine Verstetigung des Aufschwungs sorgen. Der bisherige Dreiklang aus
Sanieren, Investieren und Reformieren habe sich
bewährt.« Franz Müntefering fordert
für die »Reform des Arbeitsmarkts« (DW in
Die Welt 11.01.2007) eine Erhöhung des Tempos. Ebenfalls am
11.01.2007 findet sich in der Berliner Morgenpost eine Karikatur zur
Gesundheitsreform mit dem Titel »Familiennachrichten aus der
Großen Koalition«. Kanzlerin Merkel und Vizekanzler
Müntefering geben eine Pressekonferenz zur Gesundheitsreform.
Merkel sagt dazu: »Ich bin guter Hoffnung«.
An
bildhaften sprachlichen Wendungen im Zusammenhang mit Reformen werden
häufig benutzt: die Reformwelle überwiegend in der
Phase ihres Abflauens, das Abflauen des Reformeifers,
Reformmaßnahmen werden
›zurückgedreht‹, der Reformkurs wird
fortgesetzt, wohl vor diesem Hintergrund ist das Wort vom
›Reformwandel‹ zu sehen, der auf
Veränderungen von Reformprogrammen bei laufendem Betrieb
verweist. Hinzu kommen ein ›Reformwillen‹ und
›Reformanstrengungen‹. Dennoch »hapere
es mit der zweiten Reformwelle« (bes. in FAZ 14.11.2006).
In
einem umfangreichen Artikel im Wirtschaftsteil der FAZ (11.11.2006)
sieht Peter Koslowski »das Ende der sozialen
Marktwirtschaft« heraufziehen. Er beginnt mit einer
Definition:
»Was heißt es, das Ende
einer Wirtschaftsordnung anzunehmen? Eine Wirtschaftsordnung ist eine
Menge von Regeln, die das Handeln innerhalb dieses Regelsystems
bestimmen. Die Regeln wiederum sind durch Regeln höherer
Ordnung oder Prinzipien bestimmt, welche die nachgelagerten Regeln
begründen und rechtfertigen. Von einem Wechsel zu einer neuen
Wirtschaftsordnung und einem Ende der alten Ordnung kann man dann
sprechen, wenn die allgemeinen Prinzipien einer Ordnung, ihre
allgemeinsten Grundlagen, nicht mehr möglich in dem Sinne
sind, dass sie den Handlungsbereich der Wirtschaft nicht mehr zu
bestimmen vermögen. [...] Wenn die gemeinen Prinzipien einer
Ordnung nicht mehr anwendbar sind, sind ihre Grundlagen angegriffen.
Sind die Grundlagen angegriffen, wankt die Ordnung. Das Ende der
Anwendbarkeit der Prinzipien markiert das Ende einer Ordnung. Das
Nicht-mehr-Greifen der Prinzipien ist mehr als ein historischer Wandel
der Ordnung. [...] Die Soziale Marktwirtschaft ist aber nicht nur die
Beschreibung einer Wirtschaftsordnung, sie hat über die
ökonomische Seite hinaus Bedeutung für die
Identität der Deutschen.«
Als
Krisensymptome macht er »die Überdehnung des
Mitbestimmungsprinzips« aus, die hohe Bedeutung der
Konsenssuche, die Konflikte nicht angemessen zum Austrag kommen lasse,
die Veränderungen in der »solidarischen
Rentenversicherung«, dem
»Kernstück« der Sozialen Marktwirtschaft,
die zunehmende Enttäuschung von
»Reziprozitätserwartungen«, die die
Familie betrifft, weil Lebensformen, die nicht zur Reproduktion
angelegt sind, mit Familien in jeder Versorgungshinsicht gleichgestellt
seien. »Warum soll es zu den staatlichen
Solidaritätspflichten der Kinder einer katholischen Familie
gehören, die Hinterbliebenenrente des überlebenden
Partners einer homosexuellen Lebensgemeinschaft zu
erarbeiten?« Was für die einen Ergebnis einer lange
fälligen Reform ist, ist für die anderen Ausdruck
einer Wertekrise.
Wird das
›Nicht-mehr-Greifen‹ der Prinzipien medial und
bildlich vermittelt? Wird das Scheitern der Reformen und laut Koslowski
sogar eines ganzen Systems sichtbar? Veröffentlicht werden
Statistiken von Hartz IV Empfängern und Kinderarmut, von
Mitgliederbewegungen und Stellenvermittlungen, von der Entwicklung der
Beiträge zu Krankenkassen im Rahmen der Gesundheitsreform. Es
sind keine Bilder, die sich ins Gedächtnis einprägen,
weil ihnen die emotionale Dimension fehlt und weil sie keine Narration
hergeben. Dennoch und grundsätzlich haben Reformen als
kulturelle Konstruktionen Gesichter, weil sie von einer Person oder
Gruppe präsentiert werden, denen sie Gelegenheit zur
Selbstinszenierung bieten. Damit besteht die Möglichkeit der
Personalisierung: das Reformprojekt wird zugunsten einer
Imagesteigerung der Person bzw. Gruppe dezentriert, andere Akteure
finden keine angemessene Beachtung.
So werden auf
Fotos, die – zumeist in Farbe – den Berichten
häufig beigegeben sind, Kleidung, Frisur, Mimik, mitunter auch
Gestik, Accessoires und insgesamt eine auf Kompetenz, Einsatz,
Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit ausgerichtete
atmosphärische Ausstrahlung der zuständigen
Ressortminister sichtbar. So können Reformanlässe
wegen ihrer Performativität besonders als Szenarien
für die Selbstdarstellung als Macher, zielstrebig und
unermüdlich handelnder Held genutzt werden. Allerdings kann
die Körperlichkeit bzw. die Körpersprache der Akteure
ihren verbalen Ausführungen widersprechen, wenn z.B. ein in
Argumentationsnot geratener Politiker sichtbar gemacht wird. Auf jeden
Fall garantiert die Prozessualität einer Reform, dass der /
die Verantwortliche immer wieder zu verschiedenen Zeiten und
Anlässen körperliche Präsenz zeigen kann.
Auf
der einen Seite wird als positiv herausgestellt, dass im Rahmen der
Gesundheitsreform jeder Bürger krankenversichert sei, auf der
anderen gibt es Berichte über Menschen, die sich das Lachen
abgewöhnen, weil sie die Kosten für eine
Zahnbehandlung nicht tragen können. »Das macht
deutlich, wie sich die großen Sozial- und
Arbeitsmarktreformen der letzten zwei Jahre auswirken. Eine neue,
bisher noch nie derart in Erscheinung getretene, sichtbare Armut ist
die Folge dieser Reformen. ›Man erkennt die Armut bei den
Menschen jetzt wieder an den Zähnen‹«
(Loerzer in SZ 14.03.07) Diese Sichtbarkeit der Reformen, die zu
sozialer Unsichtbarkeit führt, kann Anlass zu erneuten
Reformen werden.
3. Zum Begriff der
Reformen
Die Begriffe Reformation und
Reform gehen bekanntlich auf das lateinische Etymon reformare
(Nomen reformatio) zurück, das die
Bedeutung hat: einen ursprünglichen Zustand wiederherstellen,
etwas auf seinen Ursprung zurückführen. Dabei sind
zwei Bedingungen zu berücksichtigen:
Erstens
werden dem Ursprung bzw. auch dem Anfang die Ausprägung
höchster Reinheit, Vollkommenheit und
Möglichkeitsfülle der betreffenden Programmatik
zugeschrieben, das Ursprüngliche wird als das Unverbrauchte
gesetzt. Es hat ausschließlich positive Konnotationen.
Zweitens
ist jeder Ursprung oder Anfang, der von einer kulturellen Formation
oder einem Kollektiv in einer Gegenwart als Zielpunkt einer Reform oder
Wiederherstellung angegeben wird, nichts anderes als eine Setzung oder
Konstruktion eben dieses Kollektivs in der Gegenwart. Daher gehen in
Konzepte von Ursprung, Wiederherstellung, Aktualisierung und Reformen
die Interessenkonstellationen der Gegenwart ein, daher ist
Erinnerungshandeln und -politik immer Gegenwartshandeln und -politik.
Wer in diesem Sinne etwas reformieren oder wieder-holen will, startet
eine Bewegung zurück zum Anfang in der Zukunft. Dabei ist die
Notwendigkeit, den Ursprung reaktualisieren zu müssen,
Ergebnis gerade der Entfaltung dieses Ursprungs. Reformkonzepte sind
also Misch-, Patchwork- oder Bricolageformen aus Elementen und
Interessen verschiedener Zeiten und Traditionen.
Der
hier gemeinte Komplex von Reform, Ursprung und Wiederherstellung kann
mit dem Begriff der Rekursivität bezeichnet werden, womit
nicht allein die Wiederaufnahme historischer Formen, sondern vor allem
die Reorganisation von Traditionsbeständen unter den
Bedingungen und Interessenkonstellationen einer Gegenwart zu verstehen
ist. Es geht um eine Strategie kultureller Krisenbewältigung,
die Überlieferungsbestände für die Erfindung
neuer Auslegungsangebote einsetzt. Rekursivität dient der
Kontinuität einer Gegenwart, kann aber auch einen
Traditionsbruch markieren, d.h. einen neuen Anfang setzen, der eine
neue Kontinuität hervorbringt. Zur Rekursivität
gehört daher ein je spezielles Verhältnis von Altem
und Neuem, dieses wird nicht selten hinter der Maske jenes kaschiert.
Mit rekursiv modellierten Ursprungskonstruktionen lassen sich
Erlösungs- und Heilsmodelle entwerfen, die die Position einer
bestehenden Institution unterstützen.
Bekanntlich
hat der Begriff der Reformation endgültig seine allgemeine
Bedeutung eines Veränderungs- als Wiederherstellungsprozess im
19. Jahrhundert verloren, als er historisiert wurde zur Bezeichnung der
Epoche der Reformation. Spätestens seit dieser Zeit ist
›Reform‹ als Ersatzbegriff für
Reformation in der allgemeinen Bedeutung von institutionell
legitimierten Veränderungs-, Erneuerungs- oder
Innovationsprozessen jeder Art in beliebigen gesellschaftlichen Feldern
unstrittig.
Der von Martin Luther mit dem Anschlag
seiner 95 Thesen gegen den Ablass am 31. Oktober 1517
ausgelöste reformatorische Prozess hat nicht nur von Anfang an
auch durch visuelle Medien gewirkt, sondern man könnte
geradezu die These wagen, dass er sich in der Öffentlichkeit
als Bildprozess, als Kampf um die Bilder und ihre Deutungen
durchgesetzt hat. Nimmt man nur die spektakulären
Ereignisbilder wie den Thesenanschlag selbst als
Gründungsereignis, das Streitgespräch mit Johannes
Eck, den Junker Jörg, die Porträts Luthers aus seinen
verschiedenen Lebensphasen, die Auftritte von Gegenspielern,
antilutherische und antipäpstliche Flugblätter, die
Erscheinung der Wiedertäufer, die Entfernung der Bilder aus
sakralen Räumen, Luthers Eheschließung und Familie,
die Rückkehr zahlreicher Nonnen und Mönche in den
weltlichen Stand, nimmt man noch die Luther zugeschriebenen
Schlüsselsätze zur Kennzeichnung des reformatorischen
Prozesses hinzu (z.B. ›Hier stehe ich, ich kann nicht
anders‹), so wird die Sequenzialität der
konfessionellen Veränderung als Bildserie sichtbar.
Dabei
ist festzustellen, dass die Ereignisbilder immer weitere Bereiche der
Lebenswirklichkeit mit zugehörigen rituellen Formen und
Bezügen reformatorisch transformieren, wobei die Referenz auf
den Reformator zumeist gewahrt bleibt. In und zu den Ereignisbildern
verdichtet sich die – in Anlehnung an eine Formulierung
Erving Goffmans – ›Organisation protestantischer
Erfahrung‹. Insgesamt trägt das reformatorische
Bildprogramm mit seinen Ereignisbildern zu einem Kulturwandel bei:
Während der Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche mit
allen seinen Implikationen kritisiert wird, versucht man auf
protestantischer Seite Lebensgewissheiten aufgrund von Erfahrungen,
Überprüfungen, Reflexivität und
komparatistischen Ansätzen zu gewinnen.
Im
vorliegenden Beitrag wird der Begriff Reform zur Bezeichnung jener
institutionell legitimierten Veränderungsprozesse verwendet,
die in einem beliebigen gesellschaftlichen Bereich die Umgestaltung
einer aktuell praktizierten Verfahrensform bewirken sollen. Dabei ist
diese Transformation an der Wiederherstellung oder privilegierten Er-
bzw. Einhaltung einer nicht mehr ausreichend erkennbaren und
anerkannten Norm wie Gerechtigkeit, Gleichheit von Chancen und
Belastungen oder Selbstbestimmung orientiert. Es liegt auf der Hand,
dass die Voraussetzung einer Reform darin besteht, dass die zuvor
erfolgte interessengeleitete Analyse des betreffenden
Verteilungssystems das Ergebnis eines Krisen- oder Konfliktpotentials
erbracht hat. Demnach verläuft ein soziales Regelungsverfahren
nicht (mehr) in der Art und Weise, die für eine bestimmte
soziale Perspektive wünschenswert ist.
In
einer solchen Situation können im Vergleich mit der als
ursprünglich geltenden Norm Ungerechtigkeit, Unordnung,
Unreinheit, Vermischung, wohl auch Benachteiligung diagnostiziert
werden, allesamt Merkmale, die eine entsprechende Umgestaltung des
Verfahrens nahelegen. Insofern mag Reform als Prozess von Reinigung,
Entmischung und Depluralisierung erscheinen. Dabei soll die
inkriminierte Situation so verändert werden, dass –
gemäß den Interessen der Akteure – die
ursprüngliche Norm wieder ›rein‹ wirksam
sein kann. In der Regel wird der Öffentlichkeit ein
Reformprojekt mit der Versicherung angeboten, langfristig ein
konfliktfreies gesellschaftliches Segment zur Verfügung zu
stellen, weil es ausschließlich durch die einheitliche Praxis
der einen Norm gekennzeichnet sei. Als logische Struktur gibt sich ein
›entweder – oder‹ Modell zu erkennen, das eine
strikte Grenzziehung zwischen zugehörig und nicht
zugehörig vorsieht.
Abgesehen davon, dass
Einheits- und Absolutheitsprinzip üblicherweise als Attribute
des Göttlichen gelten, hat Ulrich Beck am Beispiel der Armuts-
und Arbeitslosigkeitsdebatte für die Verteilungs- und
»Gerechtigkeitsfrage« nachgewiesen, dass es
»letztlich keine nationale Lösung für
nationale Probleme mehr [gibt]. Deswegen sind Regierungen nur so lange
attraktiv, wie sie noch nicht gewählt sind. [...] In der
Preisgabe von Autonomie, das heißt: in der Kooperation mit
anderen Staaten, liegt der Schlüssel für die
Stärkung der nationalstaatlichen
Souveränität gegenüber dem mobilen
Kapital« (Beck in NZZ 4./5.11.2006). Übertragen auf
die Reformdebatte heißt dies, dass Reformen prinzipiell nicht
an ihr Ziel gebracht werden können, also scheitern
müssen, weil sie per definitionem die Alternative, der sie
ihre Existenz verdanken, wie einen Schatten niemals
abschütteln können. Allerdings scheint gerade die
Gewissheit des endgültigen Scheiterns die Unverzichtbarkeit
und politische Bedeutung des Reformkomplexes auszumachen.
Keineswegs
markiert eine Reform also das Ziel eines Handlungsprozesses, sondern
stellt ein strategisches Mittel dar, das letztlich die Struktur der
bestehenden Situation sichern soll. Es kann
»Neues«, es soll aber nicht »auf
neuartige Weise« (Bernhard Waldenfels) gesehen werden. Wird
in einer latent krisenhaften Situation die Planung eines
Reformprozesses proklamiert, so wirkt dies in der Regel als
konfliktvermeidendes Mittel, weil die Beteiligten auf diese Weise in
einen zielgerichteten Diskurskontext eingebunden werden, der Eindruck
von Aktivität – später vielleicht als
Aktionismus erkannt – und Dynamik entsteht, Zeit gewonnen
wird und die je eigene Position profiliert und beworben werden kann. So
gehören zum Reformprozess symbolische Handlungen, die sich auf
dessen Referenzobjekt beziehen, wie z.B. erklären,
begründen, differenzieren, widerlegen, aushandeln,
kommentieren, resümieren, appellieren, deren Gemeinsamkeit in
dem Versuch besteht, eine Perspektive
öffentlich sichtbar zu machen, die die Geltung und
Gültigkeit einer kulturellen Norm zu restituieren vermag.
Dennoch scheint prioritär die Form der
Selbstpräsentation der Akteure zu sein, ihre
Glaubwürdigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit, Machbarkeit
und Zumutungen des Reformprojekts sowie ihre Loyalität
gegenüber dem Kollektiv, dessen Integration und
Kontinuität durch den Reformprozess gestärkt werden
sollen. Damit deutet sich an, dass die Akzeptanz des Sachbezugs einer
Reform wesentlich davon abhängt, dass bzw. ob die zweite
Komponente des Reformbegriffs, seine Bedeutung als Rahmen eines
bestimmten sozialen Restituierungsverfahrens akzeptiert ist. Ob
›Reform‹ als Rahmenbegriff (zu Rahmen vgl.
Dücker 2007) akzeptiert ist, gilt unabhängig von
einem konkreten Projekt und verweist vielmehr auf die Funktionsstelle
Alteration: Besteht in einem soziokulturellen System eine
Funktionsstelle für die Organisation des Wechsels von Statik
in Dynamik? Geht ein Einzelner oder eine Gruppe ein Risiko mit dem
Vorschlag ein, in einem bestimmten sozialen Feld einen Reformprozess
einzuleiten? Welche Erwartungen, Reaktionen und medialen
Aktivitäten löst die Selbstpräsentation im
Namen der Präsentation eines ›Rahmenprojekts
Reform‹ aus?
In ihrer Bedeutung als
Handlungsrahmen stellen Reformen Übergänge oder
Hilfskonstruktionen dar, die einen defizienten Ausgangspunkt in einen
tendenziell krisenfreien funktionsfähigen Zielpunkt verwandeln
sollen. Es geht um die durch die Anerkennung einer kulturellen Norm
geleitete Bewegung von Hier nach Dort, von der Gegenwart zur Zukunft.
Obwohl diese Bewegung vor allem einer bestimmten Gruppe mehr
Verteilungsgerechtigkeit usw. verschafft, wird sie wegen ihrer
konfliktvermeidenden Wirkung als Vorteil des gesamten Kollektivs
ausgegeben.
So betrachtet, hat es die Untersuchung
von Reformprozessen und allgemein von Alterationen primär mit
der Frage zu tun, was durch das Mittel einer Reform jeweils erhalten
oder wiederhergestellt werden soll. Unterstützt wird diese
letztlich strukturkonservative Funktion von Reformen (Reform als
Rahmen) dadurch, dass sie keine spontanen Bewegungen sind, sondern in
aufwändigen, lange dauernden Planungsverfahren entwickelt und
abgestimmt werden, dass die materiellen Veränderungen (Reform
als Objekt) präzise ausgehandelt und festgelegt sowie erst zu
einem schon weit im Voraus bestimmten Termin in Kraft gesetzt werden.
(So hat das Bundeskabinett am 17. 10. 2007 beschlossen, das Gesetz zur
Reform der Pflegeversicherung zum 01. 07. 2008 in Kraft zu setzen.)
Nicht betroffen vom Bemühen um weitgehende Planungssicherheit
ist die Tatsache, dass eine Reform in der Regel weitere Reformen
(sogenannte Nachbesserungen) als Zugeständnisse an
zunächst nicht angemessen berücksichtigte
Interessengruppen zur Folge hat, was insgesamt zu einem anderen als dem
geplanten Zielzustand führen und wiederum neuen Reformbedarf
auslösen kann.
Gibt es Alterationen, die
keine Reformen sind? Unterscheidet sich deren Visualisierung von der
der Reformen? In diesem Zusammenhang sind spontan auftretende
– emergente – bzw. kurzfristig inszenierte
Ereignisse zu nennen wie Konversionsmitteilungen, Rücktritte
von Funktionsträgern, die Enthüllung geheimer
Informationen, auch Katastrophen wie die Zerstörung der Twin
Towers in New York (11.09.2001) gehören dazu, die allerdings
umfassende Reformprozesse zur Wiederherstellung der nationalen
Sicherheit der USA vor Terroranschlägen auslöste. Die
nicht geplanten Veränderungen finden häufig die
zeitlich begrenzte Aufmerksamkeit von Skandalen. Aber auch geplante und
organisierte Wandlungsprojekte ›von unten‹ wie
z.B. die Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 sind hier zu nennen.
Regelmäßig wird ein politisches
Veränderungspotential sichtbar gemacht, ohne dass dieser
Reformdruck zu einer Form praktischer Umsetzung in politische
Gestaltung führt.
Projektbegriffe wie
z.B. Gesundheits-, Renten-, Arbeitsmarkt-, Steuer-, Bildungs-, Schul-
und Hochschulreform zeigen, dass nicht nur jedes Politikfeld, sondern
sogar bestimmte Partialbereiche zum Gegenstand gerichteter
Transformationsprozesse werden können. Dabei ist der Radius
des Adressatenkreises unerheblich; so betrifft eine Reform der
Straßenverkehrsordnung tendenziell alle Menschen, eine Reform
des Beamtenrechts nur eine einzelne Funktionsgruppe. Als Reformen
werden auch jene Veränderungen bezeichnet, deren
Zieldefinitionen einen institutionell legitimierten Wandel eines
gesellschaftlichen Systems aufscheinen lassen. Dazu zählen
z.B. die Föderalismusreform in Deutschland (vgl. APuZ 50/2006)
und der am Begriff der »Eigenverantwortung«
(Vougioukas in SZ 15.10.07) orientierte Umbau der chinesischen
Gesellschaft, die damit auf den durch ihre Globalisierungspolitik
bedingten ›Reformdruck‹ reagiert. Dass diese seit
Jahren praktizierte Politik vor einer entscheidenden reformpolitischen
Weichenstellung zu stehen scheint, ist zumindest die Meinung
politischer Beobachter. So spricht Vougioukas von der »Reform
der Reformen« – d.h. von Nachbesserungen
– und einer Grundsatzentscheidung zwischen
»Marktwirtschaft und Sozialismus«.
Als
politische Interaktionsformen haben Reformen mehrere Teilnehmergruppen:
Akteure, Adressaten oder Betroffene, die qua Repräsentanten
zumeist bei den Akteuren beteiligt sind, und Beobachter, die auch
zugleich Adressaten sein können. Insofern Reformen also
öffentliche politische Handlungen sind, die wie auf einer
Bühne (verschiedene Diskussions- und Entscheidungsforen) von
verschiedenen Akteursgruppen vor Publikum (Experten, Lobbyisten und
Journalisten als Kommentatoren und Multiplikatoren, Adressaten als
Betroffene, Öffentlichkeit) auf der Basis der
gültigen Spielregeln aufgeführt werden, um einen
für alle Beteiligten akzeptablen Lösungsmodus
auszuhandeln, haben sie am Grenzbereich von Theatralität und
Ritualität teil.
Wer von einer
bereichsspezifischen Reform spricht, eröffnet einen sozialen
Zwischenbereich als Gestaltungsfeld. Er erweckt den Eindruck, als gebe
es noch unerschlossene soziale Felder. Durch deren Bearbeitung nach
eigenen normativen Vorstellungen soll das eigene Terrain entsprechend
verändert werden. Weil dieser zum Umbau vorgesehene
Zwischenbereich auch von anderen Terrains begrenzt wird, aktiviert und
verbindet ›Reform‹ eine Vielzahl von
Perspektiven. Ein Reformkonzept betrifft die
›Anlieger‹ unmittelbar und führt dazu,
dass sie sich exponieren, sichtbar machen als Betroffene und
Mitspieler. Damit zeigt sich der Begriff der Reform insofern als
genuiner kulturwissenschaftlicher Begriff, als er auch zwischen den
Disziplinen angesiedelt ist (vgl. Därmann 2007, 7ff.)und eine
entsprechend interdisziplinäre Erarbeitung nahelegt.
In
der langen Planungsphase mit diversen runden Tischen und
Anhörungen von Experten, Lobbyisten und Betroffenen werden
Reformmodelle durchgespielt, Kritik und Änderungen
können berücksichtigt werden, ihr Status entspricht
zu Anfang noch dem des theatralen ›als ob‹. In
der Ausführungsphase werden die ausgehandelten
Reformbestimmungen in soziale Wirklichkeit umgesetzt und haben
Gültigkeit. Mit der am Übergangsritual entwickelten
rituellen Grundstruktur teilt eine Reform das dreiphasige Schema:
Diagnose der Veränderungsbedürftigkeit einer
Situation bestehender Normalität unter Aktualisierung ihrer
Normativität, Einleitung einer an der Normativität
orientierten dynamischen Übergangsphase, Aushandlung und
Etablierung einer modifizierten Normalitätsstufe.
4.
Appellstruktur visueller Wissensangebote
So
gehört zu den entscheidenden Voraussetzungen dafür,
dass eine Reform von der Öffentlichkeit akzeptiert wird, neben
ihrer sachlichen und sozialen Kompetenz eben auch ihr
Vermittlungsmodus, will sagen ihre Visualisierung. Wer als politischer
Funktionsträger von der Möglichkeit einer Reform
spricht, setzt damit aufgrund der Funktionsstelle Alteration seinen
projektbezogenen Visualisierungsprozess in Gang. Wie kann die
Angemessenheit einer Reform bzw. Alteration z.B. für die
Kontinuität einer Kultur oder die gesellschaftliche
Modernisierung sichtbare Präsenz erhalten? Welche Funktion
kann Visualisierung für die Interessentengruppe und
für die Beobachter haben? Sind bestimmte Funktionen von
Visualisierung gesellschaftlich anerkannt? Dass dem so ist,
bestätigt nicht nur die aktuelle Politikforschung (vgl. Meyer
1998), sondern auch mehrere Fotochronisten begründen die
Herstellung von Sichtbarkeit mit einer Programmatik der
Aufklärung über geheime Geschichten und
Mentalitätengeschichte.
So versucht die
amerikanische Fotografin Taryn Simon »nach Orten zu forschen,
die niemand kennt – außer vielleicht ein paar
Fachleute«, um so den »amerikanischen Index des
Versteckten und Unbekannten« zu erstellen. Sichtbar macht sie
»geheime Kammern, Landschaften, Labore, Müllhalden
oder Archive.« Es kommt ihr darauf an, »eine
Brücke zu schlagen« zwischen
»Expertenwissen und öffentlicher
Bekanntheit« (Liebs in SZ 22./23.09.2007). Befindlichkeiten
der Ordnung und Sicherheit sollen durch Sichtbarmachung der anderen
Seite zunächst erschüttert und dann zu einer
veränderten Einstellung motiviert werden.
Einen
ähnlichen Appell zu Engagement gegen Gewalt, Elend, Schmerz,
Indifferenz und Schweigen sollen die Fotos der italienischen Fotografin
Letizia Battaglia haben, die sie von Opfern und Verletzten von
Mafiaverbrechen macht (Battaglia in SZ 29./30.09.2007). Ebenfalls um
eine Einstellungs- und Verhaltensänderung durch und zur
Sichtbarkeit einer anderen Kultur geht es im Zusammenhang mit dem Bau
von Moscheen in Deutschland. Jene müssten sich
ändern, »die bereits das Sichtbarwerden einer
anderen Kultur und Religion als Beeinträchtigung der eigenen
Identität zu erleben meinen« (Siebler in SZ
17./18.02.2007).
Für Heribert Prantl sind
es zwei zeitgeschichtliche Fotos, »die sich eingebrannt haben
ins kollektive Gedächtnis: Das eine Foto aus dem Jahr 1970
zeigt Bundeskanzler Willy Brandt knieend vor dem Ehrenmal für
das jüdische Ghetto in Warschau. Das andere, aus dem Jahr
1977, zeigt den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer
als Gefangenen der RAF« (Prantl in SZ 05.09.2007). Das erste
Foto mache die Nachkriegsgeschichte mit ihren unaufgearbeiteten
Komplexen sichtbar, es habe am Umdenken und an der Umgestaltung der
deutschen Erinnerung an Nationalsozialismus, Krieg und Nachkrieg
mitgewirkt. Das zweite Foto mache »ex post«
sichtbar, dass »die selbstgewisse Moralität der
Nachkriegsgeneration« sich selbst zerstört habe,
»die Überheblichkeitspose gefror.«
Susan
Sontag hat in einem umfangreichen Essay die Frage der Wirkung von Fotos
diskutiert, die kriegsbedingtes Leiden dokumentieren. Obwohl sie die
Unzweideutigkeit der appellativen Intention einräumt, dass
diese Fotos bei den Betrachtern eine ablehnende Haltung
gegenüber Kriegen und einer Politik bewirken sollen, die Krieg
als Mittel nicht ausschließt, beschäftigt sie sich
vor allem mit der Möglichkeit, dass diese Fotos auch anders
verstanden werden können. Sie verweist darauf, dass
»ein Foto nur über eine einzige Sprache
[verfügt] und im Prinzip für alle bestimmt«
(Sontag 2003, 27) ist. So könnten Kriegsfotos wegen ihrer
großen Zahl keine Schockwirkung mehr haben, ein
Gewöhnungseffekt könnte sich einstellen, die
emotionale Aktivierung ausbleiben. Folge könnte eine
Intensivierung des dargestellten Leids sein, dessen Höhepunkt
jene Videos darstellen, auf denen Enthauptungen identifizierbarer
Personen zu sehen sind. So stellt sie am Schluss ihres Buches noch
einmal die zentrale Frage: »Gibt es ein Mittel gegen die so
nachhaltig verführerische Wirkung, die vom Krieg
ausgeht?« (Sontag 2003, 142).
Fotos, so
zeigen es exemplarisch die vorgestellten Beispiele, gelten als
Speicherstätten zeitgeschichtlichen, kulturellen,
mentalitätsgeschichtlichen usw. Wissens und beanspruchen daher
den Rang von Erkenntnismitteln. Es sind Faktoren, die etwas bewirken
sollen. In diesem Zusammenhang unterscheidet Heimann folgende Formen
des Wissens: »Das explizite, ich-ferne, begriffliche,
semantische, algorithmisierbare Wissen, das man
›lerne‹ und dann ›habe‹.
[...] Die zweite Form sei das implizite, intuitive, aber keineswegs
irrationale Handlungswissen. [...] Die dritte Form des Wissens sei das
bildliche Wissen«. Daraus entwickelt er drei Formen des
subjektbezogenen Wissens: »Die unmittelbare
Anschauung«, »das episodische oder
autobiographische Wissen«, nur das was »einen
emotionalen Wert« habe, bleibe erhalten, »was immer
auch mit einem bestimmten Ort verbunden sei«. »Das
heiße also, unsere Identität sei unsere
Bildgeschichte« (Heimann 2005, 17).
5.
Visualisierung und Wandel in fiktionalen Welten
Dass
der Konnex von Sichtbarmachung sowie Sichtbarkeit und
Veränderungen alle sozialen Bereiche betrifft und auch zum
Verständnis ästhetisch-literarischer
Weltauslegungsangebote dienen kann, sei am Beispiel einer Episode in
Theodor Fontanes Roman Effi Briest gezeigt.
Als
Effi nach ihrer Eheschließung zum erstenmal eine Nacht ohne
ihren Ehemann im noch unvertrauten Haus verbringen muss, wacht sie
mitten in der Nacht aus einem Traum auf und wird in der Dunkelheit von
heftiger Angst ergriffen. Sie glaubt gesehen zu haben, dass
›der Chinese‹ durch ihr Zimmer geschwebt ist. Sie
hat ein Bild im Kopf: Ein Ereignis ist eingetreten, zu dem eine
Geschichte gehört, in der sie eine Rolle spielt, d.h. sie
sieht sich selbst in diesem Bild. Daher ist es mit den
Qualitäten von Unlust, Unordnung und Unreinheit ausgestattet,
ein Purifikationsritual müsste die Reinheit und Ordnung von
Effis Situation wieder herstellen. Deshalb verfügt sie
Sichtbarmachung, damit sie sich ein Bild von der realen Situation
machen kann, das das bedrohliche Erinnerungsbild in ihrem Kopf ersetzen
soll. Sie klingelt nach der Hausangestellten, es wird Licht gemacht,
der Hund Rollo kommt herein und bietet seine Nähe, in der
Sichtbarkeit verliert sich die Angst.
Dass nicht
nur die Einrichtung des Zimmers, sondern auch die aktuelle
Lebenssituation Effis sichtbar geworden ist und von ihr reflektiert
wird, verändert ihre Befindlichkeit von Grund auf. Sie kann
ihre Umgebung wahrnehmen, sich ein Bild von der Situation machen, die
sichtbare mit der unsichtbaren Situation, die aktuelle mit der
vorhergehenden vergleichen und eine emotionale Bewertung vornehmen.
Deren Ergebnis besteht darin, dass sie die sichtbar gemachte Situation
akzeptiert, weil sie diese kontrollieren kann. Durch die Handlungsform
Sichtbarmachung ist eine gegebene in eine erwünschte Situation
verändert worden. Zwischen den beiden Bildern besteht ein
Kausalitäts- und ein Konkurrenzverhältnis, das
aktuelle ist durch das frühere bedingt und überwindet
es zugleich. Weil sie das Zimmer überblicken kann, dessen
architektonischen Aufbau sie auch ›im Schlaf‹
kennt, glaubt sie mehr zu wissen, als wenn sie im Dunkel geblieben
wäre, die visuelle Information verschafft ihr Orientierung und
Handlungsfähigkeit. Eine Bedrohung durch etwas Geheimnisvolles
oder Unentdecktes besteht nicht mehr. Sicherheit, so
läßt sich daraus schließen, kann ein
Ergebnis von Sichtbarkeit sein. Auch weist diese über sich
hinaus auf weitere Anschlusshandlungen; im Falle Effis ergeben sich
Selbstpräsentationen, Bekenntnisse, Gespräche mit
Innstetten und anderen.
Sichtbarmachung zeigt die
Struktur eines interaktiven Prozesses zwischen einem Subjekt, das sie
aufgrund einer Situationsanalyse veranlasst und einem Bezugsobjekt, sei
dies eine Person, Handlungskonstellation,
Situationseinschätzung oder eine Atmosphäre.
Gewählt wird die Handlungsform Sichtbarmachung, weil sie in
einer bestimmten Situation im Vergleich mit anderen
Möglichkeiten für die zu bewältigende
Aufgabe den größten Nutzen bei geringstem Einsatz
verspricht. Es ist eine rationale Entscheidung. In der Regel soll durch
die Herstellung von Sichtbarkeit eine Situation modifiziert werden,
wobei es um eine Veränderung, Bestätigung,
Überprüfung oder auch Verhinderung von
möglichen Anschlusshandlungen gehen kann. Eine Situation soll
für bestimmte Interessen beherrschbar werden, weil diese davon
profitieren.
Indem Effi die Sichtbarmachung veranlasst,
sorgt sie dafür, dass die beanstandete Symptomatik aufgehoben
wird. Sichtbarmachung hat Merkmale einer Reinigungshandlung. Sie wird
ausgeführt, um sich von etwas zu befreien und eine
erwünschte Ordnung herzustellen. Es wird deutlich, dass
Sichtbarmachung Teil einer Handlungsstrategie ist, dass sie den
Merkmalen einer intendierten, womöglich auch programmatisch
fundierten Handlungssequenz entspricht. Das Subjekt der Handlung bzw.
der Auftraggeber will ein bestimmtes, nämlich sein Bild von
einer Situation verwirklichen. Gemeint ist immer die Konstruktion
spezifischen bildlichen Wissens, das für weitere Handlungen
verwendbar ist.
6. Sichtbarmachung und
Sichtbarkeit als Herrschaftsmittel
Wer
bzw. was sichtbar ist, ist, so kann verallgemeinert werden, einerseits
zumindest tendenziell berechenbar und daher nicht bedrohlich,
Alterationen sind nicht zu erwarten. Andererseits kann jener, der sich
sichtbar macht, gerade deshalb bedrohlich sein, weil er die Macht hat,
sich sichtbar zu machen. Allerdings gilt auch, dass der, der sich
sichtbar macht, sich angreifbar macht und bedroht werden kann. Vor
diesem Hintergrund ist die Tatsache zu bewerten, dass Besuche von
Politikern der am Krieg beteiligten Staaten im Irak und in Afghanistan
in der Regel unangekündigt, abgeschirmt von medialer
Aufmerksamkeit und auf anderen als den mitgeteilten Plätzen
und Straßen stattfinden. In den letzten Kriegsjahren hat
Adolf Hitler aus Sicherheits- oder Unsicherheitsgründen darauf
verzichtet, sich anlässlich des Rituals des Marsches auf die
Feldherrnhalle sichtbar zu machen (vgl. Dücker 2007a). Werden
ein Einzelner oder eine Gruppe von Sichtbarkeit ausgeschlossen, kann
das ein Hinweis auf ihre inferiore soziale Bedeutung sein. Auf jeden
Fall ist die Verfügbarkeit über Sichtbarkeit als
Herrschaftsmittel zu berücksichtigen.
In
diesem Zusammenhang wird deutlich, dass sich mit dem Projekt
Sichtbarkeit unterschiedliche Interessen verbinden: Zum einen die
Interessen derer, die Sichtbarkeit ›machen‹
können, um zu kontrollieren, sich zu schützen, sich
im rechten Licht zu präsentieren oder auch um ihre
Einflusssphäre auszuweiten, zum andern die Interessen jener,
gegen die sich die ›Machung‹ der Sichtbarkeit
richtet und die nicht in den Zustand Bedrohter, Kontrollierter oder
potentiell Verdächtigter geraten wollen. Der in zahlreichen
Städten geführte Streit um die
Videoüberwachung öffentlicher Plätze,
Straßen und Räume ist ein Beleg dafür. Um
der Sichtbarkeit zu entgehen, meiden Passanten mitunter
überwachte Zonen, sie verändern ihr Verhalten, weil
sie Sichtbarkeit als Kontrolle und Verunsicherung deuten. In diesen
Fällen bewirkt Sichtbarkeit Unsichtbarmachung. Es liegt auf
der Hand, dass diese unterschiedlichen Interessenkonstellationen nicht
oder nur annäherungsweise zu vereinbaren sind. Daher ist in
Bezug auf die Handlungsform Sichtbarmachung zwischen einer
Binnenperspektive des Subjekts oder Profiteurs und einer
Außenperspektive des Objekts oder Betroffenen zu
unterscheiden.
In seiner Untersuchung Überwachen
und Strafen hat Foucault die programmatische Formel von
Sicherheit durch Sichtbarkeit als Generator für die Anlage
bestimmter Institutionen wie Gefängnisse, Anstalten,
Klöster und Heime nachgewiesen. Wer über die Macht
der Sichtbarmachung bzw. der Herstellung von Sichtbarkeit
verfügt, ist denen überlegen, auf die sich diese
Behandlung bezieht und die sichtbar gemacht werden sollen. Die einen
agieren, die anderen reagieren. Insofern erweist sich Sichtbarkeit als
Mittel sozialer Differenzierung. Ob jene, die Sichtbarmachung einsetzen
können, auch ihre eigene Sichtbarkeit inszenieren,
hängt von ihrer sozialen und kulturellen Funktion ab.
Politiker, Herrscher, Stars oder Repräsentanten werden darauf
nicht verzichten, dagegen werden es Mitarbeiter von Geheim- oder
Sicherheitsdiensten vorziehen, unsichtbar,
›gesichtslos‹ zu bleiben. Wer oder was nicht
sichtbar ist, ist kaum zu kontrollieren und zu beherrschen und auch
nicht wiederzuerkennen.
Weiterhin gehört
der differenzierte Einsatz von Sichtbarkeit zu den konstitutiven
Faktoren des Heiligen. In der Regel sind heilige Räume den
Blicken der Öffentlichkeit entzogen und nicht frei
zugänglich. Zumeist verfügen nur ausgewählte
Priester, Ritualspezialisten, Medizinmänner usw. über
das Recht des unumschränkten Zugangs zu den heiligen Texten,
zu Kultgegenständen und -orten sowie zum zugehörigen
Wissen. So ist das Allerheiligste im Tempel Salomos, der Raum, in dem
die Bundeslade aufgestellt ist, allein dem Obersten Priester sichtbar,
und das auch nur ein einziges Mal im Jahr. Im Zusammenhang mit dem
Heiligen hat man es mit einer Abstufung der Sichtbarkeit relational zur
Position der Betreffenden in der Kulthierarchie zu tun. Aus der
Sichtbarmachung leiten sich Zugehörigkeit und
Zugänglichkeit ab. In jeder Religion sind es nur wenige, die
zur Sichtbarmachung und unbegrenzten Sichtbarkeit berechtigt sind, d.h.
die Handlungen ausführen, die über
Stabilität oder Dynamik entscheiden können,
während die Mehrheit als Zuschauer an den sichtbaren rituellen
Handlungen teilnehmen. Ein Verzicht auf die Sichtbarkeitsregeln
würde die Aufhebung des Heiligen bedeuten.
7.
Visualisierung als wissenschaftlicher Gegenstand
Der
umfassenden Bedeutung visueller Medien für jede Art von
alltäglicher und fachspezifischer Kommunikation tragen
wissenschaftliche Projektbegriffe wie symbolische Politik bzw.
Bildpolitik oder »mediale Inszenierung von
Sichtbarkeit« (Großklaus 2004, 10) Rechnung.
So
geht das Projekt »Visuelle Politik« von folgender
These aus: »Es ist die visuelle Dimension technisch-medial
vermittelter Kommunikation, die so deutlich zur Dominanz
drängt, dass die Rede von einem Paradigmenwechsel angemessen
ist. Gemeint ist damit zunächst, dass die quantitative
Ausweitung visuell dominierter Medien auch zu einer qualitativen
Veränderung der
›Verständigungsverhältnisse‹
(Habermas) geführt hat« (Hofmann 1999, 7). Hofmann
geht von einem »paradigmatischen Wandel von einer
logozentrischen zu einer ikonozentrischen politischen Kultur«
aus, wofür »der Zusammenhang von Sichtbarkeit,
sozialer Kontrolle und Herrschaft naturgemäß eine
herausragende Rolle« (Hofmann 1999, 8) spiele. Das Projekt
widmet sich der Untersuchung visueller Politik am Beispiels des Films,
wobei Fragen der Manipulation und der
Repräsentativität der Darstellungen aber auch die
Grundfrage ›Was ist ein Bild?‹
berücksichtigt werden. Gramelsberger weist auf Nelson Goodman
hin, der den Begriff der Repräsentation durch den der
Denotation ersetzt; gemeint ist die »Bezugnahme des Bildes
auf etwas und zwar in der Weise wie auch eine Textpassage Bezug nimmt
auf einen Gegenstand, den sie beschreibt – nicht abbildet«
(Gramelsberger 1999, 62). Aber auch Gramelsberger
überschreitet nicht die Kategorie des Bildes als
materialisierte Form einer Abbildung. Großklaus (2004, 18)
unterscheidet »zwei Realitäts-Ebenen« der
Massendarstellung, »einmal auf der lokalen Ebene der
(empirischen) Erst-Wirklichkeit, zum anderen auf der globalen Ebene der
(medialen) Zweit-Wirklichkeit.«
Methodisch
bleiben diese Arbeiten bei der Untersuchung solcher Bilder oder
›Massen-Events‹, die spektakuläre
Ausprägungen und Inszenierungen politischer Ereignisse
betreffen. Die zentrale Bedeutung visueller Kommunikation hat zum
Entwurf neuer Wissenschaften wie Bildwissenschaft,
Kulturbildwissenschaft oder Visual Studies geführt. In ihrer
umfassenden Darstellung Cultural Turns widmet Doris
Bachmann-Medick auch dem ›Iconic Turn‹ ein
eigenes Kapitel. Demnach sind ›Turns‹
»keine akademischen Schulen, sondern Fokussierungen der
Forschung, Perspektivenwechsel, bei denen sich inhaltliche Schwerpunkte
zu methodisch signifikanten Untersuchungseinstellungen
verdichten« (Bachmann-Medick 2006, 23). Der Iconic Turn sei
seit den 1990er Jahren als »dezidierte Gegenbewegung zum
Linguistic turn« wirksam, um »gegen den
Logozentrismus der westlichen Kultur eine neue Aufmerksamkeit auf den
Erkenntniswert von Bildern« zu fordern. Gekennzeichnet sei
ein ›Turn‹ durch den »Umschlag von der
Gegenstandsebene auf die Ebene von Analysekategorien«, d.h.
dadurch, dass Bilder nicht mehr »als Objekte von Anschauung,
Interpretation und Erkenntnis« gälten, sondern dass
gefragt werde, »welche Fähigkeit Bilder und andere
visuelle Erfahrungen haben, Wissen überhaupt erst zu formen.
Statt um Erkennen von Bildern geht es immer mehr um
Erkennen durch Bilder und Visualität;
statt darum, Bilder zu verstehen, geht es eher darum, die Welt in
Bildern sowie durch spezifische Kulturen
des Sehens und des Blicks zu verstehen« (Bachmann-Medick
2006, 42). Weil aber die Deutung der Bilder nur sprachlich
möglich ist, ist Bachmann-Medick (2006, 351) in ihrer
Zurückhaltung gegenüber Positionen zuzustimmen, die
von einer Ablösung der Dominanz von Sprache und Schrift durch
das Medium Bild ausgehen.
Sichtbarkeit gilt in der
Bildwissenschaft als Ergebnis der simultanen Aktivierung von
»Wahrnehmen, Erinnern, Gefühle[n],
Intentionen« (Heimann 2005, 16). Wenn Sichtbarkeit
»eine kulturelle Matrix aus optischen Informationen,
kognitiven Vermögen, Bedeutung, Selektion, Form, Nachricht,
Gebrauch, Kontinuität« (Faßler 2002, 35)
ist, dann lässt sie sich durch eine gezielte
adressatenorientierte Strategie von Sichtbarmachung tendenziell
herstellen. Das, was sichtbar gemacht wird, soll
ausschließlich das sein, was gesehen und erinnert werden
soll.
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