Herrlich
weit haben wir es nicht gebracht, weit aber schon. Immerhin hätten
es andere auch gerne so. Küstenwachen und Aufgreifer von Illegalen
wären sonst weniger beschäftigt. Besser soll es dennoch
werden. Offenbar wollen wir, allesamt, oder fast alle, irgendwo hin.
Ein
Tag wie andere auf den Kanarischen Inseln. Ein Boot der
Küstenwache fährt in den Hafen. In Decken gehüllte
Menschen gehen von Bord, geleitet von denen, die sie aufgefischt haben.
Vom Badestrand her, weniger als hundert Meter entfernt, sehen Urlauber
zu, einige damit beschäftigt, Schutzmittel gegen Sonnenbrand
aufzutragen. Die Sonne, wie man weiß, sticht gefährlicher
als ehedem. Die in den Decken verschwinden in einem Zelt. Einer der
Letzten bleibt vor dem Hineingehen stehen, dreht sich um, schaut zum
Badestrand hinüber. Ein junger Mann, wie fast alle. Nennen wir ihn
Jussuf.
Am anderen Ende des Badestrandes, hinter ein paar
Sandhügeln, die Beine von sich gespreizt, den Ellenbogen gespannt,
setzt sich einer die Nadel.
Wohin also? Eint die Drei da etwas
und uns mit ihnen? Alle hätten wir schon gern, dass es mit dem
Davonkommen noch eine Weile weiterginge. Davongekommene sind wir alle.
Das wenigstens ist uns gemeinsam, denen gegenüber, die es nicht
mehr geschafft haben.
Ist da noch etwas? Auf jeden Fall ist da
immer das Nächste, das Einölen der Zehen, die Suppe im Zelt.
Kommt etwas dazwischen, so wird daraus etwas Anderes. Das macht dann
etwas, mehr oder weniger, oder es macht überhaupt nichts.
Vielleicht bleibt der kleine Zeh ein wenig länger ungeölt.
Ist der Suppentopf leer, bevor alle haben, knurrt einigen der Magen ein
wenig länger. Es hätte schlimmer kommen können. Viele
werden nicht aufgefischt.
Angst hatte er schon, da in seinem Boot.
Vorher allerdings auch, immer eigentlich. Er hätte sich sonst
nicht auf den Weg gemacht. Freilich war diese Angst nichts Besonderes.
Angst, die etwas Besonderes ist, gehört zu der Welt, in die Jussuf
sich aufgemacht hat.
Das Nächste also. Was passiert, wenn
es gelingt, oder eben nicht, unterscheidet Welten. In der einen geht
es, wenn das Nächste misslingt, mit dem Davonkommen dennoch
weiter, in der anderen dagegen nicht. Irgendwann einmal geraten wir in
die alle hinein. Eben deshalb wollen wir bei jedem Arztbesuch zuerst
wissen, ob es etwas Ernstes sei. Sind wir hineingeraten, in diese
letzte Welt, so wollen wir einfach nur wieder heraus.
Manche
begeben sich auch selber hinein. Die gab und gibt es immer. Allerdings
ist, beispielsweise, nicht ausgemacht, ob die Welt in der Steilwand, in
der das Einschlagen eines jeden Hakens gelingen muss, tatsächlich
die gleiche ist wie die eines Patienten vor der entscheidenden
Behandlung. Hier wie dort geht es beim Nächsten direkt ums
Davonkommen. Die Erwartung, dass es noch ein wenig weitergehe,
läuft nicht einfach nur mit. Das Weitergehen hängt vom
Gelingen oder Misslingen des Nächsten ab, wird von diesem
bewerkstelligt oder eben nicht. In dieser letzten Welt ist man hier wie
dort. Es könnte aber sein, dass es deren viele gibt und zwischen
ihnen wiederum allerlei unterschiedlich geschachtelte Unterschiede.
Alle
wollen wir da heraus. Was das Nächste auch sei und wie ernst wir
es auch nehmen, so ganz ernst soll es damit nicht sein. Immer soll es,
wenn etwas misslingt, einen zweiten Versuch geben, und möglichst
auch einen dritten, und mehr. Da also wollen wir hin.
Das
Nächste soll überhaupt möglichst wenig mit dem direkten
Hervorbringen des Davonkommens zu tun haben. Wenn wir sagen, wir
hätten endlich Arbeit gefunden, die uns vor dem Verhungern
bewahre, so wollen wir dies ironisch meinen können. Es soll
immer nur indirekt und möglichst spät wirklich ernst sein und
werden, es sei denn in einer gartenartigen, von uns gleichsam selber
angebauten Form, so wie etwa in der Steilwand.
*
Da
ist aber der mit der Nadel. Wohin denn will er? Auch für ihn gibt
es, solange es eben da ist, immer ein Nächstes. Was einfach nur da
ist und ansteht, ist ihm aber vor allem im Wege. Er will Eines und das
immer wieder. Das Nächste, sofern es nicht dieses Eine ist,
schaufelt er beiseite. Man kann auch sagen, er schaufle es zu und
planiere es platt, bis ein Weg zu dem Einen hin daraus wird. Bald gibt
es dann überhaupt nur noch das Plattgewalzte und das Eine, das ihn
allerdings nach kurzem Aufenthalt immer wieder auf den Weg schickt.
Das
Gehirn, so Robert L. Dupont, sei egoistisch. Was es wolle, das wolle es
eben. Nicht von allem wolle es immer mehr. Für Vieles gebe es
Sperren. Davon habe es dann eine Zeitlang genug. Auf Direktes, wie
sollte es auch, da drinnen in seinem Knochengehäuse, ist das
Gehirn aber nicht zur Sperrung vorbereitet. Erzeugt etwas, ohne Bezug
auf Anderes, an den das Gehirn dann beim Aufbau der Sperre
anknüpfen könnte, Freude, Zufriedenheit, Lust, so gibt es
kein Halten.
Dupont wartet mit Ratten und Affen auf. Weder
Leckerbissen noch andere Verführungen der Rattenwelt können
Ratten zum Überqueren elektrisch geladener Drähte bewegen.
Lockt aber eine direkte Stimulation des Lustzentrums, so eilen sie
über die Drähte. In einem anderen Experiment setzten Affen
Aktivitäten, für die sie mit einer direkten Stimulation des
Lustzentrums belohnt wurden, auch dann fort, wenn sie damit dem
Herzschlag nahe kamen und diesen schließlich herbeiführten.
Die
meisten, wenn nicht alle Kulturen, wussten sich psychoaktiver
Substanzen zu bemächtigen. Den mit der Nadel gab es in vormodernen
Gesellschaften dennoch nicht, und dies nicht nur deshalb, weil die
hypodermische Nadel erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde.
Soweit
man dies wissen kann, fanden direkte Stimulationen der Lustzentren in
vormodernen Gesellschaften nur eingebettet in genau definierte soziale
Praktiken statt. Sie waren sozial gesteuert und nicht individuell.
Tabak produziert den Nikotinkick unabhängig davon, ob man eine
Zigarette anzündet oder die Friedenspfeife. Dennoch waren die
nordamerikanischen Indianer keine Raucher im Sinne der heute
geläufigen Selbstbeschreibung, so wie der Schluck Wein bei der
Eucharistiefeier die Beteiligten nicht, wiederum im Sinne der heute
geläufigen Selbstbeschreibung, zu Trinkern macht. Höchst
beschränkt war die Verwendung psychoaktiver Substanzen in
vormodernen Gesellschaften auch deshalb, weil nur geringe Mengen
verfügbar waren. Die soziale Rundumkontrolle der dörflichen
Lebensgestaltung wird darüber hinaus dafür gesorgt haben,
dass der entbettete Genuss unterblieb. Dupont spricht vom Goldenen
Zeitalter des Drogengebrauchs.
Seit dem Zeitalter, das man
noch immer das der Entdeckungen nennt, wurden psychoaktive Substanzen
bevorzugte Güter des Welthandels. Der löste sie aus ihren
Einbettungen heraus und verbreitete sie überall dort, wo sich ein
Markt fand. Durch und für den Konsum der so erst entstandenen
Genussmittel formten sich zwar quasi-rituelle Einbettungen eigener Art,
deren bindende Kraft aber blieb vergleichsweise gering. Der Konsum
blieb immer auch außerhalb ihrer möglich und akzeptiert.
Der
Herauslösung der Substanzen aus rituellen und anderen Einbettungen
entspricht die des Konsumenten aus der vorwiegend sozial gesteuerten
Lebensgestaltung. Urbanisiert und zum Sucher nach dem persönlich
erfüllten Leben geworden, sichtet er Möglichkeiten und
Angebote. Von vielen Seite her drängt man danach, ihm dabei
behilflich zu sein, und dies zunehmend unter dem Leitthema
individualisierten Genusses. Wo sich alles als Genussmittel anbietet,
steht der direkte Kick als Paradigma der Einlösung eines
Versprechens in einer lügenhaften Welt. Aus dem Goldenen Zeitalter
des Drogengebrauchs ist das des Drogengeschäfts geworden.
*
Wohin
der mit der Nadel will, wissen wir damit noch nicht. Er wird auf jeden
Fall dahin wollen oder gewollt haben, wohin wir alle wollen. Da muss er
aber, anders als Jussuf draußen in seinem Boot, schon sein.
Hätte er von Augenblick zu Augenblick sein Davonkommen zu erhalten
oder immer wieder hervorzubringen, so wäre es mit ihm längst
vorbei. Das Davonkommen ist ihm also wohl nicht genug.
Ist
das je und je Nächste der Ernstfall, so kann es zu so einem Wollen
gar nicht erst kommen. Gelingt dagegen der Aufschub, öffnet sich
der Spielraum, wird es erst beim Übernächsten ernst oder
rückt das Ernstwerden gar noch weiter ab, so ist die Gewissheit
da, einem Zugriff zu unterliegen, dem nämlich des Arbiträren.
Sie treibt im Kreis, diese Gewissheit. Alles hätte auch anders
sein können, mit dem Davonkommen, doch es ist wie es ist. Wir
sehen uns im Genuss einer Präferenz, die nicht sein kann, weil das
Arbiträre nicht das Arbiträre wäre, wenn es
Präferenzen hätte. Im Genuss einer Präferenz sehen wir
uns dennoch, und wir hätten gern, dass sie dauert. Damit aber
haben wir schon damit begonnen, ob wir dies wollen oder nicht, uns zum
Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, oder dieses wenigstens
zu versuchen.
Das also wollen wir mehr. Gelingt auch nur ein
minimaler Schritt der Entwicklung in die Richtung, in die wir alle
wollen, so wollen wir immer auch dieses Zweite.
Wenn alle es
wollen und gewollt haben, so kann es nichts sein, das sich, um uns
herum und in der Geschichte, versteckt hält. Das Bemühen
darum und dessen Spuren müssen weithin offenbar sein in dem was
war und ist.
Ins Verhältnis setzen kann man sich durch
Handlungen, durch Diskurse und durch das Herbeiführen von
Erfahrungen. Handelnd setzen wir uns ins Verhältnis, indem wir uns
dem Rhythmus dessen, wozu wir uns ins Verhältnis setzen wollen,
mehr oder weniger anmessen. Messen wir uns gänzlich an, so handeln
wir in seinem Bann. Messen wir uns nur minimal an, so drängen wir
darauf, dass es sich uns füge. Im Spektrum des Mehr oder Weniger
dazwischen kommt es zu Handlungen, die es ohne das Verhältnis, in
das wir uns gebracht haben, nicht gegeben hätte. Neues entsteht of
so.
Das Arbiträre hat keinen Rhythmus, dem wir uns anmessen
könnten. Es ist, sofern wir es als etwas nehmen, dessen Rhythmus
wir uns anmessen können, nicht mehr das Arbiträre. Handelnd
können wir uns zu diesem nur ins Verhältnis setzen, indem wir
uns dem nicht Anmessbaren anmessen, unsere Handlungen also zu einem
nicht Anmessbaren machen. Nicht anmessbare Handlungen kann man auch als
unsinnig – oder eben arbiträr – charakterisieren.
Handelnd
also setzen wir uns zum Arbiträren in Beziehung, indem wir
unsinnig handeln, und dies nicht beiläufig, als sei uns ein Lapsus
unterlaufen, sondern ausdrücklich, nach Möglichkeit sogar mit
der Ausdrücklichkeit einer Institution.
Ernstfälle,
die nie ganz fern sind, sind Hunger und Durst. Je weiter wir in der
Geschichte zurückgehen, desto weniger sicher konnte man sein, ob
einer von ihnen nicht schon ganz nah sei. Das bewusste, geplante
und ausdrücklich zelebrierte Verbrennen von Lebensmitteln oder
auch Verschütten von Getränken wird man deshalb als eine in
höchstem Maße unsinnige Handlung ansehen müssen. In
nahezu jeder Kultur aber gab es eigens dafür eingerichtete Bezirke
und Orte, an denen Personen, die ein hohes Ansehen genossen, dieses
vollzogen. Es sind die Orte, die wir besuchen und studieren, wenn wir
uns mit der betreffenden Kultur vertraut machen wollen. Wir sehen sie,
und sicherlich zu recht, als Zentren an, die Aufschluss über die
Eigenart der betreffenden Kultur geben.
Diskursiv setzen wir uns ins
Verhältnis, indem wir über etwas sprechen oder mit ihm. Man
kann vielerlei Theorien darüber entwickeln, was dies genauer
heißt. In jedem Falle aber wird es zwischen unserer Rede und dem,
worüber wir reden, ein Verhältnis geben müssen, das
nicht arbiträr ist. Wollen wir mit jemandem sprechen oder ihn
ansprechen, so gilt das ebenso. Zum Arbiträren aber kann es kein
nicht-arbiträres Verhältnis geben. Sobald wir sagen, es sei
so und so, oder nach diesen oder jenen Regeln mit ihm sprechen, reden
wir von oder mit etwas anderem. Diskursiv können wir uns also zum
Arbiträren nur ins Verhältnis setzen, sofern unsere Rede
jedes nicht-arbiträre Verhältnis zu dem, worauf sie sich
bezieht, vermeidet. Der Begriff des Unsinns wird wohl auch hier
angebracht sein. Handelnd also setzen wir uns zum Arbiträren ins
Verhältnis, indem wir unsinnig handeln, diskursiv, indem wir
Unsinn reden.
Ist Unsinn nicht immer einfach nur Unsinn? Man
kennt die Frage, beispielsweise, aus den neuerdings wieder belebten
Debatten über den ersten Wittgenstein. Ist der Text des
Tractatus,
wenn er denn, wie Wittgenstein am Ende sagt, Unsinn redet, unsinnig im
gleichen Sinne wie etwa ein Daherplappern beliebiger Lautfolgen? Eine
entsprechende Frage wird auch bezogen auf den institutionalisierten
Unsinn zu stellen sein, mit dem man nahezu seit Anbeginn der Geschichte
versuchte, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen.
Mehr
noch als rückblickende Beobachter bewegte diese Frage wohl die
Beteiligten selber. Blanker Unsinn, sofern wir denn an dieser
Unterscheidung festhalten, wird sicherlich auch ihnen vertraut gewesen
sein. Wie sollte jener andere Unsinn, Handlungen also, die der
schlichtesten Alltagsvernunft widersprechen, Sätze und Texte, die
weder von Dingen noch von Sachverhalten reden, auf die man je
gestoßen wäre, sich von diesem unterscheiden?
Gefordert
ist eine Auszeichnung oder Ergänzung, etwas, das hier da ist und
dort nicht. Möglich wurde dies durch die dritte Option, nach der
wir uns zu etwas ins Verhältnis setzen können, durch das
Herbeiführen also einer Erfahrung.
Die Rede war von einer
Präferenz, derer wir uns erfreuen, obgleich sie nicht sein kann,
denn das Arbiträre kann keine Präferenzen haben. Dies eben
ist die Weise, in der wir den Zugriff des Arbiträren, und mithin
dieses, erfahren. Da wir die Präferenz des Arbiträren aber
als etwas erfahren, das nicht sein kann, erfahren wir es dabei als ein
unablässig Entgleitendes. Die Herbeiführung einer Erfahrung
wäre hier also genauer deren Festigung und Affirmation.
Die
direkte Stimulation eines Lustzentrums durch psychoaktive Substanzen
erzeugt Freude, Glück, Zufriedenheit die an nichts geknüpft
und mit nichts verknüpft sind. Dies eben meint direkte
Stimulation. Erfahren wird eine Belohnung, der nichts vorausgeht,
woraus sie sich ergäbe, eine Auszeichnung, die für nichts
auszeichnet, eine Unterscheidung vom nicht Ausgezeichneten, die auch
nicht sein könnte. Erfahren also wird arbiträre
Präferenz, hier aber als Herbeigeführtes. Die Einbettung des
Gebrauchs psychoaktiver Substanzen markiert den Unterschied des
Unsinnigen, in das er eingebettet ist, zum blanken Unsinn.
*
Wer
Nahrungsmittel vernichtet, bekundet damit, mehr davon zu haben als zur
Erhaltung des Davonkommens benötigt wird. Die einen haben mehr,
die anderen haben so wenig, dass sie es mit dem Davonkommen nicht mehr
schaffen. Zwischen der Präferenz, so wie sie da ist, und denen,
die sie erfahren, oder eben nicht, ist keinerlei Verhältnis der
Anmessung erkennbar. Die es nicht mehr geschafft haben, können
nichts bekunden. Jede Bekundung der Erfahrung arbiträrer
Präferenz hat damit letztendlich doch etwas schulterklopfend
Komplizenhaftes.
Die Vernichtung von Nahrungsmitteln ist so ein
Schulterklopfen. Sie ist es wirklich und hat deshalb auch jene andere
Seite, die zu jedem Schulterklopfen unter Komplizen gehört. Warte
nur ein wenig, so sagt es immer auch, dann bin ich weit genug, um dir
an die Gurgel zu gehen.
Man kann, was heute nicht benötigt
wird, institutionalisiert oder anderweitig vernichten. Man kann es auch
für morgen und übermorgen beiseite legen. Reicht es für
beides, so ist es am besten. Der institutionelle Unsinn des Vernichtens
kommt nicht zu kurz. Die Kontinuität der irgendwann einmal
etablierten Weise, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu
setzen, wird nicht unterbrochen.
Ist für morgen und
übermorgen schon vorgesorgt, so wird der Zugriff des
Arbiträren weniger rigide oder wenigstens als weniger rigide
erfahren. Er bewegt sich aus dem Normalen hinaus an die Ränder und
verwandelt sich dort eher in ein Schlagen, mit dem zwar immer zu
rechnen ist, das aber auch ausbleiben kann. An die Stelle des
andauernden Würgegriffs treten intermittierende Schläge des
Schicksals, wie man dann sagt.
So richtig an die
Gurgel geht es dem Arbiträren aber erst, wenn man es beim
Beiseitelegen nicht mehr belässt, sondern mit Hilfe des
Angesammelten dafür sorgt, dass mehr einkommt. Dies macht Appetit.
Je mehr einkommt, desto mehr soll dann einkommen. Es ist der Appetit,
den wir alle teilen, weniger einer nach als vielmehr gegen etwas, gegen
die Nähe des Ernstfalls eben.
Eine Art Schulterklopfen
muss auch nach der Erfindung der Unterscheidung zwischen einer
Normallage und dem hin und wieder auf diese einhauenden Schlag des
Arbiträren weitergehen. Zwar lässt sich der Ernstfall durch
die Ansammlung von Gütern und Arrangements, durch welche diese
sich nicht nur vermehren, sondern auch in ihrer hinausschiebenden
Qualität steigern, in weite Ferne rücken, dieses
Hinausschieben berührt die immer gleiche Nähe der Grenze der
Normallage aber nicht.
Die institutionelle Stabilität
sozialer Gebilde, so wie wir sie aus der Geschichte kennen, basiert
gemeinhin auf einer Fortentwicklung des Komplizenhaften zum Janus. Es
ist allerdings ein verschobener. Die beiden Gesichter blicken nicht
nach verschiedenen Seiten. Übereinander gedreht und das eine durch
das andere hindurchblickend, wenden beide sich dem Arbiträren zu,
das eine mit wild zurückdrängendem Blick, das andere
subaltern lächelnd.
*
Ist
Gebautes zerfallen, so sagen wir, kein Stein sei auf dem anderen
geblieben. Wir bauen, umgekehrt, indem wir einen Stein auf oder an den
anderen setzen. Statt eines Steines kann es auch etwas anderes sein.
Wichtig ist, dass etwas als Nächstes auf oder an ein
Vorhergehendes gefügt wird, und dann so weiter.
Auf das So
dieses Weiter kommt es an. Dieses darf nicht einfach nur ein Weiter
sein. Es muss mit dem Vorherigen etwas zu tun haben, an dieses so oder
so anschließen, wobei das So-oder-So aber ein So-und-nicht-Anders
sein muss. Anders als das So, mit dem das Vorherige an sei Vorheriges
angeschlossen wurde, kann es wohl sein. Es muss da nichts fortsetzen
oder wiederholen.
So und nicht anders
heißt also nicht, dass vorher schon entschieden wäre,
welches das Passende und Rechte sei und welches nicht. Auch ein neues
Ansetzen, das vom Bisherigen drastisch abweicht, ist ein So-
und-nicht-Anders. Der Gegensatz, gegen den das So sich stellt, ist
primär nicht ein Anderes, sondern Beliebigkeit, bloß
Zufallendes.
So und nicht anders meint vor allem Ausdrücklichkeit,
ausdrücklich so.
Die
Ausdrücklichkeit dieses So wird sich dabei, vor anderen und vor
allem vor sich selber, auf dies und das berufen. Sie wird Rechenschaft
ablegen, weshalb es so zu sein habe und nicht anders. Die kann mehr
oder weniger ausdrücklich und durchartikuliert sein. Diese andere
Ausdrücklichkeit ist mit der, welche Rechenschaft ablegt, nicht zu
verwechseln. Die lässt, streng genommen, keine Gradierung zu. Hier
gibt es nur Ausdrücklichkeit oder deren Fehlen: Beliebigkeit.
Ausdrücklichkeit meint hier also ein Ausdrücken, das
Beliebigkeit ausschließt. Dies muss nicht durch Worte geschehen.
Rechenschaft dagegen ist diskursiv. Eine aus der Geschichte der
Philosophie geläufige Unterscheidung der Rechenschaft, die gegeben
wird, wäre etwa die zwischen der Rechenschaft des Erfahrenen und
der des Techniten, von der Aristoteles am Anfang der
Metaphysik
handelt. Was als Rechenschaft gilt und weshalb, ist eine Frage, die mit
der Ausdrücklichkeit des So im So-und-nicht-Anders des Bauens
eröffnet wird. Die geht ihr voraus. Die Zurückweisung der
Beliebigkeit, die sie ist, ist Zurückweisung des Arbiträren.
Bauend
also weisen wir den Zugriff des Arbiträren zurück, halten ihn
wenigstens auf Distanz. In einer anderen Terminologie charakterisiert
man dies, oder jedenfalls vieles, welches dazugehört, auch als
Humanisierung von Raum und Zeit. Gebautes, seien es Verkehrswege,
Gebäude, Strukturen der Produktion, der Verteilung, der Vorsorge,
seien es Gefüge des Zusammenlebens überhaupt, der
Konfliktregelung, der Zukunftsorientierung, wird freilich brüchig.
Auch von den Rändern des Normalen her ist, wie gesagt wurde, mit
dem Zugriff des Arbiträren immer zu rechnen. Vor allem aber
vergönnt uns die je besondere Lebensgeschichte das
Weggeschobensein dieses Zugriffs nur temporär und intermittierend.
Irgendwann hört jeder vom Arzt, diesmal sei es ernst.
Das
Wegschieben, so wild es auch blickt, schaut doch immer durch das
Schauen des anderen Gesichts hindurch, aus diesem anderen Schauen also
heraus und so mit diesem immer auch ein wenig mit. Soziale Gebilde, von
denen man weiß, gerade auch expandierende,
geschichtsprägende, in ihrem Zurückdrängen des
Arbiträren also besonders erfolgreiche, wussten auch mit dem
Bröckeln alles Gebauten umzugehen. Sie hatten sich, bevor das
Bauen so richtig begann, zum Arbiträren schon anders denn
zurückdrängend ins Verhältnis gesetzt, womit wir wieder
beim Unsinn wären, dem mehr als blanken, und dessen Institutionen.
Sollen die aber dort, wo das Wegschieben misslingt oder
lebensgeschichtlich überhaupt endet, verfügbar sein, so
können sie, wenn das Bauen fortschreitet, nicht bleiben wie sie
sind.
*
Das
Bröckeln des Gebauten, die Wiederkehr des Arbiträren, ist das
Schwinden der ausweisbaren Ausdrücklichkeit, mit der das Eine so
und so an das Andere anschließt. Praktiken und Diskurse, die sich
von Gebautem oder sich in Gebautem Bewegenden durch das bloße
Fehlen einer solchen Ausdrücklichkeit der Verknüpfung
unterscheiden, werden beim Umgang mit diesem Schwinden nicht helfen.
Vom Gebauten her, anders als ehedem, sind sie lediglich der
vorweggenommene Fluchtpunkt seines Zerfalls.
Als es noch kein
nennenswert Gebautes gab, die Geschichte zu diesem hin vielmehr erst
begann, war dies anders. Die ersten Formen ausweisbar
ausdrücklicher Verknüpfungen wurden wohl zusammen mit oder
wenigstens parallel zu den ersten Institutionalisierungen des Unsinns
geschaffen. Man kann eben Nahrungsmittel nur verbrennen, wenn man mehr
davon hat als im Augenblick für das Davonkommen nötig, den
Zugriff des Arbiträren also schon ein wenig weggeschoben, mithin
schon gebaut hat.
Die Wege vom einen zum andern sind kurz in
dieser frühen Zeit. Das Verbindende bleibt lange eine gewisse
Ratlosigkeit darüber, wie von der Ausdrücklichkeit der
Anknüpfungen Rechenschaft zu geben sei. Am Anfang stehen lediglich
das Gelingen ausdrücklicher, nicht-arbiträrer
Anknüpfungen und das Gewahrwerden ihres Unterschieds zu
arbiträren. Dies zwingt, nicht zuletzt auch deshalb, um es
festzuhalten, fortzusetzen, zu tradieren, zur Rechenschaft. Behilflich
konnten dabei zunächst nur Diskurse des institutionalisierten
Unsinns sein, denn andere Diskurse proto-abstrakter Art gab es nicht.
Die Geschichten göttlicher und halbgöttlicher Kulturbringer,
die uns allerlei Nützliches lehrten und brachten, gehören
hierher. Die Nötigung wohl, doch mehr
in concreto
Rechenschaft zu geben, löst die so sich ausformenden Diskurse dann
von denen des institutionalisierten Unsinns ab. So entfernen sie sich
zunehmend von diesen und geraten mit ihnen auch gelegentlich in
Konflikt. Vor allem aber wird es von ihnen her immer schwieriger, wenn
Gebautes bröckelt oder das Zurückdrängen des
Arbiträren überhaupt an eine Grenze gerät, für den
Zweck an die Diskurse institutionalisierten Unsinns
anzuschließen, für den diese und die ihnen entsprechenden
Institutionen geschaffen wurden.
Zwei Strategien, dem so sich
bildenden Reformdruck zu entsprechen, sind denkbar. Man kann versuchen,
die Intensität, in der das Arbiträre zurückgedrängt
wird, zu drosseln, und dies wiederum auf vielerlei Weise. Das aus
Geschichte und Gegenwart wohl vertrauteste Verfahren fordert von
Diskursen der Rechenschaft grundsätzlich Anschlussfähigkeit
an bestimmte Institutionalisierungen des Unsinns. Gebaut, in dem Sinne,
in dem hier von Bauen die Rede ist, kann dann nur werden, was diese
repräsentiert, exemplifiziert, darstellt, verwirklicht oder ihnen
in einem anderen Sinne entspricht. Gegenpol hierzu wäre eine
Reformstrategie, die von den Institutionalisierungen des Unsinns
verlangt, sich fortgesetzt so zu restrukturieren, dass
Anschlussfähigkeit zu den sich von ihnen ablösenden Diskursen
der Rechenschaft gewahrt bleibt. Faktisch kam und kommt es je nach Lage
zu einer mehr oder weniger nach der einen oder anderen Seite hin
gewichteten Konstellation aus beidem. Die Feinstruktur dieser
Konstellation definiert weitgehend das je Besondere unterschiedlicher
Gemeinwesen und Kulturen. Sie ist ständig in Bewegung und
Gegenstand der formativen Konflikte, die man im Rückblick dann als
Anfang oder Ende einer Epoche auffasst.
Institutionalisierungen
des Unsinns können ihre Funktion nur erfüllen, solange die
Markierung, die den Unsinn, den sie institutionalisieren, von blankem
Unsinn unterscheidet, intakt bleibt. Fortschritte des Bauens und der
ihm zugehörigen Diskurse der Rechenschaft aber tendieren dazu,
gerade diese Markierung zum Schwinden zu bringen. Die Bewahrung oder
Erneuerung der Anschlussfähigkeit wird also vorwiegend damit
befasst sein, das Hinübergleiten institutionalisierten Unsinns in
blanken Unsinn zu bremsen oder zurückzunehmen.
Die
nachdrücklichste Form der genannten Markierung, so war gesagt
worden, sei die Herbeiführung einer Erfahrung arbiträrer
Präferenz, sei es durch den Konsum psychoaktiver Substanzen oder
anderweitig, dies aber eingebettet in die Strukturen des Unsinnigen,
deren Unterschied zu blankem Unsinn markiert werden soll. Allein schon
deshalb, weil wir noch da sind, müssen wir das Arbiträre,
dessen Zugriff wir ausgesetzt sind, als ein uns Präferierendes
deuten, obgleich es als Arbiträres keine Präferenzen haben
kann. Darauf kam es an. In der Erfahrung, die wir mit dem Zugriff des
Arbiträren machen, entgleitet es uns als das Arbiträre. Wir
erfahren es, sehen uns dabei aber nicht zu ihm ins Verhältnis
gesetzt. Dies gelänge nur einer Erfahrung arbiträrer
Präferenz, die wir nicht einfach nur machten, sondern selber
herbeiführten. Weiterhin ein Präferierendes, bliebe das
Arbiträre zwar weiterhin lediglich als Entgleitendes erfahrbar,
wir hätten uns aber, da wir sie herbeigeführt hätten,
zur Erfahrung ins Verhältnis gesetzt und damit indirekt auch zum
Erfahrenen.
Strukturen des Unsinnigen markieren ihren Unterschied
zu blankem Unsinn, indem sie sich als Ausdruck oder Verkörperung
solchen Herbeiführens und auch des dabei Erfahrenen etablieren.
Wer sich daran hält, findet sich zur Herbeiführung der
Erfahrung arbiträrer Präferenz ins Verhältnis gesetzt
und damit, verglichen mit dieser, ein weiteres Mal indirekt zur
arbiträren Präferenz selber.
Der wegschiebende Blick
auf das Arbiträre will nicht-arbiträre Verknüpfungen,
die eine Weile Bestand haben. Bauen meint das Herstellen solcher
Verknüpfungen. Gelingen diese, so akkumuliert sich Gebautes, in
dem wir uns dann, an ihm fortbauend und immer auch mit Reparaturen
beschäftigt, eine Zeitlang frei vom Zugriff des Arbiträren
bewegen können. Es akkumulieren sich damit aber auch Erinnerungen
an das Bauen. Unter diesen und jenen Bedingungen ergab sich dies, wenn
man jenes tat, anderes dagegen, das man gerne gewollt hätte, ergab
sich nicht. Unter veränderten Bedingungen ergab es sich dann doch,
dies aber nur, indem man etwas tat, an das man nie gedacht hatte.
Erinnerungen dieser und ähnlicher Art schärfen den Blick
für das unter gegebenen Bedingungen Mögliche. Sie
eröffnen, genauer noch, den Blick für das Modale: das ist
möglich, das unmöglich, das notwendig, das wahrscheinlich,
das eher unwahrscheinlich.
Die Eröffnung
dieses Blicks differenziert den Raum der Erwartungen. Nahezu alles kann
passieren, wahrscheinlich aber ist, dass dieses passiert und nicht
jenes, oder wenigstens, dass jenes zunächst einmal nicht passiert.
Der wegschiebende Blick wird zum modal sich differenzierenden Blick.
Der
sieht, einerseits, dass nicht immer und in allen Angelegenheiten Grund
zur Sorge besteht. Andererseits sieht er aber auch, dass selbst das
Unwahrscheinlichste jederzeit passieren, das Arbiträre auch als
Weggeschobenes jederzeit zugreifen kann. Das Bedürfnis, sich zum
Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, besteht fort, auch wenn
es für eine Weile schweigt. Die modale Differenzierung des
wegschiebenden Blicks schärft auch die Aufmerksamkeit hierfür
und damit auf jenen anderen Blick, durch den er, im Sinne des
verschobenen Janus, immer hindurchschaut. Diesen dann kultivierend,
kommt es zu dem beschriebenen Bemühen, die Anschlussfähigkeit
zu den vorhandenen Institutionalisierungen des Unsinns hin – oder
von diesen her – zu stärken. Nach dem Gesagten wird sich
dies insbesondere auf die Hervorhebung oder Erneuerung der Markierung
ihres Unterschieds zu blankem Unsinn konzentrieren.
Wenn
die, und davon gehen wir aus, letztendlich an die Herbeiführung
einer Erfahrung arbiträrer Präferenz geknüpft ist, wird
sich die Kultivierung jenes anderen Blicks am Ende zur Erneuerung
dieser Erfahrung genötigt sehen. Arbiträre Präferenz
aber ist gerade das Fehlen modaler Differenzierung, jedes
Herbeiführen einer Erfahrung arbiträrer Präferenz mithin
ein Akt modaler Entdifferenzierung.
Die Stärkung der
Anschlussfähigkeit vorhandener Institutionalisierungen des Unsinns
und damit der Kompetenz, sich zum Arbiträren ins Verhältnis
zu setzen, wirkt der modalen Differenzierung des wegschiebenden Blicks
entgegen, der gerade durch jene Differenzierung die Einsicht in die
Notwendigkeit einer solchen Stärkung beförderte. Je mehr und
besser das bauende Wegschieben gelingt, desto deutlicher wohl wird auch
diese Einsicht, desto apokalyptischer aber auch die Perspektive, falls
das als notwendig Eingesehene vollständig gelänge.
Unterschiedliche Kulturen gehen und gingen mit dieser Aporie auf
unterschiedliche Weise um, auflösen lässt sie sich nicht.
*
Ohne
die Kompetenz, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen,
hilft das Wegschieben, so sehr es auch gelingen mag, wenig. Als
jederzeit mögliche Unterbrechung von Normalität bleibt dessen
Zugriff immer nah. Jenseits eines bestimmten Lebensalters, das man
deshalb als Lebensmitte ansieht, ist das Näherrücken dieses
Zugriffs sogar ein Moment von Normalität. Fehlt die genannte
Kompetenz, so wird die Grenze von Normalität, die zu deren Begriff
und Realität gehört, zur immer gegenwärtigen Angst.
Wege
aus der Angst werden, umgekehrt, immer Versuche sein, sich zum Zugriff
des Arbiträren ins Verhältnis zu setzen. Ohne den
Rückgriff auf Institutionalisierungen des Unsinnigen wird dies
schwerlich gelingen. Soll dies ohne den Abriss modaler Differenzierung
und dem daraus sich ergebenen Kollaps des Wegschiebens geschehen, so
wird es darum gehen müssen, deren Differenz zu blankem Unsinn
anders zu markieren denn durch Herbeiführung einer in sie
eingebetteten Erfahrung arbiträrer Differenz. Die Wege, auf denen
man dies versucht hat und versucht, lassen sich in Geschichte und
Gegenwart der unterschiedlichen Kulturen studieren. Eine Strategie, die
sich von früh an wohl in den meisten Kulturen findet, wenn auch
mit unterschiedlich zentraler Funktion, ist die Ausformung von
Diskursen, die an die genannten Diskurse der Rechenschaft
anknüpfen und diese auf die vorhandenen Institutionalisierungen
des Unsinnigen hin überschreiten.
Von denen kommen sie,
wie gesagt wurde, zunächst einmal selber her. Von den Diskursen
des Unsinnigen, die zunächst als Diskurse der Rechenschaft
fungierten, haben sie sich mit dem Fortschreiten des Bauens und
Wegschiebens abgelöst und die Logik ausgebildet, mit der das
Unsinnige erst als Unsinniges charakterisiert werden kann. Die genannte
Strategie knüpft nun an diese Abgrenzung, welche diese Diskurse
mit jener Ablösung vollzogen, ohne sie eigens zu thematisieren,
wieder an. Diskurse des Unsinnigen, die vor dieser Ablösung als
Diskurse der Rechenschaft genommen wurden, können nicht unsinnig
sein und gewesen sein wie eine regellos gewählte Lautfolge. Es
muss also Diskurse geben, die anders sinnhaft sind, nicht wie die der
Rechenschaft, aber auch nicht unsinnig.
Diskurse der Rechenschaft,
so kann man den Einsatzpunkt dieser Strategie auch charakterisieren,
lassen sich auf die Nötigung ein, Rechenschaft von sich selber zu
geben. Allein so nämlich, als eben diese Nötigung, kann sich
die Allgegenwärtigkeit der Angst, die mit dem Gelingen bauenden
Wegschiebens, von dem sie Rechenschaft geben und an dem sie kein Fehl
zu finden vermögen, eher zu- als abnimmt, in ihnen und für
sie darstellen. In dem Gelingen, von dem sie Rechenschaft geben, fehlt
offenbar etwas, dessen Fehlen sie aber nicht anzuzeigen vermögen.
Die Angst zeigt es an, nicht aber sie, die Diskurse der Rechenschaft.
Nach deren Kriterien ist, wenn das bauende Wegschieben gelingt, alles
bestens. Darin zeigt sich eine Grenze. Das Gelingen, von dem sie
Rechenschaft zu geben vermögen, ist ausschnitthaft. Sie selber,
als Diskurse der Rechenschaft, sind es ebenso.
Hinter die
Forderung, Rechenschaft zu geben, gibt es an diesem Punkte freilich
kein Zurück. Wenn es ein anderes Gelingen und Misslingen gibt als
das bauenden Hinausschiebens, die Logik der Rechenschaft aber, die von
diesem handelt, jenes nicht erreicht, so bleibt nur, die damit
bezeichnete Grenze zu bestimmen und dann über sie hinauszugehen.
Es geht also um eine Erweiterung des Diskurses der Rechenschaft. Der
muss reich genug sein, um sowohl vom Versuchen bauenden Hinausschiebens
als auch von Versuchen, sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu
setzen, Rechenschaft zu geben.
Rechenschaft hier und dort kann
nicht das gleiche, muss aber dennoch in beiden Regionen Rechenschaft in
einem mehr als nur namensgleichen Sinne sein. Die Erweiterung des
Diskurses der Rechenschaft verlangt mithin zweierlei.
Sie verlangt
die Ausarbeitung eines Diskurses, der Institutionalisierungen des
Unsinnigen, seien es Diskurse oder Praktiken, als verbindlich,
gültig, das von ihnen Beanspruchte tatsächlich
erfüllend, auszuweisen oder aber diesen Anspruch als falschen und
unwahren zurückzuweisen vermag. Mit seiner Hilfe muss es
möglich sein, zwischen unsinnigen Diskursen und Praktiken, die
schlechthin unsinnig, und solchen, die unsinnig nur nach den Kriterien
der Logik des bauenden Wegschiebens sind, zu unterscheiden. Dies wird
nur möglich sein, wenn er uns in die Lage versetzt, über die
Gültigkeit der Markierungen zu befinden, mit denen
Institutionalisierungen des Unsinns beanspruchen, sich von blankem
Unsinn zu unterscheiden. Dieser erste Diskurs wird also nicht mehr und
nicht weniger vorzulegen haben als eine Logik eben dieser Markierungen,
oder wenigstens das Fragment einer solchen. Aufruhend darauf wird er
sich in der Regel selber als diskursive Markierung des genannten
Unterschieds im Blick auf bestimmte Diskurse und Praktiken des
Unsinnigen darstellen. Diese und jene Diskurse und Praktiken, so wird
er dartun, im Unterschied zu vielen anderen, seien wahrhaft in der
Lage, uns zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen, und dies
aus den und den Gründen.
Begleitend dazu verlangt die
Erweiterung des Diskurses der Rechenschaft einen Diskurs, der den
Zusammenhang der Logik der genannten Markierungen mit der Logik
bauenden Wegschiebens entwickelt. Idealiter wäre dabei der
Unterschied dieser beider Logiken als Resultat der inneren
Unterscheidung eines umfassenden Diskurses der Rechenschaft zu
entwickeln, der sich nach diesen beiden Richtungen hin gleichsam
ausfaltet. Rechenschaft nur nach einer dieser beiden Seiten hin oder
nach der Logik einer der Seiten allein wäre dann immer schon
verstanden als unvollständige Rechenschaft, und dies selbst dann,
wenn die Logik der anderen Seite zum Rätsel geworden wäre.
Nachhaltig,
wie man das auch nennen mag, kann das bauende Wegschieben des
Arbiträren und seines Zugriffs nur gelingen, wenn es einhergeht
mit dem Bau von Wegen aus der Angst. Alles hängt dabei ab vom
Gelingen einer Remarkierung des Unterschieds vorhandener
Institutionalisierungen des Unsinns von blankem Unsinn in einer Weise,
die mit einem hohen Grad modaler Differenzierung vereinbar ist.
Misslingt dies, so erzwingt die Angst schließlich Wege, die sich
um diese Bedingung wenig kümmern. Institutionalisierungen des
Unsinns, die dabei sind, in die Region blanken Unsinns hinüber zu
gleiten oder bereits dort angekommen sind, werden von diesem erneut
unterschieden, indem man auf der verblassenden Markierung besteht und
diese so grell wie nur möglich unablässig wiederholt. Unter
der Grelle geht das Verblassen dennoch weiter, weshalb der Erhalt des
Unterschieds allein auf dem fortgesetzten Insistieren ruht.
Die
Dynamik des Verblassens, gegen die sich dieses Insistieren richtet,
wird nach dem Gesagten vom bauenden Wegschieben produziert. So richtet
es sich, je weiter das Verblassen unter der Grelle fortschreitet, desto
drastischer gegen dieses. Während die Akteure mit flackerndem
Blick von einer längst fälligen kulturellen Erneuerung reden,
die nun endlich auf dem Wege sei, charakterisieren Historiker
Ereignisse dieser Art als Kulturbrüche, Atavismen,
Rückfälle ins archaisch Barbarische oder gar als
Ausbrüche des Barbarischen.
Die Resistenz einer Kultur gegen
Einbrüche dieser Art ruht auf dem ihr verfügbaren Potential
zu Erweiterung des Diskurses der Rechenschaft im genannten Sinne.
Verkürzt gesagt, meint dies ihr Potential zur diskursiven
Markierung des Unterschieds vorhandener Institutionalisierungen des
Unsinns von blankem Unsinn. Spuren dieses Potentials sind eben die
Texte, die wir gemeinhin studieren, wenn wir uns für das Innerste
und Eigenste einer Kultur interessieren. Sie handeln davon, so
charakterisiert man das oft, wie man die Welt sah, das Ganze, und sich
selber in ihm. Über das Ganze aber können wir, da wir in ihm
sind, nicht reden wie über Dinge, Personen, Sachverhalte und
Ereignisse, die wir vor uns haben. Die Sprache über diese
ist uns vertraut. Ausgehend von ihr ist jede Rede, die nicht davon
handelt, und so auch die vom Ganzen, unsinnig. Das genannte Potential
zeigt sich in der Anstrengung, dennoch auf der Möglichkeit des
Redens von Anderem zu beharren und diese auch zu kultivieren. Die so
entstehenden Texte und Diskurse werden dann zum Medium, in das man sich
begibt, um sich zum Arbiträren ins Verhältnis zu setzen.
*
Am
weitesten hat es mit dem bauenden Wegschieben der Westen und die von
ihm geprägte oder nach ihm sich modellierende Welt gebracht.
Für die dort Lebenden wird es, im Durchschnitt wenigstens,
später ernst als anderswo. Am Anfang des hier sich ausformenden
Diskurses der Rechenschaft steht die Philosophie in dem globalen Sinne,
in dem sie es heute nicht mehr ist. Durch vielerlei Umbrüche
hindurch kommt es dann zu einer Ausdifferenzierung nach zwei Seiten
hin. Die eine Seite ist bestimmt durch das Prinzip der Spezialisierung.
Man schließt Vieles aus, um sich jeweils auf weniges zu
konzentrieren. Sach- oder auch Problemregionen werden definiert und
dann einzeln bearbeitet. Es entsteht, was wir als Fachdisziplinen oder
auch Einzelwissenschaften charakterisieren, jede mit ihren besonderen,
dem von ihr behandelten Gebiet angepassten Standards der Rechenschaft.
Die andere Seite ist bestimmt durch die Frage nach der Einheit in all
dem so Unterschiedenen, nach einem Durchgängigen, nach der
Rechtmäßigkeit und eventuellen Grenze des Unterscheidens,
nach dem Woher und Wohin von allem und in einem damit immer auch mit
der Frage nach der Berechtigung solchen Fragens und den hierfür
geltenden Standards der Rechenschaft. Philosophie in dem uns heute
vertrauten Sinne, wenn es so etwas überhaupt gibt, entsteht so.
Zu
den formativen Charakteristika des westlichen Diskurses der
Rechenschaft gehört die Tendenz, die Herstellung der Erfahrung
arbiträrer Präferenz als Option der genannten Markierung so
weit wie nur möglich zurückzudrängen. Andere Traditionen
versuchen stattdessen, sie umzugestalten und so einzubinden, dass sie
mit modaler Differenziertheit vereinbar wird. Dies gilt etwa für
Ostasien. Meditative Übungen und die durch sie
herbeigeführten Erfahrungen haben für die ostasiatische
Philosophie einen legitimen Ort, für die westliche Philosophie
dagegen keinen oder höchstens einen prekären. Der westliche
Diskurs der Rechenschaft zielt auf eine drastische Privilegierung des
Diskursiven.
Die Industrialisierung brachte einen Schub
bauenden Wegschiebens, der alles bis dahin Vorstellbare übertraf.
Die Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung insbesondere
innerhalb des letzten halben Jahrhunderts sagt dazu alles.
Spätestens mit der Zündung der ersten Wasserstoffbombe wurde
aber auch deutlich, dass jede Steigerung bauenden Wegschiebens eine
neue Form der Nähe des Weggeschobenen produziert. Zu den goldenen
Jahren des Nachkriegsbooms gehört die Angst vor einem Atomschlag,
möglicherweise auch einem, der sich aus Missverständnissen
ergibt. Der Supergau, mit dem immer zu rechnen war und ist, hat in
einer schleichenden Variante längst begonnen. Die Mittel und
Instrumente, welche das gesteigerte Wegschieben des Arbiträren
brachten, sind vollständig nicht zu beherrschen. Der westliche
Diskurs der Rechenschaft, so wie er sich innerhalb der letzten
Jahrhunderte entwickelt hat, ist auf die neue Kompaktheit der Angst,
die unsere Gegenwart charakterisiert, nicht vorbereitet.
Die Erfolge
bauenden Wegschiebens erzeugten eine Art Hybris der ihnen
entsprechenden Dimension des Gesamtdiskurses. Bereinigend, wie es wohl
gemeint war, richtete der sich gegen sich selbst. Diskurs- und
Denkmittel der Einzelwissenschaften prosperierten. Das Insistieren
darauf, da sei noch Anderes zu sagen, wurde kleinlaut. Denk- und
Diskursmittel, die es vermocht hätten, die Anschlussfähigkeit
der vorhandenen Institutionalisierungen des Unsinns zu erhalten oder zu
erneuern, deren Unterschied zu blankem Unsinn also auf eine Weise zu
markieren, die den Diskursen bauenden Wegschiebens an Gewicht
entspricht, gelangen nicht.
Illustrativ für dieses Misslingen
und dessen weitere Steigerung gerade auch in der Zeit, in der die Angst
zunehmend kompakter wurde, ist die Rezeption des frühen
Wittgenstein. Nach der so genannten Standard-Interpretation gilt der
Bereich dessen, wovon man reden kann, als sehr schmal und jede
Überschreibung von dessen Grenzen als Produktion von Unsinn.
Dennoch gebe es über das Sagbare hinaus noch etwas. Von dem
könne man nicht reden, wohl aber schweigen. Die Markierung des
Unterschieds von Unsinn und blankem Unsinn hat damit ihren Nullpunkt
erreicht. Institutionalisierungen des Unsinns werden zu blankem Unsinn,
sobald wir von ihnen reden. Ins Verhältnis zum Arbiträren
könnten wir uns mit ihrer Hilfe nur schweigend setzen. Eine
weitgehend in den 90er Jahren ausgearbeitete Interpretation von
Wittgensteins
Tractatus, repräsentativ zusammengefasst in dem Band
The New Wittgenstein,
betrachtet das Festhalten an einem Unsagbaren als ein Ausweichen vor
den wahren Konsequenzen von Wittgensteins therapeutischem
Philosophieren. Unsinn sei Unsinn und nichts außerdem. Nach dem
Misslingen einer Sprache zur Markierung des Unterschieds von Unsinn und
blankem Unsinn wird damit die Aufgabe der Ausarbeitung einer solchen
eingezogen, die Bewahrung oder Erneuerung der Anschlussfähigkeit
vorhandener Institutionalisierungen des Unsinns als Problem gleichsam
weggepustet.
Die kulturelle Fragmentierung und Zersplitterung,
so wie sie sich als Kehrseite des Prozesses der Globalisierung ergab,
wird oft mit der Suche nach Identität in Verbindung gebracht.
Daran wird sicherlich etwas sein. Die Frage aber ist, was zur Suche
nach Identität treibt. Nach dem Gesagten darf man annehmen, dass
es die Suche nach Wegen aus der Angst in einer Lage ist, die
Institutionalisierungen des Unsinns diskursiv nicht vor dem
Hinübergleiten ins schlechthin Unsinnige zu bewahren vermag. So
greift man nach verblassenden Markierungen und sucht deren Verblassen
durch grelle Repetition und Inszenierungen aller Art zu bremsen oder zu
überdecken.
Es ist der skizzierte Mechanismus der
Kulturbrüche. Die müssen nicht immer so aussehen wie man sie
sich vorstellt. Sie können eher harmlos sein, wie der Tribalismus
religiöser, politischer und anderer Jugendsekten. Kritisch ist
immer die Frage, ob die gewählten Inszenierungen für die
Beteiligten selber hinreichen, um das Verblassen der betreffenden
Markierung zu stoppen und damit einen Weg aus der Angst zu
eröffnen. Je weniger dies gelingt, desto größer die
Wahrscheinlichkeit, dass es zu Ausbrüchen von Gewalt und damit zum
Kulturbruch in seiner allzu vertrauten Variante kommt.
Kulturbrüche sind und bleiben freilich auch die eher harmlosen
Varianten. Mit ihnen wird man auf absehbare Zeit wohl leben
müssen.
Die beschriebene Lage hat noch einen zweiten
Notausgang aus der Angst hervorgebracht. Es ist der Weg derer, die
bereits ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass wir uns bei
dem Bemühen, uns zum Arbiträren ins Verhältnis zu
setzen, auf keinerlei institutionalisierte Form verlassen können.
Mithin ist es der einzig dann noch verbleibende Weg, der eben der
Unmittelbarkeit, der Herstellung einer Erfahrung arbiträrer
Präferenz. Der geläufige Name für diesen Weg ist
Sucht,
die Reduktion allen Wollens und Begehrens auf Eines, das Plattwalzen
von allem sonst zum störenden Rest oder bestenfalls zum Mittel, in
den Genuss des Einen zu gelangen. Der Konsum psychoaktiver Substanzen
ist nur eine von vielen Varianten dieses Wegs. Es kann, wie man
weiß, auch das Einkaufen sein, das Autofahren oder das Surfen im
Internet, schlechthin alles. Auch dieses Zusammensinken des Reichtums
und der Buntheit der Welt zum Rest auf dieses oder jenes Eine hin wird
uns wohl noch lange begleiten.
*
Solange
Wege aus der Angst nicht gelingen, bleiben nur Notausgänge wie
Sucht und Kulturbruch. Ob es je Auswege geben wird und wie die dann
aussehen mögen, ist nicht abzusehen. Gegenwärtig deutet
nichts darauf hin.
Jussuf geht ins Suppenzelt. Drüben am
Strand ist auch die letzte Zehe eingeölt. Der mit der Nadel
drückt sich, was immer darin sein mag, ins Blut.
Literatur
ALICE CRARY and RUPERT READ (Ed.), The New Wittgenstein (London: Routledge, 2000).
ROBERT L. DUPONT, The Selfish Brain: Learning from Addiction (Washington, DC.: American Psychiatric Press, 1997).