Raphael Gross
im
Gespräch mit Renate Solbach
______________
Vom
Wandel
der Gedenkkultur
Archiv und
Gedenken
Solbach: Eine
eher persönliche Frage zum Beginn: Sie haben in diesem
Frühjahr die Leitung des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt
übernommen. Sie sind Direktor des Leo Baeck Instituts in
London und seit Februar vergangenen Jahres Leiter des
Jüdischen Museums Frankfurt. Der Zusammenhang dieser
Funktionen liegt auf der Hand. In welcher Weise – und in
welchem Maße – ergänzen sie sich zu einer
sinnvollen Einheit?
Gross:
Zunächst handelt es sich um drei Institutionen, die
unterschiedliche Aufgaben haben. Das Leo Baeck Institut erforscht
deutsch-jüdische Geschichte und Kultur, das Jüdische
Museum informiert mit seiner Dauerausstellung über
jüdisches Leben und stößt mit
Einzelausstellungen Diskussionen an, außerdem
pflegt es sein umfangreiches Archiv, und das Fritz Bauer Institut ist
gegründet worden zur Erforschung des Holocausts und seiner
Nachgeschichte. Gleichzeitig gibt es aber große inhaltliche
Schnittmengen. Das Museum hat immer wieder Ausstellungen gemacht, die
mit Themen des Nationalsozialismus, des Antisemitismus und der
Verfolgung zu tun haben. Auch das Fritz Bauer Institut hat
Ausstellungen gemacht, insofern gibt es da ganz viele
Überschneidungen. Was die pädagogischen Arbeiten
anbelangt, gibt es jeweils Schwerpunkte in den verschiedenen
Institutionen, die meines Erachtens gut zusammen passen.
Darüber
hinaus gibt es auch Schwerpunkte im Forschungsbereich, der sich nach
meiner Einschätzung in allen drei Institutionen in den letzten
Jahren verstärkt auf die Zeit der Nachkriegsgeschichte
verlagert hat und so gibt es auch da eine gute Chance der
Zusammenarbeit. Die Politik hat das mit großem Engagement
unterstützt, so dass es auch neue Stellen in diesen
Institutionen gibt.
Solbach: Museum,
Archiv, öffentlichkeitsbezogene Projektforschung: drei Formen
der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen
Judenverfolgung und -vernichtung, in denen der Umgang mit
›Dokumenten‹ und
›Zeugnissen‹ an erster Stelle steht. Es hat in
der Vergangenheit verschiedene Diskussionen um beide Begriffe gegeben
– ich erinnere an Hannah Arendts und Jean-François
Lyotards Ausführungen über Paradoxa im Umgang mit der
Hinterlassenschaft einer Politik der Auslöschung, die auch die
tendenzielle Auslöschung der Vernichtungsspuren einschloss.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat in seinem Buch Was
von Auschwitz bleibt (italienische Originalausgabe 1998, dt.
2003) versucht, diese Überlegungen, etwa die Lyotards von
1983, dass es keine ›vollständige‹
Zeugenschaft seitens der Überlebenden geben könne,
wieder aufleben zu lassen –
überflüssigerweise, wie manche meinen.
Überführt der tägliche intensive Umgang mit
den Zeugnissen die philosophische Reflexion über die
»Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen«
(Agamben), der Irrelevanz?
Gross:
Ich bin Historiker und diese drei Institutionen sind stark von
historischer Methodologie geprägt. Die Diskussionen, die Sie
erwähnen, sind davon sehr weit entfernt. Die Historiker
sprechen von Quellen der ›Oral History‹, wenn sie
Interviews machen, sie sprechen nicht von Zeugnissen oder Zeitzeugen,
insofern ist diese ganze Aufladung oder Überhöhung
wie sie bei Agamben und bei vielen anderen Wissenschaftlern oder
Theoretikern vorkommt, verfehlt. Die Historiker wehren sich eher
dagegen. Es ist selbstverständlich, dass Quellen der Oral
History immer partiell sind und immer eine bestimmte Perspektive
aufweisen, genauso wie schriftliche oder literarische Quellen. Als
Historiker kann und soll man sie dementsprechend mit kritischer Distanz
benutzen. Insofern denke ich, dass diese
›Überhöhung‹ durch die
Theoretiker, die ›die Zeugnisse zum Sprechen
bringen‹ wollen, eher verunklart. Die Diskussion darum
erscheint mir vom Umgang mit den realen Quellen aus gesehen ein
bisschen künstlich.
Täglich
beschäftige ich mich zum Glück nicht mit den
Zeugnissen. Ich denke, dass es Doktoranden gibt, die sich zum Teil
über lange Zeiten hinweg täglich mit ihnen
auseinandersetzen. Das ist für viele nicht einfach, aber mehr
aus psychologischen Gründen. Je mehr man sich mit diesen
Quellen beschäftigt, desto grauenhafter erscheinen einem die
Ereignisse, über die sie berichten.
Solbach:
Aber das heißt, dass sie in diesen Standpunkten mehr politische Statements sehen als historische Theorien.
Gross:
Ja, gerade bei jemandem wie Agamben, der ja doch mit einer gewissen
Verachtung der Geschichtsschreibung gegenübersteht, ist es
nicht ganz zufällig, wenn er zum Beispiel darüber
schreibt, dass das der Raum außerhalb der Gesetze
sei. Das ist für mich Unsinn, denn ich
weiß, wie viele Kommandanturbefehle es für jedes
Lager gegeben hat und wie genau die Regelungen von seiten der SS
gewesen sind. Das interessiert ihn aber gar nicht. Insofern habe ich
tatsächlich das Gefühl, dass es sich um einen sehr
abgehobenen Diskurs handelt, der für manche Leute
theoretisierend interessant sein mag, aber keine enge
Anschlussfähigkeit an die reale historische Forschung hat.
Solbach: Die Ausdrücke Holocaust und Shoa
stehen für zwei Kulturen und zwei unterschiedliche Formen des
Gedenkens an die nationalsozialistische Untat – die
christliche und die jüdische. Dagegen nimmt es eine eher
laizistisch geprägte Öffentlichkeit mit dem
Unterschied nicht genau und verwendet sie weitgehend synonym. Wie
different sind die beiden Gedenkstränge heute? Wie intensiv
kommunizieren sie miteinander?
Bei dieser Frage
geht es mir nicht so sehr um eine Diskussion der beiden Begriffe,
sondern um Ihren Alltag. Man hört in den Medien immer wieder
Zuschreibungen wie »die jüdische Seite«
oder »die deutsche Seite« und ähnliche
Verallgemeinerungen. Wie sieht das in der Realität, in Ihrer
Arbeit aus? Wie verzahnt sind ›diese Seiten‹
inzwischen? Wie stehen diese Konzepte gegen- oder miteinander –
vielleicht auf eine Weise, die wir so gar nicht mitbekommen?
Gross:
Zuerst zur begrifflichen Frage, die Sie am Anfang stellen. Ich glaube,
dass in den achtziger und neunziger Jahren bestimmte Fronten geherrscht
haben. Ich war wahrscheinlich zu lange in England und bin zu anglophil,
als dass ich mich davon groß berühren lasse. Ich
benutze den Begriff, der für mehr Menschen
verständlicher ist, und das ist der des Holocaust. Den Begriff
der Shoa zu benutzen, erscheint mir artifiziell, weil ich den
Eindruck habe, dass ein großer Teil derjenigen Menschen, die
ich mit meinen Arbeiten und in den von mir geleiteten
Institutionen erreichen will, dann nicht versteht, wovon ich
spreche, und das wäre ein schwerwiegender Nachteil.
Inhaltlich
gesehen, also von der historischen Semantik her, sind beide Begriff
höchst problematisch, sowohl derjenige der Shoa wie derjenige
des Holocaust. Insofern sind beide immer wieder
erklärungsbedürftig. Ich bin auch sehr skeptisch
gegenüber Ihrer Ausgangsthese, dass es sich bei dem einen um
eine christliche und bei dem anderen um eine jüdische
Herangehensweise an die Vernichtung der Juden in Europa handelt. Ich
habe den Eindruck, dass es gerade in Deutschland eher eine politische
Marke gewesen ist, die man gesetzt hat, wenn man von Shoa gesprochen
hat und nicht von Holocaust wie alle anderen. Man wollte sich damit
reflektierter zeigen. Ich sehe auch nicht, dass das zum Beispiel
für die amerikanisch- jüdische Geschichtswissenschaft
zutrifft, ich glaube im Gegenteil, dort hat sich der Begriff Holocaust
absolut durchgesetzt.
Ansonsten denke ich, dass die Unterschiede des »Wer
spricht?« in der engeren Forschung immer weniger wichtig
werden, im politischen Bereich aber immer stärker
auseinandergehen. Wir beobachten eine gewisse Paradoxie: Je
stärker die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in
Deutschland ist, desto größer wird die Differenz
zwischen dem, was die Täter- oder Opferperspektive
genannt wird. In den fünfziger Jahren wäre das
wahrscheinlich noch nicht so stark gewesen, von den achtziger Jahren
angefangen wird das immer stärker und stärker.
Erinnerungskultur
und historischer Wandel
Solbach:
Das wiedervereinigte Deutschland ist stolz auf seine
›Erinnerungskultur‹. Die Paulskirchen-Rede Martin
Walsers von 1998, in der von der ›Moralkeule‹
Auschwitz die Rede war, scheint weitgehend vergessen oder absorbiert zu
sein. Trügt dieses Bild oder haben die Deutschen ihren Frieden
mit den Bildern einer Vergangenheit gemacht, die den Gegenpol zu jeder
Art friedlichen Erinnerns bilden?
Gross:
Also zunächst ein Wort zum Begriff
›Erinnerungskultur‹, den ich immer abgelehnt
habe, weil ich denke, dass dieser Begriff etwas beschönigt. Es
geht um die Auseinandersetzung mit millionenfachem Mord und die Art und
Weise in der das geschieht. Da von Erinnerungskultur zu sprechen, hat
für mein Empfinden etwas Deplatziertes. Gerade wenn man dann
auch noch sagt, man sei stolz auf diese Erinnerungskultur. Man kann
vielleicht sagen, dass man Kompensation oder Gerechtigkeit für
richtig hält. Man kann sagen: »Wir stehen dahinter,
dass es Reparationen gab, dass es Zahlungen an Opfer oder Repatriierung
von Eigentum gab und immer noch gibt.« Stolz zu sein auf die
Art, wie man über diese Morde redet, halte ich für
unangemessen.
Selbstverständlich kann man
Erregung in der Öffentlichkeit nicht wiederholen, gleichzeitig
denke ich aber, dass das, was hinter dem Streit um Walsers Rede stand,
so tief ist, dass es mehr oder weniger zu jeder Zeit wiederholbar ist,
wenn auch immer wieder aus anderem Anlass. Ich habe versucht, das
zu analysieren, indem ich zu zeigen versucht habe, in welcher Weise
sich bei Walser so etwas wie ein Fortsetzen an nationalsozialistisches
Denken erinnernder ›moralischer‹ Argumentation
niederschlägt. In eben dieser Binnenmoral, dieser partikularen
Moral kommen Juden nicht vor, das heißt, das
›Wir‹, das diese – wie Sie es nennen –
Erinnerungskultur trägt, schließt gleichzeitig
systematisch alle aus, die nicht zum ›Wir‹ der
Täter gehören. Deshalb hat sich die Erregung zu
dieser einzelnen Sache ein wenig abgekühlt, wobei allerdings
die Eröffnung unserer Ausstellung zu Ignaz Bubis wiederum eher
das Gegenteil dokumentiert hat. Es gab ja eine große
Aufregung. Ich sehe nicht, dass in diesen Dingen eine schnelle
Veränderung stattfindet, sondern eine schleichende. Das
Interessante ist eher, wie schnell ganz ähnliche
Konstellationen immer wieder greifen können in dieser
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit den
Naziverbrechen in Deutschland, auch in den nachfolgenden Generationen.
Solbach:
Nach der sogenannten ›zweiten Generation‹ der
Kinder der ›Opfer‹ und
›Täter‹ rückt seit einigen
Jahren die ›dritte Generation‹ in
maßgebliche gesellschaftliche Stellungen ein. Halten Sie nach
›Kollektivschuld-‹ und
›Verstrickungsthese‹ als umstrittenen
Schuld-Konstrukten der vierziger und der sechziger Jahre eine
neue Form der Generationshaftung für denkbar? Oder
wäre dies eine Generation ›frei von
Schuld‹ und ›ohne Scham‹?
Bei
dem Wort ›Verstrickungsthese‹ denke ich zum
Beispiel an das Buch von Bernhard Schlink Der Vorleser
und dessen Rezeption bei Kritikern und in der Öffentlichkeit.
Gross:
Konkret in Bezug auf Schlink, wenn Sie mich darauf ansprechen,
würde ich sagen, das mich in dem Buch nicht diese Verstrickung irritiert hat, sondern die Stereotypen, die er
aufgreift. Auf der einen Seite steht diese KZ-Wächterin, die in dem
Buch doch als ein Opfer dargestellt wird. Sie kann nicht lesen und
schreiben, sie hat viele Schamgefühle. Das alles treibt sie
dazu, sich in dem Prozess nicht wirklich zu verteidigen, das bringt sie
überhaupt erst dazu, an diese Stelle zu kommen, an der sie
dann plötzlich gelandet ist durch Mächte, die sie
nicht kontrollieren kann. Auf der einen Seite also der deutsche
Kleinbürger als Opfer von Nationalsozialismus und Juden und
auf der anderen Seite dann dieses überlebende
Mädchen, diese Jüdin, die am Ende als
mächtige, weise Psychoanalytikerin mit Geld und in
New York endet und die Geste der KZ-Aufseherin zurückweist,
das Geld nicht nimmt, dafür aber einen Fetisch, diese
Schatulle, für sich behält. Das hat mich an
dem Buch irritiert.
Das andere – ich
denke, dass es weltweit eine verstärkte Diskussion
über das gibt, was man vielleicht
›intergenerationelle Verantwortung‹ nennen kann.
Sei es in Australien, sei es in Amerika oder in postkolonialen
Strukturen, wo die Frage besteht, in welcher Weise da bestimmte
Verantwortlichkeiten entstehen. Das hat nichts mit Scham oder Schuld zu
tun, sondern damit, dass wenn man sich an einem bestimmten Ort befindet
und ein gewisses Erbe materieller Natur aufnimmt, an Strukturen, an
Gewachsenem, an Gütern, man sich fragt, inwieweit man eine
kompensatorische Gerechtigkeit einrichten soll gegenüber
denjenigen, die in der Vergangenheit die Verlierer waren oder deren
Nachfahren. Da gibt es dann politische Streitigkeiten darüber,
wie weit das gehen soll, wieviele Jahrhunderte man zurückgehen
soll oder nicht. Zum Beispiel die Herero und Nama, die von den
Deutschen in Namibia massakriert wurden, die in den Tod, in die
Wüste geschickt worden sind: Sollen deren Nachkommen heute
noch das Recht haben, eine Kompensation zu verlangen oder nicht? Dabei
geht es dann nicht um Scham, sondern um die Frage, wieweit will man
zurück gehen mit den Gerechtigkeitsforderungen? Was kann man
leisten, wieviel Gerechtigkeit will eine Gesellschaft widerfahren
lassen?
Solbach: Im Begriff des
›Traumas‹, hin und wieder sinnreich veredelt
durch das Wort ›historisch‹, fließen
seit einigen Jahren Täter- und Opferperspektiven mit
familiären Folgekonstellationen zusammen. Das hat zum Teil mit
der klinischen Herkunft des Trauma-Konzepts zu tun, mit seiner
Erprobung an Vietnamkriegs-Veteranen in den siebziger Jahren, aber auch
mit der gewandelten ›Erinnerungslandschaft‹ im
Osten Europas seit der Beendigung des Ost-West-Konflikts.
Können Sie, angesichts intensiver Kenntnis der
Lebensläufe und Selbstdeutungen von Überlebenden, dem
Begriff etwas abgewinnen? Oder deutet sich hier ein neuartiges
Helfersyndrom an, das die historischen Verbrechen und Katastrophen als
eine Art soziopsychischer Benachteiligung der Entronnenen aus
posthistorischer Warte kommentiert?
Gross:
Also zunächst würde ich Ihnen widersprechen, ich
glaube, dass Täter- und Opferperspektive nie
zusammenfließen, sondern dass die ganz unterschiedlich sind.
Solbach:
Ich meine auch nicht, dass das eine Tatsache ist, sondern dass das in vielen Kontexten so
gehandhabt wird.
Gross:
Das mag sein, dem würde ich dann auch dort jeweils
widersprechen, denn dies ist eine Verzerrung. Das sind und bleiben ganz
unterschiedliche Perspektiven. Ich bin Historiker und nicht
Sozialarbeiter oder Sozialpsychologe, darum beantworte ich Ihre Frage
aus der Sicht meines Faches. Ich weiß, dass die Diskussion um
rechtliche Folgen eines Traumas letztendlich sehr stark aus dem
Versicherungsrecht kommt. Es ging darum, ob Menschen, die nachweisen
konnten, dass sie als psychisches Unfallopfer bei einem
Eisenbahnunglück oder ähnlichem dabei waren,
entschädigt werden sollten. Soweit ich weiß, ist
dieser Begriff bereits vor dem ersten Weltkrieg in der Diskussion
gewesen. Es mag sein, dass man anhand dieser psychohistorischen
Ansätze gerne über Trauma bei Tätern und bei
Opfern und in Familien redet und dann so ein Schwamm daraus wird, der
verhindert, dass man historische Urteile und Feststellungen treffen
kann. Das wäre für mich als Historiker ein Grund,
sehr vorsichtig mit diesen Begriffen umzugehen. In einem
therapeutischen Umfeld mag das eine ganz andere Bedeutung haben, dazu
habe ich kein Urteil.
Jüdische
und deutsche Nation
Solbach:
Jahrzehntelang galten die deutsche und die jüdische Nation als
– unterschiedlich –
›beschädigte‹ oder
›versehrte‹ Nationen, die dauerhaft durch die
Folgen des Mordens in ihrem Selbstverständnis und ihren
Handlungsspielräumen bestimmt wurden. Seit dem Ende der
Nachkriegszeit verschieben sich die Parameter. In einer
veränderten Welt scheint von der staatstragend gewordenen
Erinnerung kein Handlungsdruck mehr auszugehen. Wo dergleichen noch
versucht wird – seinerzeit geschehen seitens des deutschen
Außenministers im Kosovo-Krieg –, liegt der
Verdacht der Instrumentalisierung obenauf. Gibt es ein politisches
Gedenken, dem keine Politik mehr entspricht?
Gross:
Zunächst muss ich den bei Ihnen angedeuteten Vergleich
zwischen der deutschen und der jüdischen Nation in Bezug auf
die Ereignisse deutlich zurückweisen. Ich denke, dass das zwei
ganz unterschiedliche Sachverhalte sind. Juden sind ermordet worden von
Deutschen und daraus ergeben sich historische Tatsachen mit Folgen und
umgekehrt gibt es für Deutsche nach 1945 die
Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass diese Morde geschehen sind.
Daraus entsteht dann innerhalb der deutschen Diskussion die Frage, wie
es zu diesen Morden kommen konnte, welche Konstellationen dazu
führten. Dass es in Deutschland bis in die Gegenwart hinein
eine hohe Gewaltbereitschaft gegen Ausländer und all
diejenigen gibt, die man nicht zur deutschen Nation zählt, zeigt
meines Erachtens, dass die Analyse dessen, was da passiert ist,
weitergehen muss, dass sie für den deutschen Kontext sehr wichtig
und noch
lange nicht abgeschlossen ist. Wieweit man das dann auf
außenpolitische Überlegungen
überträgt, dazu kann ich mich nicht
äußern, das ist nicht mein Bereich. Aber ich bin
überzeugt von der Analyse, dass es immer noch sehr starke
Verbindungslinien gibt bei dem, was innerhalb Deutschlands passiert
ist, gerade nach der Vereinigung. Ich möchte auf diese
Gewaltbereitschaft hinweisen, die man sieht, und dass immer noch
Erklärungsbedarf vorhanden ist, ehe man von so etwas wie
Instrumentalisierung dieser Verbrechen reden oder sie
instrumentalisieren sollte.
Solbach:
Im Eingangsbereich des Holocaust Memorial Museums in Washington stehen
Worte des amerikanischen Präsidenten Clinton, die die
Menschenrechte und die Erfahrung des Holocaust zusammenführen
in einer Selbstverpflichtung der Nation, dass so etwas nie wieder
geschehen dürfe. Es gibt also auf der einen Seite eine
politische Gedenkkultur, der aber auf der anderen Seite nicht mehr
unbedingt die Politik des Landes entspricht.
Gross:
Das mag so sein. Ich will dennoch Ihrer These widersprechen, dass es
eine gewisse ähnliche Reaktionsweise der
deutschen und der jüdischen Nation gäbe, wie Sie es nennen.
Gleichzeitig denke ich, dass die Ursachen, die zum Holocaust
geführt haben, immer noch von so großer Relevanz
sind, dass ich mich mehr darauf konzentrieren würde, das
genauer anzuschauen, als auf etwaige Instrumentalisierungen für
die Außen- oder Innenpolitik zu achten. Das mag sicher immer geschehen,
lässt sich aber auch nicht verhindern.
Solbach:
Der Holocaust gilt vielen in Deutschland als ›negativer
Staatsmythos‹. Gemeint ist damit – meist mit
kritischem Zungenschlag –, dass die deutsche Nation nur
›im Gedenken an Auschwitz‹ als politische
Identifikationsgröße in Betracht kommen darf. Ist
eine solche Selbstverpflichtung für Generationen leb- und
gestaltbar, die lebensgeschichtlich weder unmittelbar noch mittelbar
mit dem Geschehenen in Berührung stehen? Allgemeiner gefragt:
lässt sich ein negativer Staatsmythos –
vorausgesetzt, es handelt sich nicht bloß um eine
revisionistische Fiktion – auf Dauer stellen?
Gross:
Zum einen kann man natürlich sagen: eine kritische
Ausgangsposition muss nicht unbedingt etwas Negatives sein. Sie kann ja
auch dazu dienen, dass man bewahrt wird vor Missbrauch von Macht. Was
mir nicht so gefällt, ist die Begrifflichkeit, die Sie
benutzen: ›Negativer Staatsmythos‹,
›Auschwitz‹. Ich bin Historiker, ich
wäre immer sehr vorsichtig. Auschwitz ist einfach eine
historische Tatsache und man darf das nicht als Mythos
verwässern. Da haben wir wieder diese Agambentheorie,
vielleicht auch hier in dieser Fragestellung. Das ist kein Mythos, nur
Revisionisten würden da von Mythen reden, sondern es sind
einfach historische Fakten ...
Solbach:
... es steht ja auch gewissermaßen in
Anführungszeichen und ist in dem Sinne gemeint, wie man zum
Beispiel von Gründungsmythen der Staaten spricht.
Gross:
Ob Sie es in Anführungszeichen setzen oder nicht, das
verändert gar nichts. Es ist meines Erachtens kein Mythos und
insofern ist es wichtig, dass man sich überlegt: Das ist eine
historische Wirklichkeit und wie geht man mit der um, denn die kam
irgendwie zustande und zwar nicht durch Zufälle, sondern durch
Entscheidungen von Tausenden von Menschen, die das gewollt haben. Die
Frage ist, was diese Menschen zu diesen Entscheidungen gebracht hat und
wie eine Politik, eine Verfassung in Deutschland nach 1945 eine
Stabilität erreichen kann, die so etwas
verunmöglicht. Insofern glaube ich, kann man sagen, es gibt so
etwas wie eine ungeschriebene Verfassung in Deutschland, dass man
möchte, dass das nicht wieder passiert. Man möchte
das vielleicht so sehen, aber es ist nicht dasselbe, wie wenn man von
Mythos eines Staates spricht, wie es die Verfassungstheorie gerade in
der konservativen Ausrichtung und auch in der faschistischen
Tradition in Deutschland sehr gerne als absolut unabdingbar
für jedes Gemeinwesen hingestellt hat.
Solbach:
Eine Frage, die auf den ersten Blick bizarr wirkt: Gibt es
überhaupt noch Nationen? Sind z. B. die heutigen Nationen
Europas nicht viel eher vergleichbar mit der bayerischen,
württembergischen etc. Nation im frisch vereinten Deutschen
Reich von 1871? Anders gefragt: Gibt es noch souveräne
Akteure, die zugleich Nationen sind? Ist der Welthegemon
USA noch eine Nation?
Gross:
Zum einen ich habe das Glück gehabt, in Cambridge ein Jahr
lang bei Ernest Gellner zu studieren, der einer der Theoretiker des
Nationalismus ist so wie Eric Hobsbawm oder Anthony Smith. Es gibt eine
große politische, politologische Literatur zum modernen
Nationbegriff und was man darunter versteht. Es gibt den Begriff der
›United Nations‹, wo sehr viel unter Nation
fällt, was einem engeren Begriff nicht mehr entsprechen
würde, wie man ihn im 19. Jahrhundert bei deutschen
Nationalisten gepflegt hat, die aus dem liberalen Lager kamen. Ich
denke, ob man vom ›Welthegemon‹ USA spricht, hängt immer von den
jeweiligen Konstellationen ab. Wenn Europa stärker
wäre, wären die USA schwächer, das ist aber
nicht unbedingt eine Frage, die mit dem Begriff des Nationalstaates zu
tun hat. Was deutlich ist in Bezug auf Europa: In dem Moment, in dem
das Wort ›Verfassung‹ von den einzelnen
Nationalstaaten auf Europa übertragen werden sollte, wurde der
Widerstand heftig. Das heißt, obwohl die
Maastricht-Verträge von der Substanz her weitgehender waren
als die späteren sogenannten Verfassungsvorschläge,
hat es in dem Moment, in dem das Wort ›Verfassung‹ auftauchte, in
Frankreich und vielen anderen Ländern ein deutliches Nein
gegeben. In England hat man es gar nicht so weit kommen lassen. Ich bin
mir nicht sicher, ob wir schon von einer postnationalen Phase reden
können, sondern ich habe das Gefühl, da gibt es
Kontinuitäten.
Solbach:
Es findet aber doch so etwas wie ein Austausch der
Bevölkerungen statt. Wenn es zum Beispiel hier in Deutschland
eine große Zahl muslimischer Mitbürger gibt, dann entspricht
dem ein Problem. Auf der einen Seite muss man sie integrieren, aber
auf der anderen Seite kann man diese Menschen nicht auf bestimmte Dinge
verpflichten, die mit Fehlern oder Verbrechen einer ehemaligen
deutschen Nation zusammenhängen.
Gross:
Migration hat es in der deutschen Geschichte immer gegeben und die
Vorstellung, dass es so etwas wie eine homogene deutsche
Nation gibt, war immer – da würde ich den Begriff
verwenden – ein Mythos. Insofern ist das, was heute
stattfindet, sehr vergleichbar mit ähnlichen
Wanderungsbewegungen. Es ist sicher so, dass in den USA solche
Wanderungen vom politischen
Gemeinwesen anders aufgenommen werden können, weil dort die Idee des Bundesstaates wesentlich
stärker ist und insofern auch viel flexibler damit umgegangen
werden kann. Das hat aber viel mit Dingen zu tun, in denen ich mich
nicht so gut auskenne: mit sozialer Gerechtigkeit, mit Sicherheiten,
mit der Frage, ob es sogenannte Anciennitätsrechte gibt. Was
bedeutet es, wenn ich irgendwo neu hinzu komme? Erhalte ich dieselben
sozialen Bedingungen wie jemand, der vierzig Jahre eingezahlt hat oder
nicht? Da beginnen dann natürlich soziale Spannungen, die in
den USA anders geregelt werden und wo man vielleicht weniger dieser
gemeinschaftlich verwalteten Vermögen beanspruchen kann, wenn
man hinzukommt. Man ist stärker auf sich gestellt und das
ermöglicht dann vielleicht auch eine bessere – wie Sie es
nennen – Integration, einfach eine spannungsärmere
Situation.
Monumentale
Postmoderne?
Solbach:
Die abklingende Moderne hinterlässt keine Denkmäler,
sondern Gedenkstätten. In den postsozialistischen
Ländern werden die übriggebliebenen
Denkmäler der Stalin-Ära zu Zankäpfeln. Das
Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas wurde
gebaut, als den Kritikern nichts mehr einfiel. Dennoch kann man es als
›gelungen‹ betrachten. Ist eine monumentale
Postmoderne vorstell- und wünschbar?
Gross:
Ich kann nur sagen, dass es immer noch sehr viele Menschen gibt, die
ein Bedürfnis nach solchen Denkmälern und
Gedenkstätten haben. Alleine hier in der Stadt Frankfurt, wo
ich ein bisschen den Überblick habe, gibt es eine Vielzahl
solcher Initiativen und Interessenten. Diejenigen, die da in
irgendeiner Weise beteiligt sind, haben oftmals Probleme, das Interesse
zu kanalisieren. Daher sehe ich, dass offensichtlich noch ein
großes Bedürfnis vorhanden ist.
Solbach:
Kein Totengedenken ohne den Gedanken an den – gewaltsamen
oder ›natürlichen‹ – Tod von
Menschen. Sind heutige Denkmäler Objekte, angesichts derer der
eigene Tod erfahrbar wird? Oder können sie nur die grausame
›Wunde der Kultur‹ bezeugen, die sich im anonymen
und gewaltsamen Tod des Einzelnen manifestiert?
Gross:
Also, wenn man zum Arzt geht, und der sagt einem, man habe Krebs und
noch ein halbes Jahr zu leben oder eine andere tödliche
Krankheit, dann erfährt man eben das, was Sie die
Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit nennen. Das
erfährt man bestimmt nicht bei einem Denk- oder Mahnmal, das
hat eine ganz andere Funktion. Da geht es um das Gedenken an andere
Menschen, an Opfer oder Gefallene. Das ist doch eine
andere Funktion, die da wahrgenommen wird. Ich zumindest habe
es immer so empfunden.
Solbach:
Gibt es ein Denkmal, das Sie gern aufsuchen? Welche Gedanken bewegen Sie
dort? Hätten Sie gern ein Denkmal veranlasst?
Gross:
Im Prinzip haben mich Denkmäler früher nicht stark
interessiert, insbesondere in Bezug auf den Nationalsozialismus. Das
war für mich etwas, was mich täglich in irgendeiner
Weise beschäftigt hat. Ich hätte es immer als eine
Schmälerung der Auseinandersetzung angesehen, wenn da jetzt
irgendein Gegenstand für diese Auseinandersetzung stehen
sollte, so dass ich persönlich emotional nie –
letztendlich auch bis heute – die großen
Aufregungen um Denkmäler nachfühlen konnte. Ich kann
sie intellektuell verstehen, ich sehe, dass das politische Bewegungen
sind, dass es geschieht, aber ich empfinde so nicht.
Gleichzeitig
gibt es Denkmäler, die mich sehr beeindrucken. Hier in der
Gegend gibt es am Börneplatz ein Mahnmal für die
deportierten Frankfurter Juden. In die Friedhofsmauer des
ältesten jüdischen Friedhofs in Frankfurt, der aus
dem 13. Jahrhundert stammt – eines der wichtigsten zentralen
Kulturdenkmäler dieser Stadt –, sind Namen auf
Schildern eingraviert. Man sieht den Geburtsort, man sieht, wo die
Menschen ermordet worden sind, wenn man sie kennt, sieht man die
Geburtsdaten, man sieht ein Schildchen für Anne Frank, die ja
hier geboren ist. Man sieht auch kleine Steinchen, die Menschen auf
diese Schilder legen, als Ersatz für einen jüdischen
Grabstein, und ich muss sagen, dass mich das immer bewegt, wenn ich dort
vorbeigehe. Es ist ein beeindruckendes Mahnmal für die
deportierten Frankfurter Juden, was ich sehr wichtig finde in dieser
Stadt.
Gleichzeitig bin ich in meiner Funktion als Direktor
von zwei Instituten hier in der Stadt in die Planung von
Mahnmalen involviert. Eines, das mit großer Geschwindigkeit und – wie
ich finde – auch sehr positiven Energien entsteht, ist das sogenannte
Wollheim-Memorial an der Universität, im IG Farben-Haus. Ich
bin in der Kommission und unterstütze das sehr und erlebe da
auch große Unterstützung. Es geht um einen
ehemaligen Sklavenarbeiter von IG Farben, der als einer der ersten
einen Prozess gegen IG Farben in der Nachkriegszeit gewonnen hat. Ich
finde es auch von der Sache her für die Nachkriegsgeschichte
sehr gut, dieser ehemaligen Häftlinge der IG Farben zu
gedenken und auch ihrer Bemühungen um eine zumindest
symbolische Geste der Gerechtigkeit von seiten der Firmen, die diese
Morde auf dem Gewissen haben.
Das andere Mahnmal,
in dessen Konzeption ich eingebunden bin, seit ich hier bin, ist
dasjenige an der ehemaligen Großmarkthalle. Von dort aus ging
die Deportation der Frankfurter Juden in die Ghettos und
Vernichtungslager weiter. Die Europäische Zentralbank, die
dort einziehen wird, die Jüdische Gemeinde Frankfurt und die
Stadt haben sich darauf geeinigt, dass es bei diesem Neubau auch eine
Informations- und Gedenkstätte für diese
Deportationen geben soll und ich finde es inhaltlich sehr interessant, mir zu
überlegen, was sinnvoll ist. Da es bereits ein so
beeindruckendes Mahnmal für die ermordeten Juden
Frankfurts gibt, würde ich persönlich es für
sinnvoll halten, dass man sich dort mit den Mördern, mit den
Tätern beschäftigt und damit, was aus ihnen in der
Nachkriegszeit geworden ist, so dass diese Stadt auch eine
Möglichkeit hat, sich mit den Tätern
auseinanderzusetzen und zu sehen, wer da mitgewirkt hat und wie die
Dinge ineinander gelaufen sind. Städtische Behörden,
Finanzämter undsoweiter, da hat der ganze zivile Tod der
Verfolgten stattgefunden. Ihre Enteignung hat hier stattgefunden, hier
wurden sie ihrer Identität beraubt. Diesen Prozess in
Erinnerung zu behalten, an diesem Ort, das finde ich sehr wichtig.
Solbach:
Vielen Dank für das Gespräch.