Raphael Gross

im Gespräch mit Renate Solbach
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Vom Wandel der Gedenkkultur


Archiv und Gedenken

Solbach: Eine eher persönliche Frage zum Beginn: Sie haben in diesem Frühjahr die Leitung des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt übernommen. Sie sind Direktor des Leo Baeck Instituts in London und seit Februar vergangenen Jahres Leiter des Jüdischen Museums Frankfurt. Der Zusammenhang dieser Funktionen liegt auf der Hand. In welcher Weise – und in welchem Maße – ergänzen sie sich zu einer sinnvollen Einheit?

Gross: Zunächst handelt es sich um drei Institutionen, die unterschiedliche Aufgaben haben. Das Leo Baeck Institut erforscht deutsch-jüdische Geschichte und Kultur, das Jüdische Museum informiert mit seiner Dauerausstellung über jüdisches Leben und stößt mit Einzelausstellungen Diskussionen an, außerdem  pflegt es sein umfangreiches Archiv, und das Fritz Bauer Institut ist gegründet worden zur Erforschung des Holocausts und seiner Nachgeschichte. Gleichzeitig gibt es aber große inhaltliche Schnittmengen. Das Museum hat immer wieder Ausstellungen gemacht, die mit Themen des Nationalsozialismus, des Antisemitismus und der Verfolgung zu tun haben. Auch das Fritz Bauer Institut hat Ausstellungen gemacht, insofern gibt es da ganz viele Überschneidungen. Was die pädagogischen Arbeiten anbelangt, gibt es jeweils Schwerpunkte in den verschiedenen Institutionen, die meines Erachtens gut zusammen passen.

Darüber hinaus gibt es auch Schwerpunkte im Forschungsbereich, der sich nach meiner Einschätzung in allen drei Institutionen in den letzten Jahren verstärkt auf die Zeit der Nachkriegsgeschichte verlagert hat und so gibt es auch da eine gute Chance der Zusammenarbeit. Die Politik hat das mit großem Engagement unterstützt, so dass es auch neue Stellen in diesen Institutionen gibt.

Solbach: Museum, Archiv, öffentlichkeitsbezogene Projektforschung: drei Formen der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung, in denen der Umgang mit ›Dokumenten‹ und ›Zeugnissen‹ an erster Stelle steht. Es hat in der Vergangenheit verschiedene Diskussionen um beide Begriffe gegeben – ich erinnere an Hannah Arendts und Jean-François Lyotards Ausführungen über Paradoxa im Umgang mit der Hinterlassenschaft einer Politik der Auslöschung, die auch die tendenzielle Auslöschung der Vernichtungsspuren einschloss. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat in seinem Buch Was von Auschwitz bleibt (italienische Originalausgabe 1998, dt. 2003) versucht, diese Überlegungen, etwa die Lyotards von 1983, dass es keine ›vollständige‹ Zeugenschaft seitens der Überlebenden geben könne, wieder aufleben zu lassen – überflüssigerweise, wie manche meinen. Überführt der tägliche intensive Umgang mit den Zeugnissen die philosophische Reflexion über die »Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen« (Agamben), der Irrelevanz?

Gross: Ich bin Historiker und diese drei Institutionen sind stark von historischer Methodologie geprägt. Die Diskussionen, die Sie erwähnen, sind davon sehr weit entfernt. Die Historiker sprechen von Quellen der ›Oral History‹, wenn sie Interviews machen, sie sprechen nicht von Zeugnissen oder Zeitzeugen, insofern ist diese ganze Aufladung oder Überhöhung wie sie bei Agamben und bei vielen anderen Wissenschaftlern oder Theoretikern vorkommt, verfehlt. Die Historiker wehren sich eher dagegen. Es ist selbstverständlich, dass Quellen der Oral History immer partiell sind und immer eine bestimmte Perspektive aufweisen, genauso wie schriftliche oder literarische Quellen. Als Historiker kann und soll man sie dementsprechend mit kritischer Distanz benutzen. Insofern denke ich, dass diese ›Überhöhung‹ durch die Theoretiker, die ›die Zeugnisse zum Sprechen bringen‹ wollen, eher verunklart. Die Diskussion darum erscheint mir vom Umgang mit den realen Quellen aus gesehen ein bisschen künstlich.

Täglich beschäftige ich mich zum Glück nicht mit den Zeugnissen. Ich denke, dass es Doktoranden gibt, die sich zum Teil über lange Zeiten hinweg täglich mit ihnen auseinandersetzen. Das ist für viele nicht einfach, aber mehr aus psychologischen Gründen. Je mehr man sich mit diesen Quellen beschäftigt, desto grauenhafter erscheinen einem die Ereignisse, über die sie berichten.

Solbach: Aber das heißt, dass sie in diesen Standpunkten mehr politische Statements sehen als historische Theorien.

Gross: Ja, gerade bei jemandem wie Agamben, der ja doch mit einer gewissen Verachtung der Geschichtsschreibung gegenübersteht, ist es nicht ganz zufällig, wenn er zum Beispiel darüber schreibt, dass das der Raum außerhalb der Gesetze sei.  Das ist für mich Unsinn, denn ich weiß, wie viele Kommandanturbefehle es für jedes Lager gegeben hat und wie genau die Regelungen von seiten der SS gewesen sind. Das interessiert ihn aber gar nicht. Insofern habe ich tatsächlich das Gefühl, dass es sich um einen sehr abgehobenen Diskurs handelt, der für manche Leute theoretisierend interessant sein mag, aber keine enge Anschlussfähigkeit an die reale historische Forschung hat.

Solbach: Die Ausdrücke Holocaust und Shoa stehen für zwei Kulturen und zwei unterschiedliche Formen des Gedenkens an die nationalsozialistische Untat – die christliche und die jüdische. Dagegen nimmt es eine eher laizistisch geprägte Öffentlichkeit mit dem Unterschied nicht genau und verwendet sie weitgehend synonym. Wie different sind die beiden Gedenkstränge heute? Wie intensiv kommunizieren sie miteinander?

Bei dieser Frage geht es mir nicht so sehr um eine Diskussion der beiden Begriffe, sondern um Ihren Alltag. Man hört in den Medien immer wieder Zuschreibungen wie »die jüdische Seite« oder »die deutsche Seite« und ähnliche Verallgemeinerungen. Wie sieht das in der Realität, in Ihrer Arbeit aus? Wie verzahnt sind ›diese Seiten‹ inzwischen? Wie stehen diese Konzepte gegen- oder miteinander – vielleicht auf eine Weise, die wir so gar nicht mitbekommen?

Gross: Zuerst zur begrifflichen Frage, die Sie am Anfang stellen. Ich glaube, dass in den achtziger und neunziger Jahren bestimmte Fronten geherrscht haben. Ich war wahrscheinlich zu lange in England und bin zu anglophil, als dass ich mich davon groß berühren lasse. Ich benutze den Begriff, der für mehr Menschen verständlicher ist, und das ist der des Holocaust. Den Begriff der Shoa zu benutzen, erscheint mir artifiziell,  weil ich den Eindruck habe, dass ein großer Teil derjenigen Menschen, die ich mit meinen Arbeiten und in den von mir geleiteten Institutionen  erreichen will, dann nicht versteht, wovon ich spreche, und das wäre ein schwerwiegender Nachteil.

Inhaltlich gesehen, also von der historischen Semantik her, sind beide Begriff höchst problematisch, sowohl derjenige der Shoa wie derjenige des Holocaust. Insofern sind beide immer wieder erklärungsbedürftig. Ich bin auch sehr skeptisch gegenüber Ihrer Ausgangsthese, dass es sich bei dem einen um eine christliche und bei dem anderen um eine jüdische Herangehensweise an die Vernichtung der Juden in Europa handelt. Ich habe den Eindruck, dass es gerade in Deutschland eher eine politische Marke gewesen ist, die man gesetzt hat, wenn man von Shoa gesprochen hat und nicht von Holocaust wie alle anderen. Man wollte sich damit reflektierter zeigen. Ich sehe auch nicht, dass das zum Beispiel für die amerikanisch- jüdische Geschichtswissenschaft zutrifft, ich glaube im Gegenteil, dort hat sich der Begriff Holocaust absolut durchgesetzt.

Ansonsten denke ich, dass die Unterschiede des »Wer spricht?« in der engeren Forschung immer weniger wichtig werden, im politischen Bereich aber immer stärker auseinandergehen. Wir beobachten eine gewisse Paradoxie: Je stärker die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland ist, desto größer wird die Differenz zwischen dem, was die Täter- oder Opferperspektive genannt wird. In den fünfziger Jahren wäre das wahrscheinlich noch nicht so stark gewesen, von den achtziger Jahren angefangen wird das immer stärker und stärker.


Erinnerungskultur und historischer Wandel

Solbach: Das wiedervereinigte Deutschland ist stolz auf seine ›Erinnerungskultur‹. Die Paulskirchen-Rede Martin Walsers von 1998, in der von der ›Moralkeule‹ Auschwitz die Rede war, scheint weitgehend vergessen oder absorbiert zu sein. Trügt dieses Bild oder haben die Deutschen ihren Frieden mit den Bildern einer Vergangenheit gemacht, die den Gegenpol zu jeder Art friedlichen Erinnerns bilden? 

Gross: Also zunächst ein Wort zum Begriff ›Erinnerungskultur‹, den ich immer abgelehnt habe, weil ich denke, dass dieser Begriff etwas beschönigt. Es geht um die Auseinandersetzung mit millionenfachem Mord und die Art und Weise in der das geschieht. Da von Erinnerungskultur zu sprechen, hat für mein Empfinden etwas Deplatziertes. Gerade wenn man dann auch noch sagt, man sei stolz auf diese Erinnerungskultur. Man kann vielleicht sagen, dass man Kompensation oder Gerechtigkeit für richtig hält. Man kann sagen: »Wir stehen dahinter, dass es Reparationen gab, dass es Zahlungen an Opfer oder Repatriierung von Eigentum gab und immer noch gibt.« Stolz zu sein auf die Art, wie man über diese Morde redet, halte ich für unangemessen.

Selbstverständlich kann man Erregung in der Öffentlichkeit nicht wiederholen, gleichzeitig denke ich aber, dass das, was hinter dem Streit um Walsers Rede stand, so tief ist, dass es mehr oder weniger zu jeder Zeit wiederholbar ist, wenn auch immer wieder aus anderem Anlass. Ich habe versucht, das zu analysieren, indem ich zu zeigen versucht habe, in welcher Weise sich bei Walser so etwas wie ein Fortsetzen an nationalsozialistisches Denken erinnernder ›moralischer‹ Argumentation niederschlägt. In eben dieser Binnenmoral, dieser partikularen Moral kommen Juden nicht vor, das heißt, das ›Wir‹, das diese – wie Sie es nennen – Erinnerungskultur trägt, schließt gleichzeitig systematisch alle aus, die nicht zum ›Wir‹ der Täter gehören. Deshalb hat sich die Erregung zu dieser einzelnen Sache ein wenig abgekühlt, wobei allerdings die Eröffnung unserer Ausstellung zu Ignaz Bubis wiederum eher das Gegenteil dokumentiert hat. Es gab ja eine große Aufregung. Ich sehe nicht, dass in diesen Dingen eine schnelle Veränderung stattfindet, sondern eine schleichende. Das Interessante ist eher, wie schnell ganz ähnliche Konstellationen immer wieder greifen können in dieser Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit den Naziverbrechen in Deutschland, auch in den nachfolgenden Generationen.

Solbach: Nach der sogenannten ›zweiten Generation‹ der Kinder der ›Opfer‹ und ›Täter‹ rückt seit einigen Jahren die ›dritte Generation‹ in maßgebliche gesellschaftliche Stellungen ein. Halten Sie nach ›Kollektivschuld-‹ und ›Verstrickungsthese‹ als umstrittenen Schuld-Konstrukten der vierziger und der sechziger Jahre  eine neue Form der Generationshaftung für denkbar? Oder wäre dies eine Generation ›frei von Schuld‹ und ›ohne Scham‹?

Bei dem Wort ›Verstrickungsthese‹ denke ich zum Beispiel an das Buch von Bernhard Schlink Der Vorleser und dessen Rezeption bei Kritikern und in der Öffentlichkeit.

Gross: Konkret in Bezug auf Schlink, wenn Sie mich darauf ansprechen, würde ich sagen, das mich in dem Buch nicht diese Verstrickung irritiert hat, sondern die Stereotypen, die er aufgreift. Auf der einen Seite steht diese KZ-Wächterin, die in dem Buch doch als ein Opfer dargestellt wird. Sie kann nicht lesen und schreiben, sie hat viele Schamgefühle. Das alles treibt sie dazu, sich in dem Prozess nicht wirklich zu verteidigen, das bringt sie überhaupt erst dazu, an diese Stelle zu kommen, an der sie dann plötzlich gelandet ist durch Mächte, die sie nicht kontrollieren kann. Auf der einen Seite also der deutsche Kleinbürger als Opfer von Nationalsozialismus und Juden und auf der anderen Seite dann dieses überlebende Mädchen, diese Jüdin, die am Ende als mächtige, weise Psychoanalytikerin  mit Geld und in New York endet und die Geste der KZ-Aufseherin zurückweist, das Geld nicht nimmt, dafür aber einen Fetisch, diese Schatulle, für sich behält. Das hat mich an dem Buch irritiert.

Das andere – ich denke, dass es weltweit eine verstärkte Diskussion über das gibt, was man vielleicht ›intergenerationelle Verantwortung‹ nennen kann. Sei es in Australien, sei es in Amerika oder in postkolonialen Strukturen, wo die Frage besteht, in welcher Weise da bestimmte Verantwortlichkeiten entstehen. Das hat nichts mit Scham oder Schuld zu tun, sondern damit, dass wenn man sich an einem bestimmten Ort befindet und ein gewisses Erbe materieller Natur aufnimmt, an Strukturen, an Gewachsenem, an Gütern, man sich fragt, inwieweit man eine kompensatorische Gerechtigkeit einrichten soll gegenüber denjenigen, die in der Vergangenheit die Verlierer waren oder deren Nachfahren. Da gibt es dann politische Streitigkeiten darüber, wie weit das gehen soll, wieviele Jahrhunderte man zurückgehen soll oder nicht. Zum Beispiel die Herero und Nama, die von den Deutschen in Namibia massakriert wurden, die in den Tod, in die Wüste geschickt worden sind: Sollen deren Nachkommen heute noch das Recht haben, eine Kompensation zu verlangen oder nicht? Dabei geht es dann nicht um Scham, sondern um die Frage, wieweit will man zurück gehen mit den Gerechtigkeitsforderungen? Was kann man leisten, wieviel Gerechtigkeit will eine Gesellschaft widerfahren lassen?

Solbach: Im Begriff des ›Traumas‹, hin und wieder sinnreich veredelt durch das Wort ›historisch‹, fließen seit einigen Jahren Täter- und Opferperspektiven mit familiären Folgekonstellationen zusammen. Das hat zum Teil mit der klinischen Herkunft des Trauma-Konzepts zu tun, mit seiner Erprobung an Vietnamkriegs-Veteranen in den siebziger Jahren, aber auch mit der gewandelten ›Erinnerungslandschaft‹ im Osten Europas seit der Beendigung des Ost-West-Konflikts. Können Sie, angesichts intensiver Kenntnis der Lebensläufe und Selbstdeutungen von Überlebenden, dem Begriff etwas abgewinnen? Oder deutet sich hier ein neuartiges Helfersyndrom an, das die historischen Verbrechen und Katastrophen als eine Art soziopsychischer Benachteiligung der Entronnenen aus posthistorischer Warte kommentiert? 

Gross: Also zunächst würde ich Ihnen widersprechen, ich glaube, dass Täter- und Opferperspektive nie zusammenfließen, sondern dass die ganz unterschiedlich sind.

Solbach: Ich meine auch nicht, dass das eine Tatsache ist, sondern dass das in vielen Kontexten so gehandhabt wird.

Gross: Das mag sein, dem würde ich dann auch dort jeweils widersprechen, denn dies ist eine Verzerrung. Das sind und bleiben ganz unterschiedliche Perspektiven. Ich bin Historiker und nicht Sozialarbeiter oder Sozialpsychologe, darum beantworte ich Ihre Frage aus der Sicht meines Faches. Ich weiß, dass die Diskussion um rechtliche Folgen eines Traumas letztendlich sehr stark aus dem Versicherungsrecht kommt. Es ging darum, ob Menschen, die nachweisen konnten, dass sie als psychisches Unfallopfer bei einem Eisenbahnunglück oder ähnlichem dabei waren, entschädigt werden sollten. Soweit ich weiß, ist dieser Begriff bereits vor dem ersten Weltkrieg in der Diskussion gewesen. Es mag sein, dass man anhand dieser psychohistorischen Ansätze gerne über Trauma bei Tätern und bei Opfern und in Familien redet und dann so ein Schwamm daraus wird, der verhindert, dass man historische Urteile und Feststellungen treffen kann. Das wäre für mich als Historiker ein Grund, sehr vorsichtig mit diesen Begriffen umzugehen. In einem therapeutischen Umfeld mag das eine ganz andere Bedeutung  haben, dazu habe ich kein Urteil.


Jüdische und deutsche Nation

Solbach: Jahrzehntelang galten die deutsche und die jüdische Nation als – unterschiedlich –  ›beschädigte‹ oder ›versehrte‹ Nationen, die dauerhaft durch die Folgen des Mordens in ihrem Selbstverständnis und ihren Handlungsspielräumen bestimmt wurden. Seit dem Ende der Nachkriegszeit verschieben sich die Parameter. In einer veränderten Welt scheint von der staatstragend gewordenen Erinnerung kein Handlungsdruck mehr auszugehen. Wo dergleichen noch versucht wird – seinerzeit geschehen seitens des deutschen Außenministers im Kosovo-Krieg –, liegt der Verdacht der Instrumentalisierung obenauf. Gibt es ein politisches Gedenken, dem keine Politik mehr entspricht?

Gross: Zunächst muss ich den bei Ihnen angedeuteten Vergleich zwischen der deutschen und der jüdischen Nation in Bezug auf die Ereignisse deutlich zurückweisen. Ich denke, dass das zwei ganz unterschiedliche Sachverhalte sind. Juden sind ermordet worden von Deutschen und daraus ergeben sich historische Tatsachen mit Folgen und umgekehrt gibt es für Deutsche nach 1945 die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass diese Morde geschehen sind. Daraus entsteht dann innerhalb der deutschen Diskussion die Frage, wie es zu diesen Morden kommen konnte, welche Konstellationen dazu führten. Dass es in Deutschland bis in die Gegenwart hinein eine hohe Gewaltbereitschaft gegen Ausländer und all diejenigen gibt, die man nicht zur deutschen Nation zählt, zeigt meines Erachtens, dass die Analyse dessen, was da passiert ist, weitergehen muss, dass sie für den deutschen Kontext sehr wichtig und noch lange nicht abgeschlossen ist. Wieweit man das dann auf außenpolitische Überlegungen überträgt, dazu kann ich mich nicht äußern, das ist nicht mein Bereich. Aber ich bin überzeugt von der Analyse, dass es immer noch sehr starke Verbindungslinien gibt bei dem, was innerhalb Deutschlands passiert ist, gerade nach der Vereinigung. Ich möchte auf diese Gewaltbereitschaft hinweisen, die man sieht, und dass immer noch Erklärungsbedarf vorhanden ist, ehe man von so etwas wie Instrumentalisierung dieser Verbrechen reden oder sie instrumentalisieren sollte.

Solbach: Im Eingangsbereich des Holocaust Memorial Museums in Washington stehen Worte des amerikanischen Präsidenten Clinton, die die Menschenrechte und die Erfahrung des Holocaust zusammenführen in einer Selbstverpflichtung der Nation, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe. Es gibt also auf der einen Seite eine politische Gedenkkultur, der aber auf der anderen Seite nicht mehr unbedingt die Politik des Landes entspricht.

Gross: Das mag so sein. Ich will dennoch Ihrer These widersprechen, dass es eine gewisse ähnliche Reaktionsweise der deutschen und der jüdischen Nation gäbe, wie Sie es nennen. Gleichzeitig denke ich, dass die Ursachen, die zum Holocaust geführt haben, immer noch von so großer Relevanz sind, dass ich mich mehr darauf konzentrieren würde, das genauer anzuschauen, als auf etwaige Instrumentalisierungen für die Außen- oder Innenpolitik zu achten. Das mag sicher immer geschehen, lässt sich aber auch nicht verhindern.

Solbach: Der Holocaust gilt vielen in Deutschland als ›negativer Staatsmythos‹. Gemeint ist damit – meist mit kritischem Zungenschlag –, dass die deutsche Nation nur ›im Gedenken an Auschwitz‹ als politische Identifikationsgröße in Betracht kommen darf. Ist eine solche Selbstverpflichtung für Generationen leb- und gestaltbar, die lebensgeschichtlich weder unmittelbar noch mittelbar mit dem Geschehenen in Berührung stehen? Allgemeiner gefragt: lässt sich ein negativer Staatsmythos – vorausgesetzt, es handelt sich nicht bloß um eine revisionistische Fiktion – auf Dauer stellen?

Gross: Zum einen kann man natürlich sagen: eine kritische Ausgangsposition muss nicht unbedingt etwas Negatives sein. Sie kann ja auch dazu dienen, dass man bewahrt wird vor Missbrauch von Macht. Was mir nicht so gefällt, ist die Begrifflichkeit, die Sie benutzen: ›Negativer Staatsmythos‹, ›Auschwitz‹. Ich bin Historiker, ich wäre immer sehr vorsichtig. Auschwitz ist einfach eine historische Tatsache und man darf das nicht als Mythos verwässern. Da haben wir wieder diese Agambentheorie, vielleicht auch hier in dieser Fragestellung. Das ist kein Mythos, nur Revisionisten würden da von Mythen reden, sondern es sind einfach historische Fakten ...

Solbach: ... es steht ja auch gewissermaßen in Anführungszeichen und ist in dem Sinne gemeint, wie man zum Beispiel von Gründungsmythen der Staaten spricht.

Gross: Ob Sie es in Anführungszeichen setzen oder nicht, das verändert gar nichts. Es ist meines Erachtens kein Mythos und insofern ist es wichtig, dass man sich überlegt: Das ist eine historische Wirklichkeit und wie geht man mit der um, denn die kam irgendwie zustande und zwar nicht durch Zufälle, sondern durch Entscheidungen von Tausenden von Menschen, die das gewollt haben. Die Frage ist, was diese Menschen zu diesen Entscheidungen gebracht hat und wie eine Politik, eine Verfassung in Deutschland nach 1945 eine Stabilität erreichen kann, die so etwas verunmöglicht. Insofern glaube ich, kann man sagen, es gibt so etwas wie eine ungeschriebene Verfassung in Deutschland, dass man möchte, dass das nicht wieder passiert. Man möchte das vielleicht so sehen, aber es ist nicht dasselbe, wie wenn man von Mythos eines Staates spricht, wie es die Verfassungstheorie gerade in der konservativen Ausrichtung und auch in der faschistischen  Tradition in Deutschland sehr gerne als absolut unabdingbar für jedes Gemeinwesen hingestellt hat.

Solbach: Eine Frage, die auf den ersten Blick bizarr wirkt: Gibt es überhaupt noch Nationen? Sind z. B. die heutigen Nationen Europas nicht viel eher vergleichbar mit der bayerischen, württembergischen etc. Nation im frisch vereinten Deutschen Reich von 1871? Anders gefragt: Gibt es noch souveräne Akteure, die zugleich Nationen sind? Ist der Welthegemon USA noch eine Nation?

Gross: Zum einen ich habe das Glück gehabt, in Cambridge ein Jahr lang bei Ernest Gellner zu studieren, der einer der Theoretiker des Nationalismus ist so wie Eric Hobsbawm oder Anthony Smith. Es gibt eine große politische, politologische Literatur zum modernen Nationbegriff und was man darunter versteht. Es gibt den Begriff der ›United Nations‹, wo sehr viel unter Nation fällt, was einem engeren Begriff nicht mehr entsprechen würde, wie man ihn im 19. Jahrhundert bei deutschen Nationalisten gepflegt hat, die aus dem liberalen Lager kamen. Ich denke, ob man vom ›Welthegemon‹ USA spricht, hängt immer von den jeweiligen Konstellationen ab. Wenn Europa stärker wäre, wären die USA schwächer, das ist aber nicht unbedingt eine Frage, die mit dem Begriff des Nationalstaates zu tun hat. Was deutlich ist in Bezug auf Europa: In dem Moment, in dem das Wort ›Verfassung‹ von den einzelnen Nationalstaaten auf Europa übertragen werden sollte, wurde der Widerstand heftig. Das heißt, obwohl die Maastricht-Verträge von der Substanz her weitgehender waren als die späteren sogenannten Verfassungsvorschläge, hat es in dem Moment, in dem das Wort ›Verfassung‹ auftauchte, in Frankreich und vielen anderen Ländern ein deutliches Nein gegeben. In England hat man es gar nicht so weit kommen lassen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir schon von einer postnationalen Phase reden können, sondern ich habe das Gefühl, da gibt es Kontinuitäten.

Solbach: Es findet aber doch so etwas wie ein Austausch der Bevölkerungen statt. Wenn es zum Beispiel hier in Deutschland eine große Zahl muslimischer Mitbürger gibt, dann entspricht dem ein Problem. Auf der einen Seite muss man sie integrieren, aber auf der anderen Seite kann man diese Menschen nicht auf bestimmte Dinge verpflichten, die mit Fehlern oder Verbrechen einer ehemaligen deutschen Nation zusammenhängen.

Gross: Migration hat es in der deutschen Geschichte immer gegeben und die Vorstellung, dass es so etwas wie eine homogene deutsche  Nation gibt, war immer – da würde ich den Begriff verwenden – ein Mythos. Insofern ist das, was heute stattfindet, sehr vergleichbar mit ähnlichen Wanderungsbewegungen. Es ist sicher so, dass in den USA solche Wanderungen vom politischen Gemeinwesen anders aufgenommen werden können, weil dort die Idee des Bundesstaates wesentlich stärker ist und insofern auch viel flexibler damit umgegangen werden kann. Das hat aber viel mit Dingen zu tun, in denen ich mich nicht so gut auskenne: mit sozialer Gerechtigkeit, mit Sicherheiten, mit der Frage, ob es sogenannte Anciennitätsrechte gibt. Was bedeutet es, wenn ich irgendwo neu hinzu komme? Erhalte ich dieselben sozialen Bedingungen wie jemand, der vierzig Jahre eingezahlt hat oder nicht? Da beginnen dann natürlich soziale Spannungen, die in den USA anders geregelt werden und wo man vielleicht weniger dieser gemeinschaftlich verwalteten Vermögen beanspruchen kann, wenn man hinzukommt. Man ist stärker auf sich gestellt und das ermöglicht dann vielleicht auch eine bessere – wie Sie es nennen – Integration, einfach eine spannungsärmere Situation.


Monumentale Postmoderne?

Solbach: Die abklingende Moderne hinterlässt keine Denkmäler, sondern Gedenkstätten. In den postsozialistischen Ländern werden die übriggebliebenen Denkmäler der Stalin-Ära zu Zankäpfeln. Das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas wurde gebaut, als den Kritikern nichts mehr einfiel. Dennoch kann man es als ›gelungen‹ betrachten. Ist eine monumentale Postmoderne vorstell- und wünschbar?

Gross: Ich kann nur sagen, dass es immer noch sehr viele Menschen gibt, die ein Bedürfnis nach solchen Denkmälern und Gedenkstätten haben. Alleine hier in der Stadt Frankfurt, wo ich ein bisschen den Überblick habe, gibt es eine Vielzahl solcher Initiativen und Interessenten. Diejenigen, die da in irgendeiner Weise beteiligt sind, haben oftmals Probleme, das Interesse zu kanalisieren. Daher sehe ich, dass offensichtlich noch ein großes Bedürfnis vorhanden ist.

Solbach: Kein Totengedenken ohne den Gedanken an den – gewaltsamen oder ›natürlichen‹ – Tod von Menschen. Sind heutige Denkmäler Objekte, angesichts derer der eigene Tod erfahrbar wird? Oder können sie nur die grausame ›Wunde der Kultur‹ bezeugen, die sich im anonymen und gewaltsamen Tod des Einzelnen manifestiert?

Gross: Also, wenn man zum Arzt geht, und der sagt einem, man habe Krebs und noch ein halbes Jahr zu leben oder eine andere tödliche Krankheit, dann erfährt man eben das, was Sie die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit nennen. Das erfährt man bestimmt nicht bei einem Denk- oder Mahnmal, das hat eine ganz andere Funktion. Da geht es um das Gedenken an andere Menschen, an Opfer oder Gefallene. Das ist doch eine andere  Funktion, die da wahrgenommen wird. Ich zumindest habe es immer so empfunden.

Solbach: Gibt es ein Denkmal, das Sie gern aufsuchen? Welche Gedanken bewegen Sie dort? Hätten Sie gern ein Denkmal veranlasst?

Gross: Im Prinzip haben mich Denkmäler früher nicht stark interessiert, insbesondere in Bezug auf den Nationalsozialismus. Das war für mich etwas, was mich täglich in irgendeiner Weise beschäftigt hat. Ich hätte es immer als eine Schmälerung der Auseinandersetzung angesehen, wenn da jetzt irgendein Gegenstand für diese Auseinandersetzung stehen sollte, so dass ich persönlich emotional nie – letztendlich auch bis heute – die großen Aufregungen um Denkmäler nachfühlen konnte. Ich kann sie intellektuell verstehen, ich sehe, dass das politische Bewegungen sind, dass es geschieht, aber ich empfinde so nicht.

Gleichzeitig gibt es Denkmäler, die mich sehr beeindrucken. Hier in der Gegend gibt es am Börneplatz ein Mahnmal für die deportierten Frankfurter Juden. In die Friedhofsmauer des ältesten jüdischen Friedhofs in Frankfurt, der aus dem 13. Jahrhundert stammt – eines der wichtigsten zentralen Kulturdenkmäler dieser Stadt –, sind Namen auf Schildern eingraviert. Man sieht den Geburtsort, man sieht, wo die Menschen ermordet worden sind, wenn man sie kennt, sieht man die Geburtsdaten, man sieht ein Schildchen für Anne Frank, die ja hier geboren ist. Man sieht auch kleine Steinchen, die Menschen auf diese Schilder legen, als Ersatz für einen jüdischen Grabstein, und ich muss sagen, dass mich das immer bewegt, wenn ich dort vorbeigehe. Es ist ein beeindruckendes Mahnmal für die deportierten Frankfurter Juden, was ich sehr wichtig finde in dieser Stadt.

Gleichzeitig bin ich in meiner Funktion als Direktor von zwei Instituten hier in der Stadt in die Planung von Mahnmalen involviert. Eines, das mit großer Geschwindigkeit und – wie ich finde – auch sehr positiven Energien entsteht, ist das sogenannte Wollheim-Memorial an der Universität, im IG Farben-Haus. Ich bin in der Kommission und unterstütze das sehr und erlebe da auch große Unterstützung. Es geht um einen ehemaligen Sklavenarbeiter von IG Farben, der als einer der ersten einen Prozess gegen IG Farben in der Nachkriegszeit gewonnen hat. Ich finde es auch von der Sache her für die Nachkriegsgeschichte sehr gut, dieser ehemaligen Häftlinge der IG Farben zu gedenken und auch ihrer Bemühungen um eine zumindest symbolische Geste der Gerechtigkeit von seiten der Firmen, die diese Morde auf dem Gewissen haben.

Das andere Mahnmal, in dessen Konzeption ich eingebunden bin, seit ich hier bin, ist dasjenige an der ehemaligen Großmarkthalle. Von dort aus ging die Deportation der Frankfurter Juden in die Ghettos und Vernichtungslager weiter. Die Europäische Zentralbank, die dort einziehen wird, die Jüdische Gemeinde Frankfurt und die Stadt haben sich darauf geeinigt, dass es bei diesem Neubau auch eine Informations- und Gedenkstätte für diese Deportationen geben soll und ich finde es inhaltlich sehr interessant, mir zu überlegen, was sinnvoll ist. Da es bereits ein so beeindruckendes Mahnmal für die ermordeten Juden Frankfurts gibt, würde ich persönlich es für sinnvoll halten, dass man sich dort mit den Mördern, mit den Tätern beschäftigt und damit, was aus ihnen in der Nachkriegszeit geworden ist, so dass diese Stadt auch eine Möglichkeit hat, sich mit den Tätern auseinanderzusetzen und zu sehen, wer da mitgewirkt hat und wie die Dinge ineinander gelaufen sind. Städtische Behörden, Finanzämter undsoweiter, da hat der ganze zivile Tod der Verfolgten stattgefunden. Ihre Enteignung hat hier stattgefunden, hier wurden sie ihrer Identität beraubt. Diesen Prozess in Erinnerung zu behalten, an diesem Ort, das finde ich sehr wichtig.

Solbach: Vielen Dank für das Gespräch.