Nation-Building und ImperialismusIn einer 2003 erschienen Essaysammlung mit dem Titel
Empire lite. Nation Building in Afghanistan, Kosovo and Bosnia
klagt Michael Ignatieff die Verlogenheit in den Strategien der von den
Großmächten ausgehenden Nation-Building-Kampagnen im
Mittleren Osten und auf dem Balkan an. Nation-Building ist nach Ansicht
der westlichen Machtzentralen und ihrer Hilfsagenturen (z.B. der UN)
als ein Reformprogramm konzipiert, das der demokratischen
Transformation bis dahin autoritär regierter oder in Anarchie
gestürzter Länder dienen soll. Ignatieff prangert den diesem
Programm inhärenten Neo-Imperialismus an und erinnert an das damit
verbundene Prinzip der ›indirekten‹
Herrschaftsausübung, das einst der britischen Kolonialpolitik
zugrunde lag und heutzutag fröhliche Urständ zu feiern
scheint. Die Legitimierung der mehr oder weniger gewaltsamen
Durchsetzung geopolitischer Interessen, in deren Zentrum die Strategen
einer ehemaligen britischen Kronkolonie, nämlich Angehörige
der USamerikanischen Regierungen aktiv sind, erfolgt auf der Grundlage
einer interventionistischen Reformideologie, der die
Rücksichtnahme auf kulturelle Unterschiede vollkommen schnuppe
ist.
Mit einigen wenigen, wenn auch markanten Änderungen
scheint sich die Geschichte von einst zu wiederholen: Der inzwischen
global agierende Neo-Imperialismus sucht seine ökonomischen
Interessen nicht nur zu schützen, sondern auch in materielle
Vorteile umzumünzen, indem er seinen Zielgesellschaften mit dem
Nationalstaatsmodell einen alten Hut anbietet und zugleich damit die
Liebe zur Demokratie einbläuen will. »Demokratie zu
exportieren«, schreibt der Politologe und OECD-Berater Daniele
Archibugi (12), »steckt den Amerikanern fast schon in den
Genen.« Natürlich ist ihm klar, dass diese Art des
›Exports‹ nicht ihresgleichen hat, da sie weder extreme
Militanz scheut noch auf die Akzeptanz geduldig ausgehandelter,
langfristiger Veränderungsprozesse setzen will. Und wenn es zu
einer Form des Gütertauschs in diesem ungleichen Geschäft
kommt, dann ist es der Re-Export von Kriminalität,
Flüchtlingen, Drogen und Terroristen aus eben den Ländern,
die auf der Weltkarte der Strategen als Kandidaten des Nation-Building
vorgesehen sind. Doch das Scheitern ist den meisten dieser Reform- und
Transformationsstrategien, wie jüngst eine Studie des
Carnegie Endowment for International Peace
nachgewiesen hat, von vornherein eingeschrieben. Es sei denn, die
Strategen nähmen die innenpolitischen Strukturen der
Zielgesellschaften ernst und dächten selbstkritisch nach über
den intrinsischen Wert des Demokratiemodells und machten sich nicht
zuletzt sogar Skrupel über die Frage, mit welchem Recht ein Regime
von einem Außenstandpunkt aus delegitimiert werden kann.
Da
ich vorhabe, einige Phasen der britischen Kolonialpolitik des 19.
Jahrhunderts zu betrachten, bedarf dieser kurze Blick auf
neo-imperialistische Anwandlungen einer kurzen Begründung.
Zunächst gehe ich von der Beobachtung gewisser
struktureller
Ähnlichkeiten zwischen damals und heute aus, der Begriff des
Neo-Imperialismus macht ja nur Sinn, wenn er sich auf den klassischen
Imperialismus als Modell oder Vorläufer beziehen lässt. Und
eben diese Vermutung hat überhaupt erst mein Interesse für
die hier behaupteten Affinitäten und Vergleichsmöglichkeiten
geweckt.
Ein Umstand, der in dem angesprochenen Rahmen
besondere Aufmerksamkeit verdient, ist außerdem in der
Verknüpfung des Reformthemas mit den Bedingungen der jeweils
beteiligten kulturellen Ordnungen zu suchen. Der koloniale
Imperialismus hat weder ahnungslos noch auf ungebremst
erfolgversprechende Weise in die kulturellen Ordnungen der zu
beherrschenden und zu transformierenden Zielgesellschaften eingegriffen
oder gar diese völlig zerstört. Es gab durchaus
Richtungskämpfe unter den damaligen Strategen und darüber
hinaus ehrenwerte wissenschaftliche Versuche, die Eigenheiten der
Fremdkulturen zu verstehen, zu schützen und zu bewahren. Nach
Edward Saids herber Kritik haben alle diese Versuche aber nur zu jenem
Zerrbild des ›Orientalismus‹ beigetragen, dessen
vornehmste Aufgabe die Bestätigung der eigenkulturellen
Überlegenheit war. Tatsächlich stolpert man in den Texten der
unten zitierten britischen Reformschriftsteller immer wieder über
den schlichten Gegensatz zwischen ›zivilisierten‹ und
›barbarischen‹ Kulturen. Auf welcher Seite England, auf
welcher Indien steht, bedarf hier keiner weiteren Worte. Doch ist
entscheidend, dass die Reformer den Gegensatz nicht absolut gesetzt,
sondern ihn auf einer evolutionistischen
»Zivilisationsskala« (J. Mill) verortet haben. Danach steht
die ›barbarische‹ Hindukultur
noch
auf einer frühen, auf der so genannten ›primitiven‹
Stufe, aus der sie herauszuholen, die durch die Kolonialmächte
vertretenen Zivilisierten angetreten sind. Eine bornierte Ansicht, die
sich im Grunde noch in den heute kurrenten Kennzeichnungen für
Agrar- und segmentäre Gesellschaften als ›Entwicklungs- und
Schwellenländer‹ widerspiegelt.
Vermutlich steht selbst noch hinter dem
engineering
des ›Nation-Building‹ nichts anderes als jene
zivilisationsfanatische Heilsbringerattitüde, die schon in den
Rechtfertigungsreden der frühen kolonialen Ausbeuterfeldzüge
den Ton angab. Kein allzu weit hergeholter Verdacht, liest man in den
Publikationen der RAND-Corporation nach, wie diese Institution die
Genese der doch recht neuen politischen Metapher des
›Nation-Building‹ aus dem Gebrauch anderer kampferprobter
angloamerikanischer Begriffe herleitet. Die entsprechende Sequenz
lautet:
occupation, peacekeeping, peace inforcement, stabilization, reconstruction, nation-building.
Eine bezaubernde linguistische Linie, die wie auf einer semantischen
Sinuskurve vom Tatsachenbegriff zum Euphemismus führt. Kurz,
Nation-Building soll heißen: Politiker agieren in der Rolle von
Ingenieuren, die eine Weltordnung nach konservativem Schnittmuster
nicht nur entwerfen, sondern erzwingen wollen, nein
müssen.
Denn wie heißt es doch in der zitierten Publikation der
RAND-Corporation? »Nation-Building, it appears, is the
inescapable responsibility of the world’s only superpower.«
(Archibugi 2006, 15)
Mit einer Weltmacht, die ihr
Selbstverständnis anderen Gesellschaften und Kulturen aufzwingen
wollte, werden wir auch im Fall der britischen Indienpolitik
konfrontiert. Zwar ist eine anfangs zögerliche Haltung dieser
Politik nicht zu übersehen, doch auch sie nahm für sich in
Anspruch, ihr Gewaltmonopol im Namen einer universell gültigen
Idee, nämlich des Zivilisationsfortschritts, auszuüben. Das
gilt jedenfalls dort, wo ähnlich wie in der RAND-Corporation die
Legitimationsdiskurse für diese Politik geschmiedet wurden. Gewiss
war damals im 19. Jahrhundert noch nicht der Think-Tank erfunden, aber
kluge Köpfe gab es genug, die gern für ähnliche Aufgaben
die Verantwortung übernahmen und im Sinne einer programmatisch
ausbuchstabierten Weltanschauungs- und Ideenpolitik zu Werk gingen.
Zu Werk gehen
hieß damals: nicht mit der Flinte an auswärtiger Front,
sondern mit der Feder am heimischen Schreibpult kämpfen.
Es
gehört zu den beeindruckendsten Selbstdarstellungen eines
Schriftstellers, der über den Tag hinaus aufklärend wirken
will, sich aus keinem anderen Grund zum wahren Kenner der von ihm
beschriebenen fremden Kultur zu erklären, weil er diese noch nie
zu Gesicht bekommen hat und noch nicht einmal die dort gesprochenen
Sprachen kennt. Damit bin ich bei dem Protagonisten meiner Betrachtung,
bei James Mill (1773-1836) und seiner
History of British India,
deren erster Band im Jahr 1817 in die Londoner Buchhandlungen geliefert
wurde. Hören wir, was der Autor zu seiner Rechtfertigung zu sagen
hat: »Whatever is worth seeing or hearing in India (schreibt er
im Vorwort), can be expressed in writing. As soon as every thing of
importance is expressed in writing, a man who is duly qualified may
obtain more knowledge of India in one year in his closet in England,
than he could obtain during the course of the longest life, by the use
of his eyes and his ears in India.« (Mill 1826, 1. Bd., 7) Wir
ahnen, da ist was dran, konnte doch z. B. Edward Gibbon, mit dem Mill
von Kollegen verglichen wurde, den Niedergang Roms auch nicht mit
eigenen Augen und Ohren genießen. Aber Vorsicht, Mills History of
British India wurde, ich komme unten noch einmal darauf zurück,
als Vademecum für die in der Fremde aktiven Repräsentanten
britischer Interessen, also für die Kolonisatoren Indiens
geschrieben.
Das zitierte Bekenntnis Mills ist indessen an
dieser Stelle meines Versuchs ein willkommener Anlass, in aller
Kürze etwas über meine eigene Lesart der hier zu
verhandelnden Geschichte zu sagen. Diese Lesart ist keineswegs
bloß idiosynkratisch, denn sie hat einiges von Edward Saids
Beiträgen zu diesem Thema geborgt. Said hat vor allem in
Orientalism (zuerst 1978) und in
Culture and Imperialism
(1993) kenntnisreich und polemisch die diskursiven und
ästhetisierenden Strategien rekonstruiert, die Europa und der
Westen als Begleitmelodien für ihre imperialen Abenteuer
entwickelt haben, Strategien, die zur Kristallisation bestimmter
›Bilder‹ des Ostens, Asiens respektive des
›Orients‹ beigetragen haben. Noch Ende der 70er Jahre des
vergangenen Jahrhunderts glaubte Said, die bis dahin virulente,
Wahrnehmung und Denken prägende Macht dieser
›Bilder‹ beklagen zu müssen (1979, 44). Ich will
hier nicht darüber spekulieren, in welchem Maß die neuen,
den Globalisierungsprozess überlagernden geopolitischen Konflikte
an das kulturelle Gedächtnis der von Said dekonstruierten
Geschichten anschließen. Mein Interesse gilt vielmehr der Frage,
wie sich bestimmte kulturelle Argumentationsmuster in theoretischen
Diskursen manifestieren, die quasi als Produktionsmittel für den
Entwurf praktischer Reformprogramme im Rahmen geopolitischer
Entscheidungen genutzt wurden. Als ein aktueller Nebeneffekt, der mit
meiner Objektwahl zusammenhängt, mag die Paradoxie gelten, dass
sich das multiethnische und ergo multikulturelle Indien heute als
demokratischer Staatenbund einer nationalistischen Bedrohung zu
erwehren hat, deren ideologische Waffen aus dem angestaubten Arsenal
westlicher Kulturreinheits- und Rassentheorien stammen.
Kurzer historischer Abriss: Indien und England im 19. JahrhundertBevor
ich mich dem Gespräch mit Mill und einigen seiner Zeitgenossen
zuwende, muss ich um des besseren Verständnisses willen in aller
Kürze einige Besonderheiten und Ereignisse aus der
britisch-indischen Geschichte in Erinnerung rufen. Ein geeigneter
Kontext sind die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu
beobachtenden Kämpfe zwischen den konservativen und den liberalen,
nach politischen Reformen verlangenden Kräften auf der Insel. Die
englische Regierung, eine konstitutionelle Monarchie mit vitaler,
konflikterprobter Parlamentskultur, hat bis weit in die Mitte des 19.
Jahrhunderts auf totale Herrschaftsausübung über die Kolonie
verzichtet. Anfangs übte sie eine relativ schwache, zum Teil auch
durch ›indirekte‹ Kontrolle gestützte Herrschaft auf
dem fernen Kontinent aus. Akteur vor Ort war die
East India Company,
eine Privatfirma, ausgestattet mit vom Parlament sanktionierten
Privilegien. Eine ziemlich ungewöhnliche Konstellation: Denn die
Company
war lange Zeit weitgehend autonom im Hinblick nicht nur auf Produktion
und Handel, sondern auch auf militärische und im engeren Sinne
territorialpolitische Entscheidungen. Sie war ein privater Wirtschafts-
und Gewaltunternehmer, dessen Aktivitäten sich oft genug in einer
Grauzone der Legitimität bewegten.
Diese außerordentlich flexible
Company
machte, zumindest vom Londoner Herrschaftszentrum aus betrachtet, ihre
Sache sehr gut. Denn es gelang ihr, dank einer geschickten
liberal-merkantilistisch fundierten Finanz- und Militärpolitik
– die
Company hatte
ihre eigenen Söldnerarmeen – andere europäische
Konkurrenten (vor allem die Franzosen) aus dem Feld zu schlagen sowie
nach und nach die kleineren und größeren Herrscher über
indische Territorien entweder aus dem Sattel zu heben oder auf ihre
Seite zu ziehen, wobei letzteres als ein klassisches Muster der
indirekten Herrschaftsausübung anzusehen ist. Die Regierung in
London honorierte die Erfolge der
Company mit der Erteilung des Handelsmonopols, unterwarf ihre Agenda später aber der Kontrolle eines
Comittee of Secrecy,
dessen Entscheidungen für den inzwischen eingesetzten
Generalgouverneur in Indien bindend waren: Es blieb also bei einer nun
konsolidierten indirekten Herrschaft, die durch regierungsamtliche
Unmittelbarkeit zu ersetzen, auf den Widerstand der Parlamentarier, vor
allem der Liberalen, stieß, die das damit verbundene
finanzpolitische Risiko fürchteten. Die Ressourcen waren knapp,
denn England blieb in dieser Epoche zu Wasser und zu Land in
kostspielige militärische Auseinandersetzungen mit anderen
europäischen Mächten verstrickt.
Um 1785 umfassten die von der
Company
verwalteten indischen Gebiete Bengalen im Nordosten, wozu damals ein
Teil des heutigen Bihar gehörte, (auch Calcutta an der
Gangesmündung war eine
Company-Gründung),
einen schmalen östlichen Küstenstreifen und die weiter
südlich gelegene Region Madras. Kaum 50 Jahre später
erstreckte sich die Herrschaft der
Company
bereits auf Dreiviertel vom Umfang des Riesenkontinents (Churchill
1957, 179; 190). Man muss in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass
die Briten nicht gegen einen Staat kämpften, sondern gegen lokale
Mächte: Warlords, hinduistische Rajas, muslimische Moghuls und
Nawabs, aber auch gegen die französische Konkurrenz. Das war wegen
der Kräftezersplitterung von Nachteil, aber manchmal auch von
Vorteil, wenn es zum Beispiel um die Gewinnung lokaler
Bündnisgenossen ging.
Zu den militärisch und diplomatisch erfolgreichsten Akteuren der
Company
gehörten Robert Clive und Warren Hastings. Auf Hasting geht die
erste, Ende des 18. Jahrhunderts eingeleitete umfassende Reform der
Jurisdiktion in Indien zurück, ein weitreichendes, mit
Machtansprüchen verbundenes Unternehmen, das aus
verwaltungstechnischen und ordnungspolitischen Gründen längst
überfällig war und mit der Absicherung von Eigentumsfragen an
Land und Leuten in engstem Zusammenhang stand. Diese Reform ist
für mein Thema bedeutsam, da sie unter den liberalen
Intellektuellen auf der Insel eine lebhafte Diskussion über die
Prinzipien ›guter Herrschaft‹ – neo-aristotelisch:
›good governance› – ausgelöst hat, und James
Mill in dieser Debatte eine radikale, aber äußerst
einflussreiche Meinung vertrat. Im übrigen darf hier durchaus von
einer
indischen Rechtsreform die Rede sein, da die britische Seite sehr bald den Versuch wagte, abweichend vom heimischen
common law,
die im Kolonialland auf Brauch und Sitte beruhenden Rechtspraktiken mit
einem schriftlich kodifizierten Rechtssystem zu versöhnen. Das
setzte das Studium und die Übersetzung hinduistischer und
muslimischer Traditionen voraus. Und genau das übernahm und
förderte der Gelehrte William Jones (1746-94), ein Bewunderer der
indischen Hochkultur, der im Kolonialland für die
Company
tätig war und in Calcutta das erste asiatische Forschungsinstitut
gründete. Jones und Mill – das gilt es festzuhalten –
repräsentierten auf markante Weise zwei sehr unterschiedliche
kolonialpolitische Konzepte: Der puritanische Rationalist Mill wollte
die Hindus mit dem Mittel der ‹Anglisierung‹ von ihrer in
seinen Augen fantastisch verzerrten Kultur ›erlösen‹
(Majeed 1992, 180); der Philologe und Dichter Jones, typischer
Vertreter des eurozentrischen ›Orientalismus‹ (E. Said),
ihnen den besonderen, mit der abendländischen Antike
vergleichbaren Wert ihrer Eigenkultur bewusst machen. Obwohl beide als
Musterschüler der europäischen Aufklärung säkular
dachten, hatte ihr missionarischer Eifer in Sachen Indien durchaus eine
religiöse Färbung.
In der älteren
Geschichtsschreibung über die britische Kolonialpolitik in Indien
wird der Vorwurf, es habe sich von Anfang an um eine
›imperialistische‹ Besitzergreifung gehandelt, oft
empört zurückgewiesen. Besonders rührend ist die
Formulierung Winston Churchills, der in seiner
History of the English-Speaking Peoples
behauptet, Indien sei dem Empire »in a fit of absence of
mind« zugefallen (1957, 182). Versteht man allerdings wie Edward
Said unter ›Imperialismus‹ jeden von außen
kommenden Akt »geographischer Gewalt«, dessen Ziel die
vollkommene Kontrolle über ein fremdes Territorium ist, so
fällt darunter fraglos auch der imperiale Kolonialismus
›britisch Indiens‹ (Said 1993, 225). In Saids Formel
liegt der Akzent auf ›Graphie‹; man könnte
hinzufügen: auf der Rolle des Schreibens als einer diskursiven
Form der Machtausübung, die ein breites, Historiographie,
Kartographie, Ethnographie und Lexikographie einbeziehendes Repertoire
kultureller Besitzergreifungsstrategien umfasst. Nicht von
ungefähr hat der schriftgläubige James Mill mit dem Attribut
›British‹ im Titel seiner Geschichts-Beschreibung die
Kolonie semantisch dem Empire einverleibt. Die Imperialismusforschung
hat diesem Aspekt einer, wie ich es nennen möchte, imperialen
Text-Expansion wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl schon früh
die einschlägige Begleitrhetorik mit Vergils »Tu regere
imperio populos, Romane, memento« den klassichen Kanon für
die eigenen politischen Zwecke dienstbar gemacht hat (Groh 1982, 176;
183).
Noch aber ist zum Zeitpunkt von Mills
History
Indien keine Kronkolonie, sondern in erster Linie der militärisch
gezüchtigte Rohstofflieferant für die heimische Industrie
Englands. Die Ereignisse der Jahre 1857/58 verändern diese
Situation grundlegend: Der britische Staat tritt in der Folge an die
Stelle der privaten
Company,
die auf dem fremden Kontinent 258 Jahre gewirtschaftet hatte, die Krone
setzt einen Vizekönig ein und Queen Victoria schmückt sich
einige Zeit später (20 Jahre später) mit dem Titel
›Empress of India‹, sie wird damit, wie die Inder sagen:
›Kaisar-i-Hind‹. Auslöser für den abrupten
Wandel der britischen Indienpolitik, die damit in ihre eigentlich
hegemoniale, auf Distanz zwischen Kolonialisten und Kolonisierten
bedachte Phase eintrat, war der Sepoy-Aufstand von 1857, auch Great
Mutiny genannt.
Konflikte zwischen indischen Söldnern,
den sog. Sepoys, und ihren britischen Vorgesetzten gab es immer wieder.
Mal waren die Kastengrenzen schuld, mal die schlechte Bezahlung, ein
andermal die Missachtung kultureller bzw. religiöser Sitten. In
den 50er Jahren begann die Company um der militärischen Disziplin
willen die vorher in wenigen Regimentern konzentrierten höheren
Kasten (Brahmanen und Kshatriya) auf die ganze Armee zu verteilen. Das
löste große Unruhe aus, und nun kam eins zum andern: Im
Frühjahr 1857 besetzten die meuternden Söldner Delhi, und
nach und nach dehnte der Aufstand sich auf weitere wichtige Städte
in den nördlichen Provinzen aus. Symptomatisch für die
damalige Gereiztheit war die Reaktion der Söldner auf die
Einführung einer neuen Art Gewehrmunition, deren papierne
Pulverhülsen angeblich mit Rinder- und Schweinefett, in Wahrheit
mit Wachs getränkt waren und deren Spitzen der Soldat wie bei
einer Zigarre mit den Zähnen abbeißen musste, um das Pulver
freizulegen. Die Sepoys waren fest davon überzeugt, dass man sie
mit Gewalt zur Übertretung ihrer religiös motivierten Tabus
zwingen wollte. Auch riefen bald muslimische Agitatoren zum Jihad gegen
die Briten auf und einige kleinere Fürsten sowie einige
Territorialherren schlossen sich dem Aufstand an, der sich in einen 12
Monate währenden Kampf um Wiederherstellung der alten,
vorkolonialen Ordnung verwandelte und die britische Herrschaft
zeitweise ernsthaft gefährdete.
Nach dem Sieg der Briten
und der ihnen treu ergebenen indischen Bundesgenossen über die
Aufständischen und nach unsäglichen, an Zivilisten begangenen
Greueltaten auf beiden Seiten schienen die liberalen Reformideen im
Homeland vollends an Wirkung zu verlieren. Eine ›aristokratische
Schule‹ britischer Staatsbeamter übernahm nun die Macht in
der neuen Kronkolonie, um diese im Geist nicht von
›great‹, sondern von »greater Britain« (C. W.
Dilke) zu missionieren und zu verwalten. Das war zugleich die
Geburtsstunde einer Weltmachtpolitik, deren ideologische Rechtfertigung
die angebliche zivilisatorische Überlegenheit der
angelsächsischen Rasse liefern sollte.
Die utilitaristische Reformphilosophie›Zivilisatorische
Überlegenheit‹ – eine widerwärtige Formulierung,
die ich an dieser Stelle als Signal für den Abbruch des
historischen Summary nutzen möchte, um endlich auf James Mills
Ideen eingehen zu können. Man darf übrigens getrost die Jahre
1857/58 als den entscheidenden Bruch mit dem frühen,
rationalistisch geprägten Reformdiskurs ansehen, für den
beide Seiten, die indischen Aufständischen sowie die britischen
Zwingherren – wenn auch mit ungleich verteilter Gewichtung
– verantwortlich waren.
Die sogenannten Radikalen auf
der Insel, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts über das Wohl
und Wehe im fernen Indien Gedanken machten, gehörten politisch zum
liberalen Flügel, zu den Whigs, und weltanschaulich mehrheitlich
zu den Utilitaristen. Mills Position deckte sich weitgehend mit der
Jeremy Benthams, und die des etwas später als Reformer in Indien
aktiven Lord Macaulay wiederum mit der von Mill. Das sind wichtige
Teilübereinstimmungen, die es zulassen, die mit den genannten
Namen verbundenen politischen und publizistischen Aktivitäten
unter dem Titel einer ›Utilitaristischen Reformbewegung‹
zu verhandeln. Zumal die kritischen Ideen dieser bürgerlichen
Liberalen, auch James Mills Sohn John Stuart gehört zu dieser
Gruppe, sich nicht allein auf Indien, sondern vor allem auch auf die
von sozialer Ungleichheit geprägten Zustände im eigenen Land
bezogen. Die Utilitaristische Reformbewegung attackierte die
traditional begründeten Privilegien des Adels und propagierte
unter dem Schlachtruf ›Pursuit of Happiness!‹ jenes, auch
den heutigen Neo-Liberalen ans Herz gewachsene Modell einer harmonisch
geordneten Wohlfahrtsökonomie, nach dessen Maßgabe jedem
einzelnen die rechtlich geschützte Freiheit zusteht, mit Hilfe
unserer – wie es bei Mill heißt –
»fellow-creatures« den Eigennutz zu maximieren; dieses
Prinzip auf die Kolonien auszudehnen, lag sozusagen in der Natur der
Sache. Die Ursachen der angestrebten Annehmlichkeiten sind zugleich die
geeigneten Mittel, die Mitmenschen in den Dienst der Eigeninteressen zu
stellen. Dazu bedarf es allerdings der durchaus sehr konkret gedachten
Verfügung über ein ökonomisch-politisch-moralisches
Wertsystem, das Mill in die trinitarische Formel »Wealth, Power,
Dignity« gefasst hat (Mill 1869, 208).
James Mill hat
Indien als eine Art Utopia, als einen Ort möglichen Neubeginns
imaginiert, an dem sich ohne den im Homeland zu erwartenden Widerstand
das Experiment einer liberalen, an den soeben angedeuteten Ideen
ausgerichtete Gesellschaftstransformation durchführen lässt.
Seine
History of British India
ist daher nicht als bloße Geschichtserzählung konzipiert,
sie baut vielmehr auf den Prinzipien der utilitaristischen
Reformphilosophie auf und hält an den entscheidenden Stellen
Ratschlag und Empfehlung bereit. Mills Werk ist zugleich ein
Machtinstrument, nicht nur wegen der zahlreichen praktischen
Anweisungen, sondern weil es mit Hilfe der Geschichtserzählung
eine Kultur erschaffen hat, der das Bewusstsein zeitlichen Wandels
angeblich weitgehend fremd war. Wie die Wirkungsgeschichte zeigt, hat
das dem Werk nicht geschadet; im Gegenteil, es hat seine Verbreitung
als ideenpolitische Propaganda und normative Handreichung unter
englischen, aber auch unter indischen Kolonialbeamten enorm
gefördert.
Über Mills Vorurteile, die er
wahrscheinlich mit der Mehrheit seiner europäischen Zeitgenossen
geteilt hat, über seinen ausgeprägten
Zivilisationsdünkel und seine Verdrängungsmanie ist viel
geschrieben worden. Das brauche ich hier nicht zu wiederholen, muss
allerdings zugeben, in der inkriminierten, in der Schreibweise dieses
Autors hervorragend verkörperten Borniertheit, liegt der Grund
für einige der schwerwiegendsten Verzerrungen der liberalen
Reformphilosophie offen zutage. Ich will dieses Übel mit den
Worten Hegels, eines fleißigen Lesers der Millschen
History illustrieren und zitiere zu diesem Zweck aus den
Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte:
»aus der Pracht des indischen Lebens und aus seinen Reichen [ist]
das Element der Sittlichkeit verbannt. Über jener Unfreiheit der
naturfesten Ständigkeit von Ordnung [der Kasten] ist aller
Zusammenhang der Gesellschaft wilde Willkür, vergängliches
Treiben oder vielmehr Wüten ohne einen Endzweck des Fortschreitens
und der Entwicklung: so ist kein denkendes Andenken, kein Gegenstand
für die Mnemosyne vorhanden, und eine, wenn auch tiefere, doch nur
wüste Phantasie treibt sich auf dem Boden herum, welcher einen
festen [...] Zweck in sich haben und sich damit der Geschichte
fähig hätte machen sollen.« (1955, 166) Der Sinn dieser
Sätze, die so verschroben klingen, als stamme die
Vorlesungsmitschrift vom älteren Hölderlin, ist für Mill
wie für Hegel klar: Der eine – Mill – bemängelt
die völlige Abwesenheit eines rationalen, Glück und Tugend
versöhnenden Endzwecks der Kultur; der andere – Hegel
– die Abwesenheit jener Vernunft in der Gesellschaft, die als
Vorbote einer modernen Staatsform und damit zugleich einer
geschichtlichen Bewegung zu begreifen ist, in deren Prozess sich der
Geist, um zu sich selbst zu kommen, von naturwüchsiger
Willkür löst. Mit einfachen Worten: Indien hat keine
Geschichte und ist insofern das ganz Andere, an dem sich nach Mill der
aufgeklärte Europäer als Kolonialist in der Rolle des
prometheischen Schöpfers einer liberalen Gesellschaft nach
utilitaristischem Zuschnitt versuchen darf.
Interessant ist
Mills Kritik vor allem auch im Hinblick auf das von ihm und anderen
europäischen Beobachtern festgestellte Manko ordnender und
geordneter Zusammenhänge nicht nur im sozialen und politischen,
sondern auch im geistigen Leben der hinduistischen Kultur. Systemische,
auf Kausalität bzw. auf zweckrationalen Entscheidungen beruhende
Zusammenhänge zu stiften, ist, so lautet Mills Behauptung, dem
›mentalen Habitus‹ dieser Kultur fremd. Es bedarf, das
ist aus seiner Kritik herauszuhören, einer »power of
combination« (Mill), die einheitsstiftende Zwecke verfolgt, um
aus einer Vielheit untereinander konkurrierender Staaten eine Nation
und aus einem Patchwork irrationaler Religionskulte ein homogenes
säkulares Kulturbewusstsein entstehen zu lassen. Aus der Vielzahl
einschlägiger Äußerungen greife ich eine Stelle heraus,
an der Mill sich über die Gründe der territioralen
Fragmentierung des Kontinents seine Gedanken macht: »Of all the
results of civilization, that forming a combination of different
states, and directing their powers to one common object, seems to be
one of the least consistent with the mental habits and attainments of
the Hindus. It is the want of this power of combination which has
rendered India so easy a conquest to all invaders; and enables us to
retain, so easily, that dominion over it which we have acquired.«
(zit. nach Inden 2006, 38)
Insgeheim aber zielt Mills
imaginäre Reform der indischen Fremdkultur auch auf prekäre
Zustände im heimischen Inselstaat. Denn sie ist vor allem gegen
die Dominanz jener konservativen Machenschaften gerichtet, die sich der
Abwehr der von Frankreich her drohenden Revolutionsideen verschrieben
hatten. Auch Mill wollte keine Revolution. Er dachte an eine auf
allgemeingültigen rationalen Prinzipien beruhende Reform und
argumentierte im Rahmen klassischer Politikmodelle: So plädierte
er für den Aufbau eines »middle rank«, eines
Mittelstands in Indien, eine Forderung, die wenige Jahrzehnte
später auch Marx aus, versteht sich, ganz anderen
Beweggründen erhob. (Marx [1853]1972, 325) Die Empfehlungen in
Mills liberaler, vordergründig auf Indien, aber implizit auch auf
England bezogenen Reformagenda galten vor allem den folgenden vier,
systemisch dicht verflochtenen Institutionen:
1.einer
fortschrittlichen, am Wohl des sozialen Ganzen orientierten Regierung,
mit anderen Worten, dem, was heute ›good governance‹
genannt wird;
2.ein schriftlich niedergelegtes Gesetzeswerk,
geschaffen aus der Perspektive eines ›universellen
Gesetzgebers‹ (Bentham), der kulturelle Unterschiede zu erkennen
und komparatistisch auszutarieren vermag;
3.ein auf die indigenen
Eliten bezogenes, Aufklärung und Alphabetisierung förderndes
Bildungssystem; mit Mills eigenen Worten: »The most efficient
part of education is that which is derived from the tone and temper of
the society; and the tone and temper of the society depend altogether
upon the laws and government. Again; ignorance is the natural
concomitant of poverty; a people wretchedly poor, are always wretchedly
ignorant. But poverty is the effect of bad laws, and bad government;
and is never characteristic of any people who are governed well.«
(Mill 1848, 5. Bd., 634); – und schließlich
4.die
allmähliche Einführung der Druck- und Pressefreiheit, da nur
durch sie, argumentierte Mill, die Verbreitung ›nützlicher
Bücher‹ (im Sinne der utilitaristischen Wertideen) zu
garantieren sei. »Among the other admirable effects of a free
press, one is, that it makes it the interest of government that the
people should receive the highest possible instruction. [...]
Considering the mental state of the people of India, it is possible
that among them, at the present moment, the unrestrained use of the
press might be attended with invonveniencies of a serious nature, and
such as would surpass the evils it would remove. There is no people,
however, among whom it may not be introduced by degrees.« (Mill
1848, 5. Bd., 635)
Eines sollte ins andere greifen: ›good
governance‹ die Armut bekämpfen, die Gesetzgebung staatlich
garantierte, von der Exekutive zu überwachende Sicherheit bringen,
und beides den Zugang zur Bildung und zu einer wie auch immer
beschaffenen diskursiven Öffentlichkeit ebnen. Die praktische
Umsetzung dieses Reformprogramms sollte zunächst den, wie Mill
gerne sagt, »English gentlemen« in Indien vorbehalten
bleiben, um später von der unter deren Einfluss an den
Zivilisationsprogress angedockten heimischen Elite fortgesetzt zu
werden. Macaulay, der 1833 auf Mills Empfehlung ein Amt als
Rechtsexperte im Generalgouvernement Indiens übernahm,
präzisierte in einer berühmten,
Minute of Indian Education
überschriebenen Rede: »We must at present do our best to
form a class who may be interpreters between us and the millions whom
we govern; a class of persons, Indian in blood and colour, but English
in taste, in opinions, in morals, and in intellect. To that class we
may leave it to refine the vernacular dialects of the country, to
enrich those dialects with terms of science borrowed from the Western
nomenclature, and to render them by degrees fit vehicles for conveying
knowledge to the great mass of the population.« Als hoher
Verwaltungsbeamter konnte Macaulay über manche Mittel
verfügen, um dieses Programm der Anglisierung auf den Weg zu
bringen, wozu vor allem Schul- und College-Gründungen unter
britischer Suprematie gehörten. Obwohl Mill, und zwar nicht nur in
der Bildungsfrage, von seinen Zeitgenossen als der eigentliche
Generalreformer eines Landes betrachtet wurde, das er selber niemals
betreten hatte (Majeed 1992, 193), ist es Macaulay, der bis heute den
zweideutigen Ruhm eines Ziehvaters der in englischen Schulen und
Universitäten ausgebildeten indischen Elite
(›Macaulay’s children‹) genießt.
Immerhin
ist die heute in Indien selbstverständliche Polyglossie, in der
das Englische eine sprachenübergreifende Vermittlerrolle spielt
und sich darüber hinaus in einer ästhetisch
hochkarätigen, weltweit anerkannten Buchkultur manifestiert, erst
in der Zeit nach 1857/58 in größerem Umfang vorbereitet
worden. Die Idee darf wohl den frühen Reformideologen
zugeschrieben werden, aber der utilitaristische Begründungsdiskurs
hat, weil er im Mutterland der Reformer teils auf Unverständnis,
teils auf politisch motivierten Widerstand stieß, die Umsetzung
lange behindert bzw. verzögert. Ähnlich erging es den
Versuchen zur Einsetzung eines nach den Ideen von Bentham und Mill
ausgestalteten Rechtssystems. Über das dieser Reform zugrunde
liegende Prinzip schreibt einer der modernen Kommentatoren: »Part
of the legislator’s task consisted of comparing and contrasting
legal traditions by using the general principle of utility, on the
basis of which existing laws and institutions were criticized.«
(Majeed 1992, 130f.)
Der Zugang zu den englischen Schulen Indiens blieb freilich auch später den
happy few
der höheren Kasten vorbehalten, was nicht weiter verwundern muss,
da auch in Europa die allgemeine, vom Staat verordnete Bildungspflicht
sehr spät, in England selbst erst 1870 in Kraft getreten ist. Die
britische Kolonialmacht hat allerdings ihre Politik einer auf loyale
Anhänglichkeit rechnenden Elitebildung auch später nicht
revidiert. Heutige Sozialwissenschaftler machen daher die Fortsetzung
dieser Politik nach der Unabhängigkeit von 1947 verantwortlich
für jenen aktuell zu verzeichnenden
Alphabetisierungsrückstand, wonach 50 Prozent der Inder und 75
Prozent der Inderinnen weder schreiben noch lesen können (Sen
2005, 116).
Indische ReaktionenEs
bedarf wohl keiner weiteren Beweise, dass die englische Reformpolitik
in Indien im Sinne struktureller Gewalt vor allem auf Festigung der
Abhängigkeit vom Zentrum des Commonwealth zielte. Von der
strukturellen zur direkten Gewalt, von der Reformpolitik zum
Militär- oder Polizeieinsatz zu wechseln, bereitete dem
autoritären Kolonialregime keine Schwierigkeiten. Eine ganz andere
Frage ist die nach den Reaktionen der einheimischen Eliten. Darauf kann
ich hier zum Schluss nur wenige Hinweise geben. Es ist nicht zu
leugnen, dass der Besuch britisch dominierter Eliteschulen, eine
Karriere in der Kolonialverwaltung oder ein Studienaufenthalt an
englischen Universitäten in nachhaltiger Weise den kulturellen
Wandel Indiens eingeleitet haben, zumindest gilt das für die
höheren Kasten. Bereits 1828 gründete der in der Verwaltung
der
East India Company zu Ehren gekommene Brahmane Raja Rammohun Roy (1772-1833) eine Reformgesellschaft, die bis heute bestehende
Brahmo Samaj.
Der Gründer selbst, der als Inaugurator der indischen
Modernisierungsbewegung gefeiert wird, hatte neben
kultisch-religiösen auch soziale Reformen im Sinn, die sich an
Idealen orientierten, die zwar westlicher Herkunft, aber selbst in
Europa zu dieser Zeit noch heftig umkämpft waren: z. B. an
Forderungen zur Gleichstellung der Geschlechter, oder an der
Vereinheitlichung religiöser Kult- und Exegeseformen – hier
im Dialog mit dem jüdisch-christlichen Monotheismus. Roys
Reformprojekt hat, wie auch das seiner zahlreichen Nachfolger, die
direkte Auseinandersetzung mit James Mill und William Jones gesucht.
Auch hier wirkte Mills Geschichtsbeschreibung wie ein Katalysator, da
die Lektüre dieses Werks mit der Suche der indischen Reformer nach
den historischen Wurzeln ihrer Eigenkultur den nationalpolitischen
Diskurs in Schwung gebracht hat. All diese Reformer (Rammohun Roy,
Dayanand Sarasvati, Swami Vivekananda, Sayyid Ahmad Khan) arbeiteten
letztenendlich an der Konstruktion einer indischen Nationalkultur aus
dem Geist einer gemeinsamen Geschichte (Gottlob 2002, 170ff.)
1885
trat in Bombay eine Versammlung indischer Reformer und
Kolonialismuskritiker zusammen, allesamt Absolventen des englisch
geprägten Bildungssystems, um den
Indian National Congress
zu gründen, Vorläufer der gleichnamigen, die
Unabhängigkeitsbewegung vorantreibenden Partei. Diese politische
Gründung fiel in eine Zeit, in der auch die akademische
Professionalisierung der indischen Geschichtsschreibung einsetzte, eine
Entwicklung, die allerdings niemals an der Verbindung zur politischen
Agenda nationalen Denkens gezweifelt hat. Denn zum einen hatte sich die
eigenkulturelle Historiographie an den kolonialen Geschichtsbildern
à la James Mill abzuarbeiten, zum andern aber mündete die
Suche nach dem maßgebenden Begründungsdiskurs der nationalen
Einheit zwangsläufig in Kämpfen um historische Erinnerung,
die bis heute andauern. Der Prozess des Nation-Building, den die
politischen Aktivisten Indiens zur Zeit des Aufstands gegen die
britische Kolonialmacht in eigener Regie einleiteten, ist jedoch mit
der westlichen Idee einer homogenen Nationalkultur und entsprechenden
Herrschaftsform nicht vereinbar. Nicht zuletzt hatten die Inder am
eigenen Leib erfahren, wie einfach es ist, dieses Modell zur
Rechtfertigung von Gewalt zu nutzen. Es war daher nicht nur Ironie als
Gandhi bei einem Englandbesuch auf die Frage, was er von der westlichen
Zivilisation halte, antwortete: »It would be a good idea.«
(Sen 2005, 107)
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