Dietrich Harth
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James Mill und die britische ›Reform‹ Indiens


Nation-Building und Imperialismus

In einer 2003 erschienen Essaysammlung mit dem Titel Empire lite. Nation Building in Afghanistan, Kosovo and Bosnia klagt Michael Ignatieff die Verlogenheit in den Strategien der von den Großmächten ausgehenden Nation-Building-Kampagnen im Mittleren Osten und auf dem Balkan an. Nation-Building ist nach Ansicht der westlichen Machtzentralen und ihrer Hilfsagenturen (z.B. der UN) als ein Reformprogramm konzipiert, das der demokratischen Transformation bis dahin autoritär regierter oder in Anarchie gestürzter Länder dienen soll. Ignatieff prangert den diesem Programm inhärenten Neo-Imperialismus an und erinnert an das damit verbundene Prinzip der ›indirekten‹ Herrschaftsausübung, das einst der britischen Kolonialpolitik zugrunde lag und heutzutag fröhliche Urständ zu feiern scheint. Die Legitimierung der mehr oder weniger gewaltsamen Durchsetzung geopolitischer Interessen, in deren Zentrum die Strategen einer ehemaligen britischen Kronkolonie, nämlich Angehörige der USamerikanischen Regierungen aktiv sind, erfolgt auf der Grundlage einer interventionistischen Reformideologie, der die Rücksichtnahme auf kulturelle Unterschiede vollkommen schnuppe ist.

Mit einigen wenigen, wenn auch markanten Änderungen scheint sich die Geschichte von einst zu wiederholen: Der inzwischen global agierende Neo-Imperialismus sucht seine ökonomischen Interessen nicht nur zu schützen, sondern auch in materielle Vorteile umzumünzen, indem er seinen Zielgesellschaften mit dem Nationalstaatsmodell einen alten Hut anbietet und zugleich damit die Liebe zur Demokratie einbläuen will. »Demokratie zu exportieren«, schreibt der Politologe und OECD-Berater Daniele Archibugi (12), »steckt den Amerikanern fast schon in den Genen.« Natürlich ist ihm klar, dass diese Art des ›Exports‹ nicht ihresgleichen hat, da sie weder extreme Militanz scheut noch auf die Akzeptanz geduldig ausgehandelter, langfristiger Veränderungsprozesse setzen will. Und wenn es zu einer Form des Gütertauschs in diesem ungleichen Geschäft kommt, dann ist es der Re-Export von Kriminalität, Flüchtlingen, Drogen und Terroristen aus eben den Ländern, die auf der Weltkarte der Strategen als Kandidaten des Nation-Building vorgesehen sind. Doch das Scheitern ist den meisten dieser Reform- und Transformationsstrategien, wie jüngst eine Studie des Carnegie Endowment for International Peace nachgewiesen hat, von vornherein eingeschrieben. Es sei denn, die Strategen nähmen die innenpolitischen Strukturen der Zielgesellschaften ernst und dächten selbstkritisch nach über den intrinsischen Wert des Demokratiemodells und machten sich nicht zuletzt sogar Skrupel über die Frage, mit welchem Recht ein Regime von einem Außenstandpunkt aus delegitimiert werden kann.

Da ich vorhabe, einige Phasen der britischen Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts zu betrachten, bedarf dieser kurze Blick auf neo-imperialistische Anwandlungen einer kurzen Begründung. Zunächst gehe ich von der Beobachtung gewisser struktureller Ähnlichkeiten zwischen damals und heute aus, der Begriff des Neo-Imperialismus macht ja nur Sinn, wenn er sich auf den klassischen Imperialismus als Modell oder Vorläufer beziehen lässt. Und eben diese Vermutung hat überhaupt erst mein Interesse für die hier behaupteten Affinitäten und Vergleichsmöglichkeiten geweckt.

Ein Umstand, der in dem angesprochenen Rahmen besondere Aufmerksamkeit verdient, ist außerdem in der Verknüpfung des Reformthemas mit den Bedingungen der jeweils beteiligten kulturellen Ordnungen zu suchen. Der koloniale Imperialismus hat weder ahnungslos noch auf ungebremst erfolgversprechende Weise in die kulturellen Ordnungen der zu beherrschenden und zu transformierenden Zielgesellschaften eingegriffen oder gar diese völlig zerstört. Es gab durchaus Richtungskämpfe unter den damaligen Strategen und darüber hinaus ehrenwerte wissenschaftliche Versuche, die Eigenheiten der Fremdkulturen zu verstehen, zu schützen und zu bewahren. Nach Edward Saids herber Kritik haben alle diese Versuche aber nur zu jenem Zerrbild des ›Orientalismus‹ beigetragen, dessen vornehmste Aufgabe die Bestätigung der eigenkulturellen Überlegenheit war. Tatsächlich stolpert man in den Texten der unten zitierten britischen Reformschriftsteller immer wieder über den schlichten Gegensatz zwischen ›zivilisierten‹ und ›barbarischen‹ Kulturen. Auf welcher Seite England, auf welcher Indien steht, bedarf hier keiner weiteren Worte. Doch ist entscheidend, dass die Reformer den Gegensatz nicht absolut gesetzt, sondern ihn auf einer evolutionistischen »Zivilisationsskala« (J. Mill) verortet haben. Danach steht die ›barbarische‹ Hindukultur noch auf einer frühen, auf der so genannten ›primitiven‹ Stufe, aus der sie herauszuholen, die durch die Kolonialmächte vertretenen Zivilisierten angetreten sind. Eine bornierte Ansicht, die sich im Grunde noch in den heute kurrenten Kennzeichnungen für Agrar- und segmentäre Gesellschaften als ›Entwicklungs- und Schwellenländer‹ widerspiegelt.

Vermutlich steht selbst noch hinter dem engineering des ›Nation-Building‹ nichts anderes als jene zivilisationsfanatische Heilsbringerattitüde, die schon in den Rechtfertigungsreden der frühen kolonialen Ausbeuterfeldzüge den Ton angab. Kein allzu weit hergeholter Verdacht, liest man in den Publikationen der RAND-Corporation nach, wie diese Institution die Genese der doch recht neuen politischen Metapher des ›Nation-Building‹ aus dem Gebrauch anderer kampferprobter angloamerikanischer Begriffe herleitet. Die entsprechende Sequenz lautet: occupation, peacekeeping, peace inforcement, stabilization, reconstruction, nation-building. Eine bezaubernde linguistische Linie, die wie auf einer semantischen Sinuskurve vom Tatsachenbegriff zum Euphemismus führt. Kurz, Nation-Building soll heißen: Politiker agieren in der Rolle von Ingenieuren, die eine Weltordnung nach konservativem Schnittmuster nicht nur entwerfen, sondern erzwingen wollen, nein müssen. Denn wie heißt es doch in der zitierten Publikation der RAND-Corporation? »Nation-Building, it appears, is the inescapable responsibility of the world’s only superpower.« (Archibugi 2006, 15)

Mit einer Weltmacht, die ihr Selbstverständnis anderen Gesellschaften und Kulturen aufzwingen wollte, werden wir auch im Fall der britischen Indienpolitik konfrontiert. Zwar ist eine anfangs zögerliche Haltung dieser Politik nicht zu übersehen, doch auch sie nahm für sich in Anspruch, ihr Gewaltmonopol im Namen einer universell gültigen Idee, nämlich des Zivilisationsfortschritts, auszuüben. Das gilt jedenfalls dort, wo ähnlich wie in der RAND-Corporation die Legitimationsdiskurse für diese Politik geschmiedet wurden. Gewiss war damals im 19. Jahrhundert noch nicht der Think-Tank erfunden, aber kluge Köpfe gab es genug, die gern für ähnliche Aufgaben die Verantwortung übernahmen und im Sinne einer programmatisch ausbuchstabierten Weltanschauungs- und Ideenpolitik zu Werk gingen. Zu Werk gehen hieß damals: nicht mit der Flinte an auswärtiger Front, sondern mit der Feder am heimischen Schreibpult kämpfen.

Es gehört zu den beeindruckendsten Selbstdarstellungen eines Schriftstellers, der über den Tag hinaus aufklärend wirken will, sich aus keinem anderen Grund zum wahren Kenner der von ihm beschriebenen fremden Kultur zu erklären, weil er diese noch nie zu Gesicht bekommen hat und noch nicht einmal die dort gesprochenen Sprachen kennt. Damit bin ich bei dem Protagonisten meiner Betrachtung, bei James Mill (1773-1836) und seiner History of British India, deren erster Band im Jahr 1817 in die Londoner Buchhandlungen geliefert wurde. Hören wir, was der Autor zu seiner Rechtfertigung zu sagen hat: »Whatever is worth seeing or hearing in India (schreibt er im Vorwort), can be expressed in writing. As soon as every thing of importance is expressed in writing, a man who is duly qualified may obtain more knowledge of India in one year in his closet in England, than he could obtain during the course of the longest life, by the use of his eyes and his ears in India.« (Mill 1826, 1. Bd., 7) Wir ahnen, da ist was dran, konnte doch z. B. Edward Gibbon, mit dem Mill von Kollegen verglichen wurde, den Niedergang Roms auch nicht mit eigenen Augen und Ohren genießen. Aber Vorsicht, Mills History of British India wurde, ich komme unten noch einmal darauf zurück, als Vademecum für die in der Fremde aktiven Repräsentanten britischer Interessen, also für die Kolonisatoren Indiens geschrieben.

Das zitierte Bekenntnis Mills ist indessen an dieser Stelle meines Versuchs ein willkommener Anlass, in aller Kürze etwas über meine eigene Lesart der hier zu verhandelnden Geschichte zu sagen. Diese Lesart ist keineswegs bloß idiosynkratisch, denn sie hat einiges von Edward Saids Beiträgen zu diesem Thema geborgt. Said hat vor allem in Orientalism (zuerst 1978) und in Culture and Imperialism (1993) kenntnisreich und polemisch die diskursiven und ästhetisierenden Strategien rekonstruiert, die Europa und der Westen als Begleitmelodien für ihre imperialen Abenteuer entwickelt haben, Strategien, die zur Kristallisation bestimmter ›Bilder‹ des Ostens, Asiens respektive des ›Orients‹ beigetragen haben. Noch Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts glaubte Said, die bis dahin virulente, Wahrnehmung und Denken prägende Macht dieser ›Bilder‹ beklagen zu müssen (1979, 44). Ich will hier nicht darüber spekulieren, in welchem Maß die neuen, den Globalisierungsprozess überlagernden geopolitischen Konflikte an das kulturelle Gedächtnis der von Said dekonstruierten Geschichten anschließen. Mein Interesse gilt vielmehr der Frage, wie sich bestimmte kulturelle Argumentationsmuster in theoretischen Diskursen manifestieren, die quasi als Produktionsmittel für den Entwurf praktischer Reformprogramme im Rahmen geopolitischer Entscheidungen genutzt wurden. Als ein aktueller Nebeneffekt, der mit meiner Objektwahl zusammenhängt, mag die Paradoxie gelten, dass sich das multiethnische und ergo multikulturelle Indien heute als demokratischer Staatenbund einer nationalistischen Bedrohung zu erwehren hat, deren ideologische Waffen aus dem angestaubten Arsenal westlicher Kulturreinheits- und Rassentheorien stammen.


Kurzer historischer Abriss: Indien und England im 19. Jahrhundert

Bevor ich mich dem Gespräch mit Mill und einigen seiner Zeitgenossen zuwende, muss ich um des besseren Verständnisses willen in aller Kürze einige Besonderheiten und Ereignisse aus der britisch-indischen Geschichte in Erinnerung rufen. Ein geeigneter Kontext sind die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu beobachtenden Kämpfe zwischen den konservativen und den liberalen, nach politischen Reformen verlangenden Kräften auf der Insel. Die englische Regierung, eine konstitutionelle Monarchie mit vitaler, konflikterprobter Parlamentskultur, hat bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts auf totale Herrschaftsausübung über die Kolonie verzichtet. Anfangs übte sie eine relativ schwache, zum Teil auch durch ›indirekte‹ Kontrolle gestützte Herrschaft auf dem fernen Kontinent aus. Akteur vor Ort war die East India Company, eine Privatfirma, ausgestattet mit vom Parlament sanktionierten Privilegien. Eine ziemlich ungewöhnliche Konstellation: Denn die Company war lange Zeit weitgehend autonom im Hinblick nicht nur auf Produktion und Handel, sondern auch auf militärische und im engeren Sinne territorialpolitische Entscheidungen. Sie war ein privater Wirtschafts- und Gewaltunternehmer, dessen Aktivitäten sich oft genug in einer Grauzone der Legitimität bewegten.

Diese außerordentlich flexible Company machte, zumindest vom Londoner Herrschaftszentrum aus betrachtet, ihre Sache sehr gut. Denn es gelang ihr, dank einer geschickten liberal-merkantilistisch fundierten Finanz- und Militärpolitik – die Company hatte ihre eigenen Söldnerarmeen – andere europäische Konkurrenten (vor allem die Franzosen) aus dem Feld zu schlagen sowie nach und nach die kleineren und größeren Herrscher über indische Territorien entweder aus dem Sattel zu heben oder auf ihre Seite zu ziehen, wobei letzteres als ein klassisches Muster der indirekten Herrschaftsausübung anzusehen ist. Die Regierung in London honorierte die Erfolge der Company mit der Erteilung des Handelsmonopols, unterwarf ihre Agenda später aber der Kontrolle eines Comittee of Secrecy, dessen Entscheidungen für den inzwischen eingesetzten Generalgouverneur in Indien bindend waren: Es blieb also bei einer nun konsolidierten indirekten Herrschaft, die durch regierungsamtliche Unmittelbarkeit zu ersetzen, auf den Widerstand der Parlamentarier, vor allem der Liberalen, stieß, die das damit verbundene finanzpolitische Risiko fürchteten. Die Ressourcen waren knapp, denn England blieb in dieser Epoche zu Wasser und zu Land in kostspielige militärische Auseinandersetzungen mit anderen europäischen Mächten verstrickt.

Um 1785 umfassten die von der Company verwalteten indischen Gebiete Bengalen im Nordosten, wozu damals ein Teil des heutigen Bihar gehörte, (auch Calcutta an der Gangesmündung war eine Company-Gründung), einen schmalen östlichen Küstenstreifen und die weiter südlich gelegene Region Madras. Kaum 50 Jahre später erstreckte sich die Herrschaft der Company bereits auf Dreiviertel vom Umfang des Riesenkontinents (Churchill 1957, 179; 190). Man muss in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Briten nicht gegen einen Staat kämpften, sondern gegen lokale Mächte: Warlords, hinduistische Rajas, muslimische Moghuls und Nawabs, aber auch gegen die französische Konkurrenz. Das war wegen der Kräftezersplitterung von Nachteil, aber manchmal auch von Vorteil, wenn es zum Beispiel um die Gewinnung lokaler Bündnisgenossen ging.

Zu den militärisch und diplomatisch erfolgreichsten Akteuren der Company gehörten Robert Clive und Warren Hastings. Auf Hasting geht die erste, Ende des 18. Jahrhunderts eingeleitete umfassende Reform der Jurisdiktion in Indien zurück, ein weitreichendes, mit Machtansprüchen verbundenes Unternehmen, das aus verwaltungstechnischen und ordnungspolitischen Gründen längst überfällig war und mit der Absicherung von Eigentumsfragen an Land und Leuten in engstem Zusammenhang stand. Diese Reform ist für mein Thema bedeutsam, da sie unter den liberalen Intellektuellen auf der Insel eine lebhafte Diskussion über die Prinzipien ›guter Herrschaft‹ – neo-aristotelisch: ›good governance› – ausgelöst hat, und James Mill in dieser Debatte eine radikale, aber äußerst einflussreiche Meinung vertrat. Im übrigen darf hier durchaus von einer indischen Rechtsreform die Rede sein, da die britische Seite sehr bald den Versuch wagte, abweichend vom heimischen common law, die im Kolonialland auf Brauch und Sitte beruhenden Rechtspraktiken mit einem schriftlich kodifizierten Rechtssystem zu versöhnen. Das setzte das Studium und die Übersetzung hinduistischer und muslimischer Traditionen voraus. Und genau das übernahm und förderte der Gelehrte William Jones (1746-94), ein Bewunderer der indischen Hochkultur, der im Kolonialland für die Company tätig war und in Calcutta das erste asiatische Forschungsinstitut gründete. Jones und Mill – das gilt es festzuhalten – repräsentierten auf markante Weise zwei sehr unterschiedliche kolonialpolitische Konzepte: Der puritanische Rationalist Mill wollte die Hindus mit dem Mittel der ‹Anglisierung‹ von ihrer in seinen Augen fantastisch verzerrten Kultur ›erlösen‹ (Majeed 1992, 180); der Philologe und Dichter Jones, typischer Vertreter des eurozentrischen ›Orientalismus‹ (E. Said), ihnen den besonderen, mit der abendländischen Antike vergleichbaren Wert ihrer Eigenkultur bewusst machen. Obwohl beide als Musterschüler der europäischen Aufklärung säkular dachten, hatte ihr missionarischer Eifer in Sachen Indien durchaus eine religiöse Färbung.

In der älteren Geschichtsschreibung über die britische Kolonialpolitik in Indien wird der Vorwurf, es habe sich von Anfang an um eine ›imperialistische‹ Besitzergreifung gehandelt, oft empört zurückgewiesen. Besonders rührend ist die Formulierung Winston Churchills, der in seiner History of the English-Speaking Peoples behauptet, Indien sei dem Empire »in a fit of absence of mind« zugefallen (1957, 182). Versteht man allerdings wie Edward Said unter ›Imperialismus‹ jeden von außen kommenden Akt »geographischer Gewalt«, dessen Ziel die vollkommene Kontrolle über ein fremdes Territorium ist, so fällt darunter fraglos auch der imperiale Kolonialismus ›britisch Indiens‹ (Said 1993, 225). In Saids Formel liegt der Akzent auf ›Graphie‹; man könnte hinzufügen: auf der Rolle des Schreibens als einer diskursiven Form der Machtausübung, die ein breites, Historiographie, Kartographie, Ethnographie und Lexikographie einbeziehendes Repertoire kultureller Besitzergreifungsstrategien umfasst. Nicht von ungefähr hat der schriftgläubige James Mill mit dem Attribut ›British‹ im Titel seiner Geschichts-Beschreibung die Kolonie semantisch dem Empire einverleibt. Die Imperialismusforschung hat diesem Aspekt einer, wie ich es nennen möchte, imperialen Text-Expansion wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl schon früh die einschlägige Begleitrhetorik mit Vergils »Tu regere imperio populos, Romane, memento« den klassichen Kanon für die eigenen politischen Zwecke dienstbar gemacht hat (Groh 1982, 176; 183).
 
Noch aber ist zum Zeitpunkt von Mills History Indien keine Kronkolonie, sondern in erster Linie der militärisch gezüchtigte Rohstofflieferant für die heimische Industrie Englands. Die Ereignisse der Jahre 1857/58 verändern diese Situation grundlegend: Der britische Staat tritt in der Folge an die Stelle der privaten Company, die auf dem fremden Kontinent 258 Jahre gewirtschaftet hatte, die Krone setzt einen Vizekönig ein und Queen Victoria schmückt sich einige Zeit später (20 Jahre später) mit dem Titel ›Empress of India‹, sie wird damit, wie die Inder sagen: ›Kaisar-i-Hind‹. Auslöser für den abrupten Wandel der britischen Indienpolitik, die damit in ihre eigentlich hegemoniale, auf Distanz zwischen Kolonialisten und Kolonisierten bedachte Phase eintrat, war der Sepoy-Aufstand von 1857, auch Great Mutiny genannt.

Konflikte zwischen indischen Söldnern, den sog. Sepoys, und ihren britischen Vorgesetzten gab es immer wieder. Mal waren die Kastengrenzen schuld, mal die schlechte Bezahlung, ein andermal die Missachtung kultureller bzw. religiöser Sitten. In den 50er Jahren begann die Company um der militärischen Disziplin willen die vorher in wenigen Regimentern konzentrierten höheren Kasten (Brahmanen und Kshatriya) auf die ganze Armee zu verteilen. Das löste große Unruhe aus, und nun kam eins zum andern: Im Frühjahr 1857 besetzten die meuternden Söldner Delhi, und nach und nach dehnte der Aufstand sich auf weitere wichtige Städte in den nördlichen Provinzen aus. Symptomatisch für die damalige Gereiztheit war die Reaktion der Söldner auf die Einführung einer neuen Art Gewehrmunition, deren papierne Pulverhülsen angeblich mit Rinder- und Schweinefett, in Wahrheit mit Wachs getränkt waren und deren Spitzen der Soldat wie bei einer Zigarre mit den Zähnen abbeißen musste, um das Pulver freizulegen. Die Sepoys waren fest davon überzeugt, dass man sie mit Gewalt zur Übertretung ihrer religiös motivierten Tabus zwingen wollte. Auch riefen bald muslimische Agitatoren zum Jihad gegen die Briten auf und einige kleinere Fürsten sowie einige Territorialherren schlossen sich dem Aufstand an, der sich in einen 12 Monate währenden Kampf um Wiederherstellung der alten, vorkolonialen Ordnung verwandelte und die britische Herrschaft zeitweise ernsthaft gefährdete.

Nach dem Sieg der Briten und der ihnen treu ergebenen indischen Bundesgenossen über die Aufständischen und nach unsäglichen, an Zivilisten begangenen Greueltaten auf beiden Seiten schienen die liberalen Reformideen im Homeland vollends an Wirkung zu verlieren. Eine ›aristokratische Schule‹ britischer Staatsbeamter übernahm nun die Macht in der neuen Kronkolonie, um diese im Geist nicht von ›great‹, sondern von »greater Britain« (C. W. Dilke) zu missionieren und zu verwalten. Das war zugleich die Geburtsstunde einer Weltmachtpolitik, deren ideologische Rechtfertigung die angebliche zivilisatorische Überlegenheit der angelsächsischen Rasse liefern sollte.
 

Die utilitaristische Reformphilosophie

›Zivilisatorische Überlegenheit‹ – eine widerwärtige Formulierung, die ich an dieser Stelle als Signal für den Abbruch des historischen Summary nutzen möchte, um endlich auf James Mills Ideen eingehen zu können. Man darf übrigens getrost die Jahre 1857/58 als den entscheidenden Bruch mit dem frühen, rationalistisch geprägten Reformdiskurs ansehen, für den beide Seiten, die indischen Aufständischen sowie die britischen Zwingherren – wenn auch mit ungleich verteilter Gewichtung – verantwortlich waren.

Die sogenannten Radikalen auf der Insel, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts über das Wohl und Wehe im fernen Indien Gedanken machten, gehörten politisch zum liberalen Flügel, zu den Whigs, und weltanschaulich mehrheitlich zu den Utilitaristen. Mills Position deckte sich weitgehend mit der Jeremy Benthams, und die des etwas später als Reformer in Indien aktiven Lord Macaulay wiederum mit der von Mill. Das sind wichtige Teilübereinstimmungen, die es zulassen, die mit den genannten Namen verbundenen politischen und publizistischen Aktivitäten unter dem Titel einer ›Utilitaristischen Reformbewegung‹ zu verhandeln. Zumal die kritischen Ideen dieser bürgerlichen Liberalen, auch James Mills Sohn John Stuart gehört zu dieser Gruppe, sich nicht allein auf Indien, sondern vor allem auch auf die von sozialer Ungleichheit geprägten Zustände im eigenen Land bezogen. Die Utilitaristische Reformbewegung attackierte die traditional begründeten Privilegien des Adels und propagierte unter dem Schlachtruf ›Pursuit of Happiness!‹ jenes, auch den heutigen Neo-Liberalen ans Herz gewachsene Modell einer harmonisch geordneten Wohlfahrtsökonomie, nach dessen Maßgabe jedem einzelnen die rechtlich geschützte Freiheit zusteht, mit Hilfe unserer – wie es bei Mill heißt – »fellow-creatures« den Eigennutz zu maximieren; dieses Prinzip auf die Kolonien auszudehnen, lag sozusagen in der Natur der Sache. Die Ursachen der angestrebten Annehmlichkeiten sind zugleich die geeigneten Mittel, die Mitmenschen in den Dienst der Eigeninteressen zu stellen. Dazu bedarf es allerdings der durchaus sehr konkret gedachten Verfügung über ein ökonomisch-politisch-moralisches Wertsystem, das Mill in die trinitarische Formel »Wealth, Power, Dignity« gefasst hat (Mill 1869, 208).

James Mill hat Indien als eine Art Utopia, als einen Ort möglichen Neubeginns imaginiert, an dem sich ohne den im Homeland zu erwartenden Widerstand das Experiment einer liberalen, an den soeben angedeuteten Ideen ausgerichtete Gesellschaftstransformation durchführen lässt. Seine History of British India ist daher nicht als bloße Geschichtserzählung konzipiert, sie baut vielmehr auf den Prinzipien der utilitaristischen Reformphilosophie auf und hält an den entscheidenden Stellen Ratschlag und Empfehlung bereit. Mills Werk ist zugleich ein Machtinstrument, nicht nur wegen der zahlreichen praktischen Anweisungen, sondern weil es mit Hilfe der Geschichtserzählung eine Kultur erschaffen hat, der das Bewusstsein zeitlichen Wandels angeblich weitgehend fremd war. Wie die Wirkungsgeschichte zeigt, hat das dem Werk nicht geschadet; im Gegenteil, es hat seine Verbreitung als ideenpolitische Propaganda und normative Handreichung unter englischen, aber auch unter indischen Kolonialbeamten enorm gefördert.

Über Mills Vorurteile, die er wahrscheinlich mit der Mehrheit seiner europäischen Zeitgenossen geteilt hat, über seinen ausgeprägten Zivilisationsdünkel und seine Verdrängungsmanie ist viel geschrieben worden. Das brauche ich hier nicht zu wiederholen, muss allerdings zugeben, in der inkriminierten, in der Schreibweise dieses Autors hervorragend verkörperten Borniertheit, liegt der Grund für einige der schwerwiegendsten Verzerrungen der liberalen Reformphilosophie offen zutage. Ich will dieses Übel mit den Worten Hegels, eines fleißigen Lesers der Millschen History illustrieren und zitiere zu diesem Zweck aus den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte: »aus der Pracht des indischen Lebens und aus seinen Reichen [ist] das Element der Sittlichkeit verbannt. Über jener Unfreiheit der naturfesten Ständigkeit von Ordnung [der Kasten] ist aller Zusammenhang der Gesellschaft wilde Willkür, vergängliches Treiben oder vielmehr Wüten ohne einen Endzweck des Fortschreitens und der Entwicklung: so ist kein denkendes Andenken, kein Gegenstand für die Mnemosyne vorhanden, und eine, wenn auch tiefere, doch nur wüste Phantasie treibt sich auf dem Boden herum, welcher einen festen [...] Zweck in sich haben und sich damit der Geschichte fähig hätte machen sollen.« (1955, 166) Der Sinn dieser Sätze, die so verschroben klingen, als stamme die Vorlesungsmitschrift vom älteren Hölderlin, ist für Mill wie für Hegel klar: Der eine – Mill – bemängelt die völlige Abwesenheit eines rationalen, Glück und Tugend versöhnenden Endzwecks der Kultur; der andere – Hegel – die Abwesenheit jener Vernunft in der Gesellschaft, die als Vorbote einer modernen Staatsform und damit zugleich einer geschichtlichen Bewegung zu begreifen ist, in deren Prozess sich der Geist, um zu sich selbst zu kommen, von naturwüchsiger Willkür löst. Mit einfachen Worten: Indien hat keine Geschichte und ist insofern das ganz Andere, an dem sich nach Mill der aufgeklärte Europäer als Kolonialist in der Rolle des prometheischen Schöpfers einer liberalen Gesellschaft nach utilitaristischem Zuschnitt versuchen darf.

Interessant ist Mills Kritik vor allem auch im Hinblick auf das von ihm und anderen europäischen Beobachtern festgestellte Manko ordnender und geordneter Zusammenhänge nicht nur im sozialen und politischen, sondern auch im geistigen Leben der hinduistischen Kultur. Systemische, auf Kausalität bzw. auf zweckrationalen Entscheidungen beruhende Zusammenhänge zu stiften, ist, so lautet Mills Behauptung, dem ›mentalen Habitus‹ dieser Kultur fremd. Es bedarf, das ist aus seiner Kritik herauszuhören, einer »power of combination« (Mill), die einheitsstiftende Zwecke verfolgt, um aus einer Vielheit untereinander konkurrierender Staaten eine Nation und aus einem Patchwork irrationaler Religionskulte ein homogenes säkulares Kulturbewusstsein entstehen zu lassen. Aus der Vielzahl einschlägiger Äußerungen greife ich eine Stelle heraus, an der Mill sich über die Gründe der territioralen Fragmentierung des Kontinents seine Gedanken macht: »Of all the results of civilization, that forming a combination of different states, and directing their powers to one common object, seems to be one of the least consistent with the mental habits and attainments of the Hindus. It is the want of this power of combination which has rendered India so easy a conquest to all invaders; and enables us to retain, so easily, that dominion over it which we have acquired.« (zit. nach Inden 2006, 38)

Insgeheim aber zielt Mills imaginäre Reform der indischen Fremdkultur auch auf prekäre Zustände im heimischen Inselstaat. Denn sie ist vor allem gegen die Dominanz jener konservativen Machenschaften gerichtet, die sich der Abwehr der von Frankreich her drohenden Revolutionsideen verschrieben hatten. Auch Mill wollte keine Revolution. Er dachte an eine auf allgemeingültigen rationalen Prinzipien beruhende Reform und argumentierte im Rahmen klassischer Politikmodelle: So plädierte er für den Aufbau eines »middle rank«, eines Mittelstands in Indien, eine Forderung, die wenige Jahrzehnte später auch Marx aus, versteht sich, ganz anderen Beweggründen erhob. (Marx [1853]1972, 325) Die Empfehlungen in Mills liberaler, vordergründig auf Indien, aber implizit auch auf England bezogenen Reformagenda galten vor allem den folgenden vier, systemisch dicht verflochtenen Institutionen:
1.einer fortschrittlichen, am Wohl des sozialen Ganzen orientierten Regierung, mit anderen Worten, dem, was heute ›good governance‹ genannt wird;
2.ein schriftlich niedergelegtes Gesetzeswerk, geschaffen aus der Perspektive eines ›universellen Gesetzgebers‹ (Bentham), der kulturelle Unterschiede zu erkennen und komparatistisch auszutarieren vermag;
3.ein auf die indigenen Eliten bezogenes, Aufklärung und Alphabetisierung förderndes Bildungssystem; mit Mills eigenen Worten: »The most efficient part of education is that which is derived from the tone and temper of the society; and the tone and temper of the society depend altogether upon the laws and government. Again; ignorance is the natural concomitant of poverty; a people wretchedly poor, are always wretchedly ignorant. But poverty is the effect of bad laws, and bad government; and is never characteristic of any people who are governed well.« (Mill 1848, 5. Bd., 634); – und schließlich
4.die allmähliche Einführung der Druck- und Pressefreiheit, da nur durch sie, argumentierte Mill, die Verbreitung ›nützlicher Bücher‹ (im Sinne der utilitaristischen Wertideen) zu garantieren sei. »Among the other admirable effects of a free press, one is, that it makes it the interest of government that the people should receive the highest possible instruction. [...] Considering the mental state of the people of India, it is possible that among them, at the present moment, the unrestrained use of the press might be attended with invonveniencies of a serious nature, and such as would surpass the evils it would remove. There is no people, however, among whom it may not be introduced by degrees.« (Mill 1848, 5. Bd., 635)

Eines sollte ins andere greifen: ›good governance‹ die Armut bekämpfen, die Gesetzgebung staatlich garantierte, von der Exekutive zu überwachende Sicherheit bringen, und beides den Zugang zur Bildung und zu einer wie auch immer beschaffenen diskursiven Öffentlichkeit ebnen. Die praktische Umsetzung dieses Reformprogramms sollte zunächst den, wie Mill gerne sagt, »English gentlemen« in Indien vorbehalten bleiben, um später von der unter deren Einfluss an den Zivilisationsprogress angedockten heimischen Elite fortgesetzt zu werden. Macaulay, der 1833 auf Mills Empfehlung ein Amt als Rechtsexperte im Generalgouvernement Indiens übernahm, präzisierte in einer berühmten, Minute of Indian Education überschriebenen Rede: »We must at present do our best to form a class who may be interpreters between us and the millions whom we govern; a class of persons, Indian in blood and colour, but English in taste, in opinions, in morals, and in intellect. To that class we may leave it to refine the vernacular dialects of the country, to enrich those dialects with terms of science borrowed from the Western nomenclature, and to render them by degrees fit vehicles for conveying knowledge to the great mass of the population.« Als hoher Verwaltungsbeamter konnte Macaulay über manche Mittel verfügen, um dieses Programm der Anglisierung auf den Weg zu bringen, wozu vor allem Schul- und College-Gründungen unter britischer Suprematie gehörten. Obwohl Mill, und zwar nicht nur in der Bildungsfrage, von seinen Zeitgenossen als der eigentliche Generalreformer eines Landes betrachtet wurde, das er selber niemals betreten hatte (Majeed 1992, 193), ist es Macaulay, der bis heute den zweideutigen Ruhm eines Ziehvaters der in englischen Schulen und Universitäten ausgebildeten indischen Elite (›Macaulay’s children‹) genießt.

Immerhin ist die heute in Indien selbstverständliche Polyglossie, in der das Englische eine sprachenübergreifende Vermittlerrolle spielt und sich darüber hinaus in einer ästhetisch hochkarätigen, weltweit anerkannten Buchkultur manifestiert, erst in der Zeit nach 1857/58 in größerem Umfang vorbereitet worden. Die Idee darf wohl den frühen Reformideologen zugeschrieben werden, aber der utilitaristische Begründungsdiskurs hat, weil er im Mutterland der Reformer teils auf Unverständnis, teils auf politisch motivierten Widerstand stieß, die Umsetzung lange behindert bzw. verzögert. Ähnlich erging es den Versuchen zur Einsetzung eines nach den Ideen von Bentham und Mill ausgestalteten Rechtssystems. Über das dieser Reform zugrunde liegende Prinzip schreibt einer der modernen Kommentatoren: »Part of the legislator’s task consisted of comparing and contrasting legal traditions by using the general principle of utility, on the basis of which existing laws and institutions were criticized.« (Majeed 1992, 130f.)

Der Zugang zu den englischen Schulen Indiens blieb freilich auch später den happy few der höheren Kasten vorbehalten, was nicht weiter verwundern muss, da auch in Europa die allgemeine, vom Staat verordnete Bildungspflicht sehr spät, in England selbst erst 1870 in Kraft getreten ist. Die britische Kolonialmacht hat allerdings ihre Politik einer auf loyale Anhänglichkeit rechnenden Elitebildung auch später nicht revidiert. Heutige Sozialwissenschaftler machen daher die Fortsetzung dieser Politik nach der Unabhängigkeit von 1947 verantwortlich für jenen aktuell zu verzeichnenden Alphabetisierungsrückstand, wonach 50 Prozent der Inder und 75 Prozent der Inderinnen weder schreiben noch lesen können (Sen 2005, 116).


Indische Reaktionen

Es bedarf wohl keiner weiteren Beweise, dass die englische Reformpolitik in Indien im Sinne struktureller Gewalt vor allem auf Festigung der Abhängigkeit vom Zentrum des Commonwealth zielte. Von der strukturellen zur direkten Gewalt, von der Reformpolitik zum Militär- oder Polizeieinsatz zu wechseln, bereitete dem autoritären Kolonialregime keine Schwierigkeiten. Eine ganz andere Frage ist die nach den Reaktionen der einheimischen Eliten. Darauf kann ich hier zum Schluss nur wenige Hinweise geben. Es ist nicht zu leugnen, dass der Besuch britisch dominierter Eliteschulen, eine Karriere in der Kolonialverwaltung oder ein Studienaufenthalt an englischen Universitäten in nachhaltiger Weise den kulturellen Wandel Indiens eingeleitet haben, zumindest gilt das für die höheren Kasten. Bereits 1828 gründete der in der Verwaltung der East India Company zu Ehren gekommene Brahmane Raja Rammohun Roy (1772-1833) eine Reformgesellschaft, die bis heute bestehende Brahmo Samaj. Der Gründer selbst, der als Inaugurator der indischen Modernisierungsbewegung gefeiert wird, hatte neben kultisch-religiösen auch soziale Reformen im Sinn, die sich an Idealen orientierten, die zwar westlicher Herkunft, aber selbst in Europa zu dieser Zeit noch heftig umkämpft waren: z. B. an Forderungen zur Gleichstellung der Geschlechter, oder an der Vereinheitlichung religiöser Kult- und Exegeseformen – hier im Dialog mit dem jüdisch-christlichen Monotheismus. Roys Reformprojekt hat, wie auch das seiner zahlreichen Nachfolger, die direkte Auseinandersetzung mit James Mill und William Jones gesucht. Auch hier wirkte Mills Geschichtsbeschreibung wie ein Katalysator, da die Lektüre dieses Werks mit der Suche der indischen Reformer nach den historischen Wurzeln ihrer Eigenkultur den nationalpolitischen Diskurs in Schwung gebracht hat. All diese Reformer (Rammohun Roy, Dayanand Sarasvati, Swami Vivekananda, Sayyid Ahmad Khan) arbeiteten letztenendlich an der Konstruktion einer indischen Nationalkultur aus dem Geist einer gemeinsamen Geschichte (Gottlob 2002, 170ff.)

1885 trat in Bombay eine Versammlung indischer Reformer und Kolonialismuskritiker zusammen, allesamt Absolventen des englisch geprägten Bildungssystems, um den Indian National Congress zu gründen, Vorläufer der gleichnamigen, die Unabhängigkeitsbewegung vorantreibenden Partei. Diese politische Gründung fiel in eine Zeit, in der auch die akademische Professionalisierung der indischen Geschichtsschreibung einsetzte, eine Entwicklung, die allerdings niemals an der Verbindung zur politischen Agenda nationalen Denkens gezweifelt hat. Denn zum einen hatte sich die eigenkulturelle Historiographie an den kolonialen Geschichtsbildern à la James Mill abzuarbeiten, zum andern aber mündete die Suche nach dem maßgebenden Begründungsdiskurs der nationalen Einheit zwangsläufig in Kämpfen um historische Erinnerung, die bis heute andauern. Der Prozess des Nation-Building, den die politischen Aktivisten Indiens zur Zeit des Aufstands gegen die britische Kolonialmacht in eigener Regie einleiteten, ist jedoch mit der westlichen Idee einer homogenen Nationalkultur und entsprechenden Herrschaftsform nicht vereinbar. Nicht zuletzt hatten die Inder am eigenen Leib erfahren, wie einfach es ist, dieses Modell zur Rechtfertigung von Gewalt zu nutzen. Es war daher nicht nur Ironie als Gandhi bei einem Englandbesuch auf die Frage, was er von der westlichen Zivilisation halte, antwortete: »It would be a good idea.« (Sen 2005, 107)


Literatur

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