Christoph
Jünke
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Ein
bisschen Demokratie, viel Oligarchie
Luciano Canfora, die
europäische Demokratie
und die deutsche Linke
Die
europäische Demokratie steht nicht hoch in der Gunst ihrer
Bürger und Untertanen. Wahlabstinenz und politische Apathie
beherrschen große Teile der Bevölkerungen und
Politiker
gehören zu den am meisten verachteten Berufsgruppen unserer
Gesellschaften.
Die europäische Demokratie
steht aber auch
nicht hoch in der Gunst ihrer ökonomischen und politischen
Eliten.
Von der Demokratie im Sinne Abraham Lincolns, im Sinne einer Regierung
des Volkes durch das Volk und für das Volk wird in der
politischen
Theorie und Praxis schon lange nicht mehr gesprochen. Demokratie wird
heute im Sinne eines Joseph Schumpeter als eine an sich abstrakte
Ansammlung von Regeln und Entscheidungsprozeduren verstanden, die
unabhängig sind von Zielen und Mitteln. Freiheit und
Demokratie
sind zunehmend eingeengt auf die formalen Spielregeln einer
parlamentarischen Demokratie und diese parlamentarische Demokratie
zudem einem Funktionswandel unterworfen worden. Entscheidungsprozesse
sind über Expertenkommissionen und Lobbypolitik nicht selten
in
einen nichtparlamentarischen und nicht-öffentlichen Bereich
verlagert, das Parlament also stückweise entmachtet und die
legislative, politisch-parlamentarische Führung mit dem
Exekutivapparat und den ökonomischen
Führungsstäben
verschränkt. Die Eliten haben sich mit und in diesem
parlamentarischen System zunehmend verselbstständigt und
abgeschottet, und die Zeiten des erklärten Ausbruchs aus
diesem
Zirkel, die Zeiten, als man mehr Demokratie wagen wollte und damit den
gewandelten und politisierten Bedürfnissen der
nachdrängenden
Schichten und Klassen entgegenkam, sind längst wieder vorbei.
In
Zeiten des Neoliberalismus, in Zeiten also von Privatisierung und
Deregulierung, von nationalen Wettbewerbsstaaten und individuellen
Selbstermächtigungsstrategien (»Jeder ist seines
eigenen
Glückes Schmied!«), ist es zu neuen nachhaltigen
gesellschaftlichen Spaltungen und Fragmentierungen gekommen, zu
Migrations- und Fluchtbewegungen innerhalb und außerhalb der
»Festung Europa«, die sich mit dem neuen Prekariat
zu einer
neuen, breiten Unterschicht vermengen. Gegen diese neuen
»gefährlichen Klassen« wiederum, die von
der
herrschenden Politik und Demokratie nicht mehr viel erwarten, werden
staatliche und zunehmend auch private Kontroll- und
Überwachungsagenturen ausgebaut, deren Feindbilder ethnisiert
und
schließlich, unter den Bedingungen des so genannten
»Krieges gegen den Terror«, auch noch
internationalisiert.
Internationalisiert
wird aber auch – last, but not least – ein Teil
staatlicher
Funktionen, indem Macht- und Entscheidungsbefugnisse an internationale
Institutionen abgegeben werden, die in der Regel nicht, oder nur sehr
eingeschränkt nach demokratischen Regeln funktionieren. Die
Europäische Union beispielsweise ist eine dieser
Institutionen.
Und es war deswegen sicherlich kein Zufall, dass sich ein
gehöriges Maß an Unmut und Widerstand bei den
Beherrschten
und Regierten gerade am Versuch der Herrschenden und Regierenden
entzündete, sich endlich so etwas wie eine
europäische
Verfassung zu geben.
Genüsslich schildert
der
italienische Altphilologe Luciano Canfora zu Beginn seiner Kurzen
Geschichte der Demokratie, wie die Verfasser dieses vorerst
gescheiterten Verfassungswerkes ihrem Entwurf eine Präambel
mit
auf den Weg gaben, in der feierlich Bezug genommen wurde auf den alten
athenischen Staatsmann Perikles, der von der Demokratie als
Volksherrschaft, als Herrschaft der größeren Zahl,
gesprochen haben soll. Canfora nun zeigt auf, dass die
Präambelschreiber den von Thukydides überlieferten
Worten
Gewalt antaten und mit Perikles jemanden zum Ahnherr ihrer Demokratie
zu erklären versuchten, der gerade die Demokratie mit
aristokratischer Verachtung behandelte. Canfora sieht jedoch in diesem
Hinweis der Urheber der Präambel mehr als nur einen Missgriff.
Ihm
offenbart sich hier das wahre Wesen der europäischen
Demokratie,
denn »die Idee einer ›demokratischen‹
politischen
Ordnung, die eng mit etwas verknüpft ist, das man als
rassistisch
bezeichnen muss, war im europäisch-atlantischen Westen weit
verbreitet. Sie lebt bis heute weiter und wird der
Öffentlichkeit
neuerdings im Zusammenhang mit imperialen Bestrebungen unter dem
irritierenden Slogan ›die Demokratie bringen‹
präsentiert« (27).
Demokratie
und Oligarchie
Canforas
Geschichtswerk, dessen deutsche Übersetzung eine der
heftigsten
Auseinandersetzungen provozierte, die das deutsche Feuilleton der
letzten Jahre erlebt hat, zeigt auf, dass die Geschichte der Demokratie
nicht so sauber zu trennen ist von undemokratischen Tendenzen. Schon
immer, so seine an sich nicht ganz neue These, wurde dem
welthistorischen Siegeszug der Demokratie eine gehörige
Portion
Oligarchie beigemischt. Bereits im antiken Athen, jenem Hort und
Bezugspunkt klassischer Demokratietheorie und -praxis, mischte sich die
neue Demokratie mit der alten, auf der umfangreichen Ausbeutung von
Sklaven im Innern und der kriegerischen Eroberung anderer
Völker
und Staatsgebilde nach außen beruhenden Klassengesellschaft.
Canfora beschreibt, wie in die ursprünglich einzig aus frei
geborenen und wehrfähigen, d.h. besitzenden Söhnen
athenischer Väter und Mütter bestehende athenische
Polis
mittels der Ausweitung der Bürgerschaft auf die Besitzlosen
»ein neues, dynamisches und explosives Element«
(S.44)
eingeführt wurde. Doch ganz so explosiv kann ihm dies dann
doch
wieder nicht gewesen sein. Rassismus, Oligarchie und Demokratie sind
für ihn nicht auseinander zu halten, denn »es gab
kein
Gesetz und keinen Bereich des sozialen und familiären Lebens,
in
dem die Sklavenwirtschaft keine Rolle spielte« (S.69).
Scheinbar
zustimmend zitiert er deswegen einen Autor mit der
»entwaffnend(en)« Schlussfolgerung, dass nirgendwo
in der
klassischen Antike »das schöne Spektakel einer
echten
Freiheit« (S.68) geboten worden sei.
Sahen
ältere
Autoren (bspw. der von Canfora bemühte Arthur Rosenberg) im
Kampf
der subalternen Klassen und Schichten, in ihren Bedürfnissen,
Erfolgen und Niederlagen das dynamisch vorwärts treibende,
weil
radikaldemokratisch-autonome, gegen die Herrschaft als solche
gerichtete Moment – ohne die strukturellen Begrenzungen und
Widersprüche der institutionellen Fassung dieser antiken
Demokratie zu verschweigen –, wird die Darstellung und
Entfaltung
demokratischer Bedürfnisse und Bewegungen bei Canfora immer
wieder
zurückgenommen, indem ihre Kompatibilität mit der
jeweiligen
klassengesellschaftlichen Herrschaft betont wird. Demokratie ist bei
ihm weniger die (wie auch immer widersprüchliche)
institutionelle
Fassung eines Kampfes der Klassen und Schichten. Demokratie ist ihm
zuallererst und letzten Endes ein formales Mittel der oligarchisch
Herrschenden, die nachdrängenden Klassen irre zu
führen. Es
bleibe »festzuhalten«, so Canfora, »dass
die
athenische Demokratie nicht die ›Herrschaft des
Volkes‹
bedeutete, sondern die Übernahme der Führungsrolle
innerhalb
der ›Volksherrschaft‹ durch einen kleinen Teil
der
›Reichen‹ und ›Herren‹, die
dieses System
akzeptierten« (S.44).
Denselben
Analysefaden benutzt er
auch bei der dann folgenden Darstellung der neuzeitlichen
Demokratiegeschichte. Die bürgerlichen Revolutionen der
Neuzeit
können sich nämlich, so Canfora, deswegen zu Recht
auf die
antike Demokratie berufen, weil auch sie strukturell auf der
Ausgrenzung von Rasse/Ethnie, Klasse und Geschlecht beruhe –
die
löbliche und von Canfora entsprechend goutierte Ausnahme war
der
radikale Jakobinerflügel um Robespierre und die von diesen
vergeblich lancierte Verfassung von 1793. Auch hier also wieder
derselbe strukturelle Blick von oben: die Demokratie vor allem als
Herrschaftsmittel und weniger als Mittel der Emanzipation.
Ausführlich
beschreibt er mit diesem Blick, wie sich die zur Macht
drängenden
Bürger aus Angst vor den demokratischen Bedürfnissen
und
Forderungen der subalternen Klassen und Schichten von einstmals
radikalen Demokraten zu modernen Liberalen wandelten, deren
Demokratievorstellungen wesentlich elitär waren. So nimmt die
neue
bürgerliche Demokratie im Laufe des 19.Jahrhunderts abermals
einen
stark oligarchischen Charakter an und schafft es, das Volk mittels
Wahlrechtsbeschränkungen der diversesten Art (vor allem dem
auf
Einpersonenwahlkreisen beruhenden Mehrheitswahlrecht), mittels
Korruption und Elitenherrschaft, mittels Wahlabstinenz und sozialen
Zugeständnissen klein zu halten. Ausführlich
beschreibt
Canfora die Herausbildung des französischen Bonapartismus nach
der
Revolution von 1848, der eine plebiszitäre Demokratie mit
Herrschaftsmethoden mischte, die den Faschismus paradigmatisch
vorwegnahmen.
Im Angesicht eines solchen
gemischten Systems
(halb Demokratie, halb Oligarchie) sieht Canfora die politische Linke
und die aufkommende Arbeiterbewegung in klassischer Manier als Erbin
und Hüterin einer sozialen Demokratie, polemisiert aber
ausführlich gegen deren Illusionen über ein
allgemeines
Wahlrecht, mit dem man die gesellschaftliche Macht über das
Parlament erreichen könne. Vor allem die
»naiven« und
»willkürlichen« (S.162f.) Vorhersagen des
späten
Friedrich Engels – wenn es so weitergehe mit den Wahlerfolgen
der
deutschen Sozialdemokratie, dauere es nicht mehr lange, bis sie mittels
der parlamentarischen Mehrheit den Übergang zum Sozialismus
beginnen könne – münden ihm wegen dieser
Methoden der
Entschärfung parlamentarischer Demokratie
»strategisch
gesehen in eine Sackgasse« (S.163). Entsprechend sei, auch
wenn
das Wahlrecht seine subversive Seite behalte, der
»Mechanismus
der unaufhaltsamen und fortschreitenden Integration … die
Kehrseite des Marsches in das System« (S.171).
Doch
auch
hier läuft dieser Prozess weniger in Form einer objektiven
Verschleierung von Herrschaft auf dem Wege scheinbarer Freiheit und
Demokratie, also nicht als objektiv falsches Bewusstsein im Sinne eines
marxistischen Ideologieprozesses ab, in dem sich die für die
bürgerliche Gesellschaft spezifische Trennung von
Ökonomie
und Politik reproduziert, sondern mehr in Form eines geschickt von den
herrschenden Eliten benutzten Manipulationszusammenhangs.
Die
Demokratie war aber niemals nur die Geschichte ihrer
Instrumentalisierung von oben. Sie war immer auch und vor allem eine
Geschichte des Aufbegehrens von unten, eine Geschichte der gegen die
herrschenden und regierenden Eliten gerichteten demokratischen
Bedürfnisse, Forderungen und Bewegungen, in denen es
gleichermaßen um Inhalte wie Formen ging. Es fällt
auf, dass
Canfora hiervon keinen, oder besser: nur einen sehr
eingeschränkten Begriff besitzt. Das beginnt bereits, ganz
elementar, bei der Frage nach dem, was genau Canfora eigentlich unter
Demokratie versteht. Man muss schon bis zum Ende des Buches warten, bis
man zu Definitionsversuchen gelangt und die sind reichlich vage. Die
Demokratie sei »eine instabile Größe: Sie
ist die
(zeitweilige) Vorherrschaft der besitzlosen Klassen in einem
unablässigen Kampf um Gleichheit – ein Begriff, der
sich
seinerseits historisch erweitert und stets neue und hart
umkämpfte
›Rechte‹ beinhaltet. (S.325.) Und
»Tatsache ist:
Weil die ›Demokratie‹ eben keine Regierungsform,
kein
Verfassungstyp ist, kann sie in den
unterschiedlichsten
politisch-konstitutionellen Formen herrschen,
teilweise herrschen, gar
nicht herrschen oder sich wieder zur Geltung bringen.«
(S.355f.,
Hervorhebungen im Original.) Die Demokratie war in der Tat niemals
nur
eine Verfassungs- oder Regierungsform, sie war es aber immer
auch
– mal mehr, mal weniger.
Canforas
Demokratieverständnis steht zwar in der hehren Tradition der
klassisch sozialistischen Arbeiterbewegung, die die Demokratie nicht
wie das liberale Bürgertum konstitutionell
versteht, nicht als
formalen Verfassungstyp, sondern als eine sozialgeschichtliche,
politische Bewegung. Doch die Unschärfen, Spannungen
und latenten
Widersprüche dieser auch in meinen Augen ehrenwerten und
ausgesprochen aktuellen Tradition hat er weder verstanden noch
aufgearbeitet. Sie werden deutlich, wenn man versucht, die Demokratie
als Verfassungskonstitution mit der Demokratie als politischer und
sozialrevolutionärer Bewegung zusammenzudenken. Canfora kann
diese, zugegeben komplizierte, Dialektik von Inhalt und Form nicht
einmal zur Diskussion stellen. Konsequent verfängt er sich in
den
Fallstricken der beiden, sich gleichermaßen bedingenden wie
widersprechenden Demokratiebegriffe. Aus der einstmals dialektischen
Trias von Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit/Solidarität
macht er antagonistische Gegensätze und fühlt sich
entsprechend gezwungen, Freiheit und Solidarität zu streichen,
um
eine Gleichheit zu propagieren, in der natürlich bei
näherer
Betrachtung einige gleicher sind als gleich.
Der
europäische Bürgerkrieg
Nirgendwo
wird dies deutlicher als bei seiner Darstellung des 20.Jahrhunderts,
denn von einer Geschichte demokratischer Bewegungen, Formen und Inhalte
(wie kritisch auch immer) kann bei seiner auf die sowjetrussische
Revolution folgenden Darstellung des »europäischen
Bürgerkrieges« gar nicht mehr die Rede sein. Canfora
schreibt hier, nun ohne jede weitere Zurückhaltung, die
Geschichte
einer zunehmenden Abscheu vor der Demokratie. Und in schlechter linker
Tradition verabsolutiert er dabei die Idee sozialer Demokratie
zur
prinzipiellen Absage an demokratische Formen, zur
erziehungsdiktatorischen Herrschaft einer Minderheit, die sich um
demokratische Formen nicht zu kümmern brauche.
Für
ihn verkörpert sich nämlich die soziale Demokratie im
Zeitalter der Systemauseinandersetzung im vermeintlich real
existierenden Sozialismus. Während der kapitalistische Westen
im
Faschismus selbst oder im Bündnis mit demselben versinke,
sieht
Canfora demokratische Hoffnung einzig im Bündnis von liberalem
Bürgertum und Volksfrontkommunismus, und macht sich
schließlich zum Anwalt der
spätkommunistischen Strategie einer »neuen
Demokratie«, einer realsozialistischen
»Volksdemokratie«, der er einen echten
geschichtsphilosophischen Fortschritt meint entlocken zu
können.
Mit ihrer Durchsetzung sei nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg
etwas »radikal Neue(s)« (S.252), »eine
echte
›Revolution‹« (S.259) in der Geschichte
der
Verfassungstheorie verbunden. Von der sowjetrussischen Verfassung von
1936 zieht er hier eine Linie zu den neuen Nachkriegsverfassungen in
Italien, Frankreich und sogar der BRD und bettet diese in den Kontext
der Weimarer Verfassung und des US-amerikanischen New Deal ein. Die
volksdemokratische Strategie sei »das beste politische
Programm,
das die Arbeiterbewegung hier und heute vorlegen
könne«,
»das Projekt einer politisch und wirtschaftlich komplexen
Gesellschaft, einer ›fortschrittlichen
Demokratie‹ auf
der Basis einer neuartigen, fortgeschrittenen Verfassung,
fähig
und willens, radikale ›Strukturreformen‹
einzuleiten« (S.251). Bürgerliche Demokraten und
Volksfrontkommunisten teilen sich hier die politische Macht in einem
»ganz neuartigen Rahmen«, in einem offensichtlich
gemischten Verfassungssystem, um einen Prozess gesellschaftlicher
Transformation einzuleiten, der über die
bürgerlich-kapitalistischen Grundlagen hinaus weise und, wie
er am
italienischen Beispiel sagt, in der Lage sei, »aus ihrer
Eigendynamik heraus die italienische Gesellschaft in progressivem Sinn
[zu] transformieren« (ebd.).
Es stellen
sich hier jedoch
– ganz immanent gedacht – weitreichende Nachfragen.
Wie
vermittelt sich denn diese Volksfrontkonzeption, um nur den
schreiendsten Widerspruch zu benennen, mit der von Canfora im ersten
Teil seines Buches so ausführlich dargestellten Kritik an den
linken Illusionen über den
parlamentarisch-evolutionären Weg?
Ist hier nicht auch, als Kehrseite des Marsches in das System, die
unaufhaltsame und fortschreitende Integration in dasselbe zu
thematisieren? Canfora scheint sich diese Frage nicht einmal
aufzudrängen. Es ist ihm auch kein zu stellendes Problem, dass
solcherart (Volks-)Demokratie bekanntlich weder vom Volk, noch von den
subalternen Klassen und Schichten von unten erstrebt und
erkämpft,
sondern von den in Moskau Herrschenden inauguriert wurde. Einmal mehr
kommt hier die Demokratie von oben, also gerade auf jenem Weg zu den
Menschen, den Canfora im ersten Teil seines Buches als Hauptargument
gegen die Demokratie als ganze entfaltet hat. Die antike und
bürgerliche Demokratie ist ihm nicht mehr als schöner
Schein,
weil sie als Herrschaftsmittel von oben kommt. Die sozialistische
Demokratie dagegen kann und muss sogar als Herrschaftsmittel von oben
kommen. Die antike und bürgerliche Demokratie ist ihm keine,
weil
sie unentwirrbar mit der Sklaverei verwoben ist. Die sozialistische
Demokratie ist dagegen eine solche, auch wenn sie, wie im Falle des
historischen Stalinismus, mit modernen Formen der Sklaverei (dem
Gulag-System) daher kommt.
Dass sich Luciano
Canfora als
geschichtswissenschaftlicher wie politisch-theoretischer Anwalt des so
genannten Volksfrontkommunismus in den Fängen der
Stalinismusapologie verfängt, hat seine Logik.
Schließlich
ist dieser Volksfrontkommunismus ein originäres Kind des
Stalinismus. So wird auch Canfora gleichsam gezwungen,
buchstäblich jede Wendung von Stalins politischem
Zick-Zack-Kurs
mitzumachen und für jede dieser Wendungen
geschichtsphilosophisch
überhöhte Rechtfertigungen zu liefern. Und konsequent
belegt
er auch jede Form linker wie rechter, theoretischer wie praktischer
Kritik am historischen Stalinismus mit dem stalinistischen Bann, dass
diese dem bösen Klassenfeind erst die Munition für
ihren
dreckigen Krieg gegen den Hort sozialer Demokratie geliefert
hätten.
Wie auch immer: Die von Canfora
präferierte
neue Volksdemokratie habe sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges
leider nicht halten können. Dieser Kalte Krieg habe radikale
Rechte – zu denen er nicht zuletzt die US-amerikanischen
Regierenden – und radikale Linke – also all jene,
die den
»real existierenden Sozialismus« und seine
volksdemokratische Theorie und Praxis von links kritisierten
–
beflügelt und dazu geführt, dass die soziale
Demokratie im
europäischen Osten ausgehöhlt und im
europäischen Westen
einmal mehr sich, wie im Gaullismus, mit Elementen des modernen
Bonapartismus gemischt habe. Durchaus treffend und überaus
aktuell
ist hierbei Canforas Darstellung, wie sich das alte gemischte
Verfassungssystem (»ein bisschen Demokratie und viel
Oligarchie«; S.308) in Theorie und Praxis in Westeuropa
wieder
durchsetzte. Vor allem die zunehmende Rückkehr des
Mehrheitswahlrechts sowie die Mechanismen einer Mediendemokratie
spielen ihm hierbei eine zentrale Rolle. Doch abermals mischen sich
dabei wichtige Einsichten mit jener problematischen Tendenz, die
Demokratie lediglich als personalisierten Manipulationszusammenhang,
als Verschwörung der Herrschenden zu betrachten, und nicht
auch
als Verschwörung der Gleichen, als Kampf um soziale,
politische
und kulturelle Freiheit. Canfora behandelt die vor sich gehende
Aushöhlung der Demokratie, als ob sie bereits faktisch
abgeschafft
sei. Und eine seiner Schlussweisheiten ist deswegen auch,
»dass
›absolute‹ und letzten Endes hohle
Worthülsen wie
Freiheit und Demokratie die Form und den Inhalt angenommen haben, die
heute üblich sind« (S.331; Hervorhebung: CJ).
Die
Canfora-›Debatte‹
Eine
solch stalinistische Sicht auf die Geschichte setzt sich nicht zu
Unrecht vielfältigen Anfeindungen aus, von
›links‹
wie von ›rechts‹. Und in der Tat hat Canforas
Buch
heftige Auseinandersetzungen im deutschen Feuilleton
ausgelöst.
Als
der liberale Beck-Verlag die Veröffentlichung des bestellten
Manuskriptes nach Begutachtung durch namhafte deutsche Historiker
ablehnte, erntete Beck im deutschsprachigen Feuilleton weitgehendes
Verständnis. Hatte vor allem der Gutachter Hans-Ulrich Wehler
zahlreiche historische Fehler und Verdrehungen bei Canfora ausgemacht,
konnte man Ende 2005 in der Süddeutschen Zeitung
lesen, dass der
Beck-Verlag »jede Unterstützung« verdiene,
wenn er
sich das Urteil gebildet habe, das Buch des
»Salonkommunist(en)« »verharmlose den
stalinistischen
Terror in unerträglicher Weise«. Ein Autor der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung konnte zur gleichen Zeit dem Buch zwar
auch
positive Seiten abgewinnen – »Auf einem Auge
blind«,
nehme Canfora »mit dem anderen historische Sachverhalte
besonders
scharf wahr, über die wir uns meist angewöhnt haben,
hinwegzusehen« –, doch auch er fand Becks
Entscheidung
schließlich »schade, aber
verständlich«, weil
der »schnoddrig(e) … hegelianische
Vereinfacher« mit
seinem »Schönreden der kommunistischen
Massaker«
»über komplexe Vorgänge hinweggehe, die
immerhin das
Leben und Sterben von Millionen Menschen beeinflussten«.
So
einhellig die Kritik des etablierten Feuilletons, so einhellig war
daraufhin auch die Verteidigung durch das linke Feuilleton. Der Vorwurf
des Stalinismus sei unverschämt und undenkbar, echauffierten
sich
Anfang 2006 namhafte Vertreter des linken deutschen Geistes, allen
voran Georg Fülberth und Otto Köhler in Konkret
und Freitag.
»Der Stalinismus-Vorwurf … greift deutlich
daneben«,
ließ auch Jürgen Harrer, der Verlagsleiter jenes
kleinen
linken PapyRossa-Verlages verlauten, der nun statt Beck die
Veröffentlichung des Buches vorbereitete. Hatte der
FAZ-Korrespondent Schümer treffend die
neudeutsche
Konsenshistoriografie zum verantwortlichen Spaßverderber
erklärt, fuhren Canfora und seine Verteidiger in der
Motivsuche
ganz andere Geschütze auf. Sie alle sahen darin nicht nur
einen
Rufmord an dem vermeintlich großen Gelehrten, sondern auch
den
neuerlichen Akt eines quasi faschistoiden deutschen Revanchismus in der
Tradition der1950er und 1960er Jahre. Und sie wurden in dieser
Einschätzung von fast allen Presseorganen der deutschen
Linken,
von der Jungen Welt wie dem Neuen
Deutschland, von den Blättern
für deutsche und internationale Politik
über die
Marxistischen Blätter bis zu Ossietzky,
in einer Weise massiv
unterstützt, dass sich Beck-Lektor Detlef Felken
wahrscheinlich zu
Recht von einer Kampagne betroffen fühlte.
Immerhin
lässt sich die Canfora-›Debatte‹ als ein
kurioses
Postscriptum zu Canforas Buch lesen: In den Antinomien seines
stalinistischen Geschichtsbildes gefangen, provoziert dieser auf ein
politisch-historisches Bündnis mit den Liberalen setzende
Volksfrontkommunismus gerade diese linken Liberalen zu heftigen
antistalinistischen Reflexen und reagiert wiederum darauf mit der
maßlosen Beschimpfung der vermeintlich in der Wolle
gefärbten Neofaschisten. Der alte Schoß ist
fruchtbar noch
– auch bei großen Teilen der nie wirklich
entstalinisierten
und nun gesamtdeutschen Linken.
Doch wie immer gibt
es auch hier
Ausnahmen. Eine erste linke Kritik Canforas erschien im August 2006 in
der Zeitschrift Analyse & Kritik
– Canforas medial
umstrittenes Werk konnte nun endlich auch von Unbeteiligten auf deutsch
gelesen werden – und zog sich prompt eine scharfe
Zurückweisung von Canforas fleißigstem Adjutanten,
von dem
Politikwissenschaftler und führenden linken
Politikkommentatoren
Georg Fülberth ein. Der meinte gegen den kritischen
Rezensenten
feststellen zu müssen, dass es auch auf der Linken wohl
»noch Klärungsbedarf zu geben (scheint)«:
»Nachdem die Liberalen sich an Canforas Buch die
Zähne
ausgebissen haben, müssen also die Linken aufpassen, dass
ihnen
nicht auch so etwas passiert.« Im Dezember 2006
veröffentlichte meine Wenigkeit eine umfangreiche
Auseinandersetzung in den Sozialistischen Heften für
Theorie und
Praxis und Anfang 2007 erschienen mehrere kürzere
Kritiken des
Buches in der Wochenzeitung Freitag.
Doch
dieser
Schlagabtausch blieb kurz und heftig, und ohne jede Antwort von
Canfora, Fülberth oder den anderen Angegriffenen. Derselbe
Fülberth, der noch im Sommer 2006 die Einseitigkeit der
Debatte
großspurig beklagt und mehrfach kundgetan hatte, dass
dieselbe
nun erst, mit der deutschen Veröffentlichung des Buches,
richtig
beginne, nutzte im März 2007 die Einladung zu einer
abschließenden Stellungnahme im Freitag
zur x-ten
Nacherzählung dessen, was seiner Meinung nach im Buch stehe
und
schwieg zu buchstäblich allen vorgebrachten Gegenargumenten.
Zur
selben Zeit veröffentlichte die Zeitschrift Z
– Zeitschrift
Marxistische Erneuerung
in ihrer Märzausgabe einen
nichtssagenden
Originalbeitrag von Canfora selbst und einen Beitrag von Uwe-Jens Heuer
über »Luciano Canfora und der Fortschritt [sic] der
Demokratietheorie«, in der dieser theoretisch zu
begründen
versucht, warum man als Linker von Demokratie nicht mehr reden sollte,
allenfalls von »Demokratisierung«. Seiner Weisheit
letzter
Schluss – Canfora sei Dank –: »Im
Interesse der
Demokratisierung … kann es auch liegen, Gewalt anzuwenden,
Freiheiten einzuschränken. Die Behauptung, dass jeder Schritt
allseitig demokratisch sein muss, ist eben nichts anderes als eine
Phrase. … Aber totale Freiheit aller auf jeder
Entwicklungsstufe
dürfte für absehbare Zeit unmöglich
sein.« Eine
Ausgabe später folgte schließlich ein
ausführliches
Gespräch mit Domenico Losurdo, Canforas italienischem Bruder
im
neostalinistischen Geiste, das den Bogen zwischen den beiden Denkern
herstellte und den stalinistischen Kommunismus zum Geburtshelfer nicht
zuletzt der modernen westlichen Demokratie verklärte. Und zur
gleichen Zeit erschien nun die mittlerweile vierte Auflage –
versehen mit einem Nachwort von Oskar Lafontaine, der auf die
vielfältigen Kritiken nicht eingeht und Canforas Werk ausgerechnet
als
Plädoyer für mehr direkte Demokratie
missversteht…
Das
Ausmaß des in dieser Canfora-›Debatte‹ zu Tage tretenden intellektuellen Bankrotts und die vorherrschende
Diskussionsverweigerung im Milieu dieser Linken haben jedoch durchaus
ihre Logik. Große Teile der deutschen Linken haben, wie
einstmals
Rudi Dutschke nicht müde wurde zu betonen, nie gelernt, auf
eigenen Füßen zu stehen und aufrecht zu gehen. Und
da
scheint sich in den letzten 30 Jahren nicht viel geändert zu
haben. Im Angesicht einer bürgerlichen
Demokratieaushöhlung
in Theorie und Praxis und einer im bürgerlich-liberalen Geiste
vorgetragenen Stalinismuskritik von Seiten der gewendeten PDS, sowie
als Reflex auf deren zunehmende Integration in die Institutionen
bürgerlicher Demokratie, formiert sich ein Teil der deutschen
Restlinken, gleichsam als ›Kraft der Negation‹,
neu und
meint, den ehemals realen Sozialismus sowohl historisch wie auch
politisch-strategisch verteidigen zu müssen. Sie verliert
damit
jedoch nicht nur die Kommunikationsfähigkeit, sondern auch den
Schlüssel zu ihrer politisch-intellektuellen Erneuerung. Denn
glaubwürdig neu beginnen kann die deutsche Linke nur, wenn sie
die
schwierige, aber notwendige Dialektik von Demokratie und Sozialismus
erneuert. Die Halbheiten der bürgerlichen politischen
Emanzipation
überwindet man nicht mit den Halbheiten realsozialistischer
Emanzipation.
Literatur
LUCIANO
CANFORA, Eine kurze
Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur Europäischen
Union,
Köln: PapyRossa 2006, 404 Seiten; vierte, verbesserte und um
ein
Nachwort von Oskar Lafontaine erweiterte Fassung 2007.
LUCIANO
CANFORA, Vom Auge des Zeus. Deutsche Geschichtsschreibung zwischen
Dummheit und Demagogie. Antwort an meine Kritiker, Hamburg: KVV
Konkret, 91 Seiten.
Ausführlich habe ich mich hiermit
an anderem Ort auseinandergesetzt:
CHRISTOPH
JÜNKE, Luciano Canforas Demokratieverständnis, in:
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis, Nr.12, Dezember
2006.
Online unter www.linksnet.de/artikel.php?id=3028. Der Beitrag ist
in erweiterter Fassung auch erschienen in Christoph Jünke, Der lange Schatten des Stalinismus.
Sozialismus und Demokratie gestern und heute. Köln (Neuer ISP-Verlag) 2007