Hans P. Lichtenberger
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Ein
Scheitern des Reformprojektes der Vernunft:
die
Modernität des Fundamentalismus
Inflationär
ist die Rede von ›Fundamentalismus‹. So
aufdringlich das Problem – welches genau? – auch
sein mag, eine analytische Begriffsbestimmung oder gar eine
wissenschaftliche Theorie liegt bisher trotz mancher
Deskriptionsbemühungen nicht vor. Einen
Überblick über Wege und ungelöste Fragen hat
2007 Prutsch geliefert. Das Fehlen mag Gründe haben in der
Sache, vor allem aber auch Gründe in der Verwendung dieses
Terminus. Ursprünglich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als
ehrenvolle Selbstbezeichnung einer amerikanischen Gruppierung
bibeltreuer Christen – wir stehen auf dem Fundament der Hl.
Schrift und sind Leute mit Grundsätzen –
aufgekommen, ist die Vokabel längst in politischen und
kulturellen Debatten zu einem Schlagetot ohne inhaltliche Kontur
avanciert. Das ursprüngliche religiöse Feld, in dem
ihm noch distinkte Merkmale zugeschrieben werden konnten, hat der
Begriff inzwischen weit überschritten: je nach Standort
etikettiert er gleicherweise konservative wie revolutionäre
Positionen, radikales wie auch eng borniertes Denken; Bellizisten wie
Pazifisten, Gesinnungsethiker aller Art können unter das
Verdikt fallen. Fundamentalisten sind immer die Anderen.
So
ist Skepsis angebracht, ob der Begriff überhaupt empirische
Sachverhalte benennt oder ob er nicht viel eher ein Index ist
für die uneingestandenen Voraussetzungen und
Habitualitäten derer, die ihn gebrauchen. Wer einen anderen
als Fundamentalisten bezeichnet, weiß sich auf der guten
Seite des hellen Lichtes der aufgeklärten Vernunft.
Zweifellos
steht die rasante öffentliche Karriere des Begriffs im
Zusammenhang mit der sogenannten ›Wiederkehr der
Religion‹, insbesondere der weltpolitischen Virulenz, die
sie seit circa drei Jahrzehnten gewonnen hat, und auf die die
Säkularisierungstheoretiker des Westens so wenig vorbereitet
waren wie die des Ostens. Konnte die neu und aggressiv sichtbar
werdende Verbindung von Religion und Politik in der islamischen Welt
noch einem ›voraufgeklärten‹
Mentalitätszustand derselben nicht ohne
Überheblichkeit zugeschrieben werden, so musste doch
verblüffen, dass ausgerechnet im Kernland der westlichen
Modernisierungsdynamik, den USA, diese Verquickung mit hohem Furor
machtpolitische Dominanz erlangen konnte. Doch wäre es
realitätsfern, Religion insgesamt mit Fundamentalismus
gleichzusetzen. Zwar haben – in unterschiedlicher Weise
– wohl alle etablierten Religionen ihre fundamentalistischen
Ausprägungen; doch werden diese in aller Regel gerade als
Bedrohung für den Mainstream angesehen und entsprechend
bekämpft. Es wäre eine meines Wissens noch nicht in
Angriff genommene Aufgabe einer religionswissenschaftlichen
Fundamentalismusforschung, die Strategien und Techniken zu untersuchen,
die Religionen zur Neutralisierung und Immunisierung der ihnen als
Gefährdung immanenten Fundamentalismen selbst entwickeln. Eine
im Umgang mit dem Fundamentalismus weitgehend erfolglose diskursive
Aufklärung hätte sich allerdings in
verstärktem Maße um die Rekonstruktion des
Eigensinns religiöser Vorstellungen und Lebensformen zu
bemühen, ohne sie als pathologisch interessantes Objekt der
Neugierde zu betrachten.
Fundamentalismus gibt es
nicht nur religiös. Lebensordnungen, kultureller,
wirtschaftlicher und politischer Art, die ausschließliche
Wahrheit und Lösungskompetenz für bestehende Probleme
beanspruchen, fallen ebenso darunter wie subjektive Orientierungen, die
sich das Heil des Lebens von einem spezifischen Umgang mit
Ernährungsrichtlinien oder der Geschlechterfrage versprechen.
Solche Haltungen absoluter Inanspruchnahme als religiös oder
abwertend als ›pseudoreligiös‹ zu
klassifizieren, verrät allenfalls die Verlegenheit, sich mit
Hilfe von Analogisierungen unvertraute Phänomene
erschließen zu müssen und dehnt zugleich das
Religionsverständnis ins Diffuse aus. ›Kapitalismus
als Religion‹ mag schlagend klingen; zu einer analytischen
Erhellung bedürfte es mehr. ›Kapitalismus als
Fundamentalismus‹ jedoch signalisiert eine Wirklichkeit,
über die sich manche Spitzenvertreter der
Wirtschaftsverbände mit Karl Marx in der Diagnose durchaus
einig werden könnten.
So zeigt sich: ein
definierter Begriff ist angesichts der disparaten Phänomene
nicht zu gewinnen. Man kann wohl nur von Fundamentalismen im Plural
reden, zudem die jeweils unterschiedlichen Situierungen, Kontexte und
Wandlungsformen in Anschlag bringen. Dennoch scheint es sinnvoll, den
Begriff als einen heuristischen zur Aufspürung von
Familienähnlichkeiten beizubehalten. Im Folgenden wird er
weniger als politisches oder soziales Phänomen thematisiert
denn als eine Mentalitätsform. Erscheinungen, die wir heute
als Fundamentalismus bezeichnen, gab es zu allen Zeiten: Fanatismus,
Terrorismus, Dogmatismus, Rigorismus etc. Die erst in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommene Fremdzuschreibung als
Fundamentalismus signalisiert offenbar eine epochal veränderte
Deutungsperspektive. Der neue Begriff thematisiert jene
Phänomene in Abhängigkeit von einem normativen
Konzept der Moderne.
Kompensation der
Moderne?
Würde Fundamentalismus
lediglich verstanden als das unbeirrbare Festhalten an unbedingten
Gewissheiten, verbunden mit der Tendenz, davon auch andere Menschen zu
überzeugen, dann hätte es ihn wohl seit jeher
gegeben. Propheten des Alten Testaments, Paulus sowie christliche
Märtyrer, die Reformatoren fielen ebenso unter eine solche
Sicht wie die Gründerfiguren der neuzeitlichen
Naturwissenschaft und manche Aufklärer und
Freiheitskämpfer, die für ihre Ideale ihre Existenz
aufs Spiel setzten. Der anachronistische Unfug einer solchen
Charakterisierung liegt auf der Hand: offenbar bezeichnet der Begriff
eine erst im 20. Jahrhundert virulent werdende Struktur,
nämlich ein spezifisches Spannungsverhältnis zur
Moderne.
Eine verbreitete Deutung, die vor allem auf
Thomas Meyers einflussreiche Studie von 1989 zurückgeht und
sich neben anderen Verdiensten durch unmittelbare
Plausibilität empfiehlt, ist die Regressionsthese.
Fundamentalismus ist ein Phänomen in der Moderne, ja selbst
ein aus der Dynamik der Moderne erwachsenes Produkt derselben, aber er
selbst ist nicht modern, sondern regressiv. Bedingt durch
Säkularisierungen, Aufklärungen und Desintegrationen
der Moderne reagiere er auf diese, indem er auf vormoderne
Traditionen und Weltdeutungen zurückgreife. In
eingängigen Wendungen wie »Aufstand gegen die
Moderne« oder »Internationale der
Unvernunft« wird ein »Rückfall ins
Mittelalter« namhaft gemacht, zu dessen Analyse ein
vereinfachtes Verständnis der Dialektik der
Aufklärung bemüht wird, wonach Fortschritt auf seiner
Kehrseite eben auch Rückschritte stimuliere. Es sei gerade die
Unübersichtlichkeit der modernen Welt, die das
Bedürfnis nach Sinn und unumstößlicher
Gewissheit hervorrufe. An solcher Diagnose ist frappierend, dass sie
– mit unterschiedlicher Akzentuierung – von
Kritikern wie Vertretern des Fundamentalismus geteilt werden kann.
Leitbegriffe
des dahinterstehenden Konzepts der Moderne sind neben den
›harten‹ Faktoren wie Industrialisierung,
Kapitalisierung, Bürokratisierung und Globalisierung
die durchaus auch realen, sich aber vermehrt in Mentalitäten
niederschlagenden Prozesse der Rationalisierung aller Lebensbereiche,
der Entzauberung der Welt, der Säkularisierung, der
Traditionsbrüche, des Werterelativismus, der Privatisierung
des Religiösen, der Individualisierung und der dieser
folgenden Überforderungen des Subjekts. Daraus ergebe sich,
dass die Modernisierungsdynamik, die unzweifelhaft in einigen Teilen
der Welt zu einer historisch völlig neuartigen
Möglichkeit der Befriedigung materieller Bedürfnis
geführt hat, zugleich neue spirituelle hervorrufe. Sie hat
vertraute Lebenswelten aufgelöst, Sinndeutungen
zerstört, traditionelle Legitimationen hinweggefegt,
tatsächliche oder gefühlte metaphysische
Ortlosigkeiten hervorgerufen. Sie ist damit aber auch den
Versprechungen innerweltlichen Heils, unter denen die Moderne
angetreten war, untreu geworden. Die Verheißung der
Selbstbestimmung des Subjekts kippte um in die Erfahrung seiner totalen
Funktionalisierbarkeit. Die Person dezentralisiert sich und scheitert
vor der Aufgabe, sich eine selbstgestaltete Identität zu
basteln. Die Vernunft pluralisiert sich wie die Lebenswelten und die
sich immer stärker ausdifferenzierenden Subsysteme der
Gesellschaft.
Generalisierte Ungewissheit und
prinzipielle Offenheit, verbunden mit dem Scheitern von Autonomie in
der marktgemäßen Anpassung der
Individualitäten führen demnach zu einem
Rückzug in feste Gewissheiten, abgeschlossene Weltbilder, neue
Geborgenheiten, manichäische Unterscheidungen von Gut und
Böse. Die utilitaristische Wettbewerbsgesellschaft erzeugt
neue Gegenbilder einer auf geteilten Idealen beruhenden
wärmenden Gemeinschaftlichkeit.
Wird in
dieser Sicht die ›Rückkehr‹ der
Religionen als symbolische oder rituelle Bearbeitung von
Krisenerfahrungen plausibilisiert, so gilt das in erhöhtem
Maße für Fundamentalismen schlechthin, die sich
keineswegs nur als religiös im engen Sinne manifestieren
müssen. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und klarer Orientierung
ist nicht eo ipso ein religiöser. Wenn die Hochreligionen
nicht illusionäre Sinngebungen des Sinnlosen sind, sondern
reflektierte Anleitungen, mit dem Sinnwidrigen zu leben, dann wird die
verbreitete Fokussierung auf primär religiöse
Erscheinungsformen irreführend sein müssen.
Der
Ansatz, den Fundamentalismus als regressiv-irrationale Reaktion auf die
Rationalisierungen der Moderne zu deuten, ist nicht ohne
Erklärungswert, greift aber zu kurz. Er macht sich
abhängig von einem einsinnigen Modernisierungsprogramm,
das auch historisch nie real gewesen ist. Er
übersieht zugleich, dass jener Prozess seit seinen
Anfängen von ästhetischen, lebensweltlichen und auch
religiösen Gegentendenzen begleitet war, ohne dass diese mit
fundamentalistischen Absolutheitsansprüchen aufwarten mussten.
Insbesondere beurteilt diese Perspektive negativ, was sie auch
wertneutral feststellen könnte: dass Fundamentalismus durchaus
ein interessegeleitetes, d. h. funktional rationales Verhalten sein
kann, mit dem Einzelne oder Gruppen ihre Identität oder
Positionalität in ansonsten nicht auflösbaren
Konfliktsituationen sichern. Die Frage, weshalb Menschen einfache
Lösungen bevorzugen, wenn sie es denn doch auch schwierig
haben könnten, verliert ihre Trivialität, wenn sie
umformuliert wird zu der Frage, weshalb Menschen sich in
einschnürende Bindungen begeben und dies zugleich als
höchsten Ausdruck ihrer Selbstbestimmung ansehen. Nur
für den besserwissenden Kritiker ist der Fundamentalist ein
unfreier Mensch; in seinem eigenen Selbstbild verkörpert er
eine Autonomie, die dem Angepassten gerade abgeht.
Die
Verlockung, Unmündigkeit als selbstverschuldete frei zu
wählen, erwächst aus einem bewussten und
reflektierten Akt der Verwerfung einer Aufklärung, deren
Bilanz als negativ taxiert wird. Wer je mit Fundamentalisten diskutiert
hat, wird die Erfahrung bestätigen können, dass sie
in aller Regel die Argumente der Gegenseite nicht nur gut kennen,
sondern sie häufig gerade gegen den Kontrahenten zu wenden
wissen. Kreationisten wissen eben über die Evolutionstheorie
Bescheid und versuchen, sie wissenschaftlich zu falsifizieren. So
geriert sich Fundamentalismus nicht selten als eine Vernunftkritik auf
dem Boden der Vernunft, wie gelegentlich auch bei hochrangigen
Kirchenrepräsentanten sichtbar werden kann. – Die
Vermutung liegt nahe, dass Fundamentalismus in viel intimerer Weise am
Projekt der Moderne teilhat, als das Kompensationsmodell nahe legen
will.
Exkurs: Kompensation im Kontext
Kompensationstheorien
sind mannigfach im Schwange, ohne dass das Kompensierende bereits als
fundamentalistischer Rückfall denunziert wird. Sie
erfüllen offenbar ein verbreitetes Bedürfnis. So kann
es nicht überraschen, wie sich Argumentationslinien
berühren.
Deutungen des religiösen
Fundamentalismus können als zeitgenössisch
konkretisierte Applikationen und Filiationen jener Religionstheorien
verstanden werden, die die Religion als Bewältigungsstrategie
für die zeitinvarianten Kontingenzen und Krisen des
menschlichen Lebens, Endlichkeit, Unverfügbarkeit des
Schicksals, Tod, rechtfertigen und begründen. – Wenn
gegen Pluralisierung und Orientierungslosigkeit die Suche nach
Identität als stärkste Triebfeder des
Fundamentalismus ausgemacht wird, dann rückt auch in
aufgeklärten demokratischen Gesellschaften die neue Suche nach
kollektiven Identitäten in eine gerne verleugnete
Nachbarschaft. Es sind nicht nur dezidiert Konservative, die
nach kulturellen und gesellschaftlichen Pfaden fahnden zur Entwicklung
regionaler, nationaler oder europäischer Identitäten.
Nicht ohne gruselnde Komik ist es, von wie vielen Seiten der Ruf
ertönt nach den ›Werten‹ oder
Traditionen, die ›uns‹ ausmachen. Im Zeitalter
der Globalisierung erstehen Kultur und geschichtliche Herkunft als
Götter aus ihren Gräbern und nehmen den Kampf auf
gegen die desaströsen Folgen gesellschaftlicher
Differenzierung. Den ihnen von Politik und Ökonomie
zugespielten Ball haben Geistes- und Kulturwissenschaften hoch erfreut
aufgenommen: Kultur als Abfederung sozialer Wandlungsprozesse,
Verlangsamung gegen Beschleunigung, Erinnerung und kollektives
Gedächtnis gegen Orientierungsverlust in einer sich selbst
überholenden Gegenwart.
Zu leicht kann
hier die Fundamentalismusfalle zuschnappen: wer sich solchen gewiss
sehr respektablen Motiven, Gedanken und Theorien nahe weiß,
sollte jedenfalls die Familienzugehörigkeit des schwarzen
Schafes nicht allzu emphatisch verleugnen.
Modernität
des Fundamentalismus?
Gewiss ist
Fundamentalismus ein ambivalentes Phänomen. Doch es
ist eine halbierte Dialektik der Aufklärung, ihn nur
als unvermeidlichen Kollateralschaden der Aufklärung zu
betrachten. Zu einer angemesseneren Wahrnehmung gehört, dass
er nicht nur als eine defiziente Erscheinung in der Moderne betrachtet
wird, sondern als eine Verkörperung wesentlicher
Charakteristika der Moderne selbst. Diese Hypothese zielt weder auf
eine wohlfeile Kritik der Moderne noch auf ein Plädoyer
für eine postmoderne Relativierung der Vernunft, die es
sowieso schwer hat. Die Absicht ist lediglich, jene Sichtweise
aufzulockern, die im Fundamentalismus nur das Andere der Vernunft,
nicht aber auch das ihr Zugehörige zu perzipieren vermag.
Könnte es sein, dass der Fundamentalismus nicht ein
illegitimes, sondern ein legitimes, wenngleich
verständlicherweise ungeliebtes Kind der Moderne ist? Verweist
nicht der analytisch ungenaue, aber hysterisch polemische Gebrauch
dieses Begriffs auf eine wunde Stelle, auf deren Schmerzen mit
Verdrängungen und Projektionen reagiert wird? Wird nicht in
Auseinandersetzung mit Fundamentalismus zu leicht vergessen, dass das
Kantische Prinzip der Kritik zuallererst Selbstkritik bedeutet?
Nur
einige Merkmale seien streiflichtartig erinnert, in denen
Fundamentalismus – sicherlich zweideutig – sich an
Grundzüge der Moderne anschließt.
An
erster Stelle steht die Suche nach Gewissheit. Sie ist dem
neuzeitlichen Denken, das aus den Nominalismuskrisen des
Spätmittelalters hervorgegangen ist, jedenfalls in einem
Hauptstrang immanent. Dieser führt von Descartes' Forderung
eines ›fundamentum inconcussum‹ über
Kants Grundlegung bis hin zur Heideggerschen Fundamentalontologie.
Selbst der Skeptizismus der Vernunftkritik stand im Zeichen der
Gewinnung unzweifelhafter Voraussetzungen. In den sechziger und
siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat Hans Albert die
Wissenschaftsauffassung des Logischen Positivismus des Fundamentalismus
geziehen, dabei aber implizit die gesamte
Letztbegründungsthematik des europäischen Denkens
mitgemeint. In der Tat wäre es schwer zu bestreiten, dass die
platonische Idee des Guten, die aristotelische Substanzmetaphysik, der
kantische Apriorismus auf die Entdeckung archimedischer Punkte
für stabile Wahrheitskriterien abzielen.
Der
Gedanke eines letzten Grundes ist vermutlich menschheitsgeschichtlich
wie anthropologisch tief verwurzelt. Allein die Zahl der Kandidaten,
die die Philosophiegeschichte seit den Vorsokratikern dafür
aufgeboten hat, ist beeindruckend. Zu einem theoretischen
Zentralproblem avanciert er bereits mit den monotheistischen Wenden der
Achsenzeit, gleich ob er rationale Welterkenntnis oder soteriologisch
das Heil des Menschen garantieren soll. Doch nagt schon immer im
Gedanken eines letzten Grundes die Vermutung, dass alle
Gründe, auf die wir uns in unserer Welt- und
Lebensorientierung stützen, vorläufige, endliche,
hypothetische, auch fehlerhafte sein könnten. Die Annahme
eines letzten Grundes bedeutet das Eingeständnis, dass uns nie
alle möglichen relevanten Gründe zuhanden sind;
umgekehrt sind letzte Gründe für die Praxis der
unmittelbaren bedrängenden Begründungspflichten
untauglich. Insofern ist jener von Nietzsche inaugurierten Sichtweise
beizupflichten, nach der gerade der fundamentalistische Zug des
europäischen Denkens in sich bereits den Nihilismus
trägt. Man mag mit guten Argumenten die
Letztbegründungsansätze der europäischen
Philosophie verwerfen bzw. sie ins Archiv einer vergangenen Geschichte
stellen; Faktum bleibt dennoch, dass sie als Ideal nicht nur das
Gehäuse der abendländischen Wissenschaften
mitgeprägt haben, sondern dass sie als mentale
Restbestände auch in jenen präsent bleiben, die sich
reflektierterweise von ihnen lossagen, zum Beispiel dann, wenn sie sich
in Methodenideale kritischer Rationalität transformieren.
Zu
Beginn der Neuzeit waren bereits die beiden maßgeblichen
Modelle der Gewissheitssicherung dezisionistisch. Luthers
Fundamentalismus der Schriftwahrheit wie Descartes' entleertes
›ego cogito‹ konnten die Unsicherheitserfahrung,
der sie sich verdanken, nur fortschreiben. Doch dabei gelang es ihnen
zunächst, Selbst- und Weltdeutungen hoher Reichweite unter
jeweils unterschiedlichen Perspektiven der Autonomie zu generieren. Um
beide Leitpunkte der Neuzeit wurden verzweifelte
Rückzugsgefechte geführt. Je schärfer der
christliche Glaube seinen historischen Grund zu fassen suchte, desto
ungreifbarer wurde dieser. Je intensiver die Explikation des
substantiellen Subjekts fortschritt, desto mehr löste es sich
in prozessuale Dialektik auf.
Wesentliche Energien
der Neuzeit speisen sich aus der vergeblichen Suche nach letzten
Gründen. Auf deren Scheitern folgt der Fundamentalismus als
Satyrspiel: das Dekret einer der Infragestellung entzogenen Grundlage,
auf der sich kohärente Weltdeutungen eigener Logik aufbauen
lassen, die dem banalen Augenschein trotzen.
Fundamentalismus als
theoretische Haltung verlangt ein hohes Maß an Scharfsinn und
konstruktiver Intelligenz, an Aufnahme- und
Verarbeitungsfähigkeit auch des ihm Widersprechenden, an
Kombinatorik, Phantasie und Konsequenz des Denkens. Den
Wirklichkeitskonstruktivismus führt er konsequent durch. Ist
er absurd, so hat er doch Methode.
Neuzeitentsprechend
ist auch die Betonung der Autonomie und des freien Willens. Es sind
neuzeitliche Ideale, die von der Postmoderne in gleicher Weise
gefordert sind wie in ihrer Möglichkeit bestritten werden.
Paradoxerweise realisieren sie sich heute in fundamentalistischen
Lebensformen: so bedarf es besonderer Ichstärke, sich zu
angefeindeten abweichenden minoritären Haltungen zu bekennen.
Fundamentalist wird man nicht durch Geburt oder Konvention, sondern
durch Konversion, durch bewusste Willensentscheidung und eine
Lebenssteuerung, die dem hedonistischen Mehrheitstrend
abschwört. Wohl ist eine Selbstbestimmung, die sich zur
bewussten Hingabe an autoritative Fremdbestimmung
entschließt, höchst widersprüchlich, doch
kann sie sich in der Erbschaft jenes bürgerlichen Individuums
sehen, das seine Erfüllung in der Unterwerfung unter eine
selbstgegebene Pflicht finden konnte.
So ist
Fundamentalismus der radikale Gegensatz zum Konservativismus. Er ist
die entschiedenste Opposition gegen das Gegebene, Widerstand gegen die
Faktizität. Er ist die Haltung der Revolte. Seine
Zielvorstellung ist entgegen mancher Vorurteile nicht
rückwärtsgewandt; sie bedient sich allenfalls
selbstgewählter Versatzstücke der Tradition zur
Konstruktion einer neuen Welt. Fundamentalisten sind moderne Menschen,
die sich als Eliten deuten. Nicht selten gehören sie zur
technischen Intelligenz, beherrschen fortgeschrittenste
Kommunikationstechniken, Managementmethoden und
Medienpräsentationen. Es geht dem Fundamentalismus nicht um
Rückzug aus der Moderne – wie etwa bei
weltabgewandten religiösen Sekten – sondern um die
Umgestaltung der Moderne mit Methoden der Moderne. – Dazu
gehört die Verarbeitung der Tradionsbrüche der
Moderne durch die selektive Konstruktion von Traditionen. Traditionen
werden rückwärts neu geschaffen unter Abstraktion von
den Reichtümern, Pluralitäten und
Widersprüchlichkeiten der geschichtlichen Traditionen.
Entwurzelte Teilelemente von Traditionen werden ahistorisch, aber
innovativ neu figuriert zur Konstruktion einer
identitätsstiftenden Quelle. Ist die Moderne – nach
Habermas – die erste geschichtliche Formation, die dazu
verurteilt ist, ihr Selbstbewusstsein aus sich selbst zu
schöpfen, so ist der Fundamentalismus eine ironisch-verquere
Bestätigung dieser These. Er ist eine Selbsterfindung, die
sich selbst noch die eigenen Fundamente gibt. Nicht in der
Absolutsetzung, aber im Schaffen seiner Normen nimmt er an der Dynamik
der Moderne teil. Seine Tragik besteht darin, dass er die Fortsetzung
der Revolution in einem Zeitalter sein will, da nicht mehr bewusst
handelnde Menschen, sondern apersönliche ökonomische
und technische Energien die Agenten der Umwälzung sind. Sein
trotziges Beharren auf der weltverändernden
Möglichkeit menschlicher Aktivität hält
anachronistisch Impulse der Neuzeit fest.
Fragwürdige
Identitäten?
Wird unter
›Postmoderne‹ der Verzicht auf die
Universalisierungsansprüche der Moderne verstanden, dann
bietet gerade sie das ideale Milieu für Fundamentalismus. Das
Pluralismuspostulat gibt Fundamentalismen Raum und neutralisiert
zugleich deren Absolutheitsansprüche. Doch ist
Fundamentalismus nicht nur ein Trittbrettfahrer der Postmoderne; er
verschafft ihr auch einen Reiz, den sie in ihrer überfluteten
Langeweile ansonsten nur virtuell herzustellen vermag: den Kitzel der
Authentizität. Doch wenn er sich nicht an die Spielregeln
hält und es tatsächlich ernst meint, bleiben
Verblüffung und Ratlosigkeit. – Eine sich selbst als
›schwach‹ verstehende Vernunft hat die Waffen der
Kritik aus der Hand gelegt. Sie kann Fundamentalismus nur noch als eine
affektiv und symbolisch strukturierte Lebensform betrachten, die wohl
aus den Bedingungen moderner Gesellschaften zu erklären ist,
mit der aber nicht rational diskutiert werden kann. Es bleibt
erstaunlich, dass Fundamentalismus eher Erregung auslöst als
argumentative Kritik oder gar bloßstellende Ironie. Verbirgt
sich darin ein gefühltes Eingeständnis, dass eine
radikale Auseinandersetzung einem selber den Spiegel vorhalten
könnte? Spürt man im Fundamentalismus zu viel Eigenes?
Die
europäische Moderne seit dem 19. Jahrhundert hatte sich
wesentlich in Abwehr einer als Metaphysik oder Platonismus denunzierten
Strukturdifferenz im Welt- und Menschenbild etabliert, die seit den
Anfängen bei den Griechen und in nicht immer
glücklicher Liaison mit dem Christentum die Unterscheidung
zwischen Idee und Erscheinung, Ewigem und Zeitlichem, Absolutem und
Relativem festgeschrieben hatte. Nietzsche konnte die Destruktion
dieser Selbstverständnisform suggestiv zur Sprache bringen und
hat damit die Zeit in Gedanken gefasst. – Man muss nicht
Anhänger des katholischen Naturrechts sein, um festzustellen,
dass damit auch die kritische Funktion der Unterscheidung von Absolutem
und Relativem eingezogen wurde. Der Mensch – bei Kant noch
spannungsreich und unausgeglichen als ›Bürger
zweier Welten‹ aufgefasst – schrumpelt
zunächst zur Eindimensionalität um sich alsdann in
multiple und flexible Identitäten aufzulösen. Doch
die vielbeklagte alteuropäische Spaltung des Menschen verstand
Identität nie als einen substantiellen Zustand,
sondern als eine nie zureichend zu lösende Aufgabe.
Identitätsbedürfnisse ethnischer, religiöser
oder kultureller Art scheinen ihre besondere Virulenz erst mit dem
modernen Verschwinden jenes ›antiquierten‹
Selbstverständnisses zu bekommen. Mit dem Verlust eines
derartigen normativen Verständnisses des Menschen wird
Fundamentalismus zur Erhebung eines partikularen
Identitätsmomentes zum dominanten.
In der
Phänomenologie von Fundamentalismen bedeutet der Verlust jener
Zwei-Welten-Differenz, dass die Agora als der Austragungsort des
Vorletzten nun zum Kampfplatz letzter Dinge wird. Charakteristisch
für Fundamentalismen religiöser Art ist, dass sie
meist auf eine außerweltliche Eschatologie verzichten. Sie
verlangen die Realisierung des Gottesreiches im Hier und Jetzt und
heben deshalb die Trennung von Religion und Politik auf. –
Entsprechend sind auch politische Fundamentalismen utopiefern, weil sie
auf unmittelbare Verwirklichung drängen. – Modern
sind Fundamentalismen, indem sie auf die kritische Spannung von
Immanenz und Transzendenz verzichten.
Klassisch
modern konnte man Identität einer Person verstehen als die
lebenslange Aufgabe, unter wechselnden Bedingungen Kontinuität
aufzubauen und zu bewahren. Für jenen Prozess war entscheidend
das normative Widerlager eines nicht-faktischen Selbst. Mit dessen
Wegfall transformiert sich das Problem der Identität zu dem
der Identifikation. Es ist der Triumph des Konstruktivismus.
Identifikationen müssen erfunden werden; sie müssen
sich ihre Legitimation immer neu konstruieren. So sind auch
fundamentalistische Gemeinschaften zumeist imaginierte Kollektive.
Damit verbindet sich lebensgeschichtlich auch die
Reversibilität der Wahl: es ist durchaus möglich, von
einem Durchlauferhitzer zu einem anderen zu wechseln, wie auch, von der
Kraftanstrengung immer erneuter Identifikationen abzulassen und in den
entlasteten Schoß einer angeblichen Normalität
zurückzukehren. – Vielleicht ist Hedonismus doch
noch immer das stärkste Gegengift zum Fundamentalismus.
Literatur
PRUTSCH,
MARKUS J., Fundamentalismus. Das Projekt der Moderne und die
Politisierung des Religiösen, Wien 2007
TÜRCKE,
CHRISTOPH, Fundamentalismus – maskierter Nihilismus, Springe
2003
RIESEBRODT, MARTIN, Die Rückkehr der
Religionen. Fundamentalismus und der ›Kampf der
Kulturen‹, München 2000
EISENSTADT, S. N.,
Die Antinomien der Moderne. Die jakobinischen Grundzüge der
Moderne und des Fundamentalismus, Frankfurt/Main 1998
MEYER,
THOMAS, Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Hamburg 1989