Ronald Perlwitz
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Die Reform des Heiligen


Hamburg, Wagners Parsifal, Mitte der neunziger Jahre. Wir erinnern uns. Es war die Zeit, als die Hamburger Oper sich noch an Wagner herantraute, als man noch die Mittel und die Ambitionen hatte, Musikdramen aufzuführen. Ein damals nur wenig bekannter amerikanischer Regisseur namens Bob Wilson hatte für die Regie verantwortlich gezeichnet. Wenig Dekor, die Kostüme übertrieben gradlinig und scharfkantig, im Hintergrund der Bühne eine grosse weisse Leinwand als Projektionsfläche für Detailformen: Flügelpartien, Schwertklingen, Hügellinien. Doch der eigentliche Clou: In Wagners Gralsoper ist kein Gral zu sehen, Amfortas fasst im ersten Akt lediglich ein imaginäres Gefäß, reckt ein Nichts in die Höhe. Ähnlich im zweiten und dritten Akt: Klingsor simuliert nur die Bewegung des Speerwerfens, Parsifal tut nur so als hielte er in der finalen Szene einen Speer empor und auch der Gral ist nur eine Einbildung, um die sich die erretteten Gralsritter scharen. Warum er den Gral und den Speer einfach weggelassen habe, wird Wilson gefragt: Der Gral sei schließlich das, wonach wir alle strebten, das größte aller Geheimnisse, nichts Reales also, sondern das unerreichte Ziel aller menschlichen Bestrebungen; und der Speer? Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Regisseurs: Es sei nunmal sehr schwierig – vom technischen Standpunkt aus gesehen – einen Speer über die  Bühne segeln zu lassen; an einen Faden habe er ihn nicht hängen wollen und die Bühnentechnik in Hamburg sei sehr begrenzt; in Los Angeles, da verfüge man über die nötigen Spezialeffekte, da werde es bei der gleichen Inszenierung im nächsten Monat auch einen Speer geben. In Hamburg habe er den einfachen Weg gewählt, nach dem Gral einfach auch den Speer wegzulassen: schlicht entwaffnend.

Zugegeben: Es ist wohl kaum anzunehmen, dass sich Bob Wilson eingehend mit den romantischen Implikationen des Parsifal beschäftigt hat und doch, seine Intuition hat etwas Einnehmendes. Sieht man nämlich Wagners Parsifal als entscheidende Etappe für die von der deutschen Romantik eingeleitete Reform des Heiligen in der und vor allem durch die Kunst an, so darf man sich sicherlich darüber wundern, dass gerade bei der selbst zur Würde des Heiligen erhobenen Oper das zentrale Motiv, ja das eigentliche Heiligtum vorenthalten wird. Jeder Erfolg, jeder Sieg bedarf auch seiner Symbole, und wie soll man nun gerade die Absenz eines Symbols im wohl heiligsten Kunstwerk der Romantik verstehen? Sicher, es handelt sich um den Einfall eines nach Originalität strebenden Regisseurs. Und dennoch, ein gewisses Befremden bleibt bestehen.

Wenden wir uns der romantischen Reform – denn um eine solche handelt es sich tatsächlich – des Heiligen zu. Neben Wackenroders Herzensergießungen, in denen bereits ein kunstliebender Klosterbruder auftritt, der den täglichen religiösen Betrieb mit der freien Kunstausübung vertauscht hat und sich dadurch Gott um Einiges näher wähnt, gehören sicherlich die theoretischen Texte Friedrich Schlegels zu den Gründungstexten der jungen Bewegung. Seine Rede über die Mythologie, 1800 im Dritten Band des Athenäum abgedruckt, beginnt mit einer deutlich, wenn auch nicht gerade übermäßig innovativen Definition dessen, was er und seine Genossen nun als Heiligtum ansehen möchten:

»Bei dem Ernst, mit dem Ihr die Kunst verehrt, meine Freunde, will ich Euch auffordern, Euch selbst zu fragen: Soll die Kraft der Begeisterung auch in der Poesie sich immerfort einzeln versplittern, und wenn sie sich müde gekämpft hat gegen das widrige Element, endlich einsam verstummen? Soll das höchste Heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall überlassen?«

Schlegel bricht hier eindeutig mit der üblichen religiösen Praxis: Keine Hostie, kein Tuchfetzen oder Holzsplitter, kein Ort oder Buch, keine Statue wird hier als Heiligtum, als Ort der Präsenz Gottes verehrt, sondern die im Dichter wohnende ›Kraft der Begeisterung‹. Dass hier noch etwas Sturm- und Drang-Begeisterung nachhallt, braucht nicht weiter erläutert zu werden, neu ist jedoch der unmissverständlich vorgetragene Wunsch, dem diffus Heiligen eine Form zu geben, also eine gewisse Realität. Dazu gehört auch das Verorten eines ›Zentrums‹ der Menschheit, die sich über diese neu gefundene Dignität erneuern, verjüngen soll. Der Rest ist auch bekannt: Sichtbar soll die Kraft der Begeisterung in der Poesie werden und diese kann wiederum auf einer quasi neuen Mythologie aufbauen:

»Die neue Mythologie muss im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muss das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt.«

Der eingeschlagene Kurs tritt hier deutlich hervor, sogar Gedankengänge, die zunächst eher unlogisch anmuten (»Denn Mythologie und Poesie sind beide eins und unzertrennlich«: Nur, wie kann das eine auf dem anderen aufbauen, wenn beide eins sind?), lassen sich nachvollziehen: »die tiefste Tiefe des Geistes«, das »unendliche Gedicht« weisen den Weg zum urromantischen Konzept der Transzendentalpoesie, das, wie es in den Fragmenten heißt, mit der »absoluten Identität des Idealen und Realen« einhergeht. Poesie der Poesie also ist der Schlüssel zur Wiedergewinnung des Heiligen in der Kunst, oder sagen wir eher zur Heiligung des künstlerischen Vorgangs, der im Rückgriff auf sich selbst zum Ort der Epiphanie wird. Auch in späteren Fragmenten macht Schlegel deutlich, dass nur in einer solchermaßen gearteten Poesie das Unendliche durchschimmern kann, dass nur in ihr das schier unmögliche Unterfangen der Romantik, aus der Kunst die Heimat des Höheren zu machen, zur Entfaltung kommen kann: »Durch das Romantische bekömmt ein Werk die Fülle, die Universalität und Potenzierung; durch Abstraction bekommt es die Einheit, die Classicität und Progressivität; durch das Transcendentale aber die Allheit, die Ganzheit, das Absolute und Systematische« schreibt er in den Fragmenten zur Litteratur und Prosa. Ähnlich – nur so kann der Gedankengang dann auch funktionieren – verhält es sich mit dem Mythos: Auch er ist Reflex, der Imagination auf sich selbst, des menschlichen Gottverlangens auf sich selbst. Wo es dem Bruder etwas an Klarheit mangelt, wo er auf den philosophischen Idealismus rekurriert, um im Mythologie-Aufsatz knifflige Analogien herzustellen, bringt es August Wilhelm in seinen Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801-1802) auf den Punkt: Ist die Sprache bereits als Zeichen für die göttliche Offenbarung zu verstehen, so ist die Mythologie gewissermaßen die zweite Ebene dieser Offenbarung, also dort zu Hause, wo das sprachliche Gebilde zu sich selbst und damit auch zu seiner Heiligkeit zurückfindet:

»Mythologie selbst erscheint hingegen eine höhere Potenz der poetischen Anlage in der Ursprache, eine zweite Symbolik des Universums über jener ersten in der Sprachbezeichnung enthaltenen zu sein, welche, mit Freiheit behandelt, sogleich in wahrhafte poetische Werke übergehen kann.«

Man könnte diese romantische Kunstreform noch weiter verfolgen, die Nuancen von einem Autor zum anderen, von einem Jahr zum nächsten näher herausarbeiten. Erstaunlich ist nur, dass sie sich, trotz ihrer zur Schau getragenen Reflexivität dann doch auf andere Bereiche beruft und seltsamerweise die sich selbst bespiegelnde Perspektive gerne verlässt, um sich dann doch auf festeren Grund zu begeben, auch wenn dieser – was in Anbetracht des eben beschriebenen intellektuellen Drahtseilakts nicht zu verwundern vermag – in den fernsten Orient verlegt wird. Es wurde oft, ob der romantischen Begeisterung für Indien oder Arabien gerätselt, oft die einfache Mode der durch Georg Forsters Übersetzung ausgelösten Sakontala-Begeisterung angeführt, um die Orient-Faszination der Zeit zu erklären. Bei genauem Hinschauen wird jedoch der Sprung deutlich, vor dem Friedrich Schlegel in seinem Mythologie-Aufsatz keinesfalls zurückschreckt: Einerseits soll sich die Mythologie aus der ursprünglichen Tiefe des Geistes herausschälen, soll hindurchschimmern aus der Arbeit des Geistes mit sich selbst, andererseits aber soll eine bereits bestehende Mythologie die neue Poesie beleben, was als leichte Anomalie zu verstehen ist, da diese moderne Poesie, ja in ihrer ausgebildetsten Form vor allem sich selbst zum Gegenstand hat. Doch die Frühe Romantik ist eben um solch sprunghafte Reflexion keinesfalls verlegen. Kohärenter ist da sicherlich Novalis, wenn er die damals verbreitete Gleichsetzung von »Poetisch« und »Indisch« (Jean Paul) nicht als solche postuliert, sondern analogisch fasst: »Reizender und farbiger steht die Poesie, wie ein geschmücktes Indien dem kalten, todten Spitzbergen jenes Stubenverstandes gegenüber.«
  
Womit wir beim zweiten Teil des Themas wären: der inhärenten Schwäche der selbstbezogenen Reform des Heiligen durch die Romantik. Schonungslos aufgedeckt hat diese Schwäche der vielleicht parasitärste Autor der deutschen Romantik: E.T.A. Hoffmann. Im Goldenen Topf, dem Hauptwerk aus der Frühphase seines literarischen Schaffens, rekurriert Hoffmann nicht nur auf den romantischen Anspruch, die Kunst ins Sakrale zu erheben, sondern auch auf dessen reflexive Dimension. Das Endkapitel, die zwölfte Vigilie, erzählt den Eintritt des Studenten Anselmus in das Rittergut in Atlantis und damit in das Leben der Poesie; hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass es zu diesem Übergang jetzt sogar alkoholisierter Getränke bedarf. Die Vision des »heiligen Einklangs aller Wesen«, in der sich das »tiefste Geheimnis der Natur« offenbart, wird zwar mit allen Attributen der romantischen Bewegung versehen, ja sogar durch die vorhandenen Palmbäume und die Beziehung zur Gralslegende ins Orientalische versetzt, die frühromantische Unmittelbarkeit des Traumhaften ist jedoch einer fundamentalen Infragestellung der Erreichbarkeit poetischer Utopien gewichen. Für Hoffmann, der wie kaum ein anderer Künstler, sein Schaffen auf romantischem Gedankengut aufgebaut hat, um es im Erzählvorgang immer wieder kritisch in Frage zu stellen und vor allem dessen künstlerische Universalitätsphantasien bis in ihre Widersprüche auszuloten, ist die Sakralisierung der Kunst ohne Zweifel immer noch Bestandteil des künstlerischen Schaffens. Gerade als Musiker steht Hoffmann dem Absolutheits- und Sakralitätsanspruch frühromantischer Kunst immer noch nahe. Der Schriftsteller Hoffmann hingegen weiß um die Ambivalenz des Goldenen Topfes, des Symbols dichterischer Schaffenskraft: in seinen Briefen bezeichnet er ihn teils als Gral, teils als Nachttopf und macht so auf jenen Grundwiderspruch aufmerksam, der darin besteht, das Heilige in einem allzu irdischen Kunstwerk, dem literarischen, fassen zu können. Dem romantischen Sakralitätsparadigma nur noch bedingt folgend, rettet Hoffmann den heiligen Anspruch der Kunst durch dessen Verkapselung. Anselmus, der sich nach Atlantis sehnende Künstler, lebt zwar seinen Traum, doch bezahlt er hierfür den höchsten Preis, den der Entrückung, des Abschieds von der Welt, des Hinübergleitens in eine »wunderliche Existenz in der Geisterwelt«. Die Einmaligkeit der heiligen Kunstwelt ist zwar gerettet, doch lässt Hoffmanns Kunstmythologie zu keinem Zeitpunkt einen Zweifel daran, dass sie nur noch für sich existiert und jeglichen Weltveränderungsanspruch, überhaupt jeden Anspruch auf ein Eindringen in die Welt, aufgegeben hat. 

Es bleibt noch eine dritte Etappe in der romantischen Reform des Heiligen, die vielleicht bekannteste, zu untersuchen. Jene Etappe, die das Kunstwerk – trotz aller bereits vorab von Hoffmann geäußerten Zweifel – nun definitiv dahin bringt, dass es zur »reinsten, erhabensten Religion« wird und fast provokativ dessen Stellung einnimmt. Es ist die Rede von Wagners Parsifal. Kaum ein anderes Werk der Kunstgeschichte wurde so eindeutig als ›heilig‹ konzipiert wie das letzte Werk des Komponisten, das er ›Bühnenweihfestspiel‹ definierte und dessen Aufführung nur auf Bayreuth beschränkt bleiben sollte. Selten wurde ein Kunstwerk so durch und durch geheiligt, dass es selbst zur Stätte des Heiligen wurde, was im Umkehrschluss auch dessen Entweihung mit einbezieht. Man bemerke: Wagner hat diese Heiligung selbst ausgesprochen, wobei man sich bei seinen Worten, genauso wie bei dem Werk selbst fragen konnte, wer oder was nun wirklich der Gegenstand der durch das Heiligtum herbeigeführten Verehrung sein soll: »So muß ich ihm [dem Parsifal] denn nun eine Bühne zu weihen suchen, und dies kann nur mein einsam dastehendes Bühnenfestspielhaus in Bayreuth sein. Dort darf der Parsifal in aller Zukunft einzig und allein aufgeführt werden: Nie soll der Parsifal auf irgendeinem anderen Theater dem Publikum zum Amusement dargeboten werden.« Einerlei, die Bühnenpraxis und Sekundärliteratur haben in der prominenten Nachfolge Nietzsches (»der P ist ein Werk der Tücke, der Rachsucht, der heimlichen Giftmischerei gegen die Voraussetzungen des Lebens, ein schlechtes Werk«) seitdem alle Zeit der Welt darauf verwendet, am sakralen Werk die Kunst des Sakrilegs zu üben, ohne dabei die doch offenkundig einfache Frage nach dem Ursprung des Heiligen im Parsifal zu stellen. In gläubiger Jüngermanier wurde hingenommen, dass es sich um eine »Predigt der Keuschheit« handelte, obwohl sogar Parsifal in Sachen Keuschheit nicht gerade als Vorbild taugt (schließlich küsst er ja Kundry). Wagner wurde beim Wort genommen und sein Werk zwar als Versuch, die zu Ende des 19. Jahrhunderts strauchelnde Religion zu retten, interpretiert. Doch auch hier stellt sich die Frage des Kerns. Dabei kommt uns gerade Wagners Kommentar zu Parsifal in seiner späten Abhandlung Kunst und Religion ziemlich bekannt vor, und es wäre sicherlich ein Fehler, die unterschwellige Ironie, die Doppeldeutigkeit, kurz, die romantischen Anklänge in seinen Worten zu unterschätzen:

»Man könnte sagen, dass da wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere [die Religion auf der Stufe des Mythos] im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.«

Friedrich Schlegel lässt grüßen. Die Religion wird ›künstlich‹ und niemand stört sich daran. Denn, wenn dieser Text etwas ausweist, so weniger die Fundamentierung einer neuen Religion, als den Umstand, dass man auch noch im Jahre 1880 von der Ineinssetzung von Realität und Idealität in der Kunst sprechen konnte, dass das urromantische Programm der über sich selbst reflektierenden Kunst verbunden mit der »Ansicht des Weltganzen, Mythologie« noch seine Berechtigung hatte. Dahlhaus, Wagners wohl interessantester Exeget, merkt zu dieser Passage lediglich an, »Religion und deren Wahrheit [seien] aus der Form des Mythos in die der Kunst übergegangen« ohne sich des fundamentalen Widerspruchs bewusst zu werden, den er da gerade aufs Papier gebracht hatte. Wichtiger noch: Im Parsifal dreht sich alles, neben dem Telephos-Speer, um den Gral, also – und auch dies kann man beim Hoffmann-Leser Wagner voraussetzen – um den wohl wichtigsten und natürlich auch ambivalentesten Mythos der Kunst. Konnte man das übersehen? Wagner, das dürfen wir behaupten, arbeitet mit romantischen Topoi im Parsifal. Die Kunst ist sich ihr eigener Mythos und die Kunstreligion entsteht – wenn überhaupt – dort, wo »Worte, Töne und Bilder«, um mit Runge zu reden, als Lob Gottes einen »Zusammenhang« schaffen, aus dem die Ewigkeit hervorscheint. Kaum ein anderer Mythos ist eher geeignet dies auszudrücken, als der Gral, der ja Signifikat und Signifikant in einem ist, Blut und Behältnis des Blutes, Sang Réal und Gral, Ewigkeit und Suche nach Ewigkeit zugleich. Und Wagner soll sich dessen nicht bewusst gewesen sein?

In der ersten wenig erforschten frühen Phase seiner Beschäftigung mit dem Parsifal-Stoff macht Wagner in zahlreichen Briefen nicht nur seine präzise Kenntnis des Stoffes deutlich, sondern auch der um diesen rankenden romantischen Erklärungsversuche: »Und dann die doppelte Bedeutung des einen Gefäßes, als Kelch auch beim heiligen Abendmahl [...]. Daher denn auch die Sage, dass der Gral (Sang Réal) (daraus San[cl] Gral) die fromme Ritterschaft einzig ernähre.« Mit dieser Orientierung geht dann auch sein Widerwille konform, diesen Stoff zu einer Oper zu formen, da er bereits zu diesem Zeitpunkt weiß, dass wohl kaum ein anderes Werk so nah an die Essenz seines Künstlertums und so sehr an den Kern der Aporie sakraler Kunst heranreichen würde. Bereits Hoffmann hatte sie mit seinem Goldenen Topf – Gral – Nachttopf herausgearbeitet: Wagner wusste um die gescheiterte Reform der Romantik, wusste um die Unmöglichkeit der Kunst, sich in ihrem andauernden Rückbezug ein wahres Zentrum zu geben, wusste um die Vergeblichkeit mythischer Erneuerbarkeit der Kunst, da sie, die Kunst, sich selbst ihr eigener Mythos ist. Nur konsequent ist es dann, dass Wagner in der frühen Phase der Parsifal-Konzeption die Figur des Amfortas in den Vordergrund rückt. Nicht nur, dass er wie Tristan am Liebesstreben leidet und sein Ende herbeisehnt, sondern wo Tristan die Tragik der Liebe bis zum Ende führt, inkarniert Amfortas das menschliche Erlösungsstreben in seiner ganzen Widersprüchlichkeit vor der Folie des romantischen Kunst-Erneuerungsprogramms:

»Er [Amfortas] lebt, lebt von neuem, und furchtbarer als je brennt die unselige Wunde ihm auf, seine Wunde! Die Andacht wird ihm selbst zur Qual! Wo ist Ende, wo Erlösung? Leiden der Menschheit in alle Ewigkeit fort! [...] Aber – er selbst, er ward zum Hüter des Grales bestellt; und nicht eine blinde äußere Macht bestellte ihn dazu, – nein! Weil er so würdig war, weil keiner wie er tief und innig das Wunder des Grales erkannt, wie noch jetzt seine ganze Seele endlich immer wieder nach dem Anblicke drängt, der ihn in Anbetung vernichtet, himmlisches Heil mit ewiger Verdammnis gewährt!«

Es bleibt der romantische Wunsch nach Mythenerneuerung, der zugegeben nicht gerade so folgerichtige Versuch, in den Mythen anderer Regionen im allgemeinen und des Orients im besonderen den Quell einer neuen Kunst zu finden. Doch womöglich lässt sich auch hieraus Wagners Wandlung erklären und sein Entschluss, den Parsifal dann doch zum Abschluss zu bringen. Plausibel wäre es, denn abgerundet wird die frühromantische Implikation des Parsifal auch dadurch, dass Wagner sogar dem Schlegelschen Appell nach der Verarbeitung indischer Mythen Folge leistet und dies auf eine Weise, die bisher deswegen kaum Erwähnung gefunden hat, weil sie der Einheit der neuen Mythologie entsprechend an keiner Stelle offen auf die originalen Wurzeln des mythologischen Elements verweist.

So wurde noch nie in der Sekundärliteratur festgestellt, dass Wagner seinen Parsifal nach dem Vorbild eines der Heiligen Texte der Sanskrit-Literatur, dem Valmiki-Ramayana (2 Jh n. Chr) konzipiert hat. Die im zweiten Lied des Ersten Buches des 24000 Verse umfassenden Epos, das zu allem Überfluss auch noch als Kunstgedicht konzipiert ist, beschriebene Genese des Buches dürfte Wagner als Vorlage für den ersten Akt des Parsifal gedient haben. Nachdem der weise Valmiki den Herrn der Einsiedler, Narada, nach der Möglichkeit befragt hat, ob ein Mensch auf dieser Welt alle Tugenden auf sich vereinen könne, und von Narada die Aufzählung der Vorzüge des Königs Rama als Antwort erhalten hat, steigt Narada in den Himmel auf, nachdem er noch einmal von seinen Anhängern angebetet worden ist. In jenem angesprochenen zweiten Lied nun geht der weise Valmiki zum Fluss Tamasa herunter und wird Zeuge des Mordes an einem männlichen Vogel, einem Kranich, der gerade beim Liebesspiel mit seinem weiblichen Gegenüber beschäftigt war. Tiefstes Mitleid überwältigt Valmiki, der daraufhin folgende Worte an den Jäger richtet:

»Mögest Du für zahllose Jahre keinen inneren Frieden finden, O Jäger, da Du einen Kranich dieses Paares, das von Leidenschaft betört war, getötet hast.«

Kranichszene RamayanaDie Anlehnung von Wagners Oper an den indischen Text ist kaum zu übersehen und bietet einen zusätzlichen, starken Beweis für den romantischen Ursprung des Parsifal. Denn Wagner hatte Zugang zum Ramayana, der in seiner Bibliothek stand und von dem damals Übersetzungen sowohl von August Wilhelm Schlegel (teilweise) als auch in italienischer Sprache vorlagen.

Keinesfalls sollte das Zitat des indischen Textes als Grund für eine Erneuerung der fatalen Interpretation des Parsifal als Wagners Versuch der Reinigung Christi von aller »alexandrinisch-judaisch-römischen« Tradition (Zelinski) verstanden werden. Eine solche Interpretation, das haben wir gesehen, lässt sich nur bei Missachtung aller romantischen Tradition und bedauerlicher Unterschätzung Wagners aufrechterhalten. Sicher ist, dass Wagner den Ramayana kannte, und dass er auch dessen religiöse Dignität verstanden haben wird. Hinzu kommt, dass die Kranich-Passage im Ramayana eine ganz zentrale Stelle des Werkes darstellt, da Valmiki zum Ausdruck seines Schmerzes über den Tod des Vogels zum ersten Mal jene Versform benutzt, die den Ramayana beherrschen wird: die des Shloka (in der altindischen Verslehre eine vierzeilige Strophe aus achtsilbigen Versen). Genauso wie Parsifals Weg zum Erlöser im Schwanerlebnis seinen eigentlichen Ursprung hat, da der Tor hier zum ersten Mal Mitleid empfindet und nach dem Mord seinen Bogen zerbricht, genauso steht auch im indischen Text die Vogelmordszene am Anfang einer Berufung: die des Valmiki zum Autor des Ramayana.

Sicher ist auch, dass das Ramayana-Zitat die vermeintliche Heiligkeit des Parsifal neu entstehen lässt, denn der Ramayana gilt bekanntlich im Hinduismus als heiliger Text, als heiliges Kunstwerk, das als Fundament einer Religion taugt. Eine Bibel gewissermaßen. Und wie die Bibel hinter ihrer Offenbarung langsam verschwindet, so auch der Parsifal. Das Werk ist ein Erlösungswerk, das in sich selbst zurückführt. Der Ramayana, vergessen wir dies nicht, beginnt mit der Erlösung des Weisen, der, durch die Kunst des Asketentums aus der Welt gehoben wird, aus dem ewigen Streben nach Ewigkeit in der Sterblichkeit ausbricht, dem ewigen Zirkel des immer wieder zu sich selbst Zurückkehrens entrinnt. »Erlösung dem Erlöser« also: Der Satz steht nicht irgendwo, sondern am Ende des Stückes, nachdem der Gral wieder enthüllt und, wie bei der ersten Prosaversion Wagners, von Amfortas in die Höhe gehalten wird. Es ist die Erlösung aus der romantischen Erneuerung des Heiligen in und durch die Kunst, die Erlösung aus dem Zyklus des Suchens nach dem unfasslichen Kern. Parsifal, wie der Ramayana, erzählt von der Genese eines Kunstwerks in der Form eines »Oratoriums der Erlösung« (Thomas Mann), in der Form des Mythos. Es ist der Mythos der Kunstgeburt, der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt, die der Künstler durch sein Leiden an der Welt (Mitleid für den toten Schwan) unternimmt. Proust hat sich auch nicht darin geirrt als er den letzten Teil der Recherche du Temps perdu, Le Temps retrouvé, unter das Zeichen Parsifals stellte. Nur führt diese nachvollzogene Genese dorthin, zu dem Punkt an dem bereits Schlegel angekommen war. Zum Zentrum der künstlerischen Tätigkeit, zum ›Höchsten Heiligen‹, zum Gral und dessen Ambivalenz. Es ist der Punkt wo Mythos und Poesie fusionieren, wo die Poesie sich selbst unendlich zum Thema hat. In gewisser Weise geht an dieser Stelle auch der Gral in sich selbst auf, wird zu Licht, existiert nicht mehr als Mythos: Der Mythos geht in sich selbst zurück, der Gral verschwindet, wie in Hamburg.