Hamburg, Wagners
Parsifal, Mitte der neunziger Jahre. Wir erinnern
uns. Es war die Zeit,
als die Hamburger Oper sich noch an Wagner herantraute, als man noch
die Mittel und die Ambitionen hatte, Musikdramen aufzuführen.
Ein damals nur wenig bekannter amerikanischer Regisseur namens Bob
Wilson hatte für die Regie verantwortlich gezeichnet. Wenig
Dekor, die Kostüme übertrieben gradlinig und
scharfkantig, im Hintergrund der Bühne eine grosse weisse
Leinwand als Projektionsfläche für Detailformen:
Flügelpartien, Schwertklingen, Hügellinien. Doch der
eigentliche Clou: In Wagners Gralsoper ist kein Gral zu sehen,
Amfortas fasst im ersten Akt lediglich ein imaginäres
Gefäß, reckt ein Nichts in die Höhe.
Ähnlich im zweiten und dritten Akt: Klingsor simuliert nur die
Bewegung des Speerwerfens, Parsifal tut nur so als hielte er in der
finalen Szene einen Speer empor und auch der Gral ist nur eine
Einbildung, um die sich die erretteten Gralsritter scharen. Warum er
den Gral und den Speer einfach weggelassen habe, wird Wilson gefragt:
Der Gral sei schließlich das, wonach wir alle strebten, das
größte aller Geheimnisse, nichts Reales also,
sondern das unerreichte Ziel aller menschlichen Bestrebungen; und der
Speer? Ein Lächeln huscht über das Gesicht des
Regisseurs: Es sei nunmal sehr schwierig – vom technischen
Standpunkt aus gesehen – einen Speer über
die Bühne segeln zu lassen; an einen Faden habe er
ihn nicht hängen wollen und die Bühnentechnik in
Hamburg sei sehr begrenzt; in Los Angeles, da verfüge man
über die nötigen Spezialeffekte, da werde es bei der
gleichen Inszenierung im nächsten Monat auch einen Speer
geben. In Hamburg habe er den einfachen Weg gewählt, nach
dem Gral einfach auch den Speer wegzulassen: schlicht entwaffnend.
Zugegeben: Es ist wohl kaum anzunehmen, dass sich Bob Wilson eingehend mit den
romantischen Implikationen des Parsifal beschäftigt hat und
doch, seine Intuition hat etwas Einnehmendes. Sieht man
nämlich Wagners Parsifal als entscheidende Etappe für
die von der deutschen Romantik eingeleitete Reform des Heiligen in der
und vor allem durch die Kunst an, so darf man sich sicherlich
darüber wundern, dass gerade bei der selbst zur Würde
des Heiligen erhobenen Oper das zentrale Motiv, ja das eigentliche
Heiligtum vorenthalten wird. Jeder Erfolg, jeder Sieg bedarf auch
seiner Symbole, und wie soll man nun gerade die Absenz eines Symbols im
wohl heiligsten Kunstwerk der Romantik verstehen? Sicher, es handelt
sich um den Einfall eines nach Originalität strebenden
Regisseurs. Und dennoch, ein gewisses Befremden bleibt bestehen.
Wenden
wir uns der romantischen Reform – denn um eine solche handelt
es sich tatsächlich – des Heiligen zu. Neben
Wackenroders
Herzensergießungen, in denen bereits
ein kunstliebender
Klosterbruder auftritt, der den täglichen religiösen
Betrieb mit der freien Kunstausübung vertauscht hat und sich
dadurch Gott um Einiges näher wähnt, gehören
sicherlich die theoretischen Texte Friedrich Schlegels zu den
Gründungstexten der jungen Bewegung. Seine
Rede über
die Mythologie, 1800 im Dritten Band des Athenäum abgedruckt,
beginnt mit einer deutlich, wenn auch nicht gerade
übermäßig innovativen Definition dessen,
was er und seine Genossen nun als Heiligtum ansehen möchten:
»Bei
dem Ernst, mit dem Ihr die Kunst verehrt, meine Freunde, will ich Euch
auffordern, Euch selbst zu fragen: Soll die Kraft der Begeisterung auch
in der Poesie sich immerfort einzeln versplittern, und wenn sie sich
müde gekämpft hat gegen das widrige Element, endlich
einsam verstummen? Soll das höchste Heilige immer namenlos und
formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall überlassen?«
Schlegel
bricht hier eindeutig mit der üblichen religiösen
Praxis: Keine Hostie, kein Tuchfetzen oder Holzsplitter, kein Ort oder
Buch, keine Statue wird hier als Heiligtum, als Ort der
Präsenz Gottes verehrt, sondern die im Dichter wohnende
›Kraft der Begeisterung‹. Dass hier noch etwas
Sturm- und Drang-Begeisterung nachhallt, braucht nicht weiter
erläutert zu werden, neu ist jedoch der
unmissverständlich vorgetragene Wunsch, dem diffus Heiligen
eine Form zu geben, also eine gewisse Realität. Dazu
gehört auch das Verorten eines
›Zentrums‹ der Menschheit, die sich über
diese neu gefundene Dignität erneuern, verjüngen
soll. Der Rest ist auch bekannt: Sichtbar soll die Kraft der
Begeisterung in der Poesie werden und diese kann wiederum auf einer
quasi neuen Mythologie aufbauen:
»Die neue
Mythologie muss im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes
herausgebildet werden; es muss das künstlichste aller
Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und
Gefäß für den alten ewigen Urquell der
Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller
andern Gedichte verhüllt.«
Der
eingeschlagene Kurs tritt hier deutlich hervor, sogar
Gedankengänge, die zunächst eher unlogisch anmuten
(»Denn Mythologie und Poesie sind beide eins und
unzertrennlich«: Nur, wie kann das eine auf dem anderen
aufbauen, wenn beide eins sind?), lassen sich nachvollziehen:
»die tiefste Tiefe des Geistes«, das
»unendliche Gedicht« weisen den Weg zum
urromantischen Konzept der Transzendentalpoesie, das, wie es in den
Fragmenten heißt, mit der
»absoluten
Identität des Idealen und Realen« einhergeht. Poesie
der Poesie also ist der Schlüssel zur Wiedergewinnung des
Heiligen in der Kunst, oder sagen wir eher zur Heiligung des
künstlerischen Vorgangs, der im Rückgriff auf sich
selbst zum Ort der Epiphanie wird. Auch in späteren Fragmenten
macht Schlegel deutlich, dass nur in einer solchermaßen
gearteten Poesie das Unendliche durchschimmern kann, dass nur in ihr
das schier unmögliche Unterfangen der Romantik, aus der Kunst
die Heimat des Höheren zu machen, zur Entfaltung kommen kann:
»Durch das Romantische bekömmt ein Werk die
Fülle, die Universalität und Potenzierung; durch
Abstraction bekommt es die Einheit, die Classicität und
Progressivität; durch das Transcendentale aber die Allheit,
die Ganzheit, das Absolute und Systematische« schreibt er in
den
Fragmenten zur Litteratur und
Prosa. Ähnlich –
nur so kann der Gedankengang dann auch funktionieren –
verhält es sich mit dem Mythos: Auch er ist Reflex, der
Imagination auf sich selbst, des menschlichen Gottverlangens auf sich
selbst. Wo es dem Bruder etwas an Klarheit mangelt, wo er auf den
philosophischen Idealismus rekurriert, um im Mythologie-Aufsatz
knifflige Analogien herzustellen, bringt es August Wilhelm in seinen
Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst
(1801-1802) auf den Punkt: Ist die Sprache bereits als Zeichen
für die göttliche Offenbarung zu verstehen, so ist
die Mythologie gewissermaßen die zweite Ebene dieser
Offenbarung, also dort zu Hause, wo das sprachliche Gebilde zu sich
selbst und damit auch zu seiner Heiligkeit zurückfindet:
»Mythologie
selbst erscheint hingegen eine höhere Potenz der poetischen
Anlage in der Ursprache, eine zweite Symbolik des Universums
über jener ersten in der Sprachbezeichnung enthaltenen zu
sein, welche, mit Freiheit behandelt, sogleich in wahrhafte poetische
Werke übergehen kann.«
Man
könnte diese romantische Kunstreform noch weiter verfolgen,
die Nuancen von einem Autor zum anderen, von einem Jahr zum
nächsten näher herausarbeiten. Erstaunlich ist nur,
dass sie sich, trotz ihrer zur Schau getragenen Reflexivität
dann doch auf andere Bereiche beruft und seltsamerweise die sich selbst
bespiegelnde Perspektive gerne verlässt, um sich dann doch auf
festeren Grund zu begeben, auch wenn dieser – was in
Anbetracht des eben beschriebenen intellektuellen Drahtseilakts nicht
zu verwundern vermag – in den fernsten Orient verlegt wird.
Es wurde oft, ob der romantischen Begeisterung für Indien oder
Arabien gerätselt, oft die einfache Mode der durch Georg
Forsters Übersetzung ausgelösten
Sakontala-Begeisterung angeführt, um die Orient-Faszination
der Zeit zu erklären. Bei genauem Hinschauen wird jedoch der
Sprung deutlich, vor dem Friedrich Schlegel in seinem
Mythologie-Aufsatz keinesfalls zurückschreckt: Einerseits soll
sich die Mythologie aus der ursprünglichen Tiefe des Geistes
herausschälen, soll hindurchschimmern aus der Arbeit des
Geistes mit sich selbst, andererseits aber soll eine bereits bestehende
Mythologie die neue Poesie beleben, was als leichte Anomalie zu
verstehen ist, da diese moderne Poesie, ja in ihrer ausgebildetsten
Form vor allem sich selbst zum Gegenstand hat. Doch die Frühe
Romantik ist eben um solch sprunghafte Reflexion keinesfalls verlegen.
Kohärenter ist da sicherlich Novalis, wenn er die damals
verbreitete Gleichsetzung von »Poetisch« und
»Indisch« (Jean Paul) nicht als solche postuliert,
sondern analogisch fasst: »Reizender und farbiger steht die
Poesie, wie ein geschmücktes Indien dem kalten, todten
Spitzbergen jenes Stubenverstandes gegenüber.«
Womit wir beim zweiten Teil des Themas wären: der
inhärenten Schwäche der selbstbezogenen Reform des
Heiligen durch die Romantik. Schonungslos aufgedeckt hat diese
Schwäche der vielleicht parasitärste Autor der
deutschen Romantik: E.T.A. Hoffmann. Im
Goldenen Topf,
dem Hauptwerk
aus der Frühphase seines literarischen Schaffens, rekurriert
Hoffmann nicht nur auf den romantischen Anspruch, die Kunst ins Sakrale
zu erheben, sondern auch auf dessen reflexive Dimension. Das
Endkapitel, die zwölfte Vigilie, erzählt den Eintritt
des Studenten Anselmus in das Rittergut in Atlantis und damit in das
Leben der Poesie; hierbei darf aber nicht übersehen werden,
dass es zu diesem Übergang jetzt sogar alkoholisierter
Getränke bedarf. Die Vision des »heiligen Einklangs
aller Wesen«, in der sich das »tiefste Geheimnis
der Natur« offenbart, wird zwar mit allen Attributen der
romantischen Bewegung versehen, ja sogar durch die vorhandenen
Palmbäume und die Beziehung zur Gralslegende ins Orientalische
versetzt, die frühromantische Unmittelbarkeit des Traumhaften
ist jedoch einer fundamentalen Infragestellung der Erreichbarkeit
poetischer Utopien gewichen. Für Hoffmann, der wie kaum ein
anderer Künstler, sein Schaffen auf romantischem Gedankengut
aufgebaut hat, um es im Erzählvorgang immer wieder kritisch in
Frage zu stellen und vor allem dessen künstlerische
Universalitätsphantasien bis in ihre Widersprüche
auszuloten, ist die Sakralisierung der Kunst ohne Zweifel immer noch
Bestandteil des künstlerischen Schaffens. Gerade als Musiker
steht Hoffmann dem Absolutheits- und Sakralitätsanspruch
frühromantischer Kunst immer noch nahe. Der Schriftsteller
Hoffmann hingegen weiß um die Ambivalenz des Goldenen Topfes,
des Symbols dichterischer Schaffenskraft: in seinen Briefen bezeichnet
er ihn teils als Gral, teils als Nachttopf und macht so auf jenen
Grundwiderspruch aufmerksam, der darin besteht, das Heilige in einem
allzu irdischen Kunstwerk, dem literarischen, fassen zu
können. Dem romantischen Sakralitätsparadigma nur
noch bedingt folgend, rettet Hoffmann den heiligen Anspruch der Kunst
durch dessen Verkapselung. Anselmus, der sich nach Atlantis sehnende
Künstler, lebt zwar seinen Traum, doch bezahlt er
hierfür den höchsten Preis, den der
Entrückung, des Abschieds von der Welt, des
Hinübergleitens in eine »wunderliche Existenz in der
Geisterwelt«. Die Einmaligkeit der heiligen Kunstwelt ist
zwar gerettet, doch lässt Hoffmanns Kunstmythologie zu keinem
Zeitpunkt einen Zweifel daran, dass sie nur noch für sich
existiert und jeglichen Weltveränderungsanspruch,
überhaupt jeden Anspruch auf ein Eindringen in die Welt,
aufgegeben hat.
Es bleibt noch eine
dritte Etappe in der romantischen Reform des Heiligen, die vielleicht
bekannteste, zu untersuchen. Jene Etappe, die das Kunstwerk –
trotz aller bereits vorab von Hoffmann geäußerten
Zweifel – nun definitiv dahin bringt, dass es zur
»reinsten, erhabensten Religion« wird und fast
provokativ dessen Stellung einnimmt. Es ist die Rede von Wagners
Parsifal. Kaum ein anderes Werk der Kunstgeschichte
wurde so eindeutig
als ›heilig‹ konzipiert wie das letzte Werk des
Komponisten, das er
›Bühnenweihfestspiel‹ definierte und
dessen Aufführung nur auf Bayreuth beschränkt bleiben
sollte. Selten wurde ein Kunstwerk so durch und durch geheiligt, dass es
selbst zur Stätte des Heiligen wurde, was im Umkehrschluss
auch dessen Entweihung mit einbezieht. Man bemerke: Wagner hat diese
Heiligung selbst ausgesprochen, wobei man sich bei seinen Worten,
genauso wie bei dem Werk selbst fragen konnte, wer oder was nun
wirklich der Gegenstand der durch das Heiligtum
herbeigeführten Verehrung sein soll: »So
muß ich ihm [dem Parsifal] denn nun eine Bühne zu
weihen suchen, und dies kann nur mein einsam dastehendes
Bühnenfestspielhaus in Bayreuth sein. Dort darf der Parsifal
in aller Zukunft einzig und allein aufgeführt werden: Nie soll
der Parsifal auf irgendeinem anderen Theater dem Publikum zum Amusement
dargeboten werden.« Einerlei, die Bühnenpraxis und
Sekundärliteratur haben in der prominenten Nachfolge
Nietzsches (»der P ist ein Werk der Tücke, der
Rachsucht, der heimlichen Giftmischerei gegen die Voraussetzungen des
Lebens, ein schlechtes Werk«) seitdem alle Zeit der Welt
darauf verwendet, am sakralen Werk die Kunst des Sakrilegs zu
üben, ohne dabei die doch offenkundig einfache Frage nach dem
Ursprung des Heiligen im Parsifal zu stellen. In gläubiger
Jüngermanier wurde hingenommen, dass es sich um eine
»Predigt der Keuschheit« handelte, obwohl sogar
Parsifal in Sachen Keuschheit nicht gerade als Vorbild taugt
(schließlich küsst er ja Kundry). Wagner wurde beim
Wort genommen und sein Werk zwar als Versuch, die zu Ende des 19.
Jahrhunderts strauchelnde Religion zu retten, interpretiert. Doch auch
hier stellt sich die Frage des Kerns. Dabei kommt uns gerade Wagners
Kommentar zu
Parsifal in seiner späten
Abhandlung
Kunst und
Religion ziemlich bekannt vor, und es wäre
sicherlich ein
Fehler, die unterschwellige Ironie, die Doppeldeutigkeit, kurz, die
romantischen Anklänge in seinen Worten zu
unterschätzen:
»Man
könnte sagen, dass da wo die Religion künstlich wird,
der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem
sie die mythischen Symbole, welche die erstere [die Religion auf der
Stufe des Mythos] im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will,
ihrem sinnbildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung
derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu
lassen.«
Friedrich Schlegel lässt
grüßen. Die Religion wird
›künstlich‹ und niemand stört
sich daran. Denn, wenn dieser Text etwas ausweist, so weniger die
Fundamentierung einer neuen Religion, als den Umstand, dass man auch
noch im Jahre 1880 von der Ineinssetzung von Realität und
Idealität in der Kunst sprechen konnte, dass das urromantische
Programm der über sich selbst reflektierenden Kunst verbunden
mit der »Ansicht des Weltganzen, Mythologie« noch
seine Berechtigung hatte. Dahlhaus, Wagners wohl interessantester
Exeget, merkt zu dieser Passage lediglich an, »Religion und
deren Wahrheit [seien] aus der Form des Mythos in die der Kunst
übergegangen« ohne sich des fundamentalen
Widerspruchs bewusst zu werden, den er da gerade aufs Papier gebracht
hatte. Wichtiger noch: Im
Parsifal dreht sich alles, neben dem
Telephos-Speer, um den Gral, also – und auch dies kann man
beim Hoffmann-Leser Wagner voraussetzen – um den wohl
wichtigsten und natürlich auch ambivalentesten Mythos der
Kunst. Konnte man das übersehen? Wagner, das dürfen
wir behaupten, arbeitet mit romantischen Topoi im
Parsifal.
Die Kunst
ist sich ihr eigener Mythos und die Kunstreligion entsteht –
wenn überhaupt – dort, wo »Worte,
Töne und Bilder«, um mit Runge zu reden, als Lob
Gottes einen »Zusammenhang« schaffen, aus dem die
Ewigkeit hervorscheint. Kaum ein anderer Mythos ist eher geeignet dies
auszudrücken, als der Gral, der ja Signifikat und Signifikant
in einem ist, Blut und Behältnis des Blutes, Sang
Réal und Gral, Ewigkeit und Suche nach Ewigkeit zugleich.
Und Wagner soll sich dessen nicht bewusst gewesen sein?
In
der ersten wenig erforschten frühen Phase seiner
Beschäftigung mit dem Parsifal-Stoff macht Wagner in
zahlreichen Briefen nicht nur seine präzise Kenntnis des
Stoffes deutlich, sondern auch der um diesen rankenden romantischen
Erklärungsversuche: »Und dann die doppelte Bedeutung
des einen Gefäßes, als Kelch auch beim heiligen
Abendmahl [...]. Daher denn auch die Sage, dass der Gral (Sang
Réal) (daraus San[cl] Gral) die fromme Ritterschaft einzig
ernähre.« Mit dieser Orientierung geht dann auch
sein Widerwille konform, diesen Stoff zu einer Oper zu formen, da er
bereits zu diesem Zeitpunkt weiß, dass wohl kaum ein anderes
Werk so nah an die Essenz seines Künstlertums und so sehr an
den Kern der Aporie sakraler Kunst heranreichen würde. Bereits
Hoffmann hatte sie mit seinem Goldenen Topf – Gral
– Nachttopf herausgearbeitet: Wagner wusste um die
gescheiterte Reform der Romantik, wusste um die Unmöglichkeit
der Kunst, sich in ihrem andauernden Rückbezug ein wahres
Zentrum zu geben, wusste um die Vergeblichkeit mythischer
Erneuerbarkeit der Kunst, da sie, die Kunst, sich selbst ihr eigener
Mythos ist. Nur konsequent ist es dann, dass Wagner in der
frühen Phase der Parsifal-Konzeption die Figur des Amfortas
in den Vordergrund rückt. Nicht nur, dass er wie Tristan am
Liebesstreben leidet und sein Ende herbeisehnt, sondern wo Tristan die
Tragik der Liebe bis zum Ende führt, inkarniert Amfortas das
menschliche Erlösungsstreben in seiner ganzen
Widersprüchlichkeit vor der Folie des romantischen
Kunst-Erneuerungsprogramms:
»Er [Amfortas]
lebt, lebt von neuem, und furchtbarer als je brennt die unselige Wunde
ihm auf,
seine Wunde! Die Andacht wird ihm selbst
zur Qual! Wo ist
Ende, wo Erlösung? Leiden der Menschheit in alle Ewigkeit
fort! [...] Aber – er selbst, er ward zum Hüter des
Grales bestellt; und nicht eine blinde äußere Macht
bestellte ihn dazu, – nein! Weil er so würdig war,
weil keiner wie er tief und innig das Wunder des Grales erkannt, wie
noch jetzt seine ganze Seele endlich immer wieder nach dem Anblicke
drängt, der ihn in Anbetung vernichtet, himmlisches Heil mit
ewiger Verdammnis gewährt!«
Es
bleibt der romantische Wunsch nach Mythenerneuerung, der zugegeben
nicht gerade so folgerichtige Versuch, in den Mythen anderer Regionen
im allgemeinen und des Orients im besonderen den Quell einer neuen
Kunst zu finden. Doch womöglich lässt sich auch
hieraus Wagners Wandlung erklären und sein Entschluss, den
Parsifal dann doch zum Abschluss zu bringen. Plausibel wäre
es, denn abgerundet wird die frühromantische Implikation des
Parsifal auch dadurch, dass Wagner sogar dem Schlegelschen Appell nach
der Verarbeitung indischer Mythen Folge leistet und dies auf eine
Weise, die bisher deswegen kaum Erwähnung gefunden hat, weil
sie der Einheit der neuen Mythologie entsprechend an keiner Stelle
offen auf die originalen Wurzeln des mythologischen Elements verweist.
So
wurde noch nie in der Sekundärliteratur festgestellt, dass
Wagner seinen Parsifal nach dem Vorbild eines der Heiligen Texte der
Sanskrit-Literatur, dem
Valmiki-Ramayana (2 Jh n.
Chr) konzipiert hat.
Die im zweiten Lied des Ersten Buches des 24000 Verse umfassenden Epos,
das zu allem Überfluss auch noch als Kunstgedicht konzipiert
ist, beschriebene Genese des Buches dürfte Wagner als Vorlage
für den ersten Akt des Parsifal gedient haben. Nachdem der
weise Valmiki den Herrn der Einsiedler, Narada, nach der
Möglichkeit befragt hat, ob ein Mensch auf dieser Welt alle
Tugenden auf sich vereinen könne, und von Narada die
Aufzählung der Vorzüge des Königs Rama als
Antwort erhalten hat, steigt Narada in den Himmel auf, nachdem er noch
einmal von seinen Anhängern angebetet worden ist. In jenem
angesprochenen zweiten Lied nun geht der weise Valmiki zum Fluss Tamasa
herunter und wird Zeuge des Mordes an einem männlichen Vogel,
einem Kranich, der gerade beim Liebesspiel mit seinem weiblichen
Gegenüber beschäftigt war. Tiefstes Mitleid
überwältigt Valmiki, der daraufhin folgende Worte an
den Jäger richtet:
»Mögest
Du für zahllose Jahre keinen inneren Frieden finden, O
Jäger, da Du einen Kranich dieses Paares, das von Leidenschaft
betört war, getötet hast.«
Die
Anlehnung von Wagners Oper an den indischen Text ist kaum zu
übersehen und bietet einen zusätzlichen, starken
Beweis für den romantischen Ursprung des
Parsifal.
Denn Wagner
hatte Zugang zum
Ramayana, der in seiner Bibliothek
stand und von dem
damals Übersetzungen sowohl von August Wilhelm Schlegel
(teilweise) als auch in italienischer Sprache vorlagen.
Keinesfalls
sollte das Zitat des indischen Textes als Grund für eine
Erneuerung der fatalen Interpretation des
Parsifal
als Wagners Versuch
der Reinigung Christi von aller
»alexandrinisch-judaisch-römischen«
Tradition (Zelinski) verstanden werden. Eine solche Interpretation, das
haben wir gesehen, lässt sich nur bei Missachtung aller
romantischen Tradition und bedauerlicher Unterschätzung
Wagners aufrechterhalten. Sicher ist, dass Wagner den
Ramayana
kannte,
und dass er auch dessen religiöse Dignität verstanden
haben wird. Hinzu kommt, dass die Kranich-Passage im
Ramayana
eine ganz
zentrale Stelle des Werkes darstellt, da Valmiki zum Ausdruck seines
Schmerzes über den Tod des Vogels zum ersten Mal jene Versform
benutzt, die den
Ramayana beherrschen wird: die des
Shloka (in der
altindischen Verslehre eine vierzeilige Strophe aus achtsilbigen
Versen). Genauso wie Parsifals Weg zum Erlöser im
Schwanerlebnis seinen eigentlichen Ursprung hat, da der Tor hier zum
ersten Mal Mitleid empfindet und nach dem Mord seinen Bogen zerbricht,
genauso steht auch im indischen Text die Vogelmordszene am Anfang einer
Berufung: die des Valmiki zum Autor des
Ramayana. Sicher
ist auch, dass das Ramayana-Zitat die vermeintliche Heiligkeit des
Parsifal neu entstehen lässt, denn der
Ramayana
gilt
bekanntlich im Hinduismus als heiliger Text, als heiliges Kunstwerk,
das als Fundament einer Religion taugt. Eine Bibel
gewissermaßen. Und wie die Bibel hinter ihrer Offenbarung
langsam verschwindet, so auch der
Parsifal. Das
Werk ist ein
Erlösungswerk, das in sich selbst
zurückführt. Der
Ramayana,
vergessen wir dies nicht,
beginnt mit der Erlösung des Weisen, der, durch die Kunst des
Asketentums aus der Welt gehoben wird, aus dem ewigen Streben nach
Ewigkeit in der Sterblichkeit ausbricht, dem ewigen Zirkel des immer
wieder zu sich selbst Zurückkehrens entrinnt.
»Erlösung dem Erlöser« also: Der
Satz steht nicht irgendwo, sondern am Ende des Stückes,
nachdem der Gral wieder enthüllt und, wie bei der ersten
Prosaversion Wagners, von Amfortas in die Höhe gehalten wird.
Es ist die Erlösung aus der romantischen Erneuerung des
Heiligen in und durch die Kunst, die Erlösung aus dem Zyklus
des Suchens nach dem unfasslichen Kern. Parsifal, wie der Ramayana,
erzählt von der Genese eines Kunstwerks in der Form eines
»Oratoriums der Erlösung« (Thomas Mann),
in der Form des Mythos. Es ist der Mythos der Kunstgeburt, der
künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt, die der
Künstler durch sein Leiden an der Welt (Mitleid für
den toten Schwan) unternimmt. Proust hat sich auch nicht darin geirrt
als er den letzten Teil der
Recherche du Temps perdu,
Le Temps
retrouvé, unter das Zeichen Parsifals
stellte. Nur
führt diese nachvollzogene Genese dorthin, zu dem Punkt an dem
bereits Schlegel angekommen war. Zum Zentrum der
künstlerischen Tätigkeit, zum
›Höchsten Heiligen‹, zum Gral und dessen
Ambivalenz. Es ist der Punkt wo Mythos und Poesie fusionieren, wo die
Poesie sich selbst unendlich zum Thema hat. In gewisser Weise geht an
dieser Stelle auch der Gral in sich selbst auf, wird zu Licht,
existiert nicht mehr als Mythos: Der Mythos geht in sich selbst
zurück, der Gral verschwindet, wie in Hamburg.