Peter Schiffauer
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Res Publica Europea
Utopie oder aktuelle Herausforderung?


Die Wahl einer lateinischen Überschrift  für die folgenden Ausführungen könnte eine Verbeugung vor ehrwürdiger akademischer Tradition sein. Sie könnte ein Programmsatz sein, um mit der Sprachenvielfalt in Europa umzugehen. Beide Absichten könnten Sympathie erwecken. Doch geht es hier um etwas anderes: Hinter der Wahl eines lateinischen Titels steckt eine inhaltliche Absicht.

In einer der zahlreichen Debatten über die Zukunft der europäischen Integration wurde kürzlich die Forderung nach Verwirklichung einer republikanischen Ordnung für Europa geäussert. Republik bezeichnet in der Sprache der Neuzeit, in Staatslehre und politischer Wissenschaft eine Form des Staates, gegründet auf die Souveränität des Volkes, im Gegensatz zur Monarchie oder totalitären Formen des Staates: wir sprechen von der Bundesrepublik Deutschland, de la République française, della Repubblica italiana, aber vom Vereinigten Königreich, dem Königreich Spanien, dem Königreich der Niederlande und so weiter. Eine interessante Nuance findet sich im Griechischen: Ελληνική Δημοκρατία.

Die Europäische Union ist kein Staat, und nach ihrem eigenen Selbstverständnis will sie es auch nicht werden. Gewiss, manche Merkmale eines Staates treffen auch auf die Europäische Union zu: in ihr wird im Rahmen einer rechtlich konstituierten Ordnung Hoheitsgewalt ausgeübt. Sie erzeugt eine eigene Rechtsordnung, die die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten überwölbt und auch direkt in sie hineinwirkt. Dimitris Tsatsos hat gezeigt, dass die geltenden Grundlagentexte Verfassungsqualität haben, ja dass es in Ansehung des Konventsentwurfs und des im Oktober 2004 unterzeichneten Verfassungsvertrags legitim ist, von einer Verfassungsordnung zu sprechen, obgleich das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags nach wie vor ungewiss ist.

Die Europäische Union tritt nicht an die Stelle der Mitgliedstaaten, sondern achtet deren Identität. Die Unionsbürgerschaft ist lediglich eine Ergänzung zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates. In der Kompetenzordnung der Union wird deutlich, dass die Europäische Union ihre Hoheitsrechte nicht direkt von den Bürgern ableitet, sondern nur indirekt, vermittelt durch die Mitgliedstaaten, die im Rahmen der Europäischen Union einen Teil ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben. Der Umfang der übertragenen Hoheitsrechte ist normativ im Einzelnen bestimmt oder jedenfalls bestimmbar, auf der Grundlage der geltenden Gründungsverträge ebenso wie in der Perspektive des Verfassungsvertrags.

Das politische Zentrum der Europäischen Union ist nicht unitarisch organisiert, sondern in einer Struktur, für die ich den Ausdruck ›polykephal‹ am treffendsten halte. Gewiss, es gibt in der Literatur und in Organisationen der Zivilgesellschaft Utopien und Wünsche, die Europäische Union in einen Europäischen Bundesstaat weiter zu entwickeln. Solche Vorstellungen dürften jedoch auf absehbare Zeit nicht auf der politischen Tagesordnung stehen.

In der gegenwärtigen Lage erscheint es deshalb wenig sinnvoll, von Europäischer Republik zu reden. Warum also die Rede von ›Res Publica Europea‹? Welche konkrete Aufgabe, die im Rahmen der gegenwärtigen Verfassungsordnung der Europäischen Union verwirklicht werden kann und sollte, kündigt dieser Titel an?

In dem klassischen Text von Marcus Tullius Cicero wird der Titel De re publica in der Übersetzung von Karl Büchner wiedergegeben mit ›vom Gemeinwesen‹. Den Begriff ›Staat‹ verwendet Büchner dort, wo bei Cicero von ›civitas‹ die Rede ist – und natürlich kann damit nicht ›der Staat‹ im Sinne eines neuzeitlichen Staatsbegriffs gemeint sein. Die Bedeutung von ›Res publica‹ erläutert Cicero durch eine dem Feldherrn und Staatsmann Publius Cornelius Scipio Africanus zugeschriebene Definition. Sie lautet:

»Est igitur res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoque modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensus et utilitatis communione sociatus«,

oder, in der Übersetzung von Büchner:

»Es ist also das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist.«

Für das ›Populus‹, dessen Sache das Gemeinwesen ist, werden also drei Kernelemente vorausgesetzt:

– ein Verband von Menschen, ›congregatio hominum‹,
- eine gemeinsame Rechtsordnung, ›iuris consensus‹,
- ein gemeinsames Interesse, ›utilitatis communione‹.Diese Konzeption des Gemeinwesens setzt in keiner Weise ein Homogenitätskriterium voraus, wie es in neuzeitlichen Exegesen in den Begriff des ›Volkes‹ hineininterpretiert wurde, der an die Stelle des antiken ›Populus‹ getreten war. Wurde diese Ergänzung notwendig durch den historischen Unterschied zwischen antikem Gemeinwesen und neuzeitlichem Staat?

In der Staatslehre der Gegenwart sind die Bedeutungsgehalte der Begriffe ›Volk‹, ›Souveränität‹ und ›Demokratie‹ eng verknüpft: das Volk übt seine Souveränität in den Formen der Demokratie aus. Für einige reduziert die Bedeutung von Demokratie sich darauf, dass bei der Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten die Mehrheit entscheidet. Sie können sich dabei sogar auf antike Zeugnisse wie die Totenrede des Thukydides berufen.

Historische Vergleiche zeigen aber, dass das Verständnis von ›Demokratie‹ in der Antike ein ganz anderes war als in der Neuzeit. In diesem Punkte halte ich die Arbeit von Luciano Canfora über Demokratie in Europa für durchaus zutreffend, auch wenn sie im Übrigen wegen ihrer Aussagen zur Gegenwart in Deutschland heftig umstritten ist.

Nach dem Verständnis der Gegenwart kann Demokratie nicht ausschließlich auf ein binäres System (Ja – Nein) von Mehrheitsentscheidungen zurückgeführt werden. Denn sie erkennt als integralen Bestandteil das Prinzip des Minderheitenschutzes an: er durchbricht die ›Ja-Nein‹-Logik der Mehrheitsentscheidung mit Rücksicht auf eine Inhomogenität des ›Demos‹, des ›Populus‹.

Die Logik der Mehrheitsentscheidung funktioniert nur in einem konstitutionellen Rahmen, in dem der Minderheit zugemutet werden kann, die Entscheidung der Mehrheit für sich zu akzeptieren. Eine Vertiefung dieser Überlegungen ist an dieser Stelle nicht möglich. Die weitere Entfaltung des heutigen Themas baut auf der folgenden Feststellung auf:

Ein homogenes ›Populus‹ ist keine Bedingung der Möglichkeit von Demokratie. Wenn das ›Populus‹ inhomogen ist, kann demokratische Willensbildung aber nicht nach einer binären Logik von Mehrheitsentscheidungen stattfinden, die das ›Populus‹ als Gesamtheit befragen. Selbstbestimmung eines inhomogenen ›Populus‹ erfordert, die Prozesse der politischen Willensbildung nach Maßgabe seiner besonderen Zusammensetzung auszugestalten. Dies ist der Grund für die komplexen Strukturen in der Europäischen Union, in Übereinstimmung mit ihrem Doppelcharakter einer Union der »Völker und der Staaten«, wie es Tsatsos zutreffend formuliert hat.

Entgegen manchen Stimmen, die die Möglichkeit von Demokratie auf den Nationalstaat beschränken wollen, findet in den politischen Prozessen der Europäischen Union Demokratie in vielfach gefalteten Formen statt. Doch irgendetwas erscheint unvollendet in dieser Demokratie. Wenn ›Res Publica Europea‹ nicht eine Utopie, sondern konkrete aktuelle Aufgabe sein soll, welche Herausforderungen müssen dann in Angriff genommen werden?

Der Weg, auf den diese Ausführungen locken sollen, weist in Richtung auf ein ›Populus europeus‹, in seiner Vielfältigkeit und in seinen Gliederungen ein ›Aliud‹ zum homogen gedachten Volk eines Nationalstaats.

Dieses ›Populus europeus‹ kennt sich selbst noch nicht. Das hat die Ablehnung des Verfassungsvertrags in den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden deutlich gemacht. In einem Punkt stimmen die Analysen der Ergebnisse dieser Volksabstimmungen überein. Nicht die Innovationen des Verfassungsvertrags waren das überwiegende Motiv der Ablehnung. Die Nein-Stimmen resultierten aus einem Konglomerat von innenpolitischen Motiven und Vorbehalten gegenüber bereits vollzogenen, durch demokratische Verfahren legitimierten Schritten der Europäischen Integration. In der Krise, die durch diese Entwicklung ausgelöst wurde, wird ein Dilemma sichtbar: Der bereits erreichte Entwicklungsstand der rechtlichen und politischen Integration in der Europäischen Union übersteigt bei weitem die Vorstellungen, die eine große Zahl ihrer Bürger von ihr hat.

Demokratie beruht auf einem Grundkonsens, bei dem die Bürger in den großen Zügen kennen müssen, was sie akzeptieren. Europäische Integration war aber über lange Zeit das Werk politischer Eliten und der Diplomatie. Der Umbau in eine demokratische Ordnung ist möglich und er ist notwendig, wenn die Konstruktion weiter wachsen und fortbestehen soll. Die aktuelle Forderung »to reconnect the Union with its citizens« bedeutet, die Voraussetzungen zu schaffen, dass Bürger die politisch-institutionelle Realität der Europäischen Union in ihrer Besonderheit wahrnehmen können und sie nicht mit Unvergleichbarem vergleichen, wenn sie ihre Leistungen bewerten.

Um es mit den Worten des heutigen Themas zu sagen: Auf dem Weg zu einer ›Res Publica Europea‹ ist es hier und heute notwendig, für das ›Populus‹ der Unionsbürger transparent werden zu lassen, in welchem Maße es bei den Angelegenheiten der Europäischen Union um ihre eigene Sache, um das sie verbindende Gemeinwesen geht.

Wie kann diese Transparenz, die hier und heute offenkundig nicht in ausreichendem Maße besteht, erreicht werden? Dazu sollen im folgenden holzschnittartig einige Gedanken entwickelt werden, die von sechs Fragen ausgehen und die sämtlich weiterer Vertiefung bedürfen:

1. Braucht die Europäische Union eine Rechtfertigung?
2. Was sind ihre Leistungen?
3. Auf welchen gemeinsamen Wurzeln baut sie auf?
4. Hat oder braucht sie ein Verfassungsprojekt?
5. Welche ist ihre dringendste Baustelle?
6. Welche Verfassungsstruktur ist ihr angemessen?

Zur ersten Frage: Braucht die Europäische Union eine Rechtfertigung?

Die Leistungen des Staates sind für uns so selbstverständlich geworden, dass wir sie nicht mehr in Frage stellen: die Staaten der Gegenwart durchleben Krisen, spalten oder vereinigen sich zuweilen. Ihren Untergang identifizieren wir mit Chaos und Anarchie. Die berechtigte und notwendige Kritik der Bürger an der Funktionsweise eines Staates schlägt nicht um in eine grundsätzliche Ablehnung desselben.

In Angelegenheiten der Europäischen Union ist dies anders: Unzufriedenheit mit getroffenen Entscheidungen oder eingetretenen Fehlentwicklungen wurde zum Anlass für generelle Ablehnungshaltungen, statt die Kritik in Forderungen nach Veränderung umzusetzen und ihre Durchsetzung politisch umzusetzen.

Die Europäische Union steht deshalb unter einem latenten Rechtfertigungszwang. Was leistet sie und wofür brauchen wir sie? Sind ihre Kosten  nicht zu hoch? Weshalb ist eine Rückkehr zu einem System unverbundener Nationalstaaten keine Alternative für den europäischen Kontinent? Es ist eine Besonderheit der Verfassungsordnung der Europäischen Union, dass sie sich Fragen dieser Art stellen muss.

Historische Rechtfertigung für die europäische Integration war die Schaffung einer dauerhaften Friedensordnung. Der Integrationsprozess ist ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Kontinents, die nach dem Zerfall des antiken Römischen Reichs kaum längere Friedenszeiten kannte. Der Rückgang der Bedrohung durch Kriege führte aber auch dazu, dass diese Rechtfertigung nicht mehr für jedermann evident ist.

Neue Elemente der Rechtfertigung lassen sich gewinnen, wenn die europäische Integration als Antwort auf die Globalisierung – und nicht als ein Teil dieses Problems – verstanden wird. Auch die größten unter den europäischen Staaten haben für sich allein nicht mehr genügendes Gewicht, um auf globaler Ebene die Interessen ihrer Bürger wirksam zu vertreten, wenn es um Themen wie Konfliktverhütung und -beilegung, Umweltschutz und Klimaänderung, Überwindung der Armut und Bewältigung von Migrationsbewegungen, Bekämpfung von Terrorismus, organisiertem Verbrechen und Schutz des geistigen Eigentums geht.

Mit 490 Millionen Bürgern, die 22% des globalen Bruttosozialprodukts erwirtschaften und 20% des Welthandels treiben, verfügt die Europäische Union über ein relevantes Gewicht, wenn und soweit sie gemeinsame Positionen vertritt. Deshalb werden bei Belangen von globaler Bedeutung nationale Interessen auch dann noch wirkungsvoller durch die Union vertreten, wenn zur Erreichung einer gemeinsamen Position nationale Forderungen abgeschwächt werden müssen.

Der Ort für die Debatte über diese Themen ist die politische Öffentlichkeit. Ihre Entfaltung kann den Rechtfertigungsbedarf des Integrationsprozesses befriedigen.

Zur zweiten Frage: Was sind die Leistungen der Europäischen Union?

Der Grundgedanke des europäischen Einigungswerks war, die Völker Europas auf dem Wege der wirtschaftlichen Integration miteinander zu versöhnen und Krieg unter ihnen unmöglich zu machen. Die Kontrolle einer supranationalen Behörde über die (seinerzeit) militärstrategischen Schlüsselindustrien zielte auf die Eliminierung jeglichen Bedrohungspotentials.

Das Konzept hatte Erfolg: Während noch vor kurzem in Südosteuropa militärische Auseinandersetzungen geführt wurden, waren diese im Geltungsbereich der Gemeinschaftsverträge schon seit langem undenkbar geworden. Wirtschaftliche und sonstige Interessengegensätze zwischen den Staaten werden in einem institutionellen System verarbeitet, das sich als stark genug erwiesen hat, um ihnen Stand zu halten. Überspitzt gesagt: Meldungen über »Streitigkeiten in Brüssel« sind Meldungen über verhinderte Kriege. Es ist ein Raum individueller und wirtschaftlicher Freiheiten entstanden, der die zu Beginn des Prozesses formulierten Erwartungen bei weitem übertrifft. Wer hätte 1960 eine gemeinsame europäische Währung für möglich gehalten?

Die Gesetzgebung der Europäischen Union ist besser als ihr Ruf. Sie wird in politischen Prozessen beschlossen, die in Übereinstimmung mit der Verfassungsstruktur einer Union von Staaten und von Bürgern demokratisch legitimiert sind. Sie vereinfacht das Leben in einem Raum, der über die Grenzen der Europäischen Union hinausgreift. Eine Gemeinschaftsverordnung ersetzt heute mehr als 30 unterschiedliche Rechtstexte einzelner europäischer Staaten. Und das ohne große Bürokratie: die gesamte europäische Verwaltung ist kleiner als die einer deutschen Großstadt. Sie arbeitet unter der wachen Kontrolle eines Parlaments, in dem die Mehrheit nicht unter einem ständigen politischen Druck steht, die Handlungen der Exekutive zu verteidigen. Damit braucht die Leistungsbilanz der Union keinen Vergleich mit anderen Trägern von Hoheitsgewalt zu scheuen.

Zur dritten Frage: Auf welchen gemeinsamen Wurzeln baut die Europäische Union auf?

Was verbindet die Menschen in Europa? Ist es die Vorstellung des freien, mit unveräußerlichen Grundrechten ausgestatteten und gegenüber dem Gemeinwesen verantwortlichen Menschen, die auf gemeinsamen Wurzeln aufbaut?

Die Präambel zum Verfassungsvertrag formuliert das so:

»Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben«.

Hätte die Präambel auch spezifisch auf das christliche Erbe Bezug nehmen sollen? Die Debatte hierüber ist noch nicht zur Ruhe gekommen. Die Bedeutung des Christentums in der Geschichte Europas ist evident. Ein Beitrag aus der Wissenschaft, der einen nützlichen Aspekt in diese Debatte einführen könnte, stammt von Hans Blumenberg, der die Geistesgeschichte des Christentums und ihre Verflechtungen mit dem antiken griechischen und jüdischen Gedankengut kennt wie kein anderer. In seiner erstmals im Jahre 1983 veröffentlichen Arbeit Die Legitimität der Neuzeit identifiziert Blumenberg die Überwindung des »theologischen Absolutismus« als einen der bedeutsamsten Schritte der europäischen Geistesgeschichte auf dem Wege aus dem Mittelalter in die Neuzeit. Mit dieser Bezeichnung charakterisiert Blumenberg theologische Schulen, die das Konzept der Allmacht eines einzigen Gottes durch rationale Ableitungen bis in alle Verästelungen entfalten und deren Systeme deshalb für die Freiheit des Humanen keinen Raum mehr lassen.

Die Überwindung von ›theologischem Absolutismus‹ ist eine der Voraussetzungen von Religionsfreiheit im Sinne eines neuzeitlichen Grundrechtes. Es gibt interessante Verbindungslinien zwischen dem mittelalterlichen ›theologischem Absolutismus‹ im Sinne Blumenbergs und dem in der Gegenwart auftretenden ›theologischen Fundamentalismus‹, der gemeinsame europäische Werte negiert. Eingedenk der dunkleren Perioden der europäischen Religionsgeschichte und der in ihren lichteren Phasen geübten Zurückhaltung in säkularen Dingen könnte es eher als ein Akt der Weisheit erscheinen, dass die Präambel sich darauf beschränkt, auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas zu verweisen: Wurzeln, in denen jeder Bürger sich wieder finden kann.

Zur vierten Frage: Hat oder braucht die Europäische Union ein Verfassungsprojekt?

Menschliche Erwartungen sind an die Zukunft gerichtet. Die Rechtfertigung durch vollbrachte Leistungen und gemeinsame Wurzeln trägt nur, wenn sie gleichzeitig das Fundament für das bildet, was in und mit der Union in Zukunft gemeinsam verwirklicht werden soll.

Braucht das europäische Gemeinwesen als ›Res publica‹, die die Bürger als ihre eigene begreifen, zusätzlich zu dem Verfassungsentwurf, der in dem von 18 Mitgliedstaaten gebilligten Verfassungsvertrag bereits vorliegt, ein politisches ›Verfassungsprojekt‹, in dem deutlich gemacht wird, was gemeinsam erreicht werden soll? Die Inhalte der feierlichen gemeinsamen Erklärung, die zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge beabsichtigt ist, könnten ein solches Projekt beschreiben. Es wird die durchaus nicht widerspruchsfreien Erwartungen berücksichtigen müssen, die Bürger an die Ausübung von Hoheitsgewalt richten:

– einerseits einen möglichst weit gespannten Raum individueller Freiheit zu ermöglichen,
– anderseits das Individuum gegen die individuellen und kollektiven Gefahren der Existenz so gut wie möglich zu sichern,
– schließlich nicht zum Objekt des Geschehens zu werden, sondern es in freier Selbstbestimmung mitzugestalten.

Die Verwirklichung eines Raums bürgerlicher Freiheiten im Horizont der Europäischen Union erscheint in greifbarer Nähe.
Die Sicherung europäischer Bürger gegen kollektive Gefahren wie militärische/terroristische/kriminelle Bedrohungen oder die Sicherung der Nachhaltigkeit in Bezug auf Umwelt, Energieversorgung und Weltwirtschaftsordnung sind, wenn überhaupt, nur durch gemeinsame Aktionen auf Unionsebene erreichbar.

Die Sicherung des Einzelnen gegen individuelle Not dürfte die in ihrer Architektur angelegte Leistungsfähigkeit der Unionsebene übersteigen. Ziel der Union könnte es sein, einen gemeinsamen Entwicklungsrahmen für nachhaltig leistungsfähige soziale Sicherungssysteme abzustecken und durch Instrumente der Wirtschafts- und Strukturpolitik Sorge zu tragen, dass individuelle Notlagen wieder zu Ausnahmefällen werden.

Die Verwirklichung eines in diesem Sinne gestalteten Raumes der Freiheit in Sicherheit könnte zu einem für Bürger glaubhaften ›Verfassungsprojekt‹ der Union werden.

Zur fünften Frage: Welche ist die dringendste Baustelle der Europäischen Union?

Auf das Thema der ›Res Publica Europea‹ bezogen, lässt sich die Frage wie folgt zuspitzen:

Wie kann bewirkt werden, dass die Entscheidungen der Union von ihren Bürgern als eigene wahrgenommen werden, an deren Gestaltung sie in einem demokratischen Prozess teilhaben? Die Baustelle, um die es geht, ist die Entfaltung einer politischen Öffentlichkeit auf der Ebene der Europäischen Union. Frühzeitig hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Maastrichtvertrag darauf hingewiesen, dass zum Funktionieren von Demokratie nicht nur Institutionen und Verfahren, sondern auch deren Gegenüber im gesellschaftlichen Leben gehören, die politischen Parteien und ihr Umfeld, die Medienlandschaft und die vielfältigen Formen organisierter Zivilgesellschaft.

Auf der Ebene der Europäischen Union befinden sich diese Elemente im Werden: der Aufbau europäischer politischer Parteien und eines sie begleitenden Umfelds von Organisationen mit bildungspolitischem Auftrag; die Entstehung transnationaler Medienstrukturen wie Arte oder Euronews; die im Verfassungsvertrag vorgesehene Stärkung der partizipativen Demokratie. Diese Vorhaben bergen das erforderliche Potential, um über die Fragen, die auf Unionsebene anstehen und den nationalen Horizont überschreiten, eine öffentliche Debatte zu entfalten. Wenn sie gelingen, kann für jeden Einzelnen erkennbar werden, in welchem Maße in der Europäischen Union seine eigene Sache verhandelt wird.

Zur sechsten Frage: Welche Verfassungsstruktur ist der Europäischen Union angemessen?

Nach all dem kann ich die Beantwortung kurz machen. Von allen Optionen, die in der aktuellen Reflexionsphase über die Zukunft Europas präsentiert werden, enthält der Globalkompromiss des Verfassungsvertrags die besten Voraussetzungen, um in naher Zukunft konkrete Schritte in Richtung auf eine ›Res Publica Europea‹ zu vollziehen. In der Option des Globalkompromisses ist die Möglichkeit von Ergänzungen oder punktuellen Korrekturen stillschweigend mitgedacht, soweit diese sich im Laufe des kommenden Jahres als erforderlich erweisen sollten, um die Ratifizierungsverfahren wieder in Gang zu setzen. Die von manchen befürwortete Option einer Vorwegnahme der dringendsten Reformen in einem Mini-Vertrag wie auch die einer umfassenden Neuverhandlung würden vermutlich beide den Zeithorizont für eine Aktualisierung der ›Res Publica Europea‹ beträchtlich hinausschieben.

Das hindert die Wissenschaft freilich nicht, über Verfassungsprobleme nachzudenken, die noch nicht auf der politischen Tagesordnung stehen. Zum Beispiel die Frage nach einer Zusammensetzung der Exekutive, die einer Union der Bürger und der Staaten angemessen wäre. Die Rotationsformel des Verfassungsvertrags wird nicht selten als unbefriedigend empfunden, und die Formel eines Kommissionsmitglieds je Mitgliedstaat vermindert die Handlungsfähigkeit des Kollegiums und generiert Ungleichgewichte eigener Art.

Nachvollziehbar ist, dass in der Exekutive der Europäischen Union jede der in der Union zusammenlebenden Identitäten und Traditionen repräsentiert sein und ihre Anliegen zu Gehör bringen können muss. Nachvollziehbar ist weiterhin, dass nur ein zahlenmäßig begrenztes Kollegium zu diskursiver Interaktion fähig ist, in ihr ein gemeinsames Interesse formulieren und nach dessen Maßgabe beschließen kann. Könnte es nicht Schlüssel für eine Lösung sein, sich vorzustellen, dass in der Unionsexekutive zwei verschiedene Kategorien von Trägern politischer Verantwortung zusammenarbeiten:

- einerseits von den Regierungen eines jeden Mitgliedstaates benannte und ihnen rechenschaftspflichtige ›Emissare‹, die deren jeweilige Interessen und Belange zu Gehör bringen;
- andererseits ein kleines, politisch nur dem Europäischen Parlament verantwortliches Kollegium von ›Kommissaren‹, dessen Sache es ist, im Lichte aller verfügbaren Informationen Entscheidungen nach Maßgabe des von ihnen zum Ausdruck gebrachten gemeinsamen Interesses zu treffen.

Es müsste deshalb ausgeschlossen werden können, dass die Mitglieder dieses Kollegiums bestimmten Mitgliedstaaten zugeordnet werden. Ließe sich dieses Ziel vielleicht durch die Voraussetzung erreichen, dass ein jeder dieser ›Kommissare‹ vor seiner Wahl durch das Parlament Führungsverantwortung in mehr als einem Mitgliedstaat ausgeübt haben muss? Diese Voraussetzungen werden heute nur von sehr wenigen erfüllt. Wenn und soweit Europa künftig mehr Persönlichkeiten von der beschriebenen Statur hervorbringt, könnten solche Überlegungen von einer akademischen Spekulation zu einer politischen Option heranreifen.

Zusammenfassend  lässt das Dargelegte sich in einer einzigen These zuspitzen: Ein demokratisches europäisches Gemeinwesen – ›res publica europae‹ – wird zur Wirklichkeit, wenn seine Bürgerschaft  – ›populus europeus‹ – sich als solche wahrnimmt und in der Europäischen Union ihre eigene Sache wieder erkennt.

Die vorstehenden Ausführungen geben die persönlichen Auffassungen des Verfassers wieder und können nicht dem Organ zugerechnet werden, dessen Beamter er ist.

Festvortrag am 8. Dezember 2006 in der Fernuniversität Hagen


Literatur:

BLUMENBERG HANS, Die Legitimität der Neuzeit, 2. Auflage, Frankfurt/M. 2002, insb. S, 205 ff.
MARCUS TULLIUS CICERO, De re publica, (Hrsg. und Übersetzung ins Deutsche von Karl Büchner) insbesondere Liber primus 25(39), Zürich/München 1973
GRÖSCHNER ROLF, Die Republik, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hgg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3.Aufl. 2004, S. 369-428
SCHIFFAUER PETER, Versuch über die Transformation des Staates in der Europäischen  Union, in: Häberle P./ Morlok M./ Skouris V. (Hgg.), Festschrift für Dimitris Th. Tsatsos, Baden-Baden  2003, S. 592-608
SCHIFFAUER PETER, Leviathan oder Hydra, Versuch über Staatlichkeit und Europäische Integration, in: Müller F., Burr I. (Hgg.), Rechtssprache Europas – Reflexion der Praxis von Sprache und Mehrsprachigkeit im supranationalen Recht, Berlin 2004, S. 23-62
TSATSOS DIMITRIS, Die Europäische Grundordnung, EuGRZ 1995, S. 287 ff.
TSATSOS DIMITRIS, Die Europäsche Grundordnung, Baden-Baden 2002, insb. S. 17 ff.