Ulrich Schödlbauer
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Was geht. Anmerkungen zur Reformgesellschaft
1.
›Reformgesellschaft‹
ist ein oft gebrauchter, aber keineswegs fest umrissener Begriff. Das
mag erstaunen, wenn man die jahrzehntelange Präsenz des
Reformthemas in Politik und Gesellschaft bedenkt. Vielleicht liegt
darin auch bereits eine Art Begründung: benannt wird, was man
projektiert oder was man hinter sich lässt. Projektiert wurde
einst im Westen die ›Bürgergesellschaft‹, der die
heutige Zivilgesellschaft gleicht wie ein Exportapfel einem gemalten.
Zurückgelassen wurden, um deutsche Wegmarken aufzuzählen, die
›sozialliberale Ära‹, der
›Reformkonservatismus der Ära Kohl‹, das
›rot-grüne Projekt‹, aber nicht die auf den Begriff
›Reform‹ gestellte Gesellschaft. Erst angesichts eines
auf administrative Durchsetzung leicht durchschaubarer Interessen
gestellten, inhaltsarmen und ambivalenten Reformbegriffs wächst
die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, die den Begriff der Reform nicht
kennt, sei es, dass sie ihn nicht mehr nötig hat, um ihre Ziele zu
benennen, sei es, dass sie verabscheuen gelernt hat, was aus ihr unter
diesem Etikett einen Suchtpatienten gemacht hat. Es könnte daher
sein, dass die Reformgesellschaft sich allmählich als ein
historisches Ganzes abzuzeichnen beginnt – fast zwanzig Jahre
nach dem Ende des Revolutionsmythos, dem sie sich einst
entgegenstellte, ein überfällig scheinendes, beinahe
notwendiges Ereignis.
Rückblickend lassen
sich drei
Stadien der Reformgesellschaft unterscheiden: ein
ethisch-humanitäres (1), ein ethisch-ökonomistisches
(2), ein
neo- oder libertär-ökonomistisches (3). Ein
Missverständnis sollte vermieden werden: gemeint sind nicht
Phasen
sozialdemokratischer Regierungspolitik, auch wenn, jedenfalls in den
Anfängen, es sich um ihr Projekt handelt. Die
Reformgesellschaft
stellt aber mehr dar als ein Projekt. Einmal etabliert, erzeugt sie
eine Parteien und Politik übergreifende Wirklichkeit sui generis.
Als solche ruft sie Interpretationen hervor, in denen sich die
Gesellschaft als ganze oder jedenfalls in ihrer
überwältigenden Mehrheit erkennt. Diese Wirklichkeit
kennt
viele Facetten und Übergänge. Die vorgeschlagene, an
politischen Entscheidungen orientierte Periodisierung könnte
daher
leicht als willkürlich angesehen werden. Aber sie ist
plausibel,
wenn man den jeweiligen Wechsel der Hauptakteure und die
Schwierigkeiten ins Auge fasst, in welche die Interpretation des
Reformprojekts an den Übergängen von einem Stadium
ins
nächste gerät. Was die Politik rituell mit der
navalen
Metapher des ›Umsteuerns‹ bezeichnet, zeigt mehr
an als
eine Episode. Es liegt ein ›Abfall‹ darin, ein –
wie die
schrillere Vokabel lautet – ›Verrat‹,
der
allerdings mehr über die aufgebaute Spannung zwischen Projekt
und
Realität verrät
als
über die jeweiligen Loyalitätsverhältnisse.
In Bezug auf
das dritte Stadium deutet das Präfix
›neo‹ –
öffentlich präsent in den Bezeichnungen
›Neoliberalismus‹ und
›Neokonservatismus‹ –
schon verbal an, dass die Neuerung auf Erneuerung zielt, also auf eine
Wiedergewinnung (nicht Wiederholung): in diesem Fall des
ökonomisch gedachten Sinns von Gesellschaft.
2.
Aufbruch,
Korrektur, Wende – die populären Ausdrücke geben
erste
Aufschlüsse über das jeweils Gemeinte. In ihnen
verbinden
sich Politikinhalte mit Politikstilen. Ihre Symbole sind jedermann in
der Gesellschaft geläufig, so wie ihre Repräsentanten
selbst
zu Symbolen wurden. Europa, das sein politisches Imaginarium gern mit
US-amerikanischem Personal bereichert, hat sich die ungleichen
Präsidentenpaare Kennedy/Reagan und Clinton/Bush
erwählt, um an ihnen das Drama von Reform und Konterreform in
Stein zu meißeln. Die Namen Olof Palme, Willy Brandt, Helmut
Schmidt stehen für sozialdemokratische Perspektiven, die zwar
Vergangenheit, aber nicht vergangen sind. Es scheint, als habe die
jüngste ›Reformära‹ in
Deutschland bisher keine
haltbare Symbolik hervorgebracht, jedenfalls keine, die über
die
tagespolitisch übliche Karikaturenbildung hinausginge. Was
daran
liegen könnte, dass die neoliberale Wende, anders als in den
angelsächsischen Ländern oder in den
Reformländern
Mittel- und Osteuropas der Fall, noch immer von großen Teilen
der
deutschen Bevölkerung eher durch inter- und transnationale
Entwicklungen oktroyiert und nicht als freies Ergreifen gestalterischer
Möglichkeiten gesehen wird. Mag sein, dass dem eine
perspektivische Verkennung zugrunde liegt. Verwunderlich ist es nicht,
da sich während der als erfolgreich empfundenen Phasen (1) und
(2)
feste Loyalitäten aufbauen konnten, die nicht so leicht
preisgegeben werden. Veränderungen in der Altersstruktur, die
bestimmten Jahrgängen ein Übermaß an
öffentlicher
Präsenz beschert, und die speziellen Reformvorstellungen, die
sich
an die Auflösung der DDR knüpften, wirken in
ähnliche
Richtungen. Der Neoökonomismus steht bei vielen für
enttäuschte Erwartungen und soziale Misere.
3.
Darin
liegt auch der Ansatz zu einer ersten Differenzierung von
Wahrnehmungslinien. Liebhaber des Marktes, die gern den
›ursprünglich ökonomischen‹
Sinn von
Gesellschaft reklamieren, finden für ihre Sicht der Dinge,
sofern
sie es noch für nötig halten, Belege in der
philosophischen
Tradition: »Die Schöpfung der bürgerlichen
Gesellschaft
gehört übrigens der modernen Welt an ... In der
bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere
ist
ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner
Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des
Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf
andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er
zugleich das Wohl der anderen mit befriedigt...« So Hegel in
den Vorlesungen zur
Philosophie des Rechts
(§ 182, Anm.). Näher am Betrachter liegt Bill
Clintons
Wahlkampfslogan von 1992, »It's the economy,
stupid!«
mitsamt zugehöriger und, in mehrfach modifizierter Form,
anhaltender Praxis. Diese Rede – wenn es denn
überhaupt sinnvoll ist, in Ursprungsgeschichten zu reden
–
unterscheidet sich mehr oder weniger strikt von jener, die einen ursprünglichen
ökonomischen Sinn von Gesellschaft kennt oder zu kennen
vorgibt und der Vorstellung von einer anderen
Ökonomie das Wort erteilt. Der alteuropäisch
interpretierte
›ursprüngliche‹ Sinn von
Ökonomie wurde
bekanntlich vor mehr als einem halben Jahrhundert von Otto Brunner auf
den suggestiven Begriff des ›ganzen Hauses‹
(griech. oikos)
gebracht. Die darin vorausgesetzte Sozialität entspricht
allerdings so wenig der unserer ›Gesellschaft‹,
dass man
besser beraten ist, dafür den Distanz schaffenden
aristotelischen
Ausdruck politikē
koinonia zu
verwenden – ein Terminus, der meist mit
›Gemeinschaft‹
wiedergegeben wird, ungeachtet der historischen Konnotationen, die vor
dem Gebrauch des Wortes zurückschrecken lassen
können. Das
›gemeinsame Wirtschaften‹ entspricht –
Globalisierungskritikern nicht immer gegenwärtig – einem
Herrschaftsmodell, das, in den Anfängen ausdrücklich
kosmologisch gedacht, die Elemente einer
›natürlichen‹ Sozialordnung
enthält. Wie jede
Natur bleibt auch diese interpretierbar – von Fall zu Fall,
von
Herrschenden zu Herrschenden. So markiert es in der
Theorie eher
das eine Ende einer Skala, an deren anderem Ende das liberale und
neoliberale Wirtschaften steht. In ihm setzen diejenigen, die da
wirtschaften, auf den wohltuenden Effekt der Bereicherung – mit einer
gewissen hintersinnigen Naivität, die einem in der
gegenwärtigen Klimadebatte einmal mehr den Atem
verschlägt.
Dennoch scheint es bei alledem, dass der theoretische Kern des
Neoökonomismus weniger in der Differenzierung der Gesellschaft
entlang der Reichtumsskala zu finden ist als in der funktionalen
Autonomie des ökonomischen Handelns, das keine
›sachfremden‹ Eingriffe hinnehmen will.
4.
Stellt
man den ›ursprünglich politischen‹ Sinn
des
ökonomischen Handelns gegen den
›urspünglich
ökonomischen‹ Sinn des politischen Handelns –
aristotelisch
gesprochen: die politikē
koinonia gegen den oikos,
dann trennt man damit, was Aristoteles zufolge zusammen
gehört.
Aber wenn darin ein Abfall liegt, dann eher ein Abfall der Wirklichkeit
- einer sehr alten Wirklichkeit – von der Theorie. Das Motiv des
Abfalls ist dem des Ursprungs seit alters inhärent, insofern
kann
die Gesellschaft gut mit ihm leben. Noch besser die
Geschichtsschreibung, die in Zerfall und Streit zwischen
ursprünglich zusammengehörigen Parteien ihr
primäres
Erzählmuster erkennt. Solche Ursprünge sind
verschieb- und
erneuerbar, es sind wandernde Bezugspunkte des berichtenden
Erzählens, das darlegen soll, wie alles gekommen ist. Insofern
existieren sie nur im Plural. Aber natürlich ist das nur die
halbe
Wahrheit. Es gibt eine Gleichheit in den Ursprüngen, die es
denen,
die sich auf sie berufen, erst möglich macht, sie als solche
heranzuziehen. Sie alle besitzen die Eigenschaft, mit dem Endzustand
der Entwicklung zu kommunizieren, für die sie in Anspruch
genommen
werden, also irgendeine Art von Kontinuität zu bezeugen – eine
höchst allgemeine Eigenschaft, die jedoch so stark gedacht
sein
muss, dass sie die markierten Passagen aus der gleichgültigen
Reihe historischer Abläufe – dem allgemeinen nexus
dessen, ›was sich begibt‹ – heraushebt und ihnen
eine Art
normativer Auszeichnung verleiht. Ursprungsgeschichten werden als faktisch verstanden
und als primär
prägend:
einen Sachverhalt als ursprünglich zu bezeichnen
heißt, ihn
mit einer Bedeutung auszustatten, die sowohl erklärt, warum es
zu
dem als final oder aktuell beschriebenen Zustand kommen konnte, als
auch, wie seine Defizite behoben werden können. Die
Ursprungsgeschichte des aktuellen Neo-Ökonomismus ist
verhältnismäßig kurz. Sie lebt von der
Annahme, dass
die ökonomische Doktrin der mittleren Reformphase, der
Keynesianismus, den Grundcharakter des kapitalistischen Wirtschaftens
zumindest in Teilen verkennt. Damit geht sie ein Stückweit
konform
mit der marxistischen Doktrin, die sie in den sogenannten
Reformländern so eindrucksvoll ersetzt. Was sie gegen letztere
setzt, ist die Überzeugung, eine Realität zu
beherrschen, an
der jene gescheitert ist.
5.
Die
erfolgreicheren unter
den Ursprungsgeschichten, denen sich der überwiegende Teil der
Menschheit seit längerem ausgesetzt sieht, arbeiten mit dem
Begriff der Moderne. Lässt man die Erzählungen
beiseite, in
denen vom Abenteuer oder vom Verhängnis der Moderne gesprochen
wird, als handle es sich um den permanenten Aufbruch in ein unbekanntes
Universum oder um eine antike Tragödie von den inneren
Dimensionen
des Peloponnesischen Krieges, so bleiben andere, in denen die Moderne
sich auf ein Gewebe von Zwangsläufigkeiten und ein
Menschheitsversprechen reduziert. Letzteres, nach Kants wirksamer
Formel der »Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten
Unmündigkeit«, ist der Maßstab, an dem
sich die
Verhältnisse der Gegenwart und der Vergangenheit messen lassen
müssen. Als Prozess der Emanzipation ist die Moderne an
jenen Fortgang
der Künste und Wissenschaften gefesselt, von dem
bereits in Rousseaus erstem Discours
die Rede ist, also all das, was die geläufige Rhetorik als
wissenschaftlich-technologischen Fortschritt bezeichnet. Sie ist an ihn
gefesselt – merkwürdig genug für einen
Befreiungsprozess -,
aber sie fällt nicht mit ihm zusammen. Im Gegenteil,
könnte
man sagen: die mit den Zuwächsen in den Bereichen des Wissens
und
der Naturbeherrschung – auch im sozialen Bereich
–
verbundenen Ambivalenzen provozieren regelmäßig
erhebliche
und keineswegs unnötige Steuerungsdiskussionen,
gleichgültig,
wie man zu deren Resultaten im einzelnen stehen mag.
6.
›Modernisierung‹
lautet das Schlüsselwort, das die Selbstverpflichtung der
Reformgesellschaft umschreibt, an bestimmten Ursprungsgeschichten der
Moderne festzuhalten und bei Bedarf weitere zu ersinnen. Darin liegt –
was sonst? – eine Entscheidung. In der Ethologie, in Gen- oder
Gehirnforschung stehen einflussreiche theoretische Instanzen bereit,
die sich dem Modernediktat ganz oder teilweise entziehen. Wesentliche
Fragestellungen und Fortschritte dieser Disziplinen verdanken sich
explizit oder implizit dem im Lauf der Jahrzehnte immens gewachsenen
Bedarf der Reformgesellschaft, Aufschluss über elementare
Bedingungen der Veränderbarkeit des Menschen in der
Gesellschaft
und durch die Gesellschaft zu gewinnen. Zwischen Bedingungen und Grenzen
verläuft dabei eine zarte theoretische Linie, an der entlang
einige bemerkenswerte Schlachten geschlagen wurden. Während
Grenzen – jedenfalls dann, wenn es sich um natürliche, sprich:
unverrückbare handelt – eingehalten werden müssen
(bei Strafe
irgendwelcher unvorstellbarer oder auch voraussagbarer Katastrophen),
sollten Bedingungen beachtet werden, jedenfalls dann, wenn man
bestimmte Ziele erreichen will. Bei Nichtbeachtung drohen Effekte, die
den angestrebten Ertrag reduzieren oder zunichte machen oder um
ungewollte Erträge anreichern könnten.
Es
leuchtet
ein, dass die aktive Reformfraktion der Gesellschaft eher der Rede von
Bedingungen als der von Grenzen gewogen ist. Doch wäre es
falsch,
hier eine strikte ›Grenze‹ zu setzen. Ein
Beispiel
böte die Gewaltdiskussion der Sechziger und Siebziger Jahre
(im
Kern eine Auseinandersetzung darüber, ob Gewalt als Mittel,
bestimmte gesellschaftspolitische oder ganz allgemein emanzipatorische
Ziele zu erreichen, gerechtfertigt sei), in der die Formel der
Gewaltlosigkeit sich in beiderlei Gestalt präsentierte: als
absolute Grenze, die zu überschreiten automatisch (aus
Gründen einer vorgängigen Moral) zum Ausschluss aus
der
liberal und demokratisch verfassten Gesellschaft führt, und
als
kalkuliertes Verhalten, das der nüchternen Analyse des
aktuellen
und akuten Handlungsrahmens innerhalb des am Ende doch zu
modifizierenden Systems entspringt. Dieser ›grundlegende
Dissens‹ schien in der jüngsten
Begnadigungsdiskussion um
die noch einsitzenden RAF-Veteranen hintergründig wieder
aufzuflammen – bei deutlicher Unlust aller Teilnehmer, sich erneut mit
ihm zu befassen.
7.
Die Grenzen des eigenen Handelns
immer wieder in den Horizont verschieben
- dieses Wort eines ehemaligen Kanzlers ist geeignet, den imaginativen
Kern eines Denkens aus- oder zumindest anzuleuchten, das vermutlich
nicht zu den Initiatoren des Reformprojekts – jedenfalls in seiner
ersten Phase – zählt, aber rückblickend diese
Ära
charakterisiert: angefangen bei frühen, linksutopistisch
geprägten Parolen wie ›Seid realistisch, versucht
das
Unmögliche‹, bis hin zur vollmundigen Versicherung
der
dritten Phase, es gelte den Kapitalismus neu zu erfinden, um das
unverrückbar festgehaltene Emanzipationsziel mit den
Lebensbedingungen auf dem Planeten in Übereinstimmung zu
bringen.
Man kann also vielleicht sagen: Dort, wo die Denkfigur der
Politisierung aller Lebensbereiche, also die Überzeugung,
jeder
Aspekt der Gesellschaft (und der persönlichen
Lebensgestaltung)
lasse sich in den Bereich politischen Handelns und damit der
Veränderbarkeit verschieben, die traditionellen Grenzziehungen
zwischen einem progressiven und einem konservativen Lager
überwindet und weitgehend gegenstandslos macht, ist die
Reformgesellschaft ›in den Köpfen‹
angekommen.
Offenkundig
wirkte das nicht auf eine Partei beschränkte
›grüne‹ Projekt, das seit seinen
Anfängen
konservative und progressivistische Tendenzen miteinander verbindet, in
dieser Hinsicht als Katalysator. Stärker als seine klassischen
Konkurrenten und in direktem Gegensatz zum
Wirtschaftsliberalismus alter Schule setzt es auf
Veränderungen im
Bereich des privaten Verhaltens – soll heißen, auf
den
sanften und zugleich, um das Weber-Wort einmal mehr zu zitieren,
›stahlharten‹ Zwang eines durch Gesinnung
gesteuerten,
gesetzlich abgesicherten und und ökonomisch
prämierten
Wohlverhaltens seitens der Einzelnen. In der durchgebildeten
Reformgesellschaft steuert ein medial reproduziertes, in
Öffentlichkeitsinseln und Gruppenstilen über die
Gesellschaft
verbreitetes, in seinen Motiven und Ausfächerungen schwer
durchschaubares Wohlmeinen, also eine Moral der Menschheitsziele, das
individuelle Leben ebenso effektiv wie die Politik der
ökonomischen Anreize. Es steuert auch die Politik bis hin zu
bürokratisch verordneten oder dem journalistischen
Gesinnungsdesign unterworfenen Sprachregelungen, deren Verletzung
empfindliche Konsequenzen für den Einzelnen nach sich ziehen
kann.
Es scheint, als markiere das auf Dauer gestellte Gezänk um political correctness
die überaus bewegliche Grenze, die das zur beherrschenden
gesellschaftlichen Realität gewordene Reformparadigma von im
Ansatz kollektivistischen, über das Revolutionsparadigma
definierten Gesellschaftstypen trennt.
8.
Beschreibungsversuche
wie dieser bedürfen einer methodischen Ergänzung. Der
übergangslose Wechsel zwischen dem einfachen Ausschreiben
allseits
bekannter Motive und einer nicht weiter explizierten Rhetorik des
Vorbehalts charakterisiert sie als polemisch. Sie arbeiten mit der
starken Annahme, dass die Gesellschaft das gemeinsame Unhintergehbare
darstellt, über das man nur genügend in Erfahrung zu
bringen
brauche, um es ›vernünftig‹ zu
transformieren. Die
Gesellschaft, das ist der empirische Mensch.
Der Gedanke der ›vernünftigen
Transformation‹ aller
Lebensbereiche siedelt hingegen in einer offenen Meinungszone, in der
differente Beiträge willkommen sind, solange und soweit sie
dem
Reformdenken verpflichtet bleiben. Willkommen ist jeder Beitrag, sofern
er hier und jetzt dem Motiv des Aufbruchs aus der selbstverschuldeten
Unmündigkeit symbolische Präsenz verschafft.
Unter
dem
Reformparadigma, so lautet offensichtlich die zugrundeliegende
Überzeugung, vereint sich das empirische Wissen um die
Menschheit
ebenso selbstverständlich wie effektiv mit dem Wissen um die
richtigen Menschheitsziele und die angemessenen Strategien, sie zu
erreichen. »Was können wir tun?« fragt die
Moderatorin
ihre Studiogäste, gleich, ob die nächste
Nahost-Verhandlungsrunde angesagt wurde oder die neuesten Berechnungen
der Klimaforschung auf dem Tisch liegen. Das ist in die Gesellschaft
hineingesprochen. Es bezieht jeden Einzelnen ein, es hält ihn
gegebenenfalls an, sein Verhalten zu ändern (»Wir
müssen uns ändern«), und leitet wie von
selbst zur
Diskussion der zu ergreifenden gesetzlichen und administrativen
Maßnahmen über. Kein Gast wirkt befremdet, alle
beziehen
Position. Das Publikum beklatscht zu gleichen Teilen den
Freiheitsvorbehalt und die Rhetorik des administrativen
Durchgreifens. Mit Leichtigkeit und Vehemenz scheint die
unsichtbare Hand der proporzgestärkten Vernunft den Hiatus
zwischen dem Glück der Vielen und dem sich fortschreibenden,
weltumspannenden Reformwillen der Organisationen und Institutionen zu
minimieren.
9.
Dass die Leute
gelernt haben, die
rhetorischen Grundlagen des Reformparadigmas im Großen und
Ganzen
widerspruchslos zu akzeptieren und die entsprechende, in ihren
Grundzügen durch jahrzehntelange Praxis bekannte Politik mit
den
üblichen Zustimmungsquoten zu versehen, kann im Prinzip zwei
Gründe haben: überbordende Zufriedenheit oder ein
eingespieltes Wissen darum, wie man mit ihnen ›im Alltag
zurechtkommt‹. Dass Zonen öffentlichkeitswirksamer
Unzufriedenheit vor allem in den spät und unter besonderen
Bedingungen gestarteten postsozialistischen Ländern
anzutreffen
sind, spricht für einen gesunden Mix aus beiden Annahmen. Man
könnte auch sagen, die Zufriedenheit rührt daher,
dass sich
die Menschen im Reformparadigma eingerichtet haben. Es ist eine Art Heim
für sie geworden, mit einer ausgebildeten Binnenpraxis und
einem
Fundus aus Rechtfertigungs- und Motivationsgeschichten, ausreichend
groß und durchgebildet, um jede Art denkbarer
Lebensläufe zu
tragen und gedanklich abzusichern. Daher verwundert es nicht, dass der
Begriff der Wissensgesellschaft, der tendenziell etwas anderes meint,
so elektrisierend auf seine Repräsentanten wirkt. Die
möglichst ›barrierefreie Bereitstellung‹
und der
durch institutionelle Anreize beschleunigte
›Umsatz‹ von
Wissen, die ›unsere Gesellschaft fit machen für das
21.
Jahrhundert‹ oder wie die Phrasen heißen, gelten
vordergründig einer grenzenlos gedachten (und ähnlich
grenzenlos kritisierten) Ökonomie. Als Innovationsmotor der
Gesellschaft wirken sie wie ein Perpetuum
mobile
der Reform, die in diesem Licht mehr und mehr als reine Umsetzung von
Wissen unter den Bedingungen weltweiter Konkurrenz erscheint. Die
ethisch-existenziellen Grundlagen von Entscheidungen treten
demgegenüber in den Hintergrund. Und das scheint gut so. Es
legt
Zeugnis ab vom Erreichten.
10.
Das
Thema der
gescheiterten Reform beginnt nicht, wie vielleicht zu erwarten
wäre, beim Scheitern von Gesetzesvorlagen oder -iniativen, es
beginnt nicht dort, wo die Umsetzung beschlossener Reformen
unerwünschte Nebenwirkungen zeitigt, die den gewollten Ertrag
in
Frage stellen, es beginnt auch nicht bei der retrospektiven Betrachtung
›reformunwilliger‹ oder
›reformunfähiger‹ Gesellschaften.
Vielmehr ist das
Motiv des Scheiterns dem Reformparadigma inhärent –
ähnlich
wie dem der Revolution, aber auf andere Weise und in anderen
Dimensionen. Beispiele gelungener Reformen sind das Schmiermittel der
Reformgesellschaft, sie besitzen den Rang mythischer Parabeln,
ausgestattet mit symbolischem Mehrwert und ikonographischer
Omnipräsenz. Beispiele misslungener Reformen erfüllen
ihren
gesellschaftlichen Zweck in den Auseinandersetzungen zwischen
politischen Parteien und Zweckverbänden, die bestimmten
Gruppeninteressen verpflichtet sind. Ansonsten bilden sie einen der
Grundstoffe des privaten Geredes.
Die
Reformbereitschaft, das
normative Rückgrat der Reformgesellschaft, ist ohne Zweifel
ihr
bedeutendstes Produkt. Sie ist, um es eigenwilliger zu sagen,
gleichermaßen Erzeugendes und Erzeugnis. Reformunwilligkeit
gilt unter diesen Umständen als andauernde, dabei weitgehend
imaginäre Bedrohung der Reformgesellschaft. Sie erinnert,
vielleicht nicht ohne Grund, an das Konstrukt des Klassenfeindes in der
untergegangenen sozialistischen Gesellschaft. Die Reform des
empirischen Menschen scheitert in Permanenz, weil die immer notwendige
Modernisierung der Gesellschaft keinen Aufschub und keine Ruhepausen
erlaubt und sich die Ausgangssituation der Reformbedürftigkeit
an
jeder Stelle wiederherstellt. Zufriedenheit über das Erreichte
gilt, wird sie einmal ausgestellt, als Hochglanz- oder Propagandarede.
Zu Recht, denn es pflegt, wie das Eis in der Sonne, sogleich zu
zerrinnen. Die Reformgesellschaft ähnelt daher, von einer
anderen
Warte aus betrachtet, einer Repräsentation von Gesellschaft
überhaupt, soweit sie als selbstreproduzierendes und als
solches
in permanentem Wandel befindliches System gedacht wird. Das
literarische Bild der Überfahrt ohne erreichbares oder auch
nur
angebbares Ziel, eines der Sinnbilder der Moderne, ist vor allem ein
Bild der Gesellschaft – von Menschenfressern, um an das schöne
Bild aus einer kleinen Schrift von Deleuze zu erinnern.
11.
Es
gibt eine Praxis der Reform und es gibt Praktiken der
Reformgesellschaft. Die eine ist eher im politischen und
bürokratischen Bereich, die andere im Alltag der Leute zu
suchen,
die man statistisch mit dem Begriff der Bevölkerung erfasst.
Das
Leben unterm Reformparadigma bringt seine paradoxen Konstellationen
hervor, wie jeder aus privater und beruflicher Erfahrung
weiß.
Das ist zunächst einmal nichts Besonderes, es trifft prima vista
auf jede Gesellschaft zu. Auffällig wäre, dass die
Zukunftsgesellschaft sich zusehends um ihren Nachwuchs sorgt. Sieht man
näher hin, so gruppieren sich die Paradoxien der
Reformgesellschaft um etwas, das man die perspektivische Bereinigung
der Reformziele (Gleichheit, Gerechtigkeit, verbesserte Lebens- und
Arbeitsbedingungen, Mobilität etc.) nennen könnte. So
gewinnt
die klassisch-revolutionäre Unterscheidung von Nah- und
Fernzielen
innerhalb des Reformparadigmas eigene Züge. Offen zutage liegt
das
in der Dauerbewirtschaftung emanzipatorisch sensibler Bereiche, zum
Beispiel der Frauen- und Familienpolitik, in denen der
gesellschaftliche Lernprozess dem, was im Leben der Einzelnen
unausweichlich zu leisten ist, konstant hinterherhinkt. Doch es gibt
andere, weniger im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit
liegende
Prozesse. Die Zerstörung der Literatur, ein differenzierter
Prozess, in dem das Urheber- und Verlagsrecht mit
Mentalitätswandel und Förderpraxis zusammenspielt,
die
Abschaffung der allgemeinen Schreibsicherheit durch eine auf Permanenz
gestellte Rechtschreibreform, die anonym und zwanghaft sich
vollziehende Reduktion von Sprachprägnanz und Idiomatik durch
Pastiche-Techniken (localization)
und konsequente Normung, für Vordenker sicher peanuts,
sind bekannte Felder privater und öffentlicher, vollkommen
wirkungsloser Klage, für Literatur- und Medienwissenschaftler
naturgemäß Objekte gesteigerter Aufmerksamkeit. Das
dem
Reformparadigma eignende aleatorische Moment tritt hier
auffällig
zutage – vermutlich, weil diese Bereiche in der Hierarchie der
kollektiven Aufgaben ohnehin als marginal angesehen werden.
Perspektivische Bereinigung bedeutet grosso modo
die aus der Religionsgeschichte bestens bekannte Umstellung von Nah-
auf Fernerwartung, die Herstellung von
›Handlungssicherheit‹ als – relativem –
Selbstzweck, die
permanente Ausschau nach möglichen Feldern symbolischen
Handelns,
eine eingespielte Praxis der Reform der Reform und
schließlich
das Spiel willkürlicher Festsetzungen, das sich hinter der
Formel
›Kein Zurück!‹ verbirgt und der Neigung
in der
Bevölkerung entgegentritt, eine Reihe von Alltagsproblemen als
›gemacht‹ anzusehen, d.h. als Produkt der
allgegenwärtigen Reform und nicht als ihr Auslöser.
12.
Der
Gedanke, eine Gesellschaft durch die in ihr herrschende Form des
Unglaubens zu charakterisieren, mag seltsam erscheinen, vor allem, da
es naturgemäß schwerfällt, in diesem
Bereich
annähernd objektive Daten zu erheben. Wenn man, um die nicht
programmatisch gesteuerten gesellschaftlichen Prozesse zu
durchleuchten, den Begriff der ›Praktiken‹
verwendet, der
die Weisen des individuellen Zurechtkommens in einer Gesellschaft
bezeichnet, dann kommt dem Unglauben an gesellschaftliche Ziele (oder
die in ihr herrschenden Verfahren, sie zu erreichen) darin eine
wesentliche Bedeutung zu. Während Funktionen wie
Vertrauen/Misstrauen sich stärker auf einzelne Sachverhalte
bzw.
Angebote beziehen, bezeichnet dieser Begriff gesellschaftlichen
›Unglaubens‹ etwas, das man mit Foucault und
anderen als
›Dispositiv‹ bezeichnen könnte. Das
wäre die
allgemeine Neigung, Entscheidungen eher
so als anders
zu fällen und sich darin durch rationale Angebote – darunter
fallen auch Deutungsangebote – wenig beirren zu lassen. Der in einer
Gesellschaft herrschende Unglaube wäre demnach eine eher
versteckte Größe, auf die man in weitgehend
unspezifischer
Weise Bezug nimmt. Was zum Beispiel in Meinungsumfragen ›in
schöner Regelmäßigkeit‹, wie es
selbstbezüglich heißt, als Ansehens- oder
Glaubwürdigkeitsdefizit ›der Politiker‹
(weniger
häufig: ›der Politik‹) ausgewiesen wird,
deutet in
der Analyse des gesellschaftlichen Paradigmas weniger auf eine
Gefährdung des Systems durch seine unwilligen Bewohner hin als
auf
Figuren der Dominanz. Man hat sich eingerichtet, soll heißen,
man
hat eine – diffuse – Vorstellung davon, wie sich die
Ankündigungen
der Politik ›am Ende‹ auf die eigenen
Lebensverhältnisse auswirken, Gewinnmitnahmen inclusive. Im
Zweifelsfall gilt: Man beschließt, was man hintertreibt. Das
Schicksal der integrierten Gesamtschule, eines klassischen Projekts der
Reformära, böte in diesem Zusammenhang vermutlich ein
lohnendes Untersuchungsobjekt, ein anderes ergiebiges Feld bestimmte
Streuwirkungen einer immer defizitär gedachten Umweltpolitik.
13.
Falsch
wäre es, den herrschenden Unglauben ausschließlich
auf die
Politik und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen zu beziehen. Einen
großen Teil lenken die Medien auf sich, die am komplexen
Funktionszusammenhang der Reformgesellschaft so großen Anteil
haben. Gemäß ihrer doppelten Rolle als Filter und
Objekte
der Wahrnehmung sind sie von Haus aus Institutionen des Glaubens. In
ihnen gelangt zur Erscheinung, was man cum grano salis
das Selbstbild der Gesellschaft nennen könnte. Die
immerwährende mediale Epiphanie der Gesellschaft erzeugt jene
oft
beschriebenen Virtualisierungseffekte, denen gemäß
das, was
im Medium geschieht oder sichtbar wird, den Status einer
höheren
Wirklichkeit zugesprochen erhält und für wirklicher
›angesehen‹ wird als die eigene gemeine
Lebensrealität. Selbstverständlich ist dieser
beherrschende
Glaube nicht dicht, sondern folgt der Dialektik des Glaubens,
vermutlich sogar in diversen christlichen Spielarten. Seltsamerweise
erwecken allerlei neuere Versuche, die neomarxistische Kritik an der
Kultur- resp. Bewusstseinsindustrie mit Hilfe von
Versatzstücken
aus gängigen Theorien des Virtuellen zu erneuern, den
Eindruck,
mehr Teilnehmer dieses Spiels zu sein als schlüssige Theorien
zu
liefern. Stumpf bleibt auch die universalisierte Fetischismus-Kritik,
die Hartmut Böhme als vorgeblich ›andere Theorie
der
Moderne‹ ausgeschrieben hat – schon deshalb, weil auch sie
entschlossen ein Phänomen beim jeweils Anderen in der
Gesellschaft
diagnostiziert, das sie selbstverständlich durchschaut. An
diesem
Durchschauen dürften Zweifel angebracht sein, allein deshalb,
weil
es die intellektuelle Haupttätigkeit in der entwickelten
Reformgesellschaft darstellt. Man könnte auch sagen, die
Reformgesellschaft existiert, weil sie ihre Realität jederzeit
als
produzierte, aber in diesem Produziertsein die verändernde
Potenz
jeden Einzelnen ebenso herausfordernde wie absolut
übersteigende
vor Augen hat. Was sich auf der anderen Seite der Scheibe abspielt, ist
das Spiel der vermittelten Wirklichkeit mit ihren Akteuren, von denen,
wenn die Lampen ausgehen, der einfache fernsehende Mensch
übrig
bleibt, wie prominent er auch sein mag. Reform ist hier die Formel
für einen von Moderatoren gefällig konturierten
Einsatz, der
zuverlässig ins Leere geht.
14.
Der
Unglaube,
gegen den herrschenden gesellschaftlichen Glauben gesetzt, steht als
Motor hinter Praktiken, mit deren Hilfe die Bevölkerung die
individuellen Lebensaufgaben unter dem Reformparadigma meistert.
Näher betrachtet, handelt es sich um eine komplexe
Größe, der man mit rollensoziologischen oder
motivationspsychologischen Konstruktionen allein nicht sonderlich
gerecht wird. Evident ist der kulturwissenschaftlich-anthropologische bzw. religionswissenschaftliche
Zusammenhang. Die Entfaltung dieser Evidenz führt allerdings
in
Zonen der Nachdenklichkeit, die der gesellschaftliche Diskurs eher
ausnahmsweise berührt. Für die Reformgesellschaft
gilt wie
für jede Gesellschaft, dass sie nicht aus sich selbst heraus
verständlich gemacht werden kann. Was
soll das
heißen? Fasst man, einer gängigen Praxis
gemäß,
die Definition von Gesellschaft so weit, dass Kommunikation und
Gesellschaft ineins fallen, dann bringt man sich um die Pointe, die
darin besteht, dass das eine wie das andere Interpretationen sind, die
immer auch anders ausfallen können, und sei es nur, weil die
Realitäten, die sie bezeichnen, bei aller Stabilität
ihren
flüchtigen Charakter bewahren, der jeder Definition
über kurz
oder lang ein sanftes Ende beschert. Die wundersame theoretische
Verwandlung von Gesellschaft in Kommunikation
überhaupt – eine Tour de force
für die historische Forschung – begleitet in praxi
eine Tendenz, die ihr Ende in sich trägt. Zeigen
lässt sich,
dass die Reformgesellschaft in dem Maß, in dem sie
beansprucht,
Gesellschaft überhaupt zu repräsentieren, d.h. jede
andere
Form von Gesellschaft als defizitär konzipiert, aufhört, Gesellschaft
zu sein.
Es kann nicht verborgen bleiben, dass der Begriff der
Reformgesellschaft sich an dieser Stelle mit Bedeutungen
auflädt,
die im Schatten der Reformdebatten ein gewöhnlich unbeachtetes
Dasein fristen.
15.
Die
intellektuelle Basis der
Reformgesellschaft ist die Moderne, soll heißen, die wie auch
immer instrumentierte Vorstellung von einem Riss oder Schnitt, der die
Menschheit in einen vormodernen und einen modernen Teil trennt, eine
Teilung, die sowohl diachron als auch – Begriffe wie
›Entwicklungs-‹ oder
›Schwellenländer‹
deuten es an – synchron gedeutet werden kann. Selbst hierzulande ist es
nicht verborgen geblieben, dass diese Vorstellung seit Jahrzehnten
seitens verschiedener Disziplinen heftiger Kritik unterliegt. Wir sind nie modern gewesen
lautete der Titel eines klugen Buches, in dem das Konzept
›Moderne‹ mit plausiblen Argumenten als System
von
Täuschungen resp. Selbsttäuschungen einer
europäisch-
westlichen Elite beschrieben wird. Solche Überlegungen
mögen
zeitweise als politisch missliebig gelten, ohne dass sich dadurch an
ihrer sachlichen Brisanz etwas ändert. Moderne ist, wie Bruno
Latour und andere schlüssig ausgeführt haben,
zunächst
(und vor allem) ein Superioritätskonzept, das auf Reinigungspraktiken
beruht: Natur und Gesellschaft gelten darin, anders als bei den
›Vormodernen‹, als getrennte Instanzen. Ihre
Entmischung
ist – wenn man so will – die
moderne Tätigkeit, ihr Instrument die Kritik oder,
schärfer,
die Denunziation. Die paradoxe Verfasstheit ökologischer
Sachverhalte, etwa der globalen Erwärmung, zugleich Menschenwerk (und
damit veränderbar) zu sein und natürlichen
(vermutlich unbeeinflussbaren) Zyklen zu folgen, fasst wie in einem
Brennglas die Paradoxien der Natur und der Gesellschaft zusammen, die
an den Begriffen des Experiments, des Beobachters, des ausgeschlossenen
(Latour schreibt ›gesperrten‹) Gottes etc.
oftmals
demonstriert worden sind. Aufschlussreich ist ein kurrenter Ausdruck
wie ›die Bedrohung der natürlichen
Lebensgrundlagen‹, weil die Bedrohung dabei sowohl von der
Gesellschaft ausgeht wie von der Natur selbst, genauer: vom nur
teilweise zu klärenden Zusammenspiel beider, das der Idee
gesellschaftlicher Autonomie eklatant widerspricht. Angesichts der
auffälligen Zunahme solcher
›monströser‹
Hybridkonstruktionen besteht Latour auf einer ›symmetrischen
Anthropologie‹, die neben den sichtbaren Reinigungspraktiken
die
im Normbetrieb abgedunkelten Vermittlungspraktiken in den Blick zu
nehmen rät, ohne die jene anderen nicht leb- oder gestaltbar
wären. Was immer man dem ritualnahen Begriffspaar
Reinigung/Vermittlung an theoretischer Durchdringung zutraut – das
Plädoyer dafür, die künstliche und nicht zu
rechtfertigende Differenz, in der sich die Moderne situiert, aus dem
kulturellen Selbstverständnis zu eliminieren, wirkt deutlich
genug.
16.
Die Behauptung,
›wir‹ seien
nie modern gewesen, ist aus naheliegenden Gründen paradox. Sie
setzt aber die beiden Glieder der Aussage, das
›wir‹ wie
das ›modern sein‹, einer Reihe von Fragen aus,
die an die
Grundlagen des Reformparadigmas rühren. Wenn die
Reformgesellschaft als Gesellschaft schlechthin, sozusagen als die,
einmal gefunden, unumgängliche Form von Gesellschaft gilt,
dann
lässt sich die Zunahme der ›Monstren‹,
soll
heißen zwingend gegebener, aber nicht lösbarer
Reformaufgaben, deren Bewältigung von Legislaturperiode zu
Legislaturperiode weitergereicht und faktisch der theoretischen oder
praktischen Phantasie kommender Entscheidungsträger, am Ende
der
Ingenieure und Wirtschaftsfachleute überantwortet wird, nicht
einfach der Phantasielosigkeit oder dem Zynismus der Herrschenden in
Politik, Verwaltung, Ökonomie anlasten. Vielmehr kann sie als
Anzeige des paradoxen Sachverhalts gelten, dass es möglich
ist,
unter dem Reformparadigma zu leben, ohne es zu leben, soll
heißen, all jene Zugewinne an Autonomie, Sozialität,
Lebensqualität etc. zu realisieren, von denen die befragbaren
Glieder der Gesellschaft augenscheinlich überzeugt sind.
Man
muss nicht in die Behandlungszimmer der Therapeuten oder in die
Altenheime gehen oder die neuesten Armutsstatistiken auswerten –
Aktivitäten, die in den Bereich der Empörung fallen
und zu
den erprobten Schmiermitteln der Reform zählen -:
aufschlussreicher ist das Schicksal der Ökologiebewegung, die
zugleich als Kind und als Widerlager der Reformgesellschaft auftritt
und überall dort, wo sie Regierungsverantwortung
übernimmt,
das Regieren lernt, aber nicht, den eigenen Anspruch zu realisieren,
der die Möglichkeiten der Reform herausfordert und
überfordert. Die theoretische Versenkung in die
Lebensgrundlagen
des Planeten und der eigenen Gattung gebiert Ungeheuer, deren ebenso
zweifelhaftes wie unbezweifelbares Vorhandensein die Ratio der Reform
von einer Verlegenheit in die andere stürzt.
17.
Auch
die Ökologiebewegung verschiebt die Grenzen des Handelns in
den
Horizont gesellschaftlicher Wünschbarkeiten. Insofern sollte
man
Bereiche nicht außer Acht lassen, in denen das klassische
Reformziel der Emanzipation zu Konstellationen geführt hat, in
denen es als gleichermaßen realisiert und verfehlt besichtigt
werden kann. Anders als das Schicksal der Arbeiterklasse, deren
Emanzipation ins statistische Ghetto und in die gesellschaftliche
Marginalisierung resp. Auslagerung führte, ist das der
Frauenbewegung – reproduktionsbiologisch plausibel – anhaltend unklar.
Das zuverlässig Empörung auslösende Konzept
der
›unsichtbaren Grenze‹, an der die rechtliche und
soziale
Emanzipation der Frauen weniger scheitert als dauerhaft laboriert,
stattet den Imperativ »Du musst dein Leben
ändern« mit
einer tief ins Leben vieler Menschen eingreifenden
Überzeugungskraft aus. Entsprechend ist die
Emanzipationsbewegung
für die subjektive Wahrnehmung in erster Linie eine
Erweckungsbewegung mit Konsequenzen, wie sie bei derlei Bewegungen
generell zu beobachten sind: überstarke Akzentuierung des
Vorher-Nachher-Effekts, die Überzeugung, einen Zustand der
Gnade
oder der Erleuchtung erlangt zu haben, der es erlaubt, die Lebensdinge
in den richtigen Proportionen wahrzunehmen und anzugehen,
entsprechende, über gemeinsame Gesinnung vermittelte
Gruppenbildung und -instruktion, vertiefte Distanz zum allgemeinen,
mehr oder weniger drastisch als böse klassifizierten
gesellschaftlichen Umfeld, die sich in der Nahumgebung entsprechende
Sündenböcke greift, schließlich, als
unumgängliche, weit in die Mitte hineinreichende
Randerscheinung,
die ungehemmte Vorteilsnahme durch Individuen, die gelernt haben,
welche Vorzüge es für den Einzelnen haben kann,
historisch
oder fördertechnisch auf der richtigen Seite zu stehen.
Die
gesetzgeberische, rechtsprecherische, populärwissenschaftliche
und
verwaltungstechnische Gleichstellungsindustrie besitzt, zum bitteren
Gaudium des Publikums, eine angebotsorientierte Komponente, die dem
Antidiskriminierungsgrundsatz in der Anwendung gewisse Antinomien
entlockt und ihn für Schnäppchenjäger
attraktiv macht.
Die systematische Verdunkelungsarbeit – mit Latour zu reden – gilt dem
allen Beteiligten auf anderen Ebenen und in anderen Kontexten
wohlvertrauten Umstand, dass unter den Bedingungen rechtlich-formeller
Gleichheit der Geschlechter die Frauenfrage eine Kinderfrage ist. Eine
Gesellschaft, die auf die Entdeckung, keine hinreichenden Antworten auf
die Frage zu besitzen, woher die Kinder kommen, mit der Forderung nach
höherer Integration der Frauen in die Berufswelt reagiert,
darf –
angesichts ihres Anspruchs auf Universalität – schon als recht
eigen gestrickt gelten. Der religiöse Fundamentalismus als
Wunschfeind kommt da, nebenbei, wie gerufen. Wie auch immer: die
Erfindung der Frau aus der Retorte des frei flottierenden
Emanzipationsideals gehört zum Perpetuum mobile
der Reformgesellschaft und bietet ein drastisches Beispiel für
die
Verschiebung der individuell zu leistenden Vermittlungen in den Bereich
dessen, was kritische Publikumsorgane ebenso rituell wie
selbstreferenziell den ›ungelüfteten‹
oder
›dumpfen‹ Teil des gesellschaftlichen Lebens
nennen – und
der Gerichte. Man wird die massenhafte Produktion von Gerichtsurteilen,
die sich mit mittelbaren oder unmittelbaren Lüftungsfolgen
befassen, wohl oder übel unter die Hybridbildungen oder
Monstren
rechnen, mit denen ein nicht einlösbarer gesellschaftlicher
Anspruch das Leben unter dem Reformparadigma sprenkelt.
18.
Auch
Metaphern tendieren, wie Bewegungen, zur Radikalisierung: die der
dritten Phase zugehörige Vokabel vom
›Umbau‹ der
Gesellschaft resp. ihrer grundlegenden Institutionen – Zeitung lesenden
Sozialempfängern und Angehörigen der akademischen
Elite
gleichermaßen vertraut – signalisiert, dass die
funktionalistische Theorie der Gesellschaft bei den
Entscheidungsträgern angekommen ist, und zwar sub utraque specie
- in beiderlei Gestalt: als Interpretation einer historischen
Gesellschaftsformation – der eigenen – und von Gesellschaft
schlechthin. Dass letzteres immer mitgemeint wird, erhellt der Umstand,
dass Gesellschaftsdeutung prinzipiell als Selbstdeutung angelegt ist: Wir, die wir unter dem
Funktionsparadigma stehen, kommen nicht umhin
etc. Gesellschaft ist, auch wenn das nicht so formuliert wird,
verhängt und partizipiert insofern an den Antinomien der
Moderne
und des Emanzipationsgedankens. Die Idee, dass eine funktional
gedeutete Gesellschaft sub
specie
des Funktionsparadigmas zum Umbau freigegeben ist, löst bei
den
Betroffenen bekanntlich Widerstände aus. In der Regel
operieren
sie mit Identitätsgründen unterschiedlicher Herkunft,
aber
vergleichbarer Verbindlichkeit: auf dem Spiel stehen wechselweise die
›Kultur‹ der Gruppe, des Landes, der Nation, das
gewordene Individuum und die vorgängige Verbindlichkeit einmal
gefundener Lebens-, Denk- und Empfindungsweisen, kurz, das Arsenal
dessen, worin die Gegenseite leicht den irrationalen Bodensatz einer
über ihre Grundlagen nicht hinreichend verständigten
und
daher zu Privilegierungen neigenden bürgerlichen Gesellschaft
diagnostiziert. Doch auch das ist Polemik. Nicht die hergebrachte, zum
Bettvorleger für ängstliche Zeitgenossen degenerierte
bürgerliche, sondern die ›moderne‹
Zivilgesellschaft
bringt die eine Argumentation mit der anderen hervor.
Die
zivile, dem freien Spiel der Interessen verpflichtete Gesellschaft
produziert Gruppenegoismen, die sich mit Identitätsargumenten
tarnen – darin besteht, kurz gesagt, die funktionalistische
Kulturtheorie. Der Gegensatz der Positionen scheint
unauflösbar.
Zumindest tendiert er zur hemmungslosen Selbstreproduktion. Er ist
aber, mit Hegel gesprochen, bloßer Schein: einig findet man
beide
Parteien darin, dass sie einen Gegensatz von Kultur und Gesellschaft
konstruieren, der jeweils auf dem Boden der Kultur oder der
Gesellschaft gelöst werden soll. Dieser Gegensatz hat
Tradition.
Er tritt, wie wir wissen, überall da zutage, wo die
Modernisierungsfraktion als siegreiche Geschichtspartei und aggressive
Okkupationsmacht, als Pfahl im Fleische wahrgenommen wird. Die
Identitätstheorie als eine Art sekundärer Reflex der
Modernisierungstheorie ist selbst funktionalistisch: Die
Zerstörung indigener Kulturen verbindet sich mit der Androhung
äußerster Übel, weil in ihnen angeblich ein
Maximum der
Anpassung an ganz spezifische, in ihrer vollen Differenzierung
unaussprechlich bleibenden Überlebensbedingungen erreicht ist.
Der
Funktionalismus des Erreichen-wollens dort, des Erreicht-habens hier
zeigt sich auf der einen Seite vollkommen interessengesteuert, auf der
anderen Seite den Aporien der Mündigkeit verhaftet, die dem
überhöhten Selbstbild der Moderne entsprechen.
19.
Die
funktional durchgebildete Zivilgesellschaft untersteht dem
Reformparadigma, solange sie als eine im Entstehen begriffene
Gesellschaft betrachtet wird – durchsetzt von und behaftet
mit
strukturellen Resten älterer Gesellschaftsformationen, die es
sukzessive abzustreifen gilt. Die sachlich begrenzte und strikt dem
einzelnen Missstand geltende Reform gibt das Paradigma nicht her, weil
sie keine Aussagen über die Gesellschaft als ganze erlaubt.
Das
Unbehagen in der Gesellschaft produziert, ungleich dem von Freud
diagnostizierten ›Unbehagen in der Kultur‹, keine
Gesellschaftsmüdigkeit, sondern den begleitenden Verdacht, es
mit
einem Phantom zu tun zu haben, hinter dessen ehrfurchtgebietendem
Äußeren Strategien der Erbeutung und Erhaltung von
Macht,
des konkurrierenden Vollzugs im weitesten Sinn familiärer
Bindungen und der Produktion von etwas, das im gesellschaftlichen
Rahmen ›Sinn‹ genannt wird, aus einem etwas
anderen
Gesichtswinkel hingegen als ›Religion‹ und
›Kunst‹ erscheint: ambivalente Einheiten von Praxis und Poiesis,
die zwar als vollkommen ökonomisch vermittelt, aber
gleichzeitig –
wie der gesellschaftliche Ausdruck lautet – als
›feudal‹
betrachtet werden. Entsprechend produzieren die im Zentrum des
Reformparadigmas stehenden Versuche, den Staat oder die Familie – den
Familienverband – auf dem Boden der Gesellschaft ›neu zu
erfinden‹ oder wie die Ausdrücke lauten, den
Dauerverdacht,
Windmühlen zu zausen. In der hartnäckigen Persistenz
individuellen Leids und der ihm eingeschriebenen Triumphe auf hohem
oder niedrigerem Niveau wird so etwas wie das feudale Dreieck der
Gesellschaft sichtbar, das man besser als System fortbestehender
kultureller Abhängigkeiten beschreibt.
20.
Der
Begriff der Zivilgesellschaft (›societas
civilis‹) tradiert Erinnerungen an die differenten Status
der am Gesamtspiel Beteiligten, deren praktische Negation im Zentrum
der Reformgesellschaft steht. Das ist, mit Manfred Riedel gesprochen,
der die begriffsgeschichtlichen Zusammenhänge in den
Siebzigern
untersucht hat, ein in die ›aristotelische‹
Vormoderne
zurückweisender Gedanke. Die Reformgesellschaft als die
Zivilgesellschaft, die über den aufklärerischen
Gedanken der
Perfektibilität hinaus Kants Vorschlag einer Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht anhängt, in der die
Gesellschaft als
letzter welthistorischer Akteur fungiert, hebt mit der Mehrzahl der
Akteure auch den Statusgedanken auf. Deutlich wird das in Bezug auf die
Funktion und das Selbstverständnis der Parteien im Staat,
sollte
heißen: in der Gesellschaft, aber z. B. auch im Hinblick auf
die
Definition der Familie und das Instrumentarium, mit dessen Hilfe sie
zielkonform interpretiert und manipuliert wird. Diese Sisyphosarbeit
kann, je nach Blickwinkel, als Befreiungs- oder Leidmaschine
wahrgenommen werden. Entscheidend ist, ob der Stolz auf das Erreichte –
und noch zu Erreichende – oder die Demütigung, die
Enttäuschung, das Spiel der Täuschungen und
Selbsttäuschungen und die unvermeidlichen Katastrophen obenan
stehen. Eine Schlüsselbedeutung fällt dabei der
festen
Ordnung der Reformschritte zu. Sie muss eine historisch sinnvolle
Abfolge ergeben, um das Integrations- und Beteiligungsszenario der
Gesellschaft zu legitimieren. Reformparadigma und Posthistoire
schließen einander aus. Aber genausogut bedingen sie
einander,
insofern beide das Märchen vom letzten
universalgeschichtlichen
Gedanken transportieren.
21.
Gesellschaft
entsteht und
realisiert sich in der Bewegung ihrer Glieder. Die Reformgesellschaft
versteht sich – jedenfalls in denjenigen, die an ihrem Zustandekommen
beteiligt sind und sich als Beteiligte verstehen – als Gesellschaft in Bewegung,
als eine, die gewillt ist, die Dialektik der Freiheit in der Bewegung
in Aktion zu setzen. Sie produziert dabei eine Reihe von Paradoxien.
Deren erste lautet, dass sie, um zu existieren, Garantien
benötigt. Wenn Gesellschaft auf Voraussetzungen beruht, die
sie
nicht selbst produziert, aber nur als Selbstproduzierte annehmen kann,
dann sind Zahl und Art der Reformschritte unter Erfolgsgesichtspunkten
notwendig durch diese Grenze limitiert. Gleichzeitig sind ihnen – nach
Zahl und Art – bei steigender Misserfolgsquote keine
Grenzen gesetzt, so dass irgendwann auch die Zurücknahme von
Reformen den Stempel der Reform tragen kann – vorausgesetzt, es
gelingt, die asymptotische Annäherung an einen Zustand, der
nicht
weit von der verrufenen ›totalen
Vergesellschaftung‹
entfernt liegen kann, sichtbar zu machen. Dem Design der
Reformgesellschaft, die ›in den Köpfen‹
›etwas bewegen‹ will, entspricht diese
Sichtbarmachung.
Der programmierte Misserfolg in der Sache lässt sie als das
Wesentliche der Bewegung, als Illusionstheater hervortreten, dessen
Teilnehmer zugleich Akteure und Zuschauer sind, gläubig
Ungläubige auf beiden Seiten. Scheinbare Epiphänomene
wie die
Mode oder die eigenen Gesetzmäßigkeiten
unterliegende
massenmediale Präsenz werden dadurch zu Instanzen der
Vermittlung.
Sie füllen den zwischen Illusion und korrespondierendem
Misslingen
gespannten gesellschaftlichen Raum mit mehr oder minder
flüchtigen
Artikulationen, sprich: Lebbarkeiten an.
22.
Theoriekonstrukte,
die darauf zielen, die virtuelle Realität der Medien als
›die‹ Realität der postindustriellen
etc.
Gesellschaft zu analysieren oder, allgemeiner, Performanz- und
Realitätskonzept miteinander zu verschmelzen, verbergen, um es
ein
wenig boshaft auszudrücken, einen Motivationsstau. Sie
beschreiben
die gesellschaftliche Arbeit der Unsichtbarmachung jener Garantien, von
deren Erhalt ihr Fortbestand abhängt, als garantiere just
diese
Arbeit ihren Bestand. Das ist, wie gesehen, nicht ganz falsch, aber
auch nicht richtig. Es ist der Versuch, einer vorübergehenden
-
von einer sehr hohen Warte aus gesehen: flüchtigen, an
bestimmte
Aufbruchserfahrungen gebundenen – Motivationslage einen fixen
Weltzustand zu unterlegen, von dem manche hoffen oder
fürchten,
dass er gnädig – oder ungnädig – vorbeigehen werde.
So
reproduzieren sich Irrationalismen. Dagegen könnte eine neue
Aufmerksamkeit gegenüber der Mode – der immer
aufschlussreichen Kleidermode wie dem vollen Spektrum wechselnder
Versatzstücke, Konsumgesten, Attitüden,
Sprachregelungen,
dominanten Theorien, Aufbruchs- und Abgrundphantasien, innerhalb dessen
sich regelt, was gerade geht und was nicht geht – Bewegungsarten
entdecken, die sich weniger dem ›Alles geht‹
verdanken
als dem unerträglichen Selbstwiderspruch der Gesellschaft, das
Ende von etwas zu sein und weiter existierend sich entwerfen zu
müssen.
Diese Pointe sollte sich niemand
entgehen lassen:
die Reformgesellschaft, die dem Individuum mit dem Pathos der Existenz
auf und davon gegangen ist, lebt von der Gutgläubigkeit des
Individuums, dem sie vorhält, was sie mit ihm
vorhätte, wenn
es denn auf es ankäme, was nicht der Fall ist, da das, was es
sein
könnte, in täglicher Abstimmung auf sie
übertragen wird.
Sie hat keine Kultur, sie muss sie ablehnen, weil sie das, was in ihr
als Bildungsgeschichte und personaler Rückhalt angelegt ist, umzusetzen,
gesellschaftliche Wirklichkeit werden zu lassen gewillt ist, und
fällt ihr unablässig anheim, weil sie ihrem Personal
keine
andere Wahl lässt als die der Pointe, die sich, wie bekannt,
erst
dann ganz erschließt, wenn es gegangen ist. Das
könnte auf
einen Übergang deuten: nahe den Katarakten wächst die
Unruhe,
während die Bereitschaft – oder Fähigkeit – zur
Empörung
abnimmt.