1.
Eine
manieristische Kunst als eine europäische Tradition des
Irregulären und als ein »Kult des
Disharmonischen« (Hocke, 302) beginnt beim einzelnen
Zeichen, bei den Buchstaben als Bildern. Die Kunst problematisiert das
Verhältnis von sprachlichem Bild und künstlerischem
Bild in der Ambivalenz des einzelnen Zeichens. Dem zu Grunde liegt der
Impuls einer Negation, der Negation einer Absolutsetzung
äußerer Realität und der Logik der Sprache.
Nietzsche lässt diese Negation in der polaren
Gegenüberstellung von apollinischem und dionysischem
Weltwahrnehmen aufgehen, in der Umwertung aller (sprachlichen) Werte
und in der Wahrheit als einem »beweglichen Heer von
Metaphern« (KSA I, 880), die eine letzte Bindung an die
petit raison, wie Paul Mersmann sie nennt, nicht
mehr zulässt.
An dieser Stelle setzt der Surrealismus mit einem Bildprogramm an, das
sich an dieser Negation orientiert und die Tradition des
Irregulären in einer Vereinigung disparater Wort- und
Bildelemente fortsetzt: die von André Breton als
beauté convulsive bezeichnete Begegnung
von nach rationalen
Maßstäben unvereinbaren Elementen, um damit das
poetisch Neue und das Überraschende schaffen zu
können, das Element des
stupore der
Manieristen. Der
Surrealismus sucht eine spezifische Dialogizität des
Disparaten, er sucht die Kommunikation an sich getrennter
Sphären in Wort und (Wort-)Bild umzusetzen und eine
Interferenz des Getrennten zu ermöglichen, ohne dabei die
Gegensätze in einer vermeintlichen Synthese zu absorbieren. In
Bezug auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Schaffung des
poetisch Neuen aus dem rational Irregulären kann Novalis lange
vor Breton feststellen: »Es können Augenblicke
kommen, wo Abc-Bücher und Kompendia uns poetisch
erscheinen.« (Fragmente, 605) Paul Mersmann sucht in
diesem Sinne die Kontinuität des Surrealismus in seiner
manieristischen Tradition an der Schwelle vom 20. zum 21.
Jahrhundert.
2.
Die
A.B.C.-Bücher, die seit den späten
achtziger Jahren
entstehen, sind entlang dieser Argumentationslinie zu lesen als eine
unmittelbare gegenseitige Bezugnahme irregulärer sprachlicher
und künstlerischer Bildelemente.
Das
manieristisch irreguläre Moment bestimmt sich dabei
zunächst am rational Logischen. Die
A.B.C.-Bücher
sind alphabetisch angeordnet. In dieser Anordnung konstituiert jedes
Einzelne eine in sich geschlossene Einheit. Diese spezifische Einheit
entlässt die
A.B.C.-Bücher
überhaupt in den
Bereich der Bücher, da sie im Original als lose
Einzelblätter entstehen und nicht eingebunden werden. Die Form
der losen Einzelblätter bedingt hierbei nicht nur eine
spezifische Buchgestaltung. Die Betrachtung setzt eine simultane
Wahrnehmung als Buch und als Kunstobjekt voraus. Dabei entziehen sich
Mersmanns
A.B.C.-Bücher der
gängigen Definition eines
Künstlerbuches, es sei denn, man folgt den sehr weit gefassten
(Künstler-)Buchbegriffen von Dieter Roth –
»bücher
soll darunter bzw dabei das heissen was gruppenweise bzw als
gesellschaft seinesgleichen aufgeschichtet mit seinesgleichen verklebt
oder vernäht herumsteht oder umhersteht bzw eingeklemmt
dasteht oder herumliegt (nicht eingeklemmt)«
oder
von Lucy Lippard –
»It's an
artist's book if an artist made it, or if an artist says
it is.«
Die
A.B.C.-Bücher
folgen
diesen Definitionen und dennoch bleibt die Zuordnung eine
vordergründige. Mersmann gibt den Blättern eine
äußere Ordnung, die er just im Moment der
Betrachtung wieder negiert. Der Inhalt der Blätter orientiert
sich nicht an den ihm vorgeordneten Buchstaben. Das einzelne Zeichen
negiert seine inhärente Logik, indem es zwar ein Blatt in
einem
A.B.C.-Buch bezeichnet, dennoch aber in
keinem Zusammenhang mit
seinem Inhalt steht. Die Ordnung bleibt eine scheinbare, sie bedingt
die Zuordnung in den weit gefassten Bereich des Buches, gibt dem Werk
jedoch keine in sich geschlossene Logik. Vielmehr spielt Paul Mersmann
mit der vorgeblichen Geschlossenheit des Systems und verschafft den
A.B.C.-Büchern eine spezifische Ambivalenz,
indem sie
inhaltlich ihrer äußeren Systematik nicht folgen.
Die Blätter sind in ihrer Reihenfolge austauschbar, sie
müssen nicht in der vorgegebenen alphabetischen Folge
betrachtet und gelesen werden. Jedes steht innerhalb des Ganzen
für sich und verlangt diese spezifische Form der Wahrnehmung
von seinem Betrachter.
3.
Wesentlicher
als der einzelne Buchstabe, der die scheinbare Ordnung des Buchsystems
bedingt, ist die Korrelation von Bild- und Textmaterial, die in diesem
Sinne einer frühen Feststellung von Mallarmé folgt:
»Tout, au monde, existe pour aboutir à un
livre.« (Œuvres Complètes, 304).
Diese Forderung an die Bücher und an ihre Wahrnehmung
bezeichnet den Ausgangspunkt der
A.B.C.-Bücher
von Paul
Mersmann. Entlang der Feststellung André Bretons,
»que tout fait image et que le moindre objet, auquel
n´est pas assigné un rôle symbolique
particulier, est susceptible de figurer n'importe
quoi« (Les vases communicants, 128), werden Bild und
Bildlichkeit in ihrer manieristisch-surrealistischen Form einer
sprachlichen und gleichzeitig bildkünstlerischen Perspektive
für Mersmann zum initiierenden Moment. Das Zitat Bretons
spielt auf den von den Surrealisten sogenannten
objektiven
Zufall an,
der das Zusammenspiel von an sich unvereinbaren Elementen beschreibt
– Lautréamonts Begegnung einer
Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch als
Idee der »kühnen Metapher«. Paul Mersmann
setzt die Idee des objektiven Zufalls in Sprache und Bild und in deren
Gegenseitigkeit um. Die Einzelblätter der
A.B.C.-Bücher sind als farbige Aquarelle
mit teils
überlagernden, teils eingefügten Textpassagen
gearbeitet. Text und Bild stehen dabei nicht nebeneinander, sondern
ineinander und damit in einem direkten äußeren wie
inneren Bezug, womit ebenso betont ist, dass es sich nicht um
Illustrationen handeln kann. In der Vereinigung von Text und Bild in
einem gemeinsamen Bildraum liegt die polare Dialogizität des
Disparaten; als an sich getrennte Medien müssen sie vom
Betrachter simultan wahrgenommen und gelesen werden: »Wer
Mersmann sieht, bekommt es mit Texten, wer ihn liest, mit Bildern zu
tun.« (Schödlbauer).
Bild und
Text variieren dabei in ihrer jeweiligen Ausformung und Ausarbeitung.
Der Bildraum wird vielfach gebrochen und überlagert
verschiedene Elemente und Stile der Kunst- und Literaturgeschichte zu
einem heterogenen Ganzen. Wer die Kunst beherrscht, kann ihre Regeln
punktgenau brechen. Hierin liegt Mersmanns Vermögen.
Perspektive und Proportionen lösen sich in surreale
Metamorphosen der menschlichen und dinglichen Körper auf und
bestimmen damit gleichzeitig das Formenrepertoire. Die Motive
entwickeln sich von landschaftsnahen Darstellungen, menschlichen und
tierischen Körperformen bis zu Personifikationen. In der
figürlichen Ausformung ist der Bezug zur späten
neobarocken Schaffensperiode von Giorgio de Chirico
unübersehbar. Paul Mersmann ist Bildhauer, Maler und
Schriftsteller, und wie der Barock die Idee einer Grenzverschiebung und
Verflechtung von Baukunst, Malerei und Bildhauerei erstrebt, dehnt
Mersmann diese Grenzverschiebung auf die Sprache aus. Ebenso wie die
Bildmotive unterliegt die Sprache einer manieristischen Metamorphose
des Irregulären, wobei die Motive der Weltliteratur, ihre
Protagonisten und Themen in beeindruckender Präsenz vertreten
sind. Auch hier gilt: Paul Mersmann kennt die Literatur. Er ist ihr
Leser und ihr Schriftsteller, und er kann aus diesem Grund ihre Regeln
und ihre Mechanismen in der Parodie, in der Groteske und im verzerrten
Bildraum zu seinen Gunsten auflösen.
Hieran
bemisst sich die enge mediale Verknüpfung von Wort und Bild in
den
A.B.C.-Büchern. Der gegenseitige Bezug
ist dabei ein
übergeordneter, er liegt in der detailreichen Kenntnis des
Künstlers und in seiner Fähigkeit, diese Kenntnis im
Bildraum als Ganzes und in einer Auflösung der detailreichen
Einzelmotive umzusetzen. »Tout, au monde, existe pour aboutir
à un livre« – entsprechend weit ist die
Variation der Themen. Benannt sind sie in den Titeln der
A.B.C.-Bücher: Wasserlösliche Zwischenstufen
der
Baukörper, Wasserlösliche Zwischenstufen der
Heilkunst, Das tautognomische A.B.C., Das ikonographische A.B.C., La
doux Marmelade, Sechsundzwanzig Blätter zur Förderung
der Legendenbildung um Gutenberg.4.
Die
Wasserlöslichen Zwischenstufen der Baukörper
»sollen in der Reihenfolge des Alphabets Kenner und Freunde
des Bauwesens mit einigen bemerkenswerten Forschungsergebnissen bekannt
machen, die zum größten Teil mehrdeutigen Vorstufen
der Realität angehören«, denn,
»wenn wissenschaftliche und technische Erkenntnisse in Folge
einer allzu raschen Entwicklung so oft korrigiert werden, daß
sie zur Hälfte schon nicht mehr wahr sind, wenn die Fachwelt
sie endlich begriffen hat, wird die freie Phantasie, die auf solche
Zustände nur wartet, gereizt werden, ihre eigenen Erfindungen
in die Lücken zu streuen.« (Wasserlösliche
Zwischenstufen der Baukörper, Vorwort). Paul Mersmann
konfrontiert die Idee der absolut gesetzten und vermeintlich exakten
Wissenschaft der Architektur mit einem Spiel ihrer Elemente. Die Frage
nach dem Messbaren, nach Perspektive und Proportion, die sich in
Formeln ausdrückt und gleichzeitig immer in einer spezifischen
Relation zur äußeren Realität steht, ist
Gegenstand dieses
A.B.C.-Buches.
Die Messbarkeit
wird dabei in Bild und
Text aufgelöst und eröffnet eine neue Dimension von
wissenschaftlicher Wirklichkeit. Durch Bild- und Sprachmetaphorik,
durch Neologismen und einen aufgesplitteten Bildraum entstehen neue
Möglichkeiten der Wahrnehmung. In surrealer Verzerrung
entstehen so landschaftliche Darstellungen, geometrische
Körper und menschliche Figuren in unterschiedlichem Bezug
zueinander. Paul Mersmann will an die Grenze äußerer
Realität (und darüber hinaus) führen, er
will Nietzsches Feststellung »Die Wahrheiten sind Illusionen,
von denen man vergessen hat, dass sie welche sind« (KSA
I, 880f.) in Sprache und Kunst bildhaft machen und aufzeigen, dass
messbare Wahrheiten immer nur ein begrenzter Teil unserer Wahrnehmung
sein dürfen: »›Die Bemühung, durch eine
ornamentale Wandsprache indirekt auf das Mauerwerk einzuwirken, gelingt
sehr selten. Wenn aber einmal der Lockerungsprozeß
eingetreten ist, nützt natürlich ein
verspäteter Bildersturm nichts.‹
Diese Bemerkung
Bretons zu den Bildern, die Max Ernst in der Wohnung Eluard´s
auf die Wände gemalt hatte, spiegelt eine Macht der Unlogik
wider […].« (Wasserlösliche
Zwischenstufen der Baukörper, »O«).
Die
Wasserlöslichen Zwischenstufen der Heilkunst
beginnen mit dem
»Vorwort eines Sophisten« – der
Künstler als Sophist im Dialog mit der exakten, der
medizinischen Wissenschaft: »Wenn man mit aller
Realität nichts mehr ausrichten kann, stände man doch
mit dem Unsinn der Kunst in Händen eigentlich ganz passabel in
der leeren Gegend herum.« (Wasserlösliche
Zwischenstufen der Heilkunst, Vorwort) Die Eindimensionalität
schulmedizinischer Wissenschaft und die Mehrdimensionalität
des menschlichen Seins stehen sich in diesen Bildräumen polar
gegenüber: »Leben als nichtmedizinischer
Verwandlungsprozeß im Gegensatz zum Stoffwechsel.«
(Wasserlösliche Zwischenstufen der Heilkunst,
»L«) Dies ist das Thema des Buches, figuriert in
Form polyvalenter surrealer Körpermetamorphosen. Auf diese
Weise entsteht qua menschlichem Körper das, was Paul Mersmann
die »zweite Natur« nennt, ein freier Raum des
Irregulären im Text und im Bild. Der Text kommentiert dabei
nicht das Bild, sondern das Thema selbst in einer eigenen Form. Die
Sprache parodiert das akademische Sprachverhalten von Sach- und
Handbüchern, um analog zu den
Wasserlöslichen
Zwischenstufen der Baukörper eigene
(schein)wissenschaftliche
Neologismen zu bilden und in einer gezielt beschreibenden
metaphorischen Form den Sprachraum zu verzerren. Die Sprache wird
hierbei selbst zum Thema der Heilkunst: »Gehen wir davon aus,
daß es nach den Möglichkeiten der Sprache und des
Denkens keineswegs schwerfällt sich vorzustellen,
daß es ein Wachstum geben könnte, das nicht nach
unseren bisherigen Erfahrungen aus seiner schweigsam-unbekannten Vor-
und Frühentwicklung auftaucht, um an uns und der Gegenwart
vorbei in die Zukunft zu wachsen, sondern aus der Zukunft in die
Vergangenheit seiner Auflösung entgegenstrebt. […].
Wobei neusprachliche Ausdrucksansätze im Rahmen einer Umkehr
des Zeitbegriffs nicht nur grammatikalisch auf Schwierigkeiten
stoßen, sondern erwogen werden muß, ob
überhaupt mit einer von links nach rechts geübten
Schreibweise Denkvorgänge dieses Zuschnitts bewältigt
werden können.« (Wasserlösliche
Zwischenstufen der Heilkunst, »Z«)
Die Umkehrung
des vermeintlich Offensichtlichen und die Verzerrung rationaler,
äußerer Realitäten im sprachlichen und im
künstlerischen Bild ist das Thema von Paul Mersmann.
»Die
augenblickliche Entwicklung der Tautognomie wirft ihre Schatten auf das
gesamte Verhalten der raumlosen Kunst […].« (Das
tautognomische A.B.C., »M«)
Das
tautognomische
A.B.C. wählt kein einheitliches Thema für
die
einzelnen Blätter. Innerhalb der beiden Medien Bild und Text
spielt die Kunst mit den Elementen des menschlichen Lebens, der
Geschichte und der Natur. Die Umkehrung des rational Logischen ist auch
hier die Summe der Einzelblätter: »Die auf den Kopf
gestellte Natur«, »Die Opferung einer
Hausfrau« durch »Jimmi Birth« und
»Der Triumph des Salzes über die Sahara«.
Wesentlich ist nicht die Themenfindung im Einzelnen, sondern die
Umsetzung der jeweiligen Text-Bild-Komponenten im heterogenen Bildraum:
»Der Tautologe und Freudschüler Erwin Weiger kam
bereits 1923 zu dem Schluß: ›Tautognomie ist streng
genommen keine Krankheit sondern die still auf sich selber bezogene
Maskerade des sich in der eigenen Libido zurechtfindenden
Egos.‹
Der Forscher und Freund Weigers Ludwig Tischvogel
[…] begann bereits um 1902 die seltenen Objekte
tautognomischen Schaffens zu sammeln. […]. Als er seine
Sammlung 1912 unterstützt durch den Wiener Bankier Nathan
Geldstuhl in Schloß Blindenstatt in Kärnten der
erstaunten Öffentlichkeit vorwies war Giorgio de Chirico einer
der ersten unter den Besuchern.« (Das tautognomische A.B.C,
»M«) Text und Bild wollen auch hier keine
äußeren Wahrheiten oder direkten Bezüge
erschließen. Der Text ebenso wie das Bild spielt mit den
Möglichkeiten von Wirklichkeit und Irrationalität,
wobei immer wieder Überblendungen in die Literatur- und
Kunstgeschichte und in die Philosophie erfolgen. Dies geschieht niemals
in eindimensionaler Zitatform, sondern immer in einem Raum des
Möglichen, in der Interferenz von realem Bezug und
irregulärer Umsetzung im Bildlichen.
Auch
Das
ikonographische A.B.C. spielt mit den kulturellen Stereotypen
der Bildlichkeit. Konventionelle Darstellungen lösen sich auf
in neue Formen des Irregulären. Es geht um das von Hocke
benannte Spiel mit dem einzelnen Zeichen und seiner Ikonizität
und damit um die Medialität des Bildes in der Sprache und im
künstlerischen Bild: »Die Weihe des Buchstaben E als
Wortwaffe« und »Das D als chaotische
Versuchung« (Das ikonographische A.B.C.,
»E«, »D«).
Wie
das
tautognomische A.B.C. wählt auch das
ikonographische
A.B.C. kein einheitliches Thema als Grundlage. Die Motive
variieren die
Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte, wobei surreal
übersteigerte Landschaften und Landschaftsbeschreibungen das
Motivrepertoire dominieren: »Nur wenige deutsche Dichter
haben den Tanz der Pflanzen gekannt und darüber geschrieben.
Möglicherweise ist er überhaupt ein Phänomen
ohne poetische Erfindung (wenn man vielleicht von Arno Schmidt
absieht).« (Das ikonographische A.B.C.,
»P«) Die surreale Poetik Mersmanns liegt dabei in
der souverän beherrschten Klaviatur der literarischen
Tradition seiner Bildbeschreibungen. Der Text kommentiert nicht das
vorgelagerte Bild. Es entsteht ein eigenständiges Sprachbild,
das dennoch in einem inneren Bezug zum künstlerischen Bild
steht, wobei an dieser Stelle mit Breton offen bleibt, »si
l´on a jamais
«évoqué» les images. Si
l´on s´en tient, comme je le fais, à la
définition de Reverdy, il ne semble pas possible de
rapprocher volontairement ce qu´il appelle «deux
réalités distantes».«
(Manifestes du surréalisme, 48) Paul Mersmann
nähert die verschiedenen Dimensionen von Wirklichkeit nicht
an, er überlagert sie. Die manieristische Kunst der
Kombinatorik erschließt hier die polyvalente Struktur der
Wirklichkeit und leitet neue Sinnebenen ab. Eine detailbeladene
Bildersprache im Text und im Bild verzerrt die Grenzen zwischen der
Wahrnehmung der Einzeldarstellung und dem heterogenen Ganzen des
Bildraumes.
Das 2004 entstandene
La doux
Marmelade nimmt das Spiel mit der Polarität des
Disparaten in einer anderen Dimension auf, das einzelne Zeichen in
seiner Ambivalenz zwischen Rationalität und
Irregularität spielt hier mit der Interferenz des
Göttlichen und des Irdischen, des Lebens und des Todes:
»Wer anders als Gott hat auf G einen Anspruch? Mag jener
Demiurg den Nietzsche gemeint auch gestorben sein in Jerusalem. Gott
bleibt ein großer Begriff.« (La doux Marmelade,
»G«).
Nietzsches
Gott
ist tot
ist nur eine Seite der Medaille. Paul Mersmann konfrontiert sie mit
ihrer Kehrseite, der Seite des Lebens, in den Grenzverschiebungen
zwischen Leben und Tod und zwischen dem Anspruch auf Wahrheit und ihren
Möglichkeiten des Irregulären: »Das
alt-grausige
Gott ist tot lautet in Mersmanns
Übersetzung
La
doux Marmelade, das
süß' Marmelad.« (U. Schödlbauer). Mersmann, der
»Pseudo-Nietzsche Paul von Lichtel«, zieht dabei
Nietzsches Konsequenz: die Kunst wird in dieser Konfrontation des
Disparaten zum entscheidenden Reflexionsmoment. Hierin liegt das Thema
und der Anspruch von
La doux Marmelade. Bild und
Text variieren dabei
phantastische Motive aus den Bereichen der Natur und der Mythologie:
»Indessen also der Mond die spirituelle
Größe der Eingebungen bestimmt, verbrennt die Sonne
nicht nur das Wasser sondern erfindet auch die ›trockenen
Teile‹ nämlich die Stoffe und führt den
Verstand zum wohlgeordneten Tod der Dinge. Das Wasser hingegen
gehört zur unbesiegbaren Materie der Träume die
über den Tod hinaus existieren. Übrigens geht die
Sonne auf Stelzen.« (La doux Marmelade,
»S«).
Die
Sechsundzwanzig
Blätter zur Förderung der Legendenbildung um Gutenberg
machen sich in Art und Ausformung als lose Einzelblätter mit
ineinander gelagertem Bild und Textmaterial selbst zum Thema. Das
mehrfach reproduzierbare Buchwerk, die
»Bücherschwemme«
(Gutenberg-Blätter, »B«), und das als
Handwerk erstellte singuläre Kunstwerk stehen sich hier in
einer Apostrophierung von Gutenbergs »B 42«, der
Gutenberg-Bibel, gegenüber: »Ganz leise sagt unser
Gutenberg ›Amen‹ wenn er des Morgens aufsteht
und ›Salve‹ wenn er den ersten Druck in die Hand
nimmt.
Das bedeutet, daß Öl ins Feuer zu gießen
keinesfalls seine Sache ist, denn zwischen beiden
Größen liegt eine schattige Langeweile von enormer
Gleichmäßigkeit. ›So geht es‹,
sagt Stephane Mallarmé dessen Prosa ich hier
nachahme, ›mit dem Handwerk des Igitur‹. Ich jedoch
füge, bezwungen von meinem eigenen Versmaß
feinfühlender Verblödung (ich bin 75)
hinzu: ›Gutes Handwerk zu jeder Zeit braucht Zwischenstufen
der
Langweiligkeit.‹ Amen.«
(Gutenberg-Blätter, »I«)
Kontrapunktisch
zu der »frommen Unsterblichkeitsmaschine« (Forster, 179), der Bibel-Druckpresse, steht hier die Frage nach der
Absolutsetzung von Wahrheit in der Form des Gedruckten: »In
der hier dargestellten ersten beweglichen Feldpresse nach Gutenberg
begegnet uns die erste Kriegslügenpresse Europas. Sie gilt als
unverwüstlich, steht heute im Pentagon und wird
ausschließlich für vertrauliche Mitteilungen an den
Präsidenten genutzt, wenn sie der alten wohlerprobten
Unwahrheit dienen.« (Gutenberg-Blätter,
»L«). Paul Mersmann überträgt die
Ambivalenz einer Wahrnehmung von Wirklichkeit und
Irregularität auf die Frage nach dem Wirklichkeitscharakter
des gedruckten Wortes. Die alphabetische Zuweisung ist dabei
austauschbar geworden, das einzelne Zeichen, der jeweils zugeordnete
Buchstabe, steht in keiner Beziehung mehr zu Text und Bild.
Der
Legende, wonach Gutenberg »eine Maschine erfunden [hat], mit
der man zum ersten Mal drucken konnte« und die
außerdem die »Schriftkultur revolutioniert und
damit die Neuzeit vom Mittelalter geschieden« hat
(Stein, 179), setzt Mersmann eine eigene Wahrnehmung entgegen,
welche die
Folgen einer reproduzierbaren Kunst in den Fokus der Betrachtung
rückt: »Gutenberg im Traum von Entsetzen
über die Auflagenhöhe seiner Bücher erfasst.
Das die Vernichtung eines einzelnen Buches aus der Serie der gedruckten
Bücher zum Zwecke der Vernichtung aller Bücher durch
ein einziges Symbol unmöglich wurde offenbarte Gutenberg die
materiellen Folgen seiner Auflagendrucke. Nie zuvor war das Original
einer Schrift auf diese Weise unantastbar gewesen und der Schrecken
Gutenbergs als er dies entdeckte war unbeschreiblich. Es war der erste
Schrecken modernen Ursprungs in der Literatur. Er schrieb den Gedanken
auf und um ihn an die alte Zerstörbarkeit zu erinnern
verbrannte er ihn.« (Gutenberg-Blätter,
»V«).
Literatur
BRETON,
ANDRÉ, Les vases communicants, Paris 1955.
BRETON,
ANDRÉ, Manifestes du surréalisme, Paris
1962.
FORSTER, E. M., zitiert nach: Stein, Peter,
Schriftkultur, Darmstadt 2006.
HOCKE, GUSTAV RENÉ,
Manierismus in der Literatur, Hamburg 1959.
HOCKE, GUSTAV
RENÉ, Die Welt als Labyrinth, Hamburg 1957.
LIPPARD,
LUCY, New Artist's books, in: Lyons, Joan (Hg.): Artist's Books. A
Critical Anthology and Sourcebook, Layton
(Utah) 1985.
MALLARMÉ, STEPHANE, Œuvres
complètes. Poésie-Prose, Paris 1945.
MERSMANN, PAUL, Wasserlösliche Zwischenstufen der Baukörper (Aquarelle und Kommentare), Wiesbaden 1988
MERSMANN, PAUL, Wasserlösliche Zwischenstufen der Heilkunst (Aquarelle und Kommentare), Wiesbaden 1989
NIETZSCHE,
FRIEDRICH, Über Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne, in: KSA I, München 1999.
NOVALIS,
Fragmente. Kunstfragmente. Poetik, Dresden 1929.
ROTH, DIETER,
Gesammelte Werke, Bd. 20. Bücher und Grafik.
STEIN,
PETER, Schriftkultur, Darmstadt 2006.
SCHÖDLBAUER,
ULRICH, Paul Mersmann, Europäer, 2007.
http://www.fernuni-hagen.de/EUROLIT/US/pub/ldf/pme.html