»Alle bekannten religiösen Überzeugungen«, schrieb Émile Durkheim vor mehr als einem Jahrhundert, »wie einfach oder komplex sie auch seien, haben den gleichen Zug: sie setzen eine Klassifizierung der realen oder idealen Dinge, die sich die Menschen vorstellen, in zwei Klassen, in zwei entgegengesetzte Gattungen voraus, die man im allgemeinen durch zwei unterschiedliche Ausdrücke bezeichnet hat, nämlich durch profan und heilig.« Durkheim hielt diese Unterscheidung für elementar genug, um sich von ihr den Schlüssel zur religiösen Welt geben zu lassen. Sollten sich gute soziale Gründe für ihre Anwendung finden, so lieferte das den Beweis, dass den Inhalt der religiösen Vorstellungen und Begriffe, wie nebulös sie einem aufgeklärten Gemüt auch erscheinen mochten, die soziale Welt ausmachte und nichts weiter. Der Beweis gelang über die Maßen überzeugend, er verhalf einer Disziplin zum Durchbruch, die ohne diese Flankierung im Bewusstsein der Menschen vielleicht andere Wege gegangen wäre und andernorts auch wirklich ging.
Wenn die Durkheim-Schule die Soziologie nicht zur lange vakanten Wissenschaft vom Göttlichen machte, dann auch deswegen, weil die Göttlichkeit der Gesellschaft bereits vor ihrem Erscheinen festgestellt worden war und innerhalb der verschiedenen soziologischen Lager als gesichertes Besitztum galt. Der Tod Gottes, Leitthema des ausklingenden neunzehnten wie des anbrechenden zwanzigsten Jahrhunderts, bedeutet sub specie des Soziologenglaubens wenig mehr als die Einwechslung des Monotheismus gegen den ein paar Jahre später von Max Weber als ›Kampf der Götter‹ beschriebenen Polytheismus der Werte und Wertsysteme, der Steuerungen und Steuerungskompetenzen innerhalb der modernen Welt. Die Schwierigkeit, die darin liegt, ist unübersehbar. »Denn« – so abermals Durkheim, mit Marx und Feuerbach im Gepäck – »der Gott ist nur der bildhafte Ausdruck der Gesellschaft«. Das lässt sich angemessen ›nur‹ dann verstehen, wenn auch der ›Tod‹ der Gesellschaft als denkbare Option ins Auge gefasst wird. Die Welt des religiösen Scheins bildet den Grundtext der Gesellschaft. Ein solcher Satz lässt sich umkehren.
2.
Der Bodensatz des lebendigen Symbolbestandes einer Epoche ist das Banale. Wer Bescheid weiß, weigert sich, es anzufassen oder von ihm Gebrauch zu machen, zumindest zeigt er Scheu, sich damit unter Seinesgleichen oder in der Öffentlichkeit blicken zu lassen. Man kann die Sorge für unnötig halten, die daraus spricht, da es in allen Individuen lebt, in denen, die Bescheid wissen, vielleicht intensiver als in denen, die aus irgendeinem Grund weniger verständigt sind. Wer sich dem Heiligen nähert, nähert sich auch dem Banalen. Das liegt daran, dass es sich am rundesten in der Sprache der Banalität ausdrücken lässt, die in diesem Bereich einfach, distinkt und vollmundig daherkommt. Hier wie da ist dieselbe Scheu am Werk, derselbe Wunsch, sich zu unterscheiden, der sowohl positiv als negativ ausgedrückt werden kann. Wie das Banale ist das Heilige omnimorph: jeder, der sich darauf beruft, ist grundsätzlich ›im Recht‹ und damit unbelangbar, solange der Bann seiner Rede andauert. Eine solche Bemerkung soll das Verdienst von Gelehrten wie Durkheim, James, Bataille, Eliade, Assmann oder Taylor nicht schmälern. Sie haben, jeder auf seine Weise, die überlieferten Gestalten des Heiligen um Sichtachsen geordnet, auf denen bereits wieder Gras wächst.
Die folgenden Überlegungen gelten nicht dem ›Problem‹ des Heiligen. Sie beschäftigen sich mit den verwickelten Beziehungen, die zwischen dem Heiligen und dem bestehen, was in den Philologien wechselweise ›die Texte‹ oder ›der Text‹ genannt wird, je nachdem, ob das – imaginierte – Corpus des Geschriebenen oder seine Präsenz im Einzelnen im Fokus der Betrachtung steht. Dass solche Beziehungen existieren, steht außer Frage, wie das Vorhandensein ›heiliger‹ Texte beweist. Doch dieser Beweis bliebe brüchig, wollte man sie auf solche Texte beschränken. Die dauerhafte Wertschätzung, die heiligen Texten in den jeweiligen Kulturen – und neuerdings als ›Welterbe‹ – entgegen gebracht wird, täuscht leicht über den allen Spezialisten geläufigen Umstand hinweg, dass ihre Kanonisierung zu den Vorgängen zählt, über die der semiwissenschaftliche Ausdruck ›hohe Komplexität‹ verhängt ist – ein Euphemismus, der ›Selektionen‹ deckt, wie sie auch in den Prozessen anzutreffen sind, in denen sich das Banale formt und weiterbildet. Man sieht vielleicht weiter, wenn man die Unterscheidung ›heiliger‹ und ›profaner‹ Texte ins zweite Glied verweist und eine vorgängige Beziehung zwischen dem Heiligen und den Texten unterstellt. Eine solche Beziehung, sofern sie besteht, entzieht sich dem ordnenden Blick, sie kann nur ertastet, das heißt, im Kontakt erkundet werden – wer sich mit ihr befasst, trifft auf Unterschwelliges und -gründiges, auf gemeinhin Abgeblendetes und Abgedunkeltes, auf allerlei, dessen Kontur in einem besonderen Sinn nächtlich genannt werden darf, während sie am Tageslicht des voreingenommenen Denkens notwendig verblasst.
3.
Man tritt in die Texte ein wie in eine zweite Welt. Was immer Texte verknüpfen, strukturieren, repräsentieren, aussagen oder ausdrücken – es erscheint in ihnen auf eine spezifische Weise noch einmal, schattenhaft, schemenhaft, zugleich deutlich und bestimmt, eingeschlossen in einen Raum mit festen Grenzen, die sich verdichten und auflösen, sobald man sich ihnen nähert. Es ist einfach und schwierig zugleich, in einen Text hineinzukommen – einfach, wenn es gelingt, weil man die Schwelle unmerklich passiert, schwierig, wenn es misslingt, weil die Schwelle, jedenfalls für den Augenblick, sich als unüberwindlich erweist. Für diese unaufhebbare, im Alltag auf ein Wahrnehmungsminimum reduzierte Distanz der Texte zu ihrer Umgebung stehen unterschiedliche Etiketten bereit. Man kann sie ›ästhetisch‹ nennen: ohne Zweifel beschäftigt sie vordergründig die Sinne und und fällt damit in den Bereich des ästhetischen Erlebens. Das Affiziertwerden, das Affiziertsein durch sensuelle Anmutung findet seinen sinnfälligen Ausdruck im Sammeln von Hand- und Erstschriften, von künstlerisch gestalteten Buchausgaben und so fort. Sammler, sofern sie nicht aufs ›primitive‹ Habenwollen und Horten aus sind, sind Liebhaber des Schwellenerlebnisses, das sie auf Dauer zu stellen versuchen. Der Geruch edler Materialien, der Anblick des gestalteten Einbands leitet sie zu den Sensationen des Berührens, des Aufschlagens, des Erblätterns der Seiten – ›kleine Kostbarkeiten‹ sie alle, sinnbetörende Wunderwerke, die in den Bann schlagen, noch bevor das erste Wort entziffert wurde. Kostbar, wie es ist, vermittelt das Sammlerexemplar einen Eindruck von der Kostbarkeit des Inhalts, die es nicht selten übertrifft. Das Verharren und Verharren-Wollen auf der Schwelle, die Ausdehnung des Schwellenerlebnisses besitzt eine a-textuelle Komponente, in der die Gleichgültigkeit gegenüber dem so wundersam Umhüllten bereits strukturell angelegt ist.
Letzteres stimmt nicht ganz. Das Verharren vor der Schrift, die nachdrückliche und ›betonte‹ Entzifferung von Wörtern, die man in einer anderen Schrift und in einer anderen Verfassung mühelos herunterlesen könnte, die Verwandlung von Sätzen und Abschnitten in herausgehobene ›Stellen‹ und Paragraphen, die gewollte und künstlich herbeigeführte Verlangsamung der Aufnahme – das alles sind bereits Bestandteile des Lesens, Weisen, das Schema ›Text‹ zu buchstabieren, zu instrumentieren und zu inszenieren. Ein Lesender, der sich die Aufmerksamkeit auf die performativen Aspekte des Lesens gönnt, greift nicht zu den Mitteln der Selbstbeobachtung oder Reflexion, er spielt eine tänzerisch anmutende Pantomime, seine zweite Auslieferung an die Lektüre: Seht, wie mich dieses Buch in den Bann schlägt, ich bin gezwungen, mir selbst dabei über die Schulter zu blicken und ein wenig Staub von den kostbaren Seiten zu blasen, während ihr Inhalt mir ins Bewusstsein steigt. Er verwandelt sich physisch, denn seine Art von Lektüre spielt vor einem existierenden oder eingebildeten Publikum, und er verwandelt sich ›wirklich‹, soll heißen für sich, in jemanden, dem die Situation (der Begegnung mit dem Text) genauso gegenwärtig ist wie der Text selbst, sein wartendes und aufnehmendes Aufgeschlagensein, das ihm, dem Leser, entgegenkommt und in seinem Entgegenkommen auf eigentümliche Weise verharrt.
Wer will, kann in dieser Art der Lektüre etwas wiederfinden, was er – vielleicht für lange Zeit – verloren glaubte: den Zauber der ersten Begegnung, den eigenartigen, unaufgeschlossenen und niemals ganz vergessenen Reiz der Bilderbücher, der Fibeln, des Orbis pictus, der früh gelesenen Comics, des Struwwelpeter. Er kann, aber er muss es nicht. Die Bereitschaft, alles, was auf stille Weise erregt, auf erste Erlebnisse zurückzuführen, auf erste Berührungen, auf den ersten Anblick, auf ein erstes Mal, worin immer es bestanden haben mag, sprich: auf frühe Prägungen aller Art, enthält vielleicht ein wenig zuviel Willfährigkeit gegenüber einem anthropologischen Modell, das bereits in der Aufklärung seinen Dienst verrichtet und deshalb im Verdacht steht, die Bücher zu schließen, die zu lesen man sich gerade nicht entschließen kann.
4.
Wer sammelt, weiß oder glaubt zu wissen, dass die Dinge verloren gehen. Er betreibt seine private Rettung der Dinge nach Weise dessen, der ›das Seinige‹ zusammenhalten möchte. Diese Art, an das Problem der Dauer, des Überdauerns und im Dauern sichtbar Bleibens heranzugehen, ist wieder-holend, ›iterativ‹. Das zeigt sich nicht allein in der Tätigkeit des Sammelns selbst, dem Zusammentragen und -kaufen von seltenen Stücken, von ›Unikaten‹, die jeweils ein – prinzipiell austauschbares – Merkmal miteinander verbindet. Es zeigt auch die innere Sammlung vor den der Sammlung einverleibten Objekten. Im Gegensatz zu den raschen, unaufmerksamen, am Resultat orientierten informellen Akten alltäglichen Lesens steht sie für einen gepflegten Umgang ›mit diesen Dingen‹, für einen bewussten Akt der Kultur.
Akte wie diese nennt die Wissenschaftssprache ›rituell‹. Der erweiterte Ritualbegriff, der ›Alltagsriten‹ einschließt, in alltägliche Handlungsabläufe eingebettete Sequenzen, dazu bestimmt, die Sinn- oder Werthaftigkeit des Geschehens zu erhöhen oder zu sichern, scheint solche Formen profaner Meditation mühelos abzudecken. Es bleibt das Paradox, dass sie offenkundig dazu bestimmt sind, den Alltag zu transgredieren. Eine Reihe von Merkmalen teilen sie mit den religiösen Riten: den umgrenzten exterritorialen Raum der ›Sammlung‹, das Wiederholen einer fremdartigen, als ›ursprünglich‹ empfundenen Erfahrung, die in Selbstauszeichnung übergehende Auszeichnung des Sammlers, die Wandlung, die er an den Objekten seines Begehrens vollzieht und die sich in ihm vollzieht, die Objektzentriertheit der von ihm begangenen Handlungen, in der das Selbstverhältnis des Handelnden ›durchschimmert‹, ohne in den Vordergrund zu treten, schließlich das überall spürbare Verhältnis der Stellvertretung, in dem jeder Text, jedes Objekt für etwas anderes einsteht, so wie der Sammler für die Masse der anderen einsteht, der Achtlosen, derjenigen, die nicht wissen, welche Schätze sich in ihren Händen befinden, oder derer, die es wohl wissen, aber nichts daraus machen und den Schatz unverzeihlicherweise im Zustand der Zerstreutheit – des Exils – belassen.
Als Kultobjekt bleibt der Text hingegen diffus. ›Texte‹ figurieren innerhalb beliebiger Glaubenssysteme. Sie sind, je nach Gesichtswinkel, Instrumente und Elemente der Ausdifferenzierung von Überzeugungen, ohne qua Text ein eigenes, Gedanken an eine Text-Religion nahelegendes Überzeugungsspektrum aufzurufen. Nur ganz bestimmte, keineswegs beliebige ›heilige‹ Bücher rechtfertigen den Terminus ›Buchreligion‹. Die kleinen und großen sakralen Schauer, die der tägliche Umgang mit Texten bereitet, lassen den Gedanken an die Texte als ein imaginäres Corpus schriftlich fixierter sprachlicher Äußerungen hinter den spezifischen Text zurücktreten. Kostbar ist immer dieser eine Text hier im Unterschied zu anderen, weniger kostbaren oder als ›ausgesprochen profan‹ eingestuften: das variiert von Fall zu Fall.
Jeder leidenschaftliche Leser ist auch ein Sammler, gleichgültig, ob er sich Bibliotheken zulegt oder Linksammlungen oder das typische Lesergedächtnis, das darauf wartet, abgerufen zu werden, um von einer Lesefrucht auf die andere zu kommen, von einem Erschauern zum anderen, von einer verflossenen, doch jederzeit abrufbaren Lesefreude zur nächsten. Anders als ein Objektsammler, der die kostbare Reliquie zwar gelegentlich anderen zeigt, doch in seiner Andacht bei aller Kommunikationsfreude allein bleibt, kennen leidenschaftliche Leser beides: den einsamen Dienst am Text im individuellen Leseakt und den Austausch der Lesefrüchte, das vergleichende Taxieren und Bereden der gehorteten Schätze.
Dergleichen ist und bleibt in alltägliche Verläufe eingebettet, solange keine ›abgehobene‹ Seminarsituation das Lese- und Kommunikationsvergnügen in andere Bahnen lenkt. Im Seminar steht das aus gemeinsamer Lektüre hervorgehende und zu ihr je nach Erfordernis zurückkehrende Bereden eines Textes obenan. Es ist der Zweck, zu dem man zusammenkommt, man geht enttäuscht und ›frustriert‹ davon, wenn ihm nicht Genüge getan wurde. Inhaltlich mag das Ziel, die ›konzise‹ Auslegung, sich von Fall zu Fall unterschiedlich darstellen, es mag gelegentlich auch verfehlt oder im Verlauf einer Sitzung suspendiert werden – dem Sinn der Veranstaltung leistet das keinen Abbruch. In der situationsgebotenen Ausrichtung auf den einen Text zeigt sich eine Art der Beschäftigung, die leicht als ›Vertiefung‹ oder ›Meditation‹ durchgehen könnte, wäre sie nicht an den Grundmustern rationaler Erschließung orientiert und stünde nicht die grundsätzliche Positions-, Dialog- und Zielbezogenheit der Beiträge außer Frage – auch dann, wenn der eine oder andere Beitrag gelinde Zweifel daran nährt. Die Seminarsituation bildet so etwas wie eine durch institutionelle und methodische Kontrolle erzeugte Insel innerhalb der Alltagsverständigung, eine auf Wiederholung, Devienz und vorläufige ›Zusammenführung‹ angelegte Schleife inmitten auf Stringenz hin angelegter Verläufe. Man könnte das in ihr konzentrierte Geschehen eine Weise der profanen Annäherung an den Sakralbereich nennen, in der den Texten – DEM TEXT – eine formkonzise, vereinheitlichende oder in langer Übung vereinheitlichte Weise der Annäherung zuteil wird.
5.
Das westliche Weltverständnis, das davor zurückschreckt, einen Text, eine Sache, eine Person als ›heilig‹ zu bezeichnen, bleibt differenziert genug, um die Empfindung des Heiligen als ›subjektive Tatsache‹ zuzulassen. Diese eingeschliffene Praxis hat einen langen historischen Vorlauf. In der Sache verschiebt sie die Frage nach dem Gegenstand religiösen Empfindens in den Zusammenhang persönlicher Prägungen und Entscheidungen. Doch das ist bereits Interpretation, genauer gesagt, ein Stück kollektiver Verständigung, das es zur gegebenen Zeit, etwa im Westfälischen Frieden, erlaubt hat, Religion in ›säkular‹ konstruierten Gemeinwesen als Bestimmungs- und Wirkfaktor zu neutralisieren. Seltsamerweise scheint der Kredit dieses Konstrukts heute weitgehend erschöpft zu sein. Nicht, dass die institutionalisierte Religion an ihren angestammten Ort in der Gesellschaft zurückgekehrt ist und deren Funktionsbereiche in einer Weise durchdringt, die als klassisches Kennzeichen ›vormoderner‹ Gesellschaften begriffen wird. Eher gilt, dass dort, wo man in gesellschaftlichen Formationen nach religiösen Strukturen Ausschau hält, eine explizite Bezugnahme auf Religion und Religiosität nicht zwingend erwartet wird.
Häufig tritt an ihre Stelle die neutralisierende Rede von den Gründungsurkunden einer Kultur. In der Regel sind solche Dokumente schriftlich verfasst und überliefert. Man erkennt sie an der umfassenden, das rationale Maß deutlich übersteigenden Wertschätzung, die ihnen in ihrer Kultur entgegengebracht wird. Das lässt sich verstehen, wenn man bedenkt, dass sie es sind, an denen sich die Ratio in historischer Zeit geformt hat. Sie sind es, die – auf welchen verschlungenen Wegen auch immer – den Typus und das Maß erfolgreicher Rationalität prägen, der in den entwickelten Gesellschaften zur Ausbildung und ›zum Tragen‹ kommt. Nicht sie sind es, die sich an der Ratio, die Ratio ist es, die sich an ihnen bewähren, die sich an ihnen abarbeiten muss, um das jeweils Neue, ihr jeweils Neues zu legitimieren.
So gesehen ›haben‹ auch Gesellschaften Religion, deren Repräsentanten sich selbst als ›areligiös‹ oder ›agnostisch‹ bezeichnen oder bezeichnen würden. ›Heilig‹ sind Texte nicht nur innerhalb bestimmter Überlieferungskontexte. Sie schaffen sich diese Kontexte auch. Sie schaffen sie neu und anders, sobald die Wirklichkeit dafür Anregungen liefert. In solchen Kanonisierungsprozessen ist der Einzelne weder bloß passiv noch bloß aktiv. Sein Verhältnis zu den Texten entscheidet darüber, wieviel von ihnen jeweils in die Gegenwart einfließt. Es bleibt ihm unbenommen, der kulturellen Einheit, in der er sich bewegt, deren Teil er ist, seinen eigenen Text vorzuschlagen, jenen leicht nachzuahmenden, gleichwohl unnachahmlichen Mix aus Reformulierungen von Vorhandenem und etwas, das man mit einem leichten Zögern ›Offenbarung‹ nennen möchte, ohne dass darin eine offenbarende Instanz erkennbar sein müsste, mit dem eine gewisse Klasse von Vordenkern von Fall zu Fall hervortritt.
So wie es eine normative Kraft des Faktischen gibt, so gibt es auch eine faktische Kraft des Normativen. Abseits theoretischer Interessen bedürfen Normen keiner Rechtfertigung. Bestenfalls fordern sie selbst sie heraus. Solange sich Texte ungebrochener Wertschätzung erfreuen, verhält es sich mit ihnen nicht anders. Man kann darin Beispiele für rituell hergestellte Gruppen-Einmütigkeit sehen. Wirklich besitzen viele kulturelle Handlungen, in welche die Texte eingewickelt werden, um sie bis in jene fernen Zeiten weiter zu reichen, in denen wir alle tot sind, aber eben auch, als ihre Mitverfasser, ein wenig lebendig, eine rituelle Komponente. Doch schließlich besitzen sie auch eine theatralische Komponente, ohne dass deshalb alles ›nur Theater‹ wäre. Es wäre lächerlich, das zu unterstellen. Die Texte verschaffen sich als Teile einer sich ununterbrochen übersteigenden Überlieferung im Einzelnen Raum, sie erschaffen diesen ›Raum‹, aber sie werden auch in diesem Raum geschaffen. Sie werden, wie man vielleicht sagen kann, von diesem Raum geschaffen, denn es gibt keine Differenz, an der das Verhältnis von Text und Einzelnem, von Text und affiziertem ›Selbst‹ erst geklärt werden müsste. Nennen wir den Vorgang die permanente Selbsterschaffung der ekstatischen Psyche.
Die Sakralität der Texte ist keine fixe Größe. Sie ist das bewegliche und bewegende Produkt von Sakralisierung, einer psychisch verankerten Aktivität: man arbeitet sich an den Texten ab, als gelte es, ihnen ein Geheimnis zu entreißen – irgendein Geheimnis und doch immer dasselbe. Doch bleibt diese Rede ebenso schwierig wie banal. Die Crux liegt im Begriff ›Arbeit‹, der ein eigenes, in vielem hinderliches Assoziationsspektrum mit sich führt. Die durch Faktoren, die man gern der ›Kreativität‹ zuschlägt, nur mühsam übertünchte Zweckrationalität der Arbeit, der nachgeordnete Part, den der Einzelne als Einzelner überall spielt, wo ›Arbeitszusammenhänge‹ dominieren, die Tatsache, dass Arbeit jederzeit ›niedergelegt‹ und ›wieder aufgenommen‹ werden kann, dass sie jeweils unterschiedlich organisiert und ›gestückelt‹ werden kann – dies alles steht in schroffem Gegensatz zum Typus der Schwellenerfahrung und zur Praxis der personalen Überschreitung, in die das individuelle Selbst nicht nur involviert, in der es vielmehr gemeint ist – als Adressat zu empfangender ›Botschaften‹ ebenso wie als selbstbezüglicher Akteur in einem erregenden Prozess des Suchens und Findens innerhalb eines Erfahrungsmusters, in dem die Begriffe des ›Selbst‹ und des ›Anderen‹, des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹ die dominierenden Begriffe sind.
Der Gegensatz mindert sich, sobald die Erfahrung kommuniziert, also in bereits bestehende Auslegungszusammenhänge eingefügt wird. Auslegung ist bekanntlich immer auch Arbeit, ihr Ziel, die restlose Durchdringung der Erfahrung, bleibt jenseits des individuellen Horizonts, unerreicht und unerreichbar durch die hier und heute unternommene Anstrengung, deren Sinn sich erst im kollektiven ›Gedächtnisraum‹, im Kontext anderer Erregungs- und Auslegungsgänge erschließt. Dementsprechend nimmt, literarisch gefasst, Selbstverständigung ›auf dem Papier‹ wie von selbst die Form des Rechenschaftsberichts an, dessen Adressat als eine Art verständiger Partner auftritt, der überzeugt, gewonnen, belehrt werden muss, eine Abbreviatur des in jeder Art expliziten, das heißt sich explizierenden Selbstbezugs aufgerufenen Gesellschaftswesens.
Entscheidend ist dabei allerdings nicht die Form, auch wenn es der professionellen Lektüre gelegentlich so vorkommen mag. Entscheidend ist das Übergreifen der Erfahrung auf den produzierten Text. Seine Machart bestimmt sich durch die Weise der Aufladung, durch den Grad an Vollständigkeit, mit der sie geschieht, sowie durch das Maß an Expressivität, das er dadurch gewinnt. Die Linie von den Bekenntnissen des Augustinus hin zu einschlägigen Enthüllungen von Mördern und Prostituierten ist vielfältig und gebrochen, es handelt sich eher um ein Geflecht als um eine Entwicklung. Zu verbinden scheint sie, dass die Intensität des Bekennens den durch nachklingende Sündhaftigkeit gezeichneten Lebenswandel selbst in einem sakralen Licht erscheinen lässt. Das geschriebene Wort ist die reinigende Instanz. Solche zwischen den Polen der Selbstbehauptung und Selbstdurchdringung des schreibenden Subjekts oszillierenden Texte, sollen erfahrbar machen, worum es in der Erfahrung der Texte immer auch geht: Das ›Nimm und lies!‹, die Erwartung an den Leser, die Begegnung mit ihnen möge sein Leben ändern, ist ihnen mehr oder weniger aufdringlich mit auf den Weg gegeben. Wenn ein Schriftsteller (Ernst Jünger) bestimmte Bücher als ›Maschinen zur Veränderung des Bewusstseins‹ bezeichnet, dann bezieht er sich weniger auf die in ihnen wirksame Kraft des Arguments als auf die mögliche Konversionsmacht des geschriebenen Wortes. Unübersehbar sind auch dabei Überbietungsprozesse im Gang. Bekanntlich werden Bücher zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Umgebungen und ›Milieus‹ verschieden gelesen, die genannten sind Objekte von Gewöhnungs- und Verwöhnungsprozessen wie andere auch.
6.
Die Annäherung an das Sacrum ruft das ihm gemäße Spiel der Empfindungen auf. Da ist zunächst die profane Distanz, das Auf-Abstand-Bleiben, das ebenso umfassend wie gering ausfallen kann. Was die Alltagssprache ›distanzierte Annäherung‹ nennt, enthält die individuelle Reserve, den Vorbehalt, der den Gegenstand der Annäherung relativiert und der Intimität sowohl der ›Beziehung‹ als auch der Verehrung und Anbetung entrückt. In der Annäherung an das Heilige ist Distanz nicht als Vorbehalt, als Rückhalt im Selbst oder als Selbstschutz virulent – auch wenn letzterer sich als Motiv nicht ganz ausschließen lässt –, sondern als Scheu, als instinktives Zurückweichen, das dem, wovor da zurückgewichen wird, eine stärkere Präsenz zuschreibt als der Zurückweichende sich selbst. Gleichgültig, ob die scheue Annäherung sich in Gedanken, im Gefühl, in einer Geste, im Überschreiten einer topographischen Marke oder in mehr oder weniger zelebren Formen des In-die-Hand-Nehmens oder der Inkorporation vollzieht – immer bleibt diese Grundspannung in ihm vorhanden. Wo sie erlischt, ist das Sakrale nicht länger gegenwärtig. Es hat sich verflüchtigt. Was bleibt, ist der ›distanzierte‹ profane Zugang zu den Objekten, der die Art der Distanz, in der sich das Heilige zu erkennen gibt, sich ausdrückt, sich ›manifestiert‹, nicht zulässt. Was nicht bedeutet, dass nicht eine Profanität des Zugangs denkbar wäre, in der sich Zitate von Formen der Annäherung an das Sakrale finden. Für diese gehobene Form der Profanität liefert das Seminargespräch anschauliche Beispiele. Gäbe es nicht die Scheu vor den Texten, die dort verhandelt werden, so ließe sich die Kultur des rituellen Hervorholens nicht verständlich machen und die Seminartätigkeit liefe darauf, die ›Gründungstexte‹, gleichgültig welche, zu ›zerpflücken‹, sie ›auseinanderzunehmen‹ und auf diese Weise dem kulturellen Vergessen zu überantworten.
Man verstellt sich den Blick auf solche Wirkungen, solange man sie als vage und im Grunde albern abtut, so als stünde ihre Legitimität innerhalb der rationalen Wissenschaftskultur grundsätzlich in Frage und es gehe eher darum, sie lächelnd zu dulden, als sie diesseits pädagogischer und ›subjektiver‹ Motivationen zu erkunden. Gesetzestexte bezeugen, dass auch strikte ›positive‹ Geltung diesseits der Verbindlichkeit kultureller Bestände, die eine freie Annäherung gestatten, Formen des Sakrosankt-Seins einschließen kann, die in immer erneutem, durch praktische Notwendigkeit motiviertem Hervorholen und Auslegen zu ritueller Ausprägung gelangen. Die jedem Verstehen inhärente, niemals gänzlich auszuräumende Distanz zum Text erzeugt diese Scheu und gibt ihr einen ›guten‹ Sinn: solange, was geschrieben steht, interpretiert werden kann und muss, solange also sein Sinn nicht zweifelsfrei und ein für allemal feststeht, sondern in immer neuen Anläufen gewonnen wird, solange bleibt der ›Rückgang‹ auf den Text, die ›Rückversicherung‹ beim Text ein Vorgang, der neue Fremdheits-, also Distanzmomente hervorbringt. Jeder kanonische Text birgt ein Geheimnis, das von Lektüre zu Lektüre wechselt, aber nicht verschwindet.
Das hat gute Gründe. In der Praxis hängt die von den Trägern einer Rechtsgemeinschaft zu realisierende Verbindlichkeit der Gesetze, das Ausmaß ihrer Gültigkeit abseits der konkreten Sanktionsdrohung, die sie umgibt, auch von der Scheu ab, die sich in der Annäherung an das Sacrum bekundet. Gesetz und Buchstabenglaube gehören zum Kernbestand der sogenannten Buchreligionen – sofern das eine mit dem anderen nicht überhaupt zusammenfällt. Dass in modernen säkularen Gemeinwesen formaliter andere Garanten bemüht werden, schließt die Wirksamkeit ererbter religiöser Mechanismen nicht aus. Theoretische Begründungen für Recht und Moral sind das eine, das ›intakte‹, quasi-archaische Rechts- und Moralempfinden der Menschen das andere. Zwischen beiden Extremen scheint die Scheu vor den in Geltung befindlichen Texten eine Art mittlerer Zone zu bilden. Sie erlaubt zwar jede Art von Fragen an sie, ermöglicht aber nichtsdestoweniger, dass sie aus den Befragungen unbeschadet hervorgehen, jedenfalls solange, bis der Entschluss, sie zu ändern, eine neue Verfahrens- und Aufmerksamkeitslage herbeiführt.
Kanonische Texte lassen sich unschwer auch außerhalb des Rechts und seiner teils brachialen, teils subtilen religiösen Subtexte finden. Dabei variieren Geltungsweisen und Arten der Verbindlichkeit stark. Wer in einem islamischen Land zwischen den Weisen der Auslegung des Koran und der Märchen aus Tausendundeiner Nacht nicht ausreichend differenziert, läuft Gefahr, sich gedanklich, sozial und politisch zu verheben. Ähnliche Empfindlichkeiten lassen sich zwischen den Auslegern philosophischer und literarischer Texte beobachten. Dass die Grenzen hier durchlässiger wirken, ändert nichts daran, dass sie existieren und mit Sorgfalt gepflegt werden. Dessen ungeachtet ermöglichen die einen wie die anderen Texte Formen der scheuen Annäherung und rufen sie in entsprechenden Situationen auf. Auch die Gültigkeit literarischer Texte ist nicht sanktionsfrei zu denken: Wer den Kanon nicht kennt oder nicht respektiert, dem kann leicht geschehen, dass man ihn der ›Unbildung‹ oder ›Barbarei‹ zeiht – einer aktiven Unwissenheit, die in gewissen Umgebungen weit stärker zu Buche schlägt als die bloße Nichtkenntnis der Texte, der sich abhelfen lässt. Gesprächsabbruch und Achtungsminderung, selbst Gruppenausschluss sind, je nach sozialer Gruppe, denkbare bis (un)wahrscheinliche Folgen.
7.
Dergleichen Wirkungen begegnet man gern mit dem Begriff der Aura. Zum Beispiel spricht Habermas im Anschluss an Durkheim (und wohl auch Benjamin) von einer »Aura des Entzückens und Erschreckens, die vom Sakralen ausstrahlt«. Was soll das heißen? Lässt sich das Heilige so glatt von seinen Wirkungen trennen, wie es der Heiligenschein suggeriert? Jener ›Gott im Gehirn‹, von dem Goethes Gedicht so anschaulich spricht, delegiert die Aura an den Bereich der animalischen Anmutung und reserviert für sich selbst ein Spektrum von gemeinhin kulturell genannten Wirkungen. So jedenfalls ließen sich das ›Du sollst‹ des Dekalogs, das christliche Liebesgebot und wohl auch die islamische ›Unterwerfung‹ deuten. Allein diese Differenz ist nicht-ausschließend und ziemlich komplex. Sie ist so wenig ausschließend, dass ohne den Begriff eines natürlichen, animalischen Lebens keine weitergehende Verständigung über kulturelles Leben, über Kulturalität insgesamt möglich sein dürfte.
Schon dass es sinnvoll erscheint, von ›kulturellem Leben‹ zu sprechen, bezeugt die engen Verbindungen zwischen beiden Bereichen. Davon legt nicht nur die ›Esskultur‹ nachdrücklich Zeugnis ab. Menschliche Animalität selbst ist überall nur im kulturellen Medium von Deutung, Erkundung und Selbstauslegung greifbar. ›Widernatur‹ und ›Unnatur‹ sind Begriffe der verfehlten Ordnung, die irgendeine Identität zwischen kulturellen und biologischen Normen postulieren. Genauer: der Anspruch, an den ›biologischen Fakten‹ kulturelle Normen abzulesen, sich von ›der Biologie‹ über die menschlichen Dinge belehren zu lassen, verläuft sich in den Auslegungen, ohne dass man ihn deshalb als gegenstandslos zurückweisen könnte. Die postulierte Differenz von Natur und Kultur selbst schafft diesen Auslegungsspielraum, der prinzipiell unerschöpflich bleibt, auch wenn die Praxis zu hybriden Konstruktionen neigt, in denen die Differenz schweigt.
Ausdrücke wie ›Scheu‹, ›scheuen‹, ›Scheusal‹ lassen sich leicht als Hybriditätsanzeigen auffassen, als Hinweise auf die menschliche ›Doppelnatur‹, die für die europäische Kunst im Bild des Kentauren sinnfällige Gestalt angenommen hat. Hans Christian Andersens kleine Meerjungfrau gehört ebenso in diesen Kreis wie die negative Figur des ›Akephalos‹, des kopflosen Dämons, der als Wiedergänger der Zauberliteratur und der Märchen die Menschen schreckt und an die Herrschaft des ›Kopfes‹, des Verstandes und der Vernunft erinnert – als das, was den Menschen ausmacht und ihn am Ende an die Natur verrät. In der Scheu, im ›Zurückscheuen‹, im ›scheuen Beiseitesehen‹ und ›‑stehen‹ bekundet sich eine Verschränkung beider Bereiche, die auf die Selbstdeutung der Gattung zurückwirkt. Ein ›scheuer Mensch‹, ein Mensch, der vor einer Tat zurückscheut, ist etwas anderes als ein Tier, das scheut – vielleicht sogar, sofern man die Begriffe genauer analysiert, etwas grundlegend anderes, gleichgültig, was die Verhaltensforschung darüber zu berichten weiß. Aber das Verhalten, in dem sein Scheusein zum Ausdruck kommt und ablesbar wird, unterscheidet sich nicht fundamental von dem des Tieres, es weist eine Ähnlichkeit auf, die bedacht sein will. Ein Mensch, der Scheu zeigt, zeigt ein Stückweit Natur – seine Natur wie ›Natur überhaupt‹.
Scheu zeigen, Natur zeigen – das geht deutlich über den zweifellos vorhandenen biologischen Aspekt der Sache hinaus. Zugrunde liegt ihm eine mimetische Konvention als Teil der ›zweiten Natur‹ des Menschen, die sich primär in seiner Soziabilität, in seiner Fähigkeit zur Aus‑ und Umbildung geselliger Formen zeigt. Es handelt sich um eine doppelte Mimesis: Mimesis eines biologischen ›Verhaltens‹, das nicht als ›Verhaltensmuster‹ reproduziert, sondern vorgeführt wird, und Mimesis als gesellschaftliches Zitat, mit dessen Hilfe einer zeigt, dass er ›begriffen‹ hat und dem einen angemessenen Ausdruck zu verleihen versteht. Dass Scheu nur als unwillkürliche Seelenregung Anspruch darauf erheben kann, ernst genommen zu werden, während die Menschen ihren willkürlichen Ausdruck als ›geheuchelt‹ empfinden, widerspricht dem nur bedingt. Spontaneität gilt in den verschiedensten Bereichen als Erweis der Zugehörigkeit, der ›Kompetenz‹, und ist selbst eine zu erbringende Leistung. Entsprechend wächst die ›wahre‹ Scheu mit dem Begreifen, während das, was frühere Jahrhunderte in prachtvoller Direktheit die Blödigkeit der unwissenden Natur nannten, sich abschwächt. Es ist nicht zu verwundern, dass die humanistische Gelehrsamkeit den Akephalen, den kopflosen Menschen, am Rande des zivilisierten Erdkreises ansiedelte, während man ihn heute eher in Parks anzutreffen scheint, wo er versucht, mit den Hunden und Vögeln in seiner Sprache zu reden, statt, wie der heilige Antonius, die ihrige zu erlernen.
Vielleicht ist die Vorstellung, in der Sprache eingeschlossen zu sein, ein Ingredienz jener menschlichen Scheu, die einen zusammen mit der Anmutung überfällt, man müsse sich anders geben, sich anders ausdrücken, sich anderer Wörter, einer anderen Syntax bedienen, eine andere Sprache sprechen, um dem Gegenüber der Scheu gerecht zu werden und in diesem Bezug überhaupt in Betracht zu kommen. Mag sein, es genügt der bloße Anblick der Schrift, um die Eingangsscheu angesichts der Texte plausibel zu machen: das Anderssein des geschriebenen Wortes, das sich in allen Auslegungen wiederholt und erhält, errichtet in jedem Moment die Barriere neu – dem einen kaum merklich, dem Nächsten schier unübersteigbar. ›Das verschlägt mir die Sprache‹ ist ein ebenso naiver wie unüberbietbarer Ausdruck der Wirkung von Literatur.
8.
Besitz hilft, aber nur in Maßen. Das gilt nicht überall und nicht immer auf gleiche Weise, aber es zählt zu den Kennzeichen von Kultur. Wer ein Kulturobjekt, ein Gemälde, eine Erstausgabe, eine vom Künstler signierte Partitur sein eigen nennt, entwickelt nolens volens Alltagsformen des Umgangs mit ihm. Er wird nicht ›jeden Tag in Ehrfurcht erstarren‹, aber er will den Effekt an anderen ausprobieren, er will, sofern er weiß oder ahnt, was er besitzt, dafür Sorge tragen, dass dem Objekt die ihm gebührende Beachtung zuteil wird. Wer ein Kunstwerk erwirbt, um es auf Nimmerwiedersehen im Safe verschwinden zu lassen, steht im Verdacht des Banausentums, jedenfalls der kulturellen Nichtteilhabe. Er beraubt das Werk seiner Wirkung und fügt ihm damit etwas zu, das knapp unterhalb der irreparablen Beschädigung rangiert. Kulturobjekte werden nicht erworben, um zu unterbinden, dass andere mit ihnen in Berührung kommen, sondern um den Kult um sie zu organisieren, ihn eventuell erst in Gang zu bringen oder durch Regelung der Zugangsbedingungen in feste Bahnen zu lenken. Im Mittelpunkt dieses Kults steht die Begegnung mit dem Objekt, nicht sein Besitz – also das, was sich bei Büchern, die keinen Ausstellungswert reklamieren, im Akt des Lesens einstellt oder, vorsichtiger ausgedrückt, unter gewissen Voraussetzungen einstellt. Auslegungsrituale, die den kulturellen Ort der Texte kenntlich machen, dienen dazu, solche Voraussetzungen zu schaffen. Auch sie ermöglichen die Begegnung mit dem Text – nicht zuletzt dadurch, dass sie die scheue Distanz zunächst vergrößern, auf deren Minderung sie aus sind.
Begegnung und Scheu gehören zusammen. Sie gehören so entschieden zusammen, dass es manchen so vorkommt, als lasse sich die ›echte‹ Begegnung nur in Ausdrücken der Scheu umschreiben. Gleichzeitig wird, in welcher Form und mit welchem Resultat auch immer, eine Art von Verschmelzung angedeutet. Aus der Begegnung geht der, dem sie ›widerfährt‹, als ein Gewandelter hervor, als er selbst und ein anderer.
Dass sich auch in ihr ein Distanzkern erhält, ist eine zwar nicht zwingende, aber wiederkehrende Erfahrung, in gewisser Weise die Voraussetzung ihrer Berichtbarkeit. Wer ein Museum besucht, der wird es auch wieder verlassen, wer ein Buch liest, der lässt es irgendwann sinken. Beide haben, glaubt man ihren Berichten, momentweise Zeit und Raum vergessen. Sie waren ›fasziniert‹, hingerissen, hineingezogen in einen Strudel widerstreitender Empfindungen oder es überkam sie eine ›nie gekannte‹, den Alltag vergessen machende Ruhe – aber sie haben die Selbstvergessenheit nicht auf den Punkt der Selbstpreisgabe getrieben, sie sind nicht im Bild oder im Text verschwunden, wie jemand etwa im Märchen verschwindet, der eine Schwelle überschreitet, ›und niemand weiß, was mit ihm geschah‹. Das überaus elastische Band, das sie vor einem solchen Schicksal bewahrt, ist der rituelle Aspekt von Kultur: die Formen des distanzierten, unter den wachsamen Blicken des Museumspersonals sich vollziehenden Anschauens und der Lektüre erlauben gemeinhin nur Exzesse minderer Art. Wohl aber erlauben sie Ausuferungen der experimentierenden Einbildung in Gestalt des ›Was wäre, wenn...‹ – Phantasien, die jeder einmal durchlebt, der empfänglich genug ist, um den Sog zu empfinden, der, durch die rituelle Erhöhung des Aktes stimuliert, von den Objekten ausgeht.
Der völlige Verlust von Distanz, die absolute Verschmelzung wäre der Tod des symbolmächtigen Subjekts. So jedenfalls lautet ein ererbter Topos, der einen gewissen Typus mystischer Erfahrungsberichte aus dem Kreis ernsthafter Beschreibungskandidaten für das Erlebnis des Heiligen ausschließt, wo und wie immer es sich ereignen mag. Sie gelten dem aufgeklärten Gemüt als leicht durchschau‑ und denunzierbare Täuschungs‑ resp. Selbsttäuschungsmanöver vor einem Fonds bestimmter religiöser Bilder und Begriffe. Doch bleibt das – partielle – Außer-sich-Geraten des Subjekts des Pudels Kern: ohne ein Moment der Ekstase keine Begegnung, kein Unterschreiten des distinkten Abstands zum Anderen, keine sich öffnende Intimität, kein Schwellenerlebnis. Wer nicht zulassen kann, dass er bei bestimmten Anlässen außer sich gerät, der verschließt sich dieser Erfahrung ebenso wie der darin eingeschlossenen Erfahrung eines namenlosen Anderen in sich selbst und damit dem sakralen Erfahrungstypus insgesamt: daher die alte kulturelle Neugier auf alle Phänomene der psychischen Entgrenzung, des Halluzinierens, der Raserei vom exzessiven Liebesvollzug bis zur physischen Grausamkeit und zum Blutrausch, aber natürlich auch des Traums und der partiellen oder zeitweisen Entseelung, die sich im Schamanismus und verwandten Religionen mit Vorstellungen der Jenseitswanderung verbindet, in bestimmten Bezirken des Christentums mit Dämonologie und Hexenglauben, in der modernen Medizin mit der Pathologie abnormer Zustände, mit Geistes‑ und Gemütskrankheiten oder Störungen des vegetativen Systems. Aus rhetorischer Sicht kann man in ihnen Übertreibungen, gezielte ›Maßlosigkeiten‹ sehen, die in der Literatur ihren Niederschlag finden und so den Selbstfindungsprozess des Leser‑Autors vorantreiben. Was darin Distanz bleibt, macht sich eher in der Unterschreitung bemerkbar denn als hergestellte oder distinkte Größe.
9.
Zu den wirkmächtigsten Symbolen, welche die europäische Tradition für diese unaufhebbare und in jedem erdenklichen Wortsinn nicht einholbare Distanzerfahrung bereit hält, gehört ohne Zweifel das Labyrinth. Jorge Luis Borges schreibt:
Ich weiß den Anderen im Schatten, sein Bestreben
der Einsamkeiten Gegenwart zu mindern,
die diesen Hades weben und entweben,
mein Blut zu saugen, meinen Tod zu hindern.
Wir suchen uns, wir beide. Wäre dies
der Tag, an dem das Warten mich entließ.
der Einsamkeiten Gegenwart zu mindern,
die diesen Hades weben und entweben,
mein Blut zu saugen, meinen Tod zu hindern.
Wir suchen uns, wir beide. Wäre dies
der Tag, an dem das Warten mich entließ.
In Labyrinth fügen sich die beiden Seiten der Erfahrung des Heiligen anschaulich zusammen. Wer Einlass erhält, betritt eine Art Jenseits – im Gedicht ›Hades‹ genannt –, für das die gewohnten Orientierungen nicht ausreichen. Ein Gehäuse, zu dem Zweck geschaffen, seine Besucher zu desorientieren, steht außerhalb erwartbarer architektonischer Ordnungsmuster. Architektur gilt als eines der frühesten Ordnungssymbole überhaupt. Auch der Gefangene des Labyrinths kann sich dem nicht entziehen. Wer, folgt man Borges, ein Labyrinth betritt – und sich in ihm unausweichlich verirrt –, der tritt in eine Ordnung der Irreführung ein, in eine paradoxe Einheit von Ordnung und Unordnung, eine Unordnungsordnung. Im Gedicht erscheint sie als eine Zone zwischen Leben und Tod, als sich öffnende Schere zwischen einer vampirhaften Entleerung und der Unfähigkeit zu sterben. Man kann das verstehen: im Labyrinth – im dämmernden oder ausgebildeten Bewusstsein, sich in einem Labyrinth aufzuhalten – wiegt jede ›Richtungsentscheidung‹ so schwer wie die andere, notwendigerweise verworfene, während sie doch das ganze Gewicht der Existenz trägt oder zu tragen scheint. Denn nur die richtige Entscheidung erlaubt es, die Begegnung herbeizuführen, um deren willen man ins Labyrinth geraten ist, und ihm auf diese Weise zu entrinnen.
Der Gefangene des Labyrinths macht die Erfahrung eines anwesend Abwesenden, eines Anwesenden, das sich entzieht, auf dessen Abwesenheit aber kein Verlass ist, das also in einem absolut dem Augenblick verpflichteten Sinn bevorsteht. Es kann hinter jeder Biegung hervorbrechen, also bricht es jeden Augenblick hervor. Das, worum es geht, begibt sich demnach im Modus der Antizipation. Der Tod erscheint in jedem einzelnen Moment vorweggenommen und aufgeschoben, in dem es sich als unmöglich erweist, die richtige Entscheidung zu fällen oder die Differenz einer möglichen richtigen oder falschen Entscheidung überhaupt ins Auge zu fassen. In der durch die Konstruktion des Gehäuses herbeigeführten Situation ›begegnet‹ der Andere. Er hält sich im Schatten, er ist mit diesem Schatten verwachsen, er ist dieser Schatten in gewisser Weise. Aber das bleibt ungewiss, weil er jederzeit aus dem Schatten auftauchen kann. Er kann es auf Grund einer vom Ich getroffenen Wahl, die sich im Nachhinein von jeder anderen unterscheidet, obwohl gerade das im Moment der Wahl uneinsehbar gewesen ist, und ebensosehr als Summe aller Schritte, die zur Begegnung und zur Konfrontation geführt haben. So wie die Dinge stehen, bleiben auch die ›Einsamkeiten‹ des Ich bestehen, aber sie werden durch Antizipation gemindert.
Solange das Labyrinth seine Aufgabe erfüllt, solange bindet es das Ich und den Anderen aneinander, während es sie auseinanderhält. Das Ich bildet in sich jenen Anderen aus, es eignet ihn sich zu, ganz, als kenne es ihn von Anbeginn und sei von ihm durch nichts anderes getrennt als das zufällige Ausbleiben des Zusammentreffens, so wie vielleicht ein Archäologe sich in subjektiven Momenten vom menschlichen Objekt seiner Forschungen nur durch den Zufall der Zeit getrennt sehen mag. Da er den Anderen in sich erzeugt hat, weiß er alles, da ihm das Zusammentreffen versagt ist, weiß er nichts über ihn. Der Andere in der Begegnung ist der Fremde und der nicht Fremde, er ist beides zugleich und nebeneinander, er ist Inbild und Drama, Schemen und Person, Innen- und Jenseitswesen in einem. Wie ein Brennglas sammelt das Labyrinth‑Symbol die Zweideutigkeiten der Antizipation und stellt sie in den Zusammenhang der Aktion. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf das Unbenennbare, das bevorsteht, und es bezeichnet die Gefahr, sich in ihm zu verlieren. Die Scheu, so könnte man anschließen, hindert den, den sie befällt, daran, seinen Vorteil zu suchen, und wenn er ihn suchte, so ließe sie alle Wege, ihn zu suchen, gleich vorteilhaft und gleich vergeblich erscheinen. Wer ins Labyrinth gerät, der verläuft sich in sich selbst. Derjenige, dem das widerfährt, hat die Kraft der Antizipation eingebüßt und sieht sich ihr unvermittelt als einem fremden, scheinbar unbezwingbaren Wesen ausgeliefert. Es heißt also, auf der Hut zu sein und dem Sog durch Geistesgegenwart zu begegnen. Der Ariadne-Mythos deutet an, dass es möglich ist, jenes Wesen zu entkräften, den Geist der Antizipation in die Flasche zurückzubannen. Es gibt, so scheint er zu sagen, in den Bereichen der Psyche und des von ihr entworfenen Gegenübers kein Geheimnis, das nicht durch wachen Verstand und Klugheit, die sich vorzusehen weiß, entkräftet werden kann. Auch darin lässt sich selbstredend ein Geheimnis finden: das Geheimnis der Initiation. So jedenfalls hat den Mythos Nietzsche verstehen wollen, der den Gott (Dionysos) Ariadne ein ›kluges Wort‹ ins Ohr stecken lässt: »Ich bin dein Labyrinth...«
10.
Wer sagt, ein Text eröffne unbegrenzte Deutungsmöglichkeiten, der hat das Labyrinth als eine Deutung der Texte akzeptiert. Wie bekannt, steht der objektiv endlichen Zahl von Entscheidungsmöglichkeiten im Labyrinth die Ungewissheit dessen entgegen, der einmal hineingeraten ist. Sie gaukelt ihm vor, auf Abwege sonder Zahl zu geraten. Ihr entspricht seine Unfähigkeit, Gleiches als Gleiches festzuhalten, also adäquat zu erinnern und zur sicheren Grundlage eines folgerichtigen Handelns zu machen. In der Unfähigkeit steckt die Furcht: ein Labyrinth, von dessen Harmlosigkeit man ebenso überzeugt ist wie von der seiner möglichen Bewohner, hat bereits einen wesentlichen Teil seines Charakters verloren und kommt nur noch als Zeitvertreib in Betracht.
Die Parallele zu den Texten liegt auf der Hand. Auch sie eröffnen eine ebenso unabschließbare wie unberechenbare Reihe von Auslegungen, nicht, weil der denkbare Fortschritt im Verstehen unendlich, sondern weil er ebenso unzuverlässig wie in seinen Voraussetzungen und Zielen ungewiss ist und bleibt, solange sich die Auslegungssituation nicht grundlegend ändert. Selbst das Moment der Furcht ist aus dem Umgang mit den Texten nicht zu entfernen. Wäre dem nicht so, könnte man sie nach Maßgabe ihrer Unverständlichkeit beiseite legen. Furchtlose Individuen neigen gelegentlich dazu, während im Großen und Ganzen das System der Kultur dafür sorgt, dass die ehrfürchtige Befassung mit ihnen nicht endet, ganz als stünde in ihr das Schicksal des Einzelnen, der kulturellen Gemeinschaft oder der Menschheit insgesamt auf dem Spiel. Natürlich können Texte aus der kulturellen Aufmerksamkeit entlassen werden – was ununterbrochen geschieht –, aber mit der Option, jederzeit, wenn die Sache es nahelegt, zu ihnen zurückzukehren und sie auf eine Weise zu lesen, die alle vorhergehenden unabsehbar distanziert – ›übertrifft‹, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt.
Die antike Fabel gibt dem Gegenüber, dem ›Gesicht‹, an dem die Texte sich unentwegt abarbeiten, wobei sich immer wieder Züge der Anonymität, der Vagheit, der völligen Fremdheit einschleichen, den Namen des Minotaurus. Der Minotaurus, diese Missbildung aus Mensch und Tier, ist ein ›Monster‹, entstanden aus einer Ausschweifung der Phantasie, einem Begehren jenseits der Gattungsgrenze, zu dessen Befriedigung es einer mechanischen Vorkehrung bedurfte. Dieses Wesen ist gottähnlich, es muss durch rituelle Menschenopfer ruhiggehalten werden. Ein phantastischer Baumeister hat es in ein Labyrinth gebannt. Jetzt aber ist es so sehr sein Labyrinth, dass nach der Tötung des Ungeheuers und der klugen Tat Ariadnes von ihm nicht weiter die Rede sein wird. Man kann darin ein Symbol für den leiblichen Verkehr mit der Wirklichkeit sehen, der den Texten vorausliegt – das ihnen inkorporierte Geheimnis des Wirklichen. Der Minotaurus wäre in diesem Fall so etwas wie der sich in den Texten verrätselnde biologische Mensch. Entscheidend ist bei alledem, dass ein leeres Labyrinth mit sich im Widerspruch zu stehen scheint, als eine Vorstellung, die es in sich selbst nicht aushält und unverzüglich daran geht, sich das verstellte Gegenüber zu erschaffen, und sei es als die substantivierte und unausdenkbare Leere, ›den Abgrund‹ oder ›das Ungeheure‹. Der Minotaurus ist weder Mensch noch Tier, er ist beides und gleichzeitig nichts von beidem: antizipierte und also ausstehende Wirklichkeit.
Man hat, nicht ohne Gründe, zu bedenken gegeben, dass die mimetische, imitativ-entwerfende Bewegung, die sich in der Dichtung nach Aristoteles auf Schritt und Tritt verfolgen lässt, nur in der Vorwegnahme denkbar ist, dass sie der Vorwegnahme bedarf und in ihr zu sich selbst kommt. Setzt man ›Mimesis‹ und ›Antizipation‹ auf diese Weise gleich, so wäre der Minotaurus in diesem Spiel der Gleichsetzungen identisch mit dem, was in der Dichtung erscheint. Kein einfacher Fall: so wie sich seine Impersonalität, Schemenhaftigkeit und wirkliche Nichtigkeit bis zum Äußersten steigern lässt, so lässt sich auch seine aggressiv-fugitive Personalität, Plastizität und Bedeutungsträchtigkeit bis auf den Punkt treiben, an dem das Schreiber-Ich, genauer: das Schreibe-Ich, mit diesem Gegenüber zu verschmelzen scheint, während doch der fortlaufende Schreibprozess, der das fertige, zweifellos wirkliche Werk zu verantworten hat, das anschauliche Gegenteil bezeugt. Man denke an Kafkas als Ich-Erzähler auftretenden Tiergestalten, deren nuanciertes Innenleben sich von dem des Autors nur wenig unterscheidet. In diesen Erzählungen wird die unpassierbare Grenze zum imaginierten Anderen spielerisch-erzählend überschritten. Das Erzählen wird darüber selbst zur heiligen Handlung, zu einem fremdartigen und befremdlichen, auf Schritt und Tritt von Persiflage und Parodie durchsetzten Vorgang. In der Erzählung Der Bau ist der Erzähler identisch mit dem tierischen Erbauer und Bewohner eines – explizit im Eingangsbereich – als Labyrinth angelegten unterirdischen Stollensystems. Seine stete Sorge gilt der Sicherheit des Systems. Da er um dessen Schwäche weiß, gedenkt er es eines Tages durch eine effektivere Anlage zu ersetzen. Aber diese Schwäche ist konzeptionell: Wer den Plan des Labyrinths im Kopf hat, dem kann es kein ernsthaftes Hindernis bieten.
Der labyrinthische Prozess verläuft also nicht außer aller Ordnung. Das Layrinth ist, wie jedes andere Werk der Architektur, gebaute Ordnung. Antike und mittelalterliche Darstellungen zeigen symmetrische, kreisförmige oder quadratische Aufrisse. Man könnte sagen, als Verwirrarchitektur stellt es die Ordnung selbst auf eine Probe. Vormoderne Kulturen sahen in Tempel- und Residenzbauten Abbilder einer göttlichen Architektur. Eliade hat darin Beispiele eines grundlegenden ›hierophanen‹ Ordnungsdenkens erkennen wollen. Die Ordnung der Bauwerke ist die Ordnung des Kosmos, der geordneten Welt – oder entspricht ihr ein Stückweit. Das Labyrinth, das die Unordnung integriert, integriert auch den Einzelnen, wenngleich in anderer Weise als die Bauten der Macht und der Anbetung, in denen er sich durch den unmittelbaren Nachvollzug der geschaffenen Ordnung orientiert. Im Labyrinth ist dieser Nachvollzug unterbrochen. Sowohl das im Imaginären verbleibende Ziel als auch die mechanische Möglichkeit der Rückkehr an den Ausgangspunkt (der Faden der Ariadne) weisen dem Einzelnen die Position dessen zu, der an eine Ordnung glaubt, aber daran zweifelt, dass ihn ihre Kenntnis in der ihm verbleibenden Zeit erreicht. Mit seinen Versuchen, sich dem Problem ›systematisch‹ zu nähern und dadurch ein Stück Orientierung, gleichsam einen Widerschein der Ordnung des Labyrinths in einem unmaßgeblichen Ausschnitt zu gewinnen, befindet sich der Besucher des Labyrinths grundsätzlich in keiner anderen Lage als ein beliebiger Sprachbenutzer, der sich einbilden kann, dass sich in seinen Sätzen die Ordnung der Sprache ›spiegelt‹, eine durch und durch ungreifbare Ordnung, deren Kenntnis den Aufriss aller Bedeutungen und ihrer wechselseitigen Relationen voraussetzte, also das, was ihm mit Sicherheit fehlt. Natürlich kann er es auch lassen. Schließlich kann er an der ihm zugefallenen Aufgabe verzweifeln wie der Verfasser in Hofmannsthals Chandos-Brief, dem die Worte »wie modrige Pilze« im Mund zerfallen: »Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.« Die labyrinthische Tendenz einer solchen Aussage kommt aus ihrem durch und durch subjektiven Charakter. Der Sprecher blickt auf die Bruchstücke einer ihm unzugänglichen Ordnung wie der Labyrinthbesucher auf die wirksamen Zeugnisse einer planenden, aber abwesenden Intelligenz, deren Wirken sich ihm in gleicher Weise entzieht wie das imaginierte Gegenüber der ausstehenden Begegnung.
11.
Dass die Vorstellungen des Heiligen und des Opfers miteinander korrespondieren, wird nicht nur durch die gemeinsame Wurzel der lateinischen Ausdrücke ›sacrum‹ und ›sacrificium‹ nahegelegt. Das rituelle Opfer ist, neben der Weihe, die heilige Handlung schlechthin: eine im christlichen Abendmahl ebenso anzutreffende Vorstellung wie im Tod fürs Vaterland oder jede andere durchs Ritual zusammengeschlossene Gemeinschaft. Allgemeiner – und unverbindlicher – gesprochen gilt das Ziel, für das einer stirbt (oder große Opfer bringt), als heilig, sofern es eine Ideen- und Wertegemeinschaft voraussetzt, die auch virtuell sein darf. Heilig wäre danach, was geopfert wird und Opfer empfängt. Eine abweichende Vorstellung transportiert die von Giorgio Agamben thematisierte altrömische Rechtsinstitution des ›homo sacer‹, des ›Vogelfreien‹, der getötet, aber nicht geopfert werden darf. Hingegen bringen die Heiligen der katholischen Kirche sich – das unabhängige Selbst – zum Opfer: sie opfern sich im Glauben und für den Glauben. Das Schema findet man, wie immer gedeutet, in unterschiedlichen religiösen Systemen. Auch der Alltag hält solche Schwellen bereit. Eine ›aufopferungsvolle‹ Tätigkeit bringt, wenn ihre Ausübung ein gewisses Maß überschreitet, in den Ruf – oder Ruch – der Heiligkeit, allerdings nur, solange das Opfersystem intakt ist, das ihre Anerkennung garantiert – andernfalls wird leicht ein pathologisches Weltverhältnis daraus.
12.
Das Rätsel des Heiligen erscheint im Rätsel der Texte, in der Verrätselung der Welt durch die Produktion von Bedeutung gelöst, so wie es sich im Rätsel der Gesellschaft, der Ökonomie, der Gesetze oder der Hygiene zu lösen pflegt. Diese Widerstandslosigkeit sollte zu denken geben. Die Überzeugung, dass sich ›der Mensch‹ in Sprache, Ökonomie, Gesellschaft, Staat, Religion, Kunst Werkzeuge schafft, um in einer tückisch-gleichgültigen Umwelt zu überleben, steht gegen eine Wahrnehmungspraxis, in der dieser Mensch ebenso wenig erscheint wie der Gott, von dessen kargen, schriftlich verbürgten Auftritten Milliarden Gläubige zehren. Die Mächtigkeit der grundlegenden Institutionen übertrifft die Möglichkeiten des Einzelnen bei weitem. Die ›Erscheinung des Heiligen‹ bleibt in dieser Hinsicht adhäsiv: offenbar ist sie wenig mehr als die Geste, mit der sich der Einzelne dem Gewebe der zweiten, ihm selbst zuzurechnenden Welt verbindet. Sie kann daher nur ambivalent ausfallen. Was in dem einen Register Ergriffensein, Erschütterung, Katharsis heißt, firmiert im anderen als Bann, Fixierung, Hörigkeit und Selbstpreisgabe. Der Versuch, das Naturwesen Mensch aus den symbolischen Bezügen ein wenig herauszulösen und dadurch sich selbst erfahrbar zu machen, kann, abgesehen von kruden körperlichen Praktiken inklusive Drogenkonsum, nur über eine Hermeneutik der Schwelle gelingen. Der Gang des Empedokles in den Ätna wäre in dieser Hinsicht kaum mehr als eine Parabel über das Verschwinden, eine Figur der Verrätselung dort, wo das Rätsel sich löst oder eine Lösung verspricht.
13.
Für Leser, deren Lektüre nicht durch ein bestimmtes Sach- oder Fachinteresse gelenkt wird, ist die Beschaffenheit der antiken Opfersysteme und ihr Verhältnis zu den tradierten Mythen ebenso wie das Alter und der Entstehungszusammenhang der Erzählungen nur der Gegenstand einer etwas blassen Neugier. Stärker reizt die unbegrenzte Ausdeutbarkeit und Bezüglichkeit der Geschichten, die da erzählt werden. Wer ist dieser Heros, dem Ariadne den rettenden Faden reicht – ein ›Typus‹ in der einfachen Bedeutung einer Symbolfigur, deren Funktion im Gedanken der Nachfolge liegt, ein ›Stellvertreter‹, in dem das ›Ich‹ des Lesers sich erkennt, mit dem es mitfiebert, weil die Erlösungstat im Leser bereits geschehen ist und sich in den Augenblicken des Lesens nun vor seinem inneren Auge enthüllt, ein finsterer Mörder, dessen wahre Proportionen kaum auszuloten sind unter der Hülle aus heroischen Geschichten, die dazu dienen, ihn dem Gedächtnis der Gemeinschaft ›akzeptabel‹ zu machen, oder ein erfolgreicher Aufschneider, dem man seine Geschichte ›abgekauft‹ hat? Oder hat Ariadne den Helden ›gemacht‹? Ist sie die ›wahre‹ Heldin der Erzählung? Abstrakt sind solche Fragen nicht zu lösen. Sie werden im Vorgang der Lektüre entschieden, der bei unterschiedlichen Gelegenheiten, unter differierenden Bedingungen lebensgeschichtlicher oder kultureller Art oder unter verschiedenen theoretischen Prämissen höchst unterschiedlich ausfällt, und in der Aufmerksamkeit auf diese Lektüre, in der Reflexion, im Gespräch, im Wieder- und Weitererzählen der Geschichte.
Man kann, in Absetzung vom ›literarischen Leben‹, diesen emphatischen Lektürevorgang das ›Weiterleben‹ der Literatur nennen. Wer von der Präsenz des Mythos in der Literatur spricht, meint wenig anderes. Mit einem Wort, das der Weihesprache angehört und daher für die beschreibende Rede fast nicht zu gebrauchen ist, ließe sich eine solche Lektüre ›ergreifend‹ nennen. Tatsache ist, dass in ihr ein wechselweises, nicht säuberlich auseinanderzuhaltendes Ergriffenwerden und Ergreifen stattfindet, das bei entsprechender Verfassung des Lesers leicht in ein Weiter‑ oder Um- oder Neuschreiben der Geschichte übergeht. Allerdings sagt der Ausdruck ›Schreiben‹ an dieser Stelle nicht viel. Genauer gesagt: sein Gebrauch unterbietet die komplexe Eigenart des Vorgangs, in dem etwas festgehalten wird, während sich etwas anderes löst. Die festzuhaltende Erfahrung ist also gerade eine, in der sich das Subjekt löst, in der es sich ›gibt‹, weil es diese Lösung, dieses Los-von-allem im Moment oder in einer dichten oder schütteren Folge mehr oder minder intensiver Momente erfährt.
Welche Rolle spielt in solchen Momenten das Wissen darum, dass der Totentempel, den Amenemhet III. (1853 bis ca. 1805 v. Chr.) vermutlich in der Nekropole von Hawara erbauen ließ, worüber sowohl Herodot als auch Plinius der Ältere berichten, vielleicht als das literarische Urbild des kretischen Labyrinths anzusehen ist, in dem Theseus für uns wie für Generationen von Lesern davor den Minotaurus fällt – falls wir nicht die an einer Homer-Stelle orientierte Variante vorziehen, der zufolge ein mythischer Daidalos einer ebenso mythischen kretischen Priesterin namens Ariadne einst einen ›Tanzplatz‹ baute? Eine sehr geringe, sofern es sich bei dieser Art von Belehrung nur darum handelt, die Erzählung auf ihre Herkunftselemente zurückzustutzen, eine sehr lebhafte, sobald es darum geht, ihr Nuancen hinzuzufügen und eine weitere Pointe abzugewinnen. Auch die Erfindung des Labyrinths ist ein Labyrinth. Nur ein Leser, der bereit ist, auf den verschlungenen Wegen der Selbstfindung ein Stück Vernunft, Wissen, Aufklärung zu opfern, findet heraus.
Der windungsreiche Prozess der Literatur, dieses mühe- und lustvolle Durcheinander von Bedeutungsanreicherungen und ‑verlusten lässt in einem nicht weiter fixierbaren Irgendwann jeden festen Real‑ oder Glaubensinhalt hinter sich. Während dieses Prozesses kommt es zu schicksalhaften Begegnungen aller Art, realen und imaginären, wobei die realen beträchtliche Spuren im Imaginarium hinterlassen. Wer solchen Hinweisen nachgeht, steht früher oder später vor Rätseln wie dem, wie es möglich ist, dass die lange Liste der Drachentöter und Lichtbringer, von denen es in allen Literaturen wimmelt und zu denen zweifellos auch der Überwinder des Minotaurus gehört, einen Bedeutungskosmos eigener Art aufspannt, eine Art ›Reigen‹, in dem jeder für jeden eintreten kann und jeder in jeder Verbindung den Vorgang ›nuanciert‹. Was für die Helden gilt, gilt für die Heiligen et vice versa. Auch die Opfergeschichten, weit davon entfernt, über eine einheitliche Struktur einen festen Sinn zu vermitteln, scheinen untereinander ein Labyrinth zu bilden. Ein Bedeutungsgeflecht, in dem Napoleon für Christus, in dem Christus für Dionysos einstehen kann und letzterer wiederum sich als Theseus an der Hand der Ariadne aus dem Labyrinth befreit, das er selbst ist und das vielleicht nichts anderes ist als der Minotaurus, die Verbindung aus Mensch und Tier, die das Opfer des Menschen verlangt, ist kein System, sondern ein Irrgarten. In ihm schlägt vernehmlich das Herz dessen, der weiß, dass dieses, wie jedes seiner Organe, durch einen ›Riss‹ oder ›Abgrund‹ von seinem Bewusstsein getrennt ist, dass er sich wohl seiner Existenz, nicht aber seiner in derselben Weise bewusst ist, in der er sich seiner selbst bewusst ist. Dennoch schlägt dieses Herz, es schlägt für Theseus und Ariadne, nicht für den Minotaurus. Vielleicht schlägt es ja in ihm. Zu den bewährten kulturellen Praktiken gehört auch, das Verfassen von Literatur selbst als Opfergang zu inszenieren.
»Um sich im Labyrinth der bereits vorliegenden menschlichen Werke zurechtzufinden, ist das Urteil der Nachwelt eigentlich ein ganz zuverlässiger Führer, was zeigt, daß der Geist des Menschen sich stets tastend voranbewegt, aber eben auch immer voran«, liest man in André Bretons Rede auf dem Pariser Schriftstellerkongress von 1935. Das ist vermutlich richtig, vor allem deshalb, weil eine andere Instanz nicht zur Verfügung steht. Aber es enthält auch ein Problem: da die Nachwelt selten mit einer Zunge spricht, sie auch niemals ›die Welt‹ umfasst, sondern allenfalls Teilwelten, die vornehmlich im Verhältnis wechselseitiger Ignoranz zueinander stehen und bestehen, bleibt ihr Urteil ebenso labyrinthisch wie die Werke selbst. Die Welt, die im Urteil über ein Werk übereinkäme, müsste auch sonst einen hohen Grad an Übereinstimmung aufweisen. Der imaginierte Opfergang der Literatur könnte also immerhin den Sinn haben, zu dieser Übereinstimmung beizutragen, vielleicht dabei zu helfen, sie hervorzubringen oder zu kontinuieren – falls darin nicht generell eine perspektivische Täuschung liegt, die, jedenfalls aus der Sicht der Literatur, nicht mehr auflösbar ist.