Ist, wer sich zu behaupten weiß, gleichzusetzen mit einem, der sich in Selbstbehauptung übt? Es ist vielleicht nicht die Sprache selbst, die eine solche Frage nahelegt, doch man empfindet die Aufforderung, mit ihren Wendungen zu spielen, wann immer sich Nachdenklichkeit in die pragmatische Rede mischt. Also, noch einmal: Was bedeutet es, ›sich zu behaupten wissen‹, und was bedeutet es, ›sich in Selbstbehauptung zu üben‹? Zunächst: Wer sich zu behaupten weiß, zeigt dies durch sein Handeln, und er weiß es so zu zeigen, dass die Botschaft auch ankommt. Es ist also eine Botschaft: ›Seht her, ich bin niemand, der sich zu verstecken braucht‹, in einer im Geschlechterdiskurs naiveren, vielleicht auch weniger naiven Gesellschaft hätte man vielleicht gesagt: ›Ich stehe meinen Mann.‹ Sich zu behaupten wissen heißt, sich seiner gesellschaftlichen Rolle bewusst zu sein und sie auszuspielen, gleichgültig um die Widrigkeiten des Stücks und der Aufführung. Über diese Art der Selbstbehauptung ist viel geschrieben worden, sie ist eine der Seelen des sozialen Dramas, das Kernstück der Sozialität und ein Lehrstück ohnehin: Wer sich im gesellschaftlichen Spiel nicht behauptet, der kann sich still aus ihm entfernen, er kann weggetreten werden, ihm kann aber auch, durch physisch-psychische Stärkungsmittel und angemessene Trainingsprogramme, (wieder) hineingeholfen werden.
Wie steht es um jemanden, der sich in Selbstbehauptung übt? Was wie eine barocke Wendung daherkommt, besitzt zumindest den Charme der Umständlichkeit. An die Stelle des ›Wissens‹ ist die ›Übung‹ getreten und an die des Sich-Behauptens die Selbst-Behauptung. Was kann das bedeuten? Hat es etwas zu bedeuten? Jemand übt sich in Bescheidenheit – das ist ungewöhnlich, aber es soll vorkommen, selbst Demutsübungen sind bekannt geworden. Wer oder was aber ist dieses ›Selbst‹, das sich in ›Behauptung‹ übt? Wäre es, ohne Übung, hauptlos? Denn dass es keine Behauptungen über sich selbst aufstellt, scheint evident. Oder nicht? Ist, wer sich in Selbstbehauptung übt, jemand, der behauptet, er habe ein Selbst und gedenke nicht, davon abzusehen? Wer wagt es, eine solche Behauptung aufzustellen, sie sogar zu vertreten? Ein Philosoph? Ein Nicht-Philosoph? Ein Mensch, der die Praxis kennt und eine Summe seiner Bemühungen zieht? Oder einer, der sich auf Größeres vorbereitet und einstweilen noch übt? Muss es überhaupt ein Mensch sein? Reden Kollektive so? Spricht man so über Systeme? Das ›Üben‹ jedenfalls deutet an, dass der Ernstfall, der ›schlimmste Fall‹, der ›wirkliche Einsatz‹ noch bevorsteht oder erfolgreich vertagt ist. Vielleicht liegt die Pointe des Ausdrucks gerade in dieser erfolgreichen Vertagung, vielleicht geht ein Teil des mit ›Selbstbehauptung‹ Gemeinten in den Kämpfen des Sich-Behauptens bereits unter.
Strategeme der Selbstbehauptung – was daran lern-, was lehrbar ist, hängt davon ab, wie weit jemand die Reflexion auf das zulässt, was da ›Selbst‹ heißt. Das Selbst eines Menschen, wie es im Selbstbewusstsein zum Vorschein kommt, ebenso wie es sich in ihm verbirgt, ist nicht identisch mit seiner physischen oder sozialen Identität. Oder doch? Das Offene an dieser Frage zeigt sich als Frage. Das ›Selbst‹ einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Nation, einer ›Glaubensgemeinschaft‹, einer Kultur – lauter Größen, deren Vorhandensein ebenso heftig bestritten wie behauptet wird. Das ist seltsam, wenn man bedenkt, dass weit größere Einstimmung herrscht, sobald die Rede aufs Überleben solcher Entitäten kommt: darin, dass sie endlich sind, dass sie im Gerangel um die besseren Plätze und im Kampf der Deutungen unterliegen, dass sie zerschlagen werden können, unabhängig vom Weiterleben derer, die ihnen angehören, sind sich fast alle einig. Die leise Besorgnis, die eigene Formation sei so stabil nicht, wie man sie gern sähe, genügt, um ihr Selbst gegen fast jeden Existenzzweifel zu festigen und als werthaft zu begreifen. Diese Besorgnis kann wachsen, sie kann überhandnehmen, sie kann zum Eifer werden und in blinde Gewalttätigkeit und kalte Raserei ausarten, sobald sich innere oder äußere Herausforderungen zeigen. Aber genauso kann sie weggedrückt und verinnerlicht werden, sich als Kummer oder Ressentiment verfestigen – mit ungewissem Ausgang. Eine Gefahr dessen, was heute ›Globalisierung‹ genannt wird, besteht darin, dass dieser Umschlag jederzeit selbst bei den ›Akteuren‹ erfolgen kann, die zu den treibenden Mächten und Gewinnern gehören – nicht anders als bei denen, die realistischerweise um die Reste ihres Selbstverständnisses bangen müssen. Das Bewusstsein der einen Welt enthält ebenso viel Bedrohliches wie Besänftigendes und ›Beruhigendes‹: Wettbewerber sind selten über den Moment hinaus glücklich, in denen ihnen ein Coup gelingt.
Man darf das Glück der Einzelnen und der Gemeinschaften nicht übertreiben, aber man darf es auch nicht gänzlich außer Acht lassen. Es ist nicht alles Ernährung und Hygiene am Menschen. Kulturen sind arm oder reich, sie bedrohen andere oder sind selbst bedroht: Hinter so landläufigen Feststellungen stehen andere, die hinzuschreiben weniger genehm ist, weniger ›kulturkonform‹, um es schärfer zu sagen. Kulturen bedienen sich der Techniken der Selbstpreisung oder -anklage im Gewand der Objektivität. Das Glück und die Tragik kultureller Entitäten vollziehen sich als Auf- und Untergänge – das ist der Selbstdeutung von Gemeinschaften immanent. Ihr latent oder offen expansiver Charakter wird durch den Realitätssinn beschränkt oder, je nachdem, angefacht. Auch die Idee des Artenschwundes lässt sie giftig werden, man sollte sich da nichts vormachen. Nichts scheint unproduktiver zu sein als Fundamentalkritik an der ›Kultur‹, die sich den ›Betroffenen‹ als Therapie andient. Sie ist eine Waffe und wird von allen als solche empfunden, die sie auf sich gerichtet sehen. Das Selbst – jedes Selbst – ist mehr als Identität: es ist die Instanz, die sich in ein Spiel um Leben und Tod verwickelt weiß, das gelegentlich zum Kampf wird, und es ist bereit zu kämpfen, sobald es sich nichts Besseres weiß. Das klingt elementar und man sollte es nicht aus den Augen verlieren.
Februar 2009
Die Herausgeber