Die jüngste Finanz- und
Wirtschaftskrise hat zumindest einem Bereich der sogenannten
›Realwirtschaft‹ einen Boom beschert: Dem Markt für Sach- und
Fachbücher, die sich anheischig machen, das Geschehene zu erklären
und Wege zu weisen, wie einem erneuten Zusammenbruch der weltweit
vernetzten Ökonomien zu begegnen sei. Das Angebot reicht von
journalistischen Schnellschüssen über Ratgeber, wie man die Krise
am besten übersteht, bis hin zu Neuauflagen von Klassikern wie John
Kenneth Galbraiths Analyse des großen Crashs von 1929, mit dem jene
Ereignisse, die im Herbst 2008 ihren vorläufigen Höhepunkt
erreichten, am häufigsten verglichen wurden.
Der plakative Titel des vorliegenden Buches signalisiert deutlich
genug, dass es ebenfalls auf den publizistischen Wellen surft, die
von dem Beinah-Zusammenbruch der globalisierten Finanzmärkte
aufgepeitscht wurden. Autor Ulrich Thielemann indes, Vizedirektor
des St. Gallener Instituts für Wirtschaftsethik, verfolgt den
Anspruch, die grundsätzliche Insuffizienz des zum »Prinzip des
guten Lebens« (S. 20) erhobenen Marktes aufzuzeigen. Zusammen mit
dem Gründer des Institutes, Peter Ulrich, verfolgt er das Projekt
einer »integrativen Wirtschaftsethik« (IWE), die, anders als
konkurrierende Ansätze, nicht die instrumentelle Logik des
Marktgeschehens selbst bereits für eine valide Quelle ethischer
Normen hält, jedoch auch vermeiden möchte, die philosophische Ethik
zur Ableitung ›richtigen‹ wirtschaftlichen Handelns zu
instrumentalisieren. Damit stellt sich die IWE bewusst außerhalb
des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams, der streng zwischen
dem rationalen (und damit einer exakten Wissenschaft überhaupt erst
zugänglichen) Marktgeschehen und der davon abzugrenzenden, im Kern
jeglicher rationalen – sprich: wissenschaftlichen – Erörterung sich
entziehenden Moralität unterscheidet.
Mit dieser Positionierung ist bereits eine methodische
Vorentscheidung zugunsten eines diskursethischen Ansatzes gefallen,
denn die IWE will ja nicht der ›wissenschaftlichen‹ Behandlung des
Themas Ökonomie eine ›nichtwissenschaftliche‹ entgegensetzen,
sondern den Nachweis führen, dass wirtschaftliches Handeln per se
ethisch relevantes Handeln sei (in dem Sinne, dass es ethischer
Normen bedürfe). Die konventionellen Wirtschaftstheorien böten, so
Thielemanns Argumentation, eine verkürzte Sicht des
Marktgeschehens, die unter dem Deckmantel vermeintlicher
»Objektivität« eine »verschwiegene Ethik« (S. 22) verfolgten. Es
gehe in erster Linie darum, diese »explizit« (ebd.) und damit einer
kritischen Beurteilung zugänglich zu machen.
Anders als der Titel vielleicht suggeriert, stellt der Autor also
nicht das ›System‹ in Frage. Nicht der Markt sei das Problem,
sondern die »Marktgläubigkeit […] der buchstäbliche Glaube, dass
die Marktlogik, die Ergebnis des Eigeninteressestrebens des Homo
oeconomicus ist, zahlreiche ethisch ›positive‹ Eigenschaften
besitzt oder gar den Inbegriff der ethischen Vernunft markiert.«
(S. 24). Gerade in dieser Haltung zeige sich, dass »der Ökonomismus
im Ganzen ein irrationales Unterfangen [ist]. Er ist noch
vormodernem Denken verhaftet und hat noch nicht wirklich die
Aufklärung durchlaufen. Er glaubt, sich mit der Rhetorik der
Freiheit schmücken zu dürfen, repräsentiert aber ein Modell einer
Gesellschaft von letztlich Unfreien.« (ebd.)
Starke Worte, wenngleich nicht ganz so originell, wie es auf den
ersten Blick scheinen könnte. Dem Umstand, dass den bürgerlichen
Verteidigern die selbstgeschaffenen ökonomischen Verhältnisse wie
eine Naturnotwendigkeit erscheinen, haben bereits Horkheimer und
Adorno mit ihrer Lesart des Marxschen Begriffs der ›zweiten Natur‹
(Dialektik der Aufklärung, New York 1944, Neuauflage Frankfurt/M.
1969) Rechnung getragen. Auch wenn es heute scheinen könnte, als
sei die Zeit darüber hinweggegangen: Wenn man sich, wie Thielemann,
auf die vor allem von den Theoretikern der Neuen Frankfurter Schule
weiterentwickelte Diskursethik beruft, sollte man schon auch auf
deren theoretische Tradition ein Auge haben. Die These vom Umschlag
der (bürgerlichen) Aufklärung in Repression ist bei allen
Vorbehalten, die man gegen sie vorbringen könnte, gehaltvoller als
die ahistorische Behauptung, der Ökonomismus habe dieselbe noch
nicht durchlaufen. Wie soll man sich das denn vorstellen? Sind die
heute tonangebenden Wirtschaftswissenschaftler und Manager per
Zeitmaschine aus dem achtzehnten ins einundzwanzigste Jahrhundert
transferiert worden?
Das ist natürlich eine rhetorische Frage, doch überspitzt sie die
Problemlage nicht mehr als die oben zitierte Behauptung, die wohl
eher als polemische Rechtfertigung des Ansatzes der IWE zu
verstehen ist, denn als ernstgemeinte analytische Aussage.
Thielemann beruft sich im Wesentlichen auf die Kantische Ethik als
letztbegründender Instanz und damit auf die aufklärerische
Tradition (Deutschlands). Das könnte man, bei aller Sympathie für
den kategorischen Imperativ, zu Beginn der zweiten Dekade des
einundzwanzigsten Jahrhunderts durchaus ›naiv‹ nennen.
Andererseits verhält es sich mit diskursiven Auseinandersetzungen
ein bisschen wie mit dem Tennis: Man kann nur so gut sein, wie die
Gegenpartei erlaubt – sofern man es nicht vorzieht, in postmoderner
Manier den Diskurs zu übersteigen und auf einer Metaebene
weiterzumachen (oder, um im Bild zu bleiben, den Tennisschläger
mitten im Spiel fortzuwerfen und auf dem Schiedsrichterstuhl Platz
zu nehmen). Als Wirtschaftsethiker mit akademischer Ausbildung in
Volkswirtschaftslehre bleibt Thielemann der ökonomischen Logik und
Begrifflichkeit verpflichtet. Die Apologeten des freien Marktes
indes, die er nicht mit dem in der Öffentlichkeit verbreiteten
Etikett des ›Neoliberalismus‹ belegen mag, weil dieses den
Begründern der Sozialen Marktwirtschaft zustehe (deren
ordnungspolitisches Denken gerade nicht von Marktgläubigkeit,
sondern, im Gegenteil, von Marktskepsis geprägt gewesen sei) führen
sich, je länger die Krise dauert und je größere
volkswirtschaftliche Schäden die außer Rand und Band geratenen
Verantwortlichen in den Konzernen, Banken und
Vermögensverwaltungsgesellschaften anrichten, mehr und mehr wie
Autisten auf, indem sie jeglichen Einwand, der sich nicht ihrem
engen Denken verpflichtet zeigt, mit den immer gleichen Formeln und
Parolen niederschreien – sofern sie nicht einfach stur darüber
hinwegsehen. Der Autor geht auf diesen Umstand nicht ein, sondern
nimmt die durch die Medien verbreiteten Äußerungen der sattsam
bekannten ›Experten‹ ausnahmslos zum Nennwert.
Zu den unantastbaren Gewissheiten der Marktgläubigen gehört die
Doktrin vom »Vorteilstausch« (S. 36 f.): Anbieter und Nachfrager
treffen sich auf dem Markt zu einem freiwilligen Austausch. Dieser
erfolgt stets zum beiderseitigen Vorteil, anderenfalls würde er ja
nicht stattfinden, Punkt. Thielemann nimmt dieses simple ›Gesetz‹
zum Anlass, den so argumentierenden Vertretern des
wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams vorzuwerfen, sie hätten
das Wettbewerbsprinzip nicht verstanden. Genau besehen bestehe der
Markt nämlich nicht aus zwei Parteien, sondern aus dreien: den
beiden Tauschpartnern und einem Dritten, der bei dem Geschäft außen
vor bleibe. Dieser Dritte kann ein Unternehmen sein, dessen Angebot
zu teuer ist oder aus irgendwelchen anderen Gründen nicht genau der
Nachfrage entspricht, aber auch ein Mensch, der nicht genug
bezahlen kann, um ein Angebot anzunehmen oder der einfach zu spät
zum Zuge kommt. Die jüngste Krise bietet dem Autor genügend
Anschauungsmaterial, das Existenzbedrohende solcher Niederlagen im
Wettbewerb deutlich vor Augen zu führen. Das Wesen dieses Prozesses
bezeichnet er mit dem von Joseph Schumpeter zur Beschreibung der
stetigen Umwälzung und Erneuerung der Produktionsfaktoren im
Kapitalismus gebrauchten Oxymoron »schöpferische Zerstörung« (S.
41). Den Marktapologeten wirft er vor, dass sie die beiden Seiten
des Prozesses Schöpfung
und Zerstörung »nicht simultan« (S.
48) denken würden. Der Vorwurf, die Opfer des Wettbewerbs zu
unterschlagen, ist angesichts der Doktrin vom »Vorteilstausch«
sicher gerechtfertigt, doch der Autor hat mit seiner Verwendung dem
Schumpeterschen Ausdruck stillschweigend eine neue Bedeutung
gegeben: Historisch betrachtet dürfte dieser eher an Theorien
evolutionärer Entwicklung angelehnt sein als an irgendwelche
Überlegungen aus der praktischen Philosophie. Gerade das Simultane
von Schöpfung und Zerstörung ist ja aus der evolutionären
Vogelschauperspektive das ›Tröstliche‹, das die Opfer des
Fortschritts rechtfertigt.
Hinsichtlich der ethischen Dimensionen argumentiert Thielemann
stringenter (wenngleich analytisch nicht unbedingt sauberer) bei
seiner Rückführung des gegeneinander Aufrechnens von »Gewinnern«
und »Verlierern« des Wettbewerbs auf den Utilitarismus (S. 55 ff).
Damit hat er offenbar jene Ethik, die den Wirtschaftswissenschaften
›stillschweigend‹ zugrunde liegt, benannt. Diese allerdings, um auf
den eingangs erhobenen Vorwurf zurückzukommen, als ›vormodern‹ und
›unaufgeklärt‹ zu bezeichnen, ist doch, um es milde auszudrücken,
ziemlich gewagt. Versteht man die geistige Bewegung der Aufklärung
als Abwendung von außer- oder überweltlichen Faktoren im Sinne
einer ›Säkularisierung‹, dann kann der Utilitarismus sogar
beanspruchen, ›moderner‹ zu sein, als die Kantische
Transzendentalphilosophie. Eben darin liegt ja auch seine
Schlagkraft begründet. Sie besteht unter anderem in der
problemlosen Adaption zeitgenössischer natur- und
humanwissenschaftlicher Erkenntnisse (von der Evolutionstheorie
über die Psychologie bis hin zu den in jüngster Zeit mehr und mehr
in den Vordergrund tretenden Neurowissenschaften) zur Begründung
ethischer Urteile. Die Geltung der Kantischen Ethik hängt
demgegenüber von der Akzeptanz der transzendentalen Kategorie der
›Menschheit‹ ab, die mehr beinhaltet als im biologischen
Gattungsbegriff zum Ausdruck kommt. Der Utilitarismus ersetzt diese
durch den zwar ebenfalls fiktiven, aber enger mit dem konkreten
gesellschaftlichen Kollektiv verknüpften eudämonistischen Begriff
des ›Glücks der größten Zahl‹.
Streng genommen besteht das Vergehen der Vertreter des
wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams auch nicht darin, dass
sie Gewinner und Verlierer gegeneinander aufrechnen – das tun sie
nicht – vielmehr bilanzieren sie
Gewinne und
Verluste; der Sündenfall ist die nur
behauptete Identität von
maximalem ökonomischem Nutzen und dem, utilitaristisch gesprochen,
›Glück der größten Zahl‹ (oder, um es mehr im Sinne der deutschen
Aufklärung zu sagen, dem ›Allgemeinwohl‹). Thielemann selbst drückt
dies so aus: »[D]ie ›Gesamtsumme des Glücks‹ lässt sich leicht mit
dem Bruttoinlandsprodukt, also der volkswirtschaftlichen
Wertschöpfung eines Landes beziehungsweise der Welt,
identifizieren.« (S. 57). – Das aber hat nichts damit zu tun, dass
der Utilitarismus eine »abstruse Ethik« (S. 56) wäre, sondern hängt
schlicht und ergreifend mit der unreflektierten methodischen
Beschränktheit der Ökonomik zusammen, die ein quantifizierendes
Denken in Bilanzen betreibt, während ihre Protagonisten
unumstößliche gesellschaftliche Wahrheiten auszusprechen wähnen.
Benthams ›größtmögliches Glück der größtmöglichen Zahl‹ ist im
Übrigen viel zu unbestimmt, um ohne Weiteres zu einem
bilanzierenden Denken zu führen. Und auch der ›Nutzen‹ im
eudämonistischen Sinn ist nicht umstandslos als ökonomischer
Vorteil zu deuten (auch wenn die meisten Ökonomen dies gewiss ohne
großes Nachdenken tun würden).
Dass sie es tatsächlich tun, zeigt Thielemann sehr anschaulich im
dritten Kapitel, in dem es um »die Totalisierung des Marktes« (S.
65) geht. Hier muss er keine abstrakten ethischen oder ökonomischen
Überlegungen anstellen; es genügt, entlang der öffentlichen
Äußerungen prominenter Manager, Wirtschaftswissenschaftler und
Unternehmensberater zu argumentieren, um zu verdeutlichen, wie das
unternehmerische Gewinnstreben in den letzten Jahrzehnten nach und
nach von einer Ideologie der Gewinnmaximierung um jeden Preis
abgelöst wurde. Der zentrale Begriff dieser Praxis lautet
»Opportunitätskosten« (S. 73). Damit sind noch nicht realisierte
Möglichkeiten zur Gewinnsteigerung gemeint, die sich in einem
Unternehmen quasi ›verstecken‹. Dieses ›Potenzial‹ wird nun, und
hierin besteht der eigentliche Clou der marktradikalen Ansichten,
als
tatsächlicher Verlust
angesehen. Wenn ein Manager seine Aufgabe vordringlich darin sieht,
das eingesetzte Kapital bestmöglich zu vermehren, resultiert aus
der Aufdeckung solcher »Opportunitätskosten« unmittelbar eine
Schuld: Er hat seine Pflicht gegenüber den Kapitaleignern
vernachlässigt. Diese ethische Pointe freilich übersieht der Autor.
Vielmehr richtet er sein Augenmerk auf die Verursacher solcher
Radikalisierung: »Die ›jungen Männer‹, das sind heute ehrgeizige
Absolventen von Managementschulen, Berater von McKinsey oder
Manager von Private-Equity-Fonds. Diese treten an – ohne dass es
ihnen bewusst wäre –, alle rentabilitätsfremden Gesichtspunkte
(oder eben Traditionen und Gewohnheiten) in den
Geschäftsbeziehungen aufzuspüren beziehungsweise zu ›entdecken‹
(Hayek) – um sie systematisch zu eliminieren.« (S. 75)
Trotz des Drucks, der von solchen »Erneuerern« des Kapitalismus
ohne Zweifel ausgeht, sieht Thielemann die Manager der
kapitalisierten Großunternehmen nicht nur als »Getriebene« an,
sondern, da sie dank ergebnisorientierter Bezahlung mit der
Reduzierung von »Opportunitätskosten« ihren eigenen Vorteil
verfolgen, genausogut als »Treiber des Kapitals« (S. 84 ff.). Die
Schuld allerdings allein bei den Managern, Beratern und
Fondsverwaltern zu suchen, erscheint ihm »zu einfach« (S. 90). Mit
Weber konstatiert er die
»Instanzlosigkeit des
Wettbewerbsprozesses [Hervorhebung im Original, J. B.]« (S. 94).
Und genau an dieser Stelle sieht er den Ansatzpunkt für die
Wirtschaftsethik, denn die Sachzwänge, welche das System
hervorbringe und welche die von den Marktgläubigen angepriesene
»Freiheit« desavouierten, beruhten letztendlich darauf, »dass der
Prozess praktisch von Anfang an, seit Adam Smith, mit den falschen
Kategorien beleuchtet wurde, beziehungsweise dass er eher
verdunkelt als hell in seiner Problematik ausgeleuchtet wurde.« (S.
95 f.). – Läuft es am Ende also doch auf die Systemfrage
hinaus?
So weit geht der Autor nicht. In einer kursorischen Abhandlung über
ethische Grundfragen legt er im vierten Kapitel die argumentativen
Schwächen der Gegenseite bloß, die mit ihren holzschnittartigen
Simplifikationen das gesellschaftliche Handeln auf ein eindeutiges
Entweder/Oder herunterbrächen (entweder Freiheit, Eigennutz,
Fortschritt oder Solidarität, Altruismus, enteignende Umverteilung)
und die damit den Gedanken der Fairness negierten, der, anders als
die Verpflichtung zur Solidarität, eine, mit Kant gesprochen,
»unnachlassliche« Pflicht sei (S. 114), die schon aus der Tatsache
folge, dass ausnahmslos alle Einkommen in modernen Gesellschaften
arbeitsteilig erwirtschaftet würden.
Dass es die radikalisierten Manager und ihre Apologeten aus dem
akademischen Betrieb an Fairness missen lassen, ist freilich
mittlerweile zum Allgemeinplatz geworden – oder doch nicht? Seine
größten Stärken entfaltet der Ansatz der IWE, wenn Thielemann im
fünften Kapitel anhand zahlreicher Beispiele die
Rechtfertigungsversuche von Managern, Wirtschaftswissenschaftlern
und Politikern bloßstellt, die uns in den vergangenen Jahren von
der ›Alternativlosigkeit‹ des eingeschlagenen Weges überzeugen
wollten. Dabei unterscheidet er zwischen zwei grundsätzlichen
Strategien: Dem Ökonomismus und dem Separatismus. Ersterer
verbreite als »Glaube an die höhere Vernunft des Marktes« (S. 132)
die Überzeugung, eine ethische Haltung sei überflüssig, da der am
Markt verfolgte Eigennutz selbst bereits durch den Wohlstand, den
er hervorbringe, ethisch legitimiert sei. Der Autor nennt diese
funktionalistische Haltung eine »Ethik ohne Moral« (ebd.). An
dieser Stelle führt er auch aus, weshalb er die Vertreter solcher
Lehren für unaufgeklärte Anhänger vormoderner Metaphysik hält:
»Denn wenn wir es nicht sind, die autonom das ethisch Richtige
bestimmen, dann muss eine überpersönliche Macht unterstellt werden.
Jede Ethik ohne Moral ist im Kern metaphysisch.« (S. 135).
Spätestens hier tritt klar zutage, wie dringend die
Wirtschaftswissenschaften einer interdisziplinären Öffnung
bedürfen. Zwar ist Thielemann nicht wie zahllose seiner Kollegen
dem Wahn verfallen, die Ökonomie habe mit der Mathematisierung den
mittelalterlichen Sumpf sinnlosen scholastischen Spekulierens ein
für alle Mal verlassen und den Status einer exakten Wissenschaft,
gleichrangig neben Mathematik und Physik, erlangt, doch auf seine
Weise macht auch er es sich ein bisschen zu einfach, wenn er meint,
es genüge, das Kantische autonome Subjekt aufs Neue in seine Rechte
einzusetzen (und ganz nebenbei zweihundert Jahre sozial- und
kulturwissenschaftliche Reflexion und Forschung einfach zu
übersehen).
Damit soll nun keineswegs mit kulturalistischen Argumenten die
Vernunftfähigkeit des Menschen in Abrede gestellt (und gar der
Ökonomismus gerettet) werden. Aber dem Gegenüber in einem
strittigen Diskurs einfach vorzuwerfen, er betreibe Metaphysik, ist
ein alter Hut, der niemanden mehr erregt, schon gar nicht den
Angehörigen einer Wissenschaft wie der Ökonomie, deren Omnipräsenz
ja nicht darauf beruhe, dass die Verantwortlichen in Politik,
Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik sich zu einer Sekte der
»Marktgläubigen« zusammengeschlossen haben. Thielemann scheint
indes von dieser Annahme auszugehen, und so beschränkt er sich in
seiner Analyse auf die entsprechenden Einlassungen der Gegenseite,
ohne zu differenzieren, ob es sich dabei um wissenschaftlich
beglaubigte Aussagen, politische Statements oder gar nur PR-Texte
handelt, die gewiss nicht dazu dienen, einen ethischen, geschweige
denn (wirtschafts-)wissenschaftlichen Diskurs zu führen, sondern
bestenfalls Schlagworte aus beiden aufgreifen, um Imagepflege zu
betreiben.
Das »separative Verständnis von Wirtschafts- und Unternehmensethik«
(S. 150 f.), um dies noch zu Ende zu führen, besteht nach
Thielemann und Ulrich in einer »Zwei-Welten-Konzeption«, die
ökonomisches und ethisches Verhalten strikt voneinander trenne, und
ethische Defizite der Gewinnmaximierung durch Spenden oder andere
nachgelagerte »freiwillige« Aktivitäten zu kompensieren suche. Die
Widersprüche solcher Praktiken aufzuzeigen, kostet den Autor keine
besondere Mühe.
Die IWE des St. Gallener Instituts preist er am Ende des Kapitels
gewissermaßen als dritten Weg, der die zuvor aufgezeigten Fehler
vermeide. Letztendlich läuft seine Argumentation auf die
Verteidigung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates und die
Forderung eines klaren Ordnungsrahmens für die Wirtschaft hinaus,
eigentlich alles Selbstverständlichkeiten, sollte man meinen. Die
spannende Frage lautet deshalb: Warum verstehen sich diese
Grundvoraussetzungen unseres Gemeinwesens heute anscheinend nicht
mehr von selbst, und zwar offensichtlich gerade bei jenen, die sich
selbst als Führungseliten seiner privaten und staatlichen
Institutionen andienen? Diese Frage stellt sich nach der Lektüre
von Thielemanns Buch noch viel dringlicher, ohne dass man auch nur
eine Ahnung erhielte, wie eine halbwegs zufriedenstellende Antwort
lauten müsste. Die einfache Empfehlung, »den Markt zu begrenzen«
(S. 233), ihn in »gesellschaftliche Werte und Normen« (S. 235)
einzubetten und nicht völlig auf die »Lebenswelt« übergreifen zu
lassen, ist viel zu betulich, um im gegenwärtigen Stadium der
Entwicklung noch Aussicht auf Erfolg zu haben.
Jörg Büsching