Burckhard Dücker
Kultur und Zeitfenster
Zur kulturwissenschaftlichen Funktion einer Rahmenmetapher

1. Einleitung

Fenster gehören zu den baugeschichtlich elementaren und durchgehend konstanten Komponenten historischer und moderner Wohn- und Funktionsarchitektur aller Kulturen (zur Geschichte des Fensters vgl. Klinkott 1994). Sie stellen eine fundamentale »Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen« (Badstübner 1970, XIV) dar. Wegen extremer klimatischer Bedingungen kommen indigene Ethnien für ihre traditionellen Bauformen aber auch ohne den Einbau von Fenstern aus; deren Funktion wird – so weit möglich – von der Tür mit übernommen. Dies gilt z.B. für die Iglus der Inuits wie für die Jurten mongolischer Hirten. In der Regel aber werden Wand- und Dachflächen von Fenstern unterbrochen, die sich öffnen und schließen lassen, die also gleichsam mobile Gebäudesegmente darstellen und die darüber hinaus die Unterscheidung von innen und außen ermöglichen.

Obwohl der Begriff Zeitfenster nach dem Muster von Dach- und Holzfenster mit dem Segment Fenster als Grundwort gebildet ist, sind Zeitfenster in keinem Haus eingebaut. Man kann sie auch weder bei einem Schreiner anfertigen lassen noch als serienmäßiges Fertigprodukt nach DIN-Vorgabe im Baumarkt erwerben. Vielmehr werden unter der Metapher Zeitfenster situationsspezifisch ausgelegte soziale Konstrukte verstanden, die in vielen gesellschaftlichen Bereichen für die reibungslose Abwicklung differenzierter und komplexer Produktions-, Planungs- und Handlungsprozesse geradezu unverzichtbar sind.

Ich werde zunächst auf die Gebäudekomponente Fenster und deren metaphorische Potentialität eingehen. Daran schließen sich Ausführungen zur Funktion der Rahmenmetapher Zeitfenster  in diversen gesellschaftlichen Bereichen an, um dann deren Leistung im kulturellen Feld und für forschungstheoretische und –praktische Ansätze in den Kulturwissenschaften zu betrachten. Exemplarisch benutze ich vier Zeitfenster, die sich auf folgende Ereignisse beziehen:

— die Trauerrede Günther Oettingers als Ministerpräsident von Baden-Württemberg bei der Bestattung des ehemaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger im Jahr 2007,

— das literarische Debüt Helene Hegemanns 2010,

— den Erfolg von Lena Meyer-Landrut beim Eurovision Song Contest 2010,

— die Loveparade in Duisburg 2010.

2. Zur Gebäudekomponente Fenster und ihrer metaphorischen Potentialität

Verfolgt man die Architekturgeschichte von Wohnhaustypen und –formen, von gewerblichen, industriellen und landwirtschaftlichen Funktionsgebäuden bis in die Gegenwart, so ergibt sich der Befund, dass – abgesehen von speziellen Funktionstypen – für alle Ausprägungen dieser Gebäudeklassen Fenster, zumindest Fensteröffnungen, unverzichtbar sind. Ob kombinierte Wohn- und politische bzw. institutionelle  Repräsentationsbauten wie Paläste, Burgen und Schlösser oder Pfarrhäuser und Schulen, ob die Kombination von Wohnhaus und Werkstatt unter einem Dach, ob stadtbürgerliche Wohngebäude aller Schichten oder auch Bauernhäuser in dörflichen Gemeinden und Einödhöfe, alle diese Gebäude verfügen über Fenster, die sich in Bezug auf Zahl, Größe, Form und dekorative Gestaltung in aller Regel so signifikant unterscheiden, dass darin eine programmatische siedlungssoziologische Dimension wirksam zu sein scheint. Fenster gehören zu den Repräsentationsmerkmalen von Bauwerken und spiegeln diese Funktion in der je besonderen Gestaltung der Rahmen, Fensterstürze und Flügel wider; Uhlig / Wolff (1994, 26) berichten von der Erhebung einer »Fenstersteuer, die zum aufgemalten Fenster führen sollte«. Fenster in modernen Gebäuden haben häufig keine Repräsentations-, sondern ausschließlich eine Gebrauchsfunktion und zeichnen sich daher durch Gleichartigkeit aus.

Nicht zuletzt ist diese Vielfalt der Fensterformen, die einerseits durch klimatische und siedlungsgeographische Gegebenheiten bedingt sein mag, aber andererseits auch Ausdruck einer sozialen Differenzierungsfunktion zu sein scheint, abzulesen an den Typenklassen: Benennungen wie Dach-, Erker-, Tür-, Stall-, Küchen-, Bade- und Wohnzimmerfenster, Schlafzimmer- und Kammerfenster geben mit dem Ort des Fensters auch das Vorhandensein eines entsprechenden separaten Funktionsraums an. Aber auch andere Bezeichnungen wie Schiebe-, Klapp-, Kipp- und Drehfenster oder eine Kombination aus diesen Bedienungsformen enthalten – vor allem im Falle modischer Privilegierung einer dieser Formen – Hinweise auf eine intendierte soziale Zugehörigkeit bzw. Differenz und die Einstellung der Besitzer oder Mieter zu Fragen der Modernisierung. Ebenso dient das Material des Rahmens zur Bezeichnung unterschiedlicher Fenstertypen wie z.B. Holz-, Kunststoff-, Aluminium-, Metallfenster und kann – ebenfalls unter programmatischem Gesichtspunkt  – die Bau- bzw. Modernisierungszeit, aber auch das ökologische Bewusstsein des Eigentümers markieren.

Welche Funktionen erfüllen Fenster? Prioritär dienen sie den Interessen jener, die sich im Innenraum befinden. Je nach Rahmengröße und der Position der Fenster in Bezug auf die Himmelsrichtung und die Lage der Häuser (z.B. berg-, straßenseitig) sind die Fenster größer oder kleiner und lassen mehr oder weniger Helligkeit von außen nach innen, ermöglichen die atmosphärische Reinigung des Innenraums und seines Mikroklimas durch Luftzufuhr von außen, vermindern Isolation und Kommunikationslosigkeit im Innenraum, insgesamt verschaffen sie dem begrenzten, erfahrungssicheren und statischen Innenraum die Möglichkeit, am unbegrenzten, erfahrungsoffenen und dynamischen Außen teilzuhaben.

Für den vorliegenden Zusammenhang interessieren aber besonders die kulturbezüglichen und -analytischen Möglichkeiten des Fensters. Grundsätzlich heben Fenster die Geschlossenheit und Begrenztheit des gebauten Raums zugunsten der Öffnung und Erweiterung von Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum auf. Weil Fenster ähnlich wie Grenzen trennen und verbinden, weil auch sie Begrenzungen grundsätzlich passierbar machen, zugleich aber als Begrenzung wirken, trifft das kulturelle Bedeutungsnetz von Grenzen weitgehend ebenso auf Fenster zu. Sie konstituieren die kulturell fundamentale Programmatik von Innen und Außen bzw. von Innenwelt und Außenwelt, von zugehörig und nicht zugehörig, von wir und ihr/sie, von Eigenem und Fremdem, indem sie selbst die Funktion der Grenze zwischen beiden Seiten übernehmen. Ob geschlossen oder geöffnet, Fenster ermöglichen in jedem Fall den Blick von innen nach außen und – im Prinzip, aber gerade in der Gegenwart keineswegs selbstverständlich – auch in umgekehrter Richtung. Allerdings sind die Ausdehnung und Formung des Wahrnehmungsraums grundsätzlich von der Rahmengröße (zu Rahmen / Rahmung vgl. Dücker 2007, 78-102) des jeweiligen Fensters abhängig. Ereignisabläufe und -zusammenhänge, die sich außen vollziehen, können nur so weit wahrgenommen werden, wie der Rahmen des Fensters dies zulässt. Obwohl der Zugriff vom Innenraum auf das Außen wie auch umgekehrt also prinzipiell gerahmt, d.h. begrenzt und gelenkt ist, ermöglichen größere Rahmen mehr Teilhabe am Außen, weil sie gegenüber eng dimensionierten Rahmen einen Informations- und damit auch Handlungsvorsprung sichern. Wer sich mehr Informationen verschaffen kann als andere, kann schneller bzw. früher reagieren als diese.

Unter diesem Aspekt zeigen historische baurechtliche Bestimmungen über die Fensterzahl und -größe bei unterschiedlichen Gebäudetypen eine grundsätzlich baupolitische Dimension, weil Nutzer großer Häuser mit großen Fenstern auf allen Seiten nicht nur informationell privilegiert werden. Wer das Verfügungsrecht über die Benutzung, insbesondere die Öffnung und Schließung eines Fensters besitzt, kann sich immer wieder die entlastende Erfahrung verschaffen, nicht allein zu sein bzw. sein zu müssen, die Begrenzung seines Innenraums überschreiten und mit den Menschen des Außen Kontakt aufnehmen zu können. So verbindet das Fenster Sicherheit und Privilegien des – gerade privaten – Innenraums mit der Gewissheit eines anderen Lebens im öffentlichen Außen, wobei die Teilnahme daran ebenso möglich ist wie die Abwendung davon. Was Hecker für die Grenze feststellt, gilt analog auch für das Fenster als ›Alltagsgrenze‹ zwischen privatem und öffentlichem Bereich, zwischen Innen- und Außenwelt: »Nur innerhalb von Grenzen fühlen wir uns sicher, weil sie die sicherste Orientierung bieten, vor allem aber, weil sie signalisieren: ›Es gibt noch jemanden außer Dir. Du bist nicht allein. Hinter jeder Grenze geht es weiter; dort existiert noch jemand und noch etwas‹« (Hecker 2006, 12). In diesem Sinne dienen Fenster als Metaphern für sämtliche Möglichkeiten, einen kulturellen Raum nach außen zu öffnen und wieder zu schließen.

Als Wahrnehmungsrahmen konstituieren Fenster geradezu den kulturellen Raum, während ein Gebäude ohne Fenster kulturell nicht funktionsfähig ist, weil ein Austausch zwischen innen und außen, hier und dort nicht möglich ist. So stellen die Schildbürger kulturbezogene Hypothesen über ihr ohne Fenster erbautes Rathaus auf, wie z.B. dass es innen Nacht und außen Tag sei, bis sie die kulturkonstitutive Funktion der Fenster erkennen. Ein Gebäude ohne Fenster ist nicht auf Kommunikation, Interaktion und das Möglichkeitsprinzip als Basis kulturellen Handelns angelegt.

In diesem Zusammenhang sind auch die literarischen und künstlerischen Motive des Blicks aus dem Fenster bzw. ins Fenster und des verbotenen Blicks zu erwähnen. So präsentieren sich im Märchen der Brüder Grimm Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) die Tiere als Pyramide von außen im Fensterrahmen den Räubern innen, so dass sie das Fenster ausfüllen, »dann stürzten sie durch das Fenster in die Stube hinein, dass die Scheiben klirrten« (KHM S. 163), woraufhin die Räuber in den Wald flüchten. Zugleich bestätigen die Tiere das Fenster als Grenze, die sie überschreiten, indem sie die Scheiben zerbrechen und das Fenster als Tür benutzen. Sowohl der Ereigniszusammenhang, den die Tiere aufgrund ihres Blickes von außen nach innen wahrnehmen und deuten als auch jener, den sich die Räuber aufgrund ihres Blickes in umgekehrter Richtung konstruieren, ist durch den Wahrnehmungsrahmen des Fensters festgelegt. Nur in diesem Rahmen kann die Pyramide der Tiere ihre Wirkung entfalten. Wirklichkeit entsteht demnach durch die wechselseitige Konstruktion von Innen und Außen, von Diesseits und Jenseits der Grenze, wobei die Beteiligten die Seiten auch wechseln können.

Mit dem Motiv des Blicks in verbotene Räume werden Arkanbereiche oder Situationen erschlossen, die im Allgemeinen unsichtbar bleiben sollen, wie z.B. im Grimms Märchen Frau Trude (KHM 43). Das kleine Mädchen sagt zu Frau Trude, die als Hexe bekannt ist: »Ach, Frau Trude, mir grauste, ich sah durchs Fenster und sah Euch nicht, wohl aber den Teufel mit feurigem Kopf.« − »Oho«, sagte sie [Frau Trude] »so hast du die Hexe in ihrem rechten Schmuck gesehen« (KHM S. 227) und verwandelt das Mädchen in einen Holzklotz. Arkanbereiche werden entweder zufällig entdeckt oder aufgrund präziser Planung zu einem bestimmten Zeitpunkt gesehen, z. B. um Mitternacht. Im Fenster erscheinen sie nur kurzzeitig für einen Augenblick.

Wenn die Verfügungsgewalt über ein Fenster als soziales Privileg erscheint, das in der Erfahrung von Selbstbestimmung, Freiheit und vor allem der Möglichkeit besteht, am Sozialen teilnehmen zu können, dann überrascht es nicht, dass Räume des historischen Strafvollzugs wie Verliese oder Türme fensterlos sind und dass auch in der Moderne Vollzugsanstalten häufig nur über kleine und direkt unter der Zellendecke angebrachte, noch dazu vergitterte Kippfenster verfügen, die die Wahrnehmung des sozialen Lebens kaum zulassen.

Weil Fenster eine prinzipiell durchlässige Grenze darstellen, weil sie der Wahrnehmung der Vorgänge im Außen keinen Filter vorsetzen, gehört zu ihrer Funktion auch die Gewährung von Abwechslung und Neuem, so dass grundsätzlich von einer Konkurrenzsituation zwischen dem Erfahrungs- und Aufmerksamkeitsangebot des Innenraums und dem des umgebenden Außen auszugehen ist. Nicht zuletzt um eine solche Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Innengeschehen zu verhindern, sind zentrale Kulträume in Sakralbauten häufig nicht mit Fenstern in Sichthöhe oder mit transparenten Scheiben ausgestattet; hier haben Fenster dagegen die Funktion von Bildprogrammen für die jeweilige religiöse Orientierung. Überdies hat die christliche Kirche die institutionell unzulässige Neugier als Todsünde der curiositas unter Strafe gestellt, weil sie zu Grenzüberschreitungen im religiösen, ethischen und institutionellen Bereich führen kann (vgl. Bös 1995) und dann als Ausdruck abweichender Interessen und Begehrlichkeiten gilt. Davon zu unterscheiden sind die wissenschaftliche Neugier, die sich theoretisch und praktisch äußern kann, aber auch die ästhetische Neugier, die beide durch die Programmatik der Grenzüberschreitung oder –verschiebung definiert werden (vgl. Krüger 2002).

So kann die Verfügung über die Fenster, d.h. die Verhinderung von Außenkontakten durch fensterlose Wände, opake Scheiben oder nicht zu öffnende, statische Fenster auch als Disziplinierungs- oder Herrschaftsmittel eingesetzt werden, was neben Sakralbauten auch für industrielle Produktionsräume gelten mag, wenn die Aufmerksamkeit oder – noch konkreter – das Gesichtsfeld der Arbeitnehmer ausschließlich auf den Produktionsprozess beschränkt werden soll. Um die Bevölkerung während eines Krieges vor Gewalteinwirkungen zu schützen, haben Flucht- und Schutzräume keine Fenster. Wenn aber die natürliche Belüftung durch Öffnen der Fenster zugunsten der Energieeinsparung durch die Technik der Klimaanlagen und statische Fenster ersetzt ist, können sich Störungen im Betriebssystem der Klimaanlagen verhängnisvoll auswirken. »Das ist das eigentlich Erschreckende: Dass es in der modernen Welt immer mehr Orte gibt mit Fenstern, welche sich nicht öffnen lassen: Züge, Busse, Schiffe, Hotels, Büros, Wohnhäuser werden so zu Bunkern ihres jeweiligen künstlichen Mikroklimas. Dabei ist das weit geöffnete Fenster seit alters her nicht nur eine Verbindung zwischen innen und außen, sondern auch zwischen Diesseits und Jenseits« (Zips in SZ 14. 07. 2010). Angesichts des statischen Fensters verliert das Fenster als Metapher der Grenze und ihrer Überschreitung, also des Übergangs und Austauschs, seinen Realbezug.

3. Zeitfenster

In der öffentlichen Sprache wird mit dem Begriff Zeitfenster die jeweils sachbezogen festgelegte Zeitspanne bezeichnet, in der ein Problem oder eine Aufgabe gelöst, eine vertragliche Vereinbarung erzielt, ein Arbeitsschritt innerhalb eines Fertigungsprozesses oder allgemein eine Anforderung erfüllt werden müssen. In dieser Bedeutung wird der Begriff Zeitfenster in den Naturwissenschaften, in Industrie und Technik, in Logistik (Ausnutzung von Hallen-, Lager- und Transportkapazitäten, von Lösch- und Liegezeiten in Häfen) und Verkehr (z.B. Eisfreiheit von Seepassagen, Ebbe und Flut), in Landwirtschaft und Medizin, aber auch in politischen (z.B. festgelegte Zeitspanne zum Abschluss von Verträgen, zur Regierungsbildung nach Wahlen) und gesellschaftlichen (z.B. präzise festgelegter Belegungsplan zur Ausnutzung von Sportstätten durch verschiedene Interessentengruppen) Zusammenhängen verwendet. 

Für diese Bereiche wird Zeitfenster bisweilen durch die Metapher Zeitkorridor ersetzt, die besonders die direkte, schon gebahnte Verbindung zwischen einem Ausgangs- und einem Zielpunkt hervorhebt. Ein Zeitkorridor benennt eine Verbindung auf gleichem Niveau, Dimensionen zeitlicher Perspektive, Vergangenheit bzw. Geschichte und Zukunft sind dabei ebenso ohne Belang wie Fragen der Wahrnehmung und deren Rahmung. Zeitkorridor betrifft nicht den Bereich des Optischen, Visuellen oder der Wahrnehmungsinhalte, sondern den der zielgenauen Mobilität.

So wird Zeitfenster etwa in einer Glosse zum Thema »Drittmittelistik« verwendet: »Neben der eigentlichen Forschung, der er [der Universitätswissenschaftler] sich im Rahmen von Forschungszeitfenstern widmet, muss er sich vor allem zum Virtuosen der Rhetorik von Anträgen entwickeln« (Schloeman in SZ 22. 07. 2010). In einer Information des Hessischen Kultusministeriums zum Landesabitur 2011 heißt es: »Aufgrund der vergleichsweise späten Oster- und frühen Sommerferien verbleiben für die Durchführung des Landesabiturs 2011 nur relativ enge Zeitfenster, was die schulinternen Planungen insbesondere auf die zu gewährenden Korrekturzeiten deutlich erschwert« (HKM 09. 08. 2010, www.kultusministerium-hessen.de). Geht es um biologische und medizinische Kontexte, so bezeichnet Zeitfenster z.B. den für Aussaat und Ernte, Operation, Therapie und Befruchtung zur Verfügung stehenden Zeitraum. Im Produktionsbereich sind Arbeitsschritte durch die Angabe eines präzisen Anfangs- und Abschlusstermins eindeutig zeitlich gerahmt. Kann in der vorgesehenen Zeitspanne die Aufgabe nicht erfüllt werden, ist der Zeitrahmen also gesprengt, das Zeitfenster wieder geschlossen, muss bis zum Eintreten des nächsten günstigen Zeitkontinuums gewartet werden, um dann ein neues Zeitfenster zu öffnen.

In den erwähnten Bereichen wird die Bedeutung der Metapher Zeitfenster auf die optimale Ausnutzung der von privaten oder öffentlichen Institutionen oder von natürlichen Bedingungen vorgegebenen Zeitspanne reduziert. Es geht ausschließlich um die ziel- und ergebnisdefinierte Ausführung bestimmter Aufgaben zum günstigsten Zeitpunkt (Kairos) innerhalb der dafür festgelegten Zeitspanne. Interessen und Konkurrenzen spielen für diese Zeitfenster eine wichtige Rolle. Weil sich die situationsspezifischen Zeitfenster auf besonders eng gerahmte interne institutionsdefinierte Vorgänge beziehen, brauchen sie die Dimension sozialer Aufmerksamkeit nicht. In geschlossenen sozialen Räumen rahmen sie normierte Abläufe, die mit ihrer Beendigung abgeschlossen sind.

Dass das Kompositum Zeitfenster eine Metapher ist, wird in den erwähnten Bereichen weder reflektiert noch diskutiert. Bekanntlich beruhen Metaphern auf dem Prinzip der Ähnlichkeit, was nichts anderes heißt, als dass sie Eigenschaften der Funktion, Form oder Bewegung eines Phänomens auf ein anderes übertragen, so dass neue Perspektiven und Wahrnehmungszusammenhänge entstehen. Insgesamt dienen Metaphern also der Konstruktion neuer Wirklichkeit und Erfahrungsmöglichkeiten, Metaphern generieren sozial Neues. So übernimmt die Metapher Zeitfenster vom Grundwort Fenster die Eigenschaft gerahmter Wahrnehmung und konkretisiert den Rahmen mit Hilfe des Bestimmungsworts Zeit als zeitlich dimensionierten Rahmen. Damit wird Zeit zum Werkstoff für die Errichtung eines in seiner zeitlichen Ausdehnung grundsätzlich begrenzten Geltungsraums. Allerdings verlangt diese Konstellation, nicht zuletzt weil Zeit ein soziokulturell und politisch konstruiertes Phänomen und Metapher eine sprachliche Gegebenheit ist, die Aufmerksamkeit der gesamten Öffentlichkeit für jene Ereignisse, die im Zeitfenster erscheinen oder – genauer gesagt – die ein Zeitfenster bilden.

3.1 Zeitfenster und Kultur

Wenn damit jene kulturellen Ereignisse und Kontexte in den Blick geraten, die für eine im vorhinein nicht bestimmbare, aber befristete Zeitspanne zu multimedial vermittelten omnipräsenten Gegenständen des öffentlichen Diskurses werden und für die die Kombination aus Ereignis- und Deutungsprozess konstitutiv ist, dann liegt eine spezifisch kulturwissenschaftliche Verwendung des Begriffs Zeitfenster vor, die sich grundsätzlich von Applikationen in den industriellen, medizinischen usw. Bereichen unterscheidet. Es geht nicht mehr um ergebnisdefinierte normierte Abläufe in einer vorgegebenen Zeitspanne, sondern im Gegenteil um ergebnis- und zeitoffene Aushandlungsprozesse, die Geltung und Design eines Ereigniszusammenhangs prägen, der die soziokulturelle Atmosphäre und die soziale Aufmerksamkeit einer Bezugsgesellschaft für eine befristete Zeit bestimmt. Zeitfenster stellen Zeitgenossenschaft her. Im Gegensatz zum befristet geöffneten Zeitfenster steht der Kanon als dauernd geöffnetes Zeitfenster, der sich über spezielle Gegenwarten hinwegsetzt.

3.2 Beispiele


3.2.1 Günther Oettingers Trauerrede für Hans Filbinger

Am Mittwoch, dem 9. April 2007 hält Günther Oettinger, damaliger Ministerpräsident von Baden-Württemberg, die offizielle Trauerrede bei der Bestattung des ehemaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger. Obwohl es sich um den Typus einer wenig spektakulären Gebrauchsrede handelt, markiert Oettingers Trauerrede einen historischen Augenblick, weil er sie benutzt, um das Angebot einer Umdeutung des allgemein akzeptierten, auf seriösen historischen Forschungen beruhenden Bildes Filbingers zu machen. »Oettinger verfälscht die Geschichte« heißt es in der Süddeutschen Zeitung (dpa in SZ 13. 04. 2007). Dieses und ähnliche Urteile stützen sich vor allem auf folgende Passage der Trauerrede Oettingers: »Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes.« (Dörries in SZ 16. 04. 2007) Unterstützt durch die Aufführungssituation im Rahmen einer durch Medien öffentlich vermittelten offiziellen Trauerrede, bei der Oettinger nicht als Privatperson, sondern kraft Amtes spricht, werden seine Ausführungen als performative Sprechhandlung deutlich. Indem er seine Einschätzung Filbingers ausspricht, verändert sich tendenziell das geltende Geschichtsbild, d.h. die Rede markiert die Aufkündigung einer Ordnung und das Angebot einer neuen Ordnung. Oettingers Rede stellt das Ereignis dar, das fast ausnahmslos unter Hinweis auf seit langem vorliegende gesicherte historische Forschungsergebnisse zurückgewiesen wird. Die zum Ereignis gehörende Deutungsebene zielt auf die Bestätigung der geltenden Erinnerungsordnung. Daher markiert die Aushandlungsphase den Übergang von der durch Oettinger dem Wortlaut nach aufgekündigten alten zur Akzeptanz einer neuen Ordnung, die zwar die alte Ordnung voll und ganz bestätigt, dennoch aber nicht mit ihr identisch ist. Bietet doch die Aushandlungs- oder Zwischenphase betroffenen Institutionen und Privatpersonen vielfältige Gelegenheit, sich mit ihrer Haltung zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, zur Politik Filbingers und Oettingers öffentlich zu präsentieren.

So begründet das Ereignis einen Deutungszusammenhang, zu dem z.B. folgende Einzelheiten gehören: Die Aktualisierung seit langem bekannter juristischer Fälle aus Filbingers Tätigkeit als Marinerichter, Rolf Hochhuths Beitrag zu deren Aufdeckung, Hinweise auf nationalsozialistische Vergangenheiten anderer Prominenter wie Hans Ernst Schneider alias Hans Schwerte und Günter Grass als Subtexte, andere Beispiele für Deutungsprobleme mit der nationalsozialistischen Vergangenheit (Hertha Däubler-Gmelin und Philipp Jenninger), Rücktritts- und Entschuldigungsforderungen von Institutionen, Interessenverbänden und Privatpersonen an Oettinger, Selbstauslegungen und Interviews Oettingers, seine Distanzierung von seiner Rede, Hintergrundbeiträge zur Erinnerungskultur, eine Aufforderung von Bundeskanzlerin Merkel, Oettinger möge sich entschuldigen, eine Debatte im Landtag, schließlich seine Entschuldigung und deren Akzeptanz durch den Zentralrat der Juden in Deutschland.

Damit lässt sich die Rahmung dieses Zeitfensters präzise datieren, nämlich vom 9. – Datum der Trauerrede – bis 26. April 2007 – Veröffentlichungsdatum der Akzeptanz der Entschuldigung. Bedenkt man, dass Oettinger während mehrerer Tage vergeblich aufgefordert wurde, sich zu entschuldigen, schließlich aber doch dieses politische Ritual aufführt, so scheint eine Erläuterung des politischen Mechanismus dieser Geste erforderlich zu sein. Entschuldigungen gehören zu den häufig aufgeführten programmatischen rituellen politischen Handlungen, deren Subjekt ein Akteur oder Täter ist, der sich mit der Entschuldigungshandlung an die Adressaten oder Opfer der Ausgangshandlung wendet. Ein Entschuldigungsritual ist eine interaktive Handlung. Indem ein Akteur seine Entschuldigung öffentlich aufführt, d.h. indem er unter Teilnahme der Medien den formalisierten Satz sagt ›Hiermit entschuldige ich mich bei / für / ‹, bekennt er zunächst seine Schuld gegenüber dem Adressaten der Entschuldigung und erkennt zugleich dessen Recht und Freiheit an, die Entschuldigung anzunehmen oder abzulehnen. So besteht das Ritual der Entschuldigung aus einem reziproken Anerkennungsvollzug zweier Konfliktpartner. Mit der öffentlich vollzogenen Annahme der Entschuldigung gilt der Konflikt in der Regel als beendet, was aber weitere Kommentare und Stellungnahmen nicht ausschließt.

3.2.2 Helene Hegemanns Debütroman Axolotl Roadkill

Auch für das Zeitfenster anlässlich von Helene Hegemanns Debütroman Axolotl Roadkill ist ein zeitlicher Rahmen anzugeben, von Januar 2010 (Erscheinungsmonat des Romans) bis Hegemanns Selbstauslegung im Artikel An meine Kritiker (Die Zeit Nr. 18, 29. April 2010). Dafür, dass Hegemanns Roman ein Zeitfenster begründet, werden in den Diskursbeiträgen immer wieder folgende Gründe genannt: Die Jugend der Autorin, die als Subtext »das Fräuleinwunder der Literatur« (Winkler in SZ 09. 02. 2010) aktualisiert, was impliziert, dass ein Autor womöglich nicht eine vergleichbare Aufmerksamkeit erhalten hätte; die Neuheit von Sprache, Stil und Inhalt provoziert überschwänglich positive Rezensionen, d.h. diese Kritiker exponieren sich eindeutig; die schon wenige Wochen nach Erscheinen des Romans aufgedeckte Plagiatspraxis Hegemanns löst sowohl Distanzierungen der Kritiker als auch erneute Bekräftigungen ihrer Ersturteile aus und hat eine umfassende Diskussion über Zustand und Veränderungsbedarf des literarischen Feldes zur Folge. Nachweislisten der übernommenen Passagen werden dem Buch beigefügt, Hegemann selbst legt eine solche ›Zitatenliste‹ vor, die Unterstützung ihres Vaters, eines Theaterdramaturgen, wird bekannt. Auch negative Rezensionen oder gar ›Verrisse‹ verschaffen der Autorin neue Aufmerksamkeit (Steinfeld in SZ 11. 02. 2010, von Westphalen in SZ 23. 02. 2010). Eine ähnliche Funktion haben kritische Beiträge anerkannter Autoren wie Durs Grünbein (FAZ 23. 02. 2010), Günter Grass (Müller in SZ 17. 03. 2010) und Feridun Zaimoglu (SZ 24. 02. 2010).

Die ästhetische Kontroverse um den konventionellen Begriff des Autors als Schöpfer originaler Texte, den Hegemann für sich beansprucht, dem ihre Plagiatspraxis aber zu widersprechen scheint, schadet dem ökonomischen Erfolg des Buches offenbar nicht. Originalität scheint ohne eine Form von Plagiat nicht möglich zu sein, schon aufgrund der sozialen Institution Sprache. So schlägt Thomas Meinecke wohl unter Rekurs auf Gegebenheiten des Internetverfahrens ›Sampling‹ vor, statt von Autor von »Arrangeur« zu sprechen (Rabe in SZ24. 02. 2010). ›Mashup, Plagiat und Sampling‹ werden als Kulturtechniken vorgestellt (von Gehlen in SZ 24. 02. 2010). Über die Methode der Intertextualität werden historische Plagiatsfälle und Verdächtigungen (Zaimoglu in SZ 24. 02. 2010I) aktualisiert, weite Teile der Literaturgeschichte erhalten den Status von Subtexten von Hegemanns Roman. ›Was ist echt an Hegemann‹? wird gefragt (Graff in SZ 11. 02, 2010). Leserbriefe attestieren ihr Geltungsdrang und Selbstinszenierung. Hat ihr Roman eine autobiographische Dimension oder hat Hegemann mit dem Mädchen Mifti eine Kunstfigur geschaffen, die den Eindruck nahe legt, Hegemann zu sein? Als eine Form von ›Konselektion‹ (W. E. Mühlmann) der Internetautoren in die Öffentlichkeit anerkannter Verlage und des zugehörigen Kulturbegriffs kann die Publizität des Bloggers Airen angesehen werden, dessen Roman Strobo die wesentlichen Zitate Hegemanns entnommen sind.

Hegemanns Angebot zur Reflexion auf den Zustand des literarischen Felds, womöglich auf dessen Revision, kommt zum passenden Zeitpunkt, weil es den Positionen im literarischen Feld Gelegenheit zur programmatischen Selbstpräsentation verschafft. Durch den multimedialen Diskurs, wozu auch Fernsehformate gehören, ist Hegemann zur Autorin ›gemacht‹ worden, die von ihrer Publizität für weitere Veröffentlichungen profitieren kann. Insgesamt stellt dieses Zeitfenster eine Fallstudie über die ›Machung‹ einer Autorin und die dafür üblichen Verfahrensabläufe des literarischen Feldes dar.

3.2.3 Lena Meyer-Landruts Erfolg beim Eurovision Song Contest

Unter den ausgewählten Beispielen ist das Zeitfenster, in dem Lena Meyer-Landruts Gewinn des Eurovision Song Contests wahrzunehmen ist, das einzige, für das eine mediale Vorbereitungsphase seit ›Lenas‹ Sieg im Casting-Verfahren inszeniert wird. Einem internationalen sportlichen Wettkampf analog präsentiert sich ›Lena‹ als Siegerin mit der Nationalfahne oder anderen Accessoires in Nationalfarben. Mehrfach erscheint sie auf den Titelseiten der Medien. Einen Sieg der sozialen Aufmerksamkeit erringt sie im Vergleich mit den gleichzeitig ausgeführten Rücktrittsmitteilungen des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch und des Bundespräsidenten Horst Köhler. Als in öffentlicher Aushandlung die Rolle ›Lenas‹ als ›Star ohne Allüren‹ festgelegt ist, wird das Zeitfenster geschlossen.

3.2.4 Die Loveparade in Duisburg

Der Ereignisablauf, der die Loveparade in Duisburg am 24 Juli 2010 zum politisch-kulturellen Diskursthema macht, beginnt zwischen 16.00 und 17.00 Uhr mit der Feststellung einer Massenpanik, bei der bereits mehrere Besucher den Tod gefunden haben. Von diesem Zeitpunkt an ist die Ordnung der Tanzveranstaltung aufgehoben und die Übergangsphase zu einer neuen Ordnung eingeleitet. In den folgenden Nachrichtensendungen in Rundfunk und Fernsehen besetzt dieses Ereignis den ersten Platz. Sonntagszeitungen berichten am 25. Juli, von multimedialer Omnipräsenz des Ereignisses kann von Montag, dem 26. Juli an gesprochen werden.

Bestimmt wird die Übergangsphase durch die Aushandlung, wer oder welche Institutionen die Verantwortung für den Tod von 21 Menschen, Hunderte von Verletzten und den Umschlag des Festes in eine Katastrophe tragen. Dabei verdichten sich die Argumente, dass der Oberbürgermeister und der Veranstalter die Verantwortungsträger in (ordnungs-)politischer und organisatorischer Hinsicht seien. Forderungen nach Rücktritt des Oberbürgermeisters lehnt dieser aus Gründen seines prekären Versorgungsanspruchs ab. Ausgehend vom Zeitpunkt des Ereignisses in der Gegenwart wird die Ebene der Subtexte eröffnet, um Parallelfälle zur Einordnung zu haben. Auch wenn mehrere Fälle von Massenpanik erwähnt werden, zeichnet sich das aktuelle Ereignis durch seine Singularität und Unüberbietbarkeit aus. »Der Republik gehen die Metaphern aus, weil keine Vergleiche« (Dörries u.a. in SZ 27. 07. 2010). Daher wird dieses Ereignis noch während der Aufräumarbeiten am Ort des Geschehens als Vollzug von Geschichte bewertet, so dass es »im kollektiven Gedächtnis« (Dörries u.a. in SZ 26. 07. 2010) bleiben werde. Zahlreiche Beiträger werten das Ereignis nicht als Unglück, sondern – durch mangelhafte Organisation und das Streben nach Imagegewinn sowie Angst vor Prestigeverlust der Stadt verursacht – als Verbrechen (Dörries u.a. in SZ 26. 07. 2010, Prantl in SZ 28. 07. 2010, Dörries in SZ 02. 08. 2010). Mitte August wird der Diskurs wegen laufender Ermittlungen vorläufig unterbrochen und Ende August wieder aufgenommen, weil erste Ergebnisse und weitere Dokumente vorliegen. So gehört zu diesem kulturellen Zeitfenster eine strafrechtliche Dimension. Durch die Teilnahme von Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Wulff an der zentralen Trauerfeier hat dieses Zeitfenster Eingang in das offizielle politische Erinnerungssystem gefunden. 

4. Zeitfenster und Kulturwissenschaft

Während die kulturell begründeten Zeitfenster nur bedingt planbar sind, was durchgehend für Jubiläen, sportliche Großereignisse wie Europa- und Weltmeisterschaften, Olympische Spiele usw. ohne weiteres möglich ist, müssen sie grundsätzlich erwartbar sein, d.h. sich in den allgemeinen zeitgeschichtlichen und soziokulturellen Kontext problemlos einfügen. Damit ein Ereignis Diskursgegenstand werden kann, muss es Anschlussmöglichkeiten oder ›Konselektionen‹ in Bezug auf allgemein interessierende Themen und deren Repräsentanten bieten. So wird angesichts der Loveparade eine verbreitete Abwehrhaltung gegen Pop- und Jugendkultur formuliert, Oettingers Trauerrede für Filbinger wird in den Zusammenhang parteipolitischer Kritik gestellt. Daher präsentieren Zeitfenster Ereignisprozesse, denen das Prädikat ›Vollzug von Geschichte‹ zugeschrieben wird. Wird ein solches Zeitfenster geschlossen, hat sich die Geltung, das Image oder das ›symbolische Kapital‹ der Repräsentanten verändert, die kulturellen Zeitfenster rahmen Entwicklungen.

Durchgehend scheinen sich die Zeitfenster im rechten Augenblick zu öffnen, wenn sie stets einer Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen Gelegenheit bieten, sich mit ihren Normen und Werten programmatisch darzustellen. Dies verweist auf die Multiperspektivität der Zeitfenster, die zahlreichen unterschiedlichen Interessen ein Forum bietet. Allerdings zeigt sich, dass sich angesichts der Ereignisangebote in der Regel eine eindeutige Mehrheit und eine kleine Minderheit bilden, dies gilt für die kritischen Mehrheiten gegen Oettinger und die mutmaßlichen Verantwortlichen in Duisburg, aber auch für die Mehrheit zugunsten von Hegemann, während nur ›Lena‹ die Bildung einer weitgehend homogenen Masse provoziert. In allen Fällen geht es um die gemeinschaftsstiftende Wirkung der ergebnisoffenen Aushandlung der gegenwartsspezifischen Bedeutung eines öffentlichen Ereignisses. Auch die ›Aufarbeitung der Vergangenheit‹ eines im Zeitfenster präsentierten Ereignisses wird in der Gegenwart und für diese geleistet. Zu jedem Zeitfenster gehört seine Vergangenheit (Intertextualität, Subtext) und seine Wirkungsperspektive für die Zukunft.

Welches Zeitfenster man auch betrachtet, gemeinsam ist allen, dass sie keine alltäglichen Vorgänge einzelner präsentieren, sondern dass sie vielmehr als Repräsentationen des Sozialen fungieren. Privates, Privatbereiche und Privaträume werden per definitionem vom Zeitfenster nicht erfasst. Auch Personen, die im Zeitfenster erscheinen, interessieren nicht – oder weniger – als Privatpersonen, sondern als Repräsentanten oder als Verkörperung einer Problemkonfiguration. So wie zum Blick in ein Fenster oder aus einem Fenster ein Wahrnehmungsraum gehört, so gehört auch zu Zeitfenstern die Vorstellung einer räumlichen Entsprechung, und zwar in der Form medial konstruierter, zeitlich gerahmter Sozialräume. Dass es sich dabei von vornherein um transitorische oder episodische Räume handelt, folgt aus der zeitlichen Rahmung der Aushandlung. Strukturiert werden diese Räume durch die eingebrachten Positionen als Grenzlinien, durch Wiederholungen als Reliefbildungen, durch intertextuelle Bezüge als Erweiterungen. Indem Zeitfenster das Normative aktualisieren, das, was sein soll, belegen und befriedigen sie zugleich den gesellschaftlichen Bedarf an Wertdiskursen, an der öffentlichen Aushandlung der Geltung und Gültigkeit normenfundierten Verhaltens. Insofern scheinen Zeitfenster den Charakter öffentlicher Erhebungen über die Anforderungen sozialer Anerkennung zu haben.

Aus diesem Grund kommen sie stets zum rechten Zeitpunkt. ›Opportun‹ und ›inopportun‹ sind relationale, keine absoluten Kategorien für soziale Ereignisse, daher sind sie in einer bestimmten Ausgangssituation zunächst sowohl zutreffend als auch nicht zutreffend. Indem Zeitfenster aufgrund von Ereignisangeboten und medial vermittelter Deutungspraxis möglich werden, machen sie einen immer schon laufenden, mehr oder weniger latenten Verdichtungs- bzw. Kumulationsprozess sozialer Tendenzen, Interessen und Strukturen sichtbar, der mitunter die Form eines tendenziell schon ergebnisbestimmten öffentlichen Aushandlungsprozesses annimmt, was sich an schnell fertigen Vor-Urteilen zeigt. Andererseits gilt aber auch: Wenn grundsätzlich jeder sich am Aushandlungsdiskurs beteiligen kann, wenn jeder damit die Möglichkeit erhält, sich medial zu exponieren, dann hat man es ausschließlich mit Urteilenden zu tun, was das Bild einer demokratischen Öffentlichkeit gleichberechtigter Einzelner ergibt. Diese Öffentlichkeit bildet sich, indem die Einzelnen sich öffentlich positionieren.  Auch Institutionen genießen in dieser konkurrierenden Kooperation um die angemessene Deutung von Ereigniszusammenhängen keine Privilegien. Ein Deutungsmonopol ist mit dem Phänomen des Zeitfensters nicht vereinbar. Ebenso dezentral wie die Öffnung von Zeitfenstern vollzieht sich auch der Deutungsprozess.

Die Ereignisangebote, die durch mediale Vermittlung Zeitfenster generieren, sind performative Handlungen, die die Wirklichkeit modifizieren (verändern, bestätigen), indem sie aufgeführt werden. Sie polarisieren und erlauben die Personalisierung der Ereignisse, d.h. Zeitfenster haben in der Regel ein Gesicht, das aber auch aus mehreren Konfliktpartnern bestehen kann. So dominiert im ersten Beispiel das Gesicht Oettingers, das zweite Zeitfenster visualisiert sich im Gesicht Hegemanns, für das dritte Zeitfenster steht das Gesicht ›Lenas‹ und zur Loveparade gehören die Gesichter des Oberbürgermeisters und des Veranstalters.

Damit der Mechanismus von Ereignisangebot, Medien und Zeitfenster funktionieren kann, ist ein weiter Kulturbegriff Voraussetzung, der inhaltlich offen und strukturell performativ angelegt ist. Aufgrund der Handlungsorientiertheit des Kulturbegriffs und der medialen Wertschätzung für Dynamik und Vielfalt bezeichnet Kultur ein Verfahren, das von jeder beliebigen kulturellen Ausrichtung aus angewendet werden kann. Demnach benötigen kulturgenerierende Zusammenhänge eine Ereignis- oder Handlungsebene als Angebotsebene und eine zugehörige Reflexions- oder Deutungsebene, auf der die Formung und Ordnung oder das Design des Ereignisprozesses zu einer kulturellen Referenzstation ausgehandelt wird. Diese hat die Form einer Erzählung, in der die Modifikationen der Angebotssituation bis zum Abschluss nachgezeichnet werden, während Zeitfenster der Industrie, Logistik usw. ihren erinnerungsfähigen Abschluss in Produktivitätszahlen, Versuchsergebnissen und Tonnageziffern finden, es sind keine narrativen Ergebnisse, sondern statistische Angaben.

Daher kennen kulturwissenschaftlich fundierte Zeitfenster ausschließlich Subjekte, sei es als Anbieter von gesellschaftlichen Diskursthemen, sei es als Teilnehmer an diesen Diskursen, deren Ziel in der zeitoffen gerahmten Aushandlung einer kulturellen Tatsache für diverse fachspezifische Erinnerungssysteme besteht. Insofern rahmen diese Zeitfenster Prozesse, die geschichtsbildend wirken; ob Oettingers Trauerrede für Filbinger, Hegemanns Erstveröffentlichung oder die Katastrophe der Loveparade, in allen diesen Fällen vollzieht sich Geschichte, deren überlieferungsfähige Form ausgehandelt wird. Dass es bei den Zeitfenstern auf der Basis kultureller Handlungen um Traditionsbildung geht, zeigen die regelmäßigen Aktualisierungen von Subtexten und das stets beteiligte Merkmal der Intertextualität.

Zeitfenster rahmen die Wahrnehmung, indem sie sie auf einen bestimmten Ereignisprozess lenken. Wie die Szenen auf einer Guckkasten- als Drehbühne bleiben die einzelnen Zeitfenster so lange erhalten, wie die Angebotskraft des Ereignisses zur Wahrnehmung motiviert, dann wird die Drehbühne bewegt und präsentiert eine neue Szene, ein neues Zeitfenster wird geöffnet. Das geschlossene Zeitfenster erhält den Status eines Subtexts oder einer historischen Referenz für künftige Zeitfenster. Zugleich wird es zur Quelle für unterschiedliche wissenschaftliche Fächer und deren Wissensproduktion. Das durch Zeitfenster ermöglichte Wissen wird in der Regel interdisziplinär produziert. So sind für das Zeitfenster Hegemann vornehmlich Literatur- und Kulturwissenschaft, aber auch Soziologie und Medienwissenschaft zuständig, für jenes um Oettinger Geschichts- und Politikwissenschaft, für das Zeitfenster der Duisburger Loveparade sind es Verwaltungs- und Rechtswissenschaft. Zum Zeitfenster gehören verschiedene Textsorten, wozu auch das Bildmaterial zählt:

- Berichte zur Dokumentation des Ereignisses oder Vorgangs

- Reportagen zur Information über das Leben am Ort des Geschehens oder über die Befindlichkeit der Akteure und Betroffenen

- Fachartikel zur Information über spezielle sachliche Gegebenheiten und Zusammenhänge

- Interviews mit allen am Ereignis Beteiligten (Akteure, Betroffene, Helfer, Zeugen) zur authentischen Einschätzung und multiperspektivischen Konstruktion des Ereignisses

- Kommentare zur historischen Einordnung und Deutung des Ereignisses

- Leserbriefe als Forum aller ›Urteilenden‹, die zur Bezugsgesellschaft gehören

- Fotos zur Dokumentation des Ablaufs und zur Personalisierung des Ereignisses, verleihen ihm ein Gesicht 

Geschlossen werden Zeitfenster aufgrund nachlassender öffentlicher Aufmerksamkeit, wenn der Aushandlungsprozess einen angemessenen Abschluss erreicht zu haben scheint. Allerdings ist es nicht zwingend, dass die Schließung eines Zeitfensters automatisch die Öffnung eines neuen zur Folge hat. ›Zeitfenster‹ ist keine mediale Unverzichtbarkeit. Dennoch ist es auch möglich, dass mehrere Zeitfenster gleichzeitig geöffnet sind, was z.B. für die Zeitfenster im September 2010 um die Äußerungen des ehemaligen Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin zu ›Integrationsproblemen‹ und um die Äußerungen der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, zur Situation Polens unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs gilt.

Inhaltlich sind die einzelnen Zeitfenster weitgehend unabhängig voneinander, strukturell und funktional zeigen sie erhebliche Übereinstimmungen. Auf diese Weise ergibt sich – um im Vergleich zu bleiben – kein geschlossenes Drama, sondern ein Stationenstück, dessen einzelne Szenen durch die Bereitschaft des Betrachters zum Mitspielen ihre Ordnung finden. Die Serialität der Zeitfenster ist die andere Seite des prinzipiell unabschließbaren Kontinuums sozialer Aufmerksamkeit. In einem Interview zu seinem Rücktritt vom Amt des Hessischen Ministerpräsidenten weist Roland Koch auf die zeitliche Begrenzung gesellschaftlicher Aktivität in der Moderne hin: »Ich glaube eher, dass man in unserer modernen Mediengesellschaft bestimmte Dinge nur eine bestimmte Zeit tun kann. Dann beginnen sie sich abzunutzen oder in Rituale zu verfallen« (SZ 19. August 2010).

Kulturwissenschaftlich funktional können Zeitfenster aus folgenden Gründen sein:

Sie sind als Diagnosen temporärer sozialer Aufmerksamkeitszuwendungen zu soziokultureller Ereignissen zu lesen.

Sie bewirken Gemeinschaftsbildung und Differenz.

Sie verlangen die systematische Berücksichtigung neuer wissenschaftlicher Quellen wie Internetformate, Videos usw.

Sie brauchen einen Anlass in Form eines Ereignisprozesses.

Sie rahmen Phasen von Dynamik und Aktivismus, sie vermitteln keinen auf Dauer zielenden politischen, kulturellen, religiösen Entwurf. 

Durch die soziale Aufmerksamkeit werden sie zu einem öffentlichen Raum gemacht, dessen einzelne Bestandteile semantisiert (Michail Bachtin) werden.

Sie rahmen ein Handlungsgeflecht aus Einzelpersonen, Institutionen und Medien und machen unterschiedliche Interessen und Verfahrensformen sichtbar.

Sie haben Anteil an zahlreichen sozialen Feldern, denen sie Wissen vermitteln.

Die Abfolge der Zeitfenster und ihrer Erzählungen kann als ›Gerüst‹ jeder Geschichte dienen.

Sie setzen Multimedialität voraus.

Sie sind angewiesen auf das Kulturelle mit seinen Ausprägungen Ereignis und Deutung.

Sie rahmen den Kairos, den günstigen Augenblick für die öffentliche Behandlung bestimmter Phänomene.


Literatur


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