Womit denn und wie setzen wir uns auseinander, wenn wir Toleranz, den Ausdruck, den Begriff oder die Sache, unbezeichnet oder anders bezeichnet, denn auch das geht, ins Spiel bringen? Jedenfalls wird es etwas sein müssen, das zur Auseinandersetzung drängt, mehr als ein Problem, eine problematische Lage eher, eine Problemlage, in der wir uns befinden und mit der wir uns, eben deshalb, so oder so auseinanderzusetzen haben. Die besondere Weise der Auseinandersetzung, für die wir uns jeweils entscheiden, folgt nicht aus der Problemlage. Sie ergibt sich durch einen kreativen Schritt, mit dem wir ein bestimmtes Programm der Auseinandersetzung mit dieser etablieren. Andere Formen der Auseinandersetzung bleiben möglich. Eine Theorie der Toleranz hat zu erkunden, wie die genannte Problemlage beschaffen ist, wie das Toleranzprogramm, unterschieden von anderen Formen der Auseinandersetzung, ansetzt, worin es gründet, woraus es schöpft.
Burka
Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird Belgien, wie man das gern formuliert, das erste europäische Land sein, das auf nationaler Ebene, regional gilt das Verbot bereits, das Tragen der Burka in der Öffentlichkeit auf dem Wege der Gesetzgebung unterbindet. Ganz so direkt wird man das freilich nicht formulieren. Es wird von Kleidungsstücken die Rede sein, die das Gesicht verhüllen, die Identität der Person unkenntlich machen. Jeder aber wird wissen, was gemeint ist. Frankreich bereitet ein ähnliches Gesetz vor. In den Niederlanden hat man Entsprechendes erwogen, zunächst aber zurückgestellt. In Norditalien wurde ein altes Gesetz aktiviert, welches das Tragen von Masken verbietet. Auch hier ist der eigentliche Adressat der islamische Gesichtsschleier. In England hat man auf eine Gesetzgebung dieser Art bisher verzichtet, den Schulen aber zugestanden, entsprechende Verordnungen zu erlassen, sofern sie dies für nötig halten. Es gibt Gruppierungen, die mehr fordern. Man könnte fortfahren, andere Themen einbeziehen, das Minarettverbot in der Schweiz etwa, überhaupt die mehr oder weniger ausgeprägten Spannungen, die gemeinhin mit dem Bau von Moscheen einhergehen, und dies, so sieht es aus, mit zunehmender Tendenz.
Man redet, was den Schleier angeht, von Sicherheitsproblemen. In Nantes wurde kürzlich eine Frau, die mit Gesichtsschleier am Steuer saß, zu einem Ordnungsgeld von 22 Euro verurteilt. Der Schleier lässt einen Sehschlitz für die Augen frei. Das Gesichtsfeld, so der Anwalt der Frau, behindere nicht mehr als beispielsweise ein Motorradhelm. Mit Sicherheitsproblemen im Straßenverkehr habe das Ordnungsgeld mithin nichts zu tun. Es stelle einen Bruch der Rechte der Frau, gar der Menschenrechte dar.
Natürlich lässt sich unter dem Ganzkörperschleier in der Tat allerlei Gefährliches verstecken. Dies gilt aber für jede Art weit geschnittener Kleidung und hat mit der Verhüllung des Gesichts wenig zu tun. Bedenkenswerter schon ist das Argument eines Abgeordneten der Grünen in Belgien, die das Gesetzesvorhaben unterstützen. Das eigentliche Anliegen sei die Beförderung der interkulturellen Kommunikation. Brüssel sei eine multikulturelle Metropole. Wer die Verständigung zwischen den Kulturen wolle, könne mit der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit nicht einverstanden sein. Wenn man miteinander spreche, sei es wichtig, einander zu sehen. Das sei entscheidend für den sozialen Kontakt. Ähnlich äußerte sich vor einiger Zeit ein Abgeordneter des Unterhauses in Großbritannien. Er wenigstens werde in seinem Wahlkreisbüro niemanden empfangen, dem er beim Gespräch nicht ins Gesicht sehen könne.
Säkulare Toleranz
Das klassisch-liberale Toleranzprogramm basiert auf der Trennung von Staat und Religion. Die Bereiche, die unterschieden und voneinander getrennt gehalten werden, umfassen freilich mehr als die Termini Staat und Religion vermuten lassen. Sie bedienen zwei unterschiedliche Klassen von Bedürfnissen. Die Unterscheidung dieser Klassen gründet, genauer noch, in der Abgrenzung einer Gruppe oder Klasse von den Bedürfnissen aller anderen. Gemeint sind all die Bedürfnisse, die sich auf letzte Fragen beziehen, solche nach unserem Verhältnis zur Welt im Ganzen, dem Sinn von Leid und Schmerz, dem Tod, der Bedeutung von Schuld und Verstrickung, dem Wohin, Woher und Warum von allem, Sinnfragen also, existenzielle Fragen. Diese sind für jeden Einzelnen von kaum zu überschätzender Bedeutsamkeit, wenn auch lebensgeschichtlich einmal mehr, einmal weniger im Vordergrund. Die Antworten, Zugangsweisen, Umgangsweisen mit ihnen, die sich in der Geschichte herausgebildet haben, sind sehr unterschiedlich. Auf welche wir uns einlassen, und wie, ist eine persönliche Entscheidung, die nicht einmal wir selber nachvollziehen, sondern immer nur vollziehen können. In der Konsequenz solcher Entscheidungen gehören wir mehr oder weniger organisierten oder etablierten Überzeugungs- oder Bekenntnisgemeinschaften an oder bewegen uns in deren Umkreis. Die am meisten etablierten unter ihnen nennt man Religionen.
Es liegt nahe und scheint stimmig, unser Handeln in der Welt, unseren Umgang also mit allen anderen Bedürfnissen, von der Antwort her zu bestimmen, die wir auf die Frage nach unserem Verhältnis zur Welt im Ganzen gefunden oder der wir uns angeschlossen haben. Das klassisch-liberale Toleranzprogramm unterbindet eben dies. Das wiederum erscheint wenig stimmig. Antworten auf letzte Fragen suchen wir nicht aus bloßer Neugier, sondern getrieben von dem Bemühen, all unser sonstiges Tun und Bestreben in einen größeren Zusammenhang zu stellen und von diesem her mit Sinn und gegebenenfalls auch Rechtfertigungen zu versorgen. Genau dies ist auch der Grund, weshalb das säkulare Toleranzprogramm diesen Rückgriff bei der Regelung und Pflege der Angelegenheiten, die unser politisches Miteinander und, im weitesten Sinne verstanden, die Produktion und Verteilung des Sozialprodukts betreffen, unterbindet.
Wer sein Handeln geradewegs von einer Antwort auf letzte Fragen herleitet, neigt nicht zu Kompromissen. Solange die Antwort aller, deren Handeln ineinandergreift und aufeinanderstößt, die gleiche ist, besteht hierzu auch kein Bedarf. Kaum je war und ist sie dies aber, zumindest nicht in allen jeweils relevanten Dimensionen und nicht mit der gleichen Intensität an Überzeugtheit. Die Konsequenzen sind bekannt. Das säkulare Toleranzprogramm, nach den europäischen Religionskriegen entstanden, war der Versuch, diese zu unterbinden. Der Intention nach wenigstens stellt es unser politisches und ökonomisches Miteinander auf Regeln und Institutionen, die durch Verfahren etabliert sind und auf diese Weise auch reformiert oder durch andere ersetzt werden können. Die Regelung und Institutionalisierung dieser Verfahren selber stellt das im engeren Sinne politische Geschehen dar. Die einzige Rückbindung an Umgreifendes, die zulässig ist und sogar gefordert wird, ist die an das Gemeinwohl.
Die Unterbrechung jeder weiteren Rückbindung an letzte Fragen bei der Regelung unseres politischen und ökonomischen Miteinanders geht freilich einher mit einer ausdrücklichen Affirmation der Relevanz dieser Fragen für den Einzelnen. Das liberale Toleranzprogramm, eben darin besteht es, unterbricht deswegen jeden Zugriff der Regeln und Institutionen, die unser politisches und ökonomisches Miteinander regeln, auf diesen Bereich. Vorgaben darüber, für welche Antworten auf letzte Fragen der Einzelne sich zu entscheiden hat, sind von dort her nicht einzufordern. Man nennt dies, obgleich es sich nicht nur auf Religion im engeren Sinne bezieht, negative Religionsfreiheit.
Die Verantwortung, die sich der säkulare Raum unseres politischen und ökonomischen Miteinanders durch den Akt seiner Konstitution, die Unterbrechung eben jeder Rückbindung an letzte Fragen, für unseren Umgang mit diesen auferlegt, geht aber noch weiter. Antworten auf letzte Fragen beschränken sich nicht auf Ereignisse im Kopf. Sie drängen nach Verkörperung sowohl in einer bestimmten Lebensführung als auch in der Gestaltung von Räumen, in Symbolen, in Ritualen, in Festen und gegebenenfalls auch in Kleiderordnungen. Das liberale oder, wie wir es bezeichnen, da es im säkularen Raum gründet und von diesem getragen wird, säkulare Toleranzprinzip, besteht hier auf dem größten nur möglichen Freiheitsraum. Man nennt dies positive Religionsfreiheit. Eben hier, so sieht es aus, zeigt sich heute die Grenze dieses Toleranzprogramms.
Distanzbedingung
Positive Religionsfreiheit in dem hier relevanten Sinne meint vor allem Sichtbarkeit, Gegenwart, Präsenz der Verkörperungen unterschiedlicher Antworten auf letzte Fragen im öffentlichen Raum, damit auch für jeden, der die betreffenden Antworten nicht teilt. Die Burka ist hierfür nur ein Beispiel, ein anderes, seit den 90er Jahren Gegenstand vieler Dispute und Entscheidungen, dennoch längst nicht entschieden, ist das Kruzifix in öffentlichen Schulen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dagegen ausgesprochen, kürzlich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Im letzten Falle war der Anlass eine Klage aus Italien. Obgleich das Kruzifix in öffentlichen Schulen damit als Verstoß gegen die Menschenrechte gilt und auch gegen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verstößt, bleibt es in italienischen und auch deutschen Klassenzimmern, von einigen Einschränkungen einmal abgesehen. Eine entsprechend unentschiedene Lage, wie immer die auch aussehen mag, wäre wohl auch das Ergebnis eines Verbots der Burka.
Das säkulare Toleranzprogramm basiert auf einer Bedingung, mit der man zunehmend weniger rechnen kann. Sie hat mit räumlicher Weite, Distanz und Abstand zu tun. Eben dies hat Globalisierung, wie Globalisierungs-Heroiker rühmen, überwunden, jedenfalls aber vernichtet. Die Präsenz von Verkörperungen unterschiedlicher Antworten auf letzte Fragen im öffentlichen Raum verdichtet sich zunehmend. Das säkulare Toleranzprogramm ist dafür in keiner Weise gerüstet. Mit einiger Verwunderung stellen wir fest, was doch zu erwarten war: Es gibt eine Schwelle, jenseits derer jede weitere Verdichtung solcher Verkörperungen Konflikte erzeugt. Die unreflektierte Fortschreibung des säkularen Toleranzprogramms verstärkt diese statt sie zu lösen. Anders gewendet, als Programmatik und Aufgabe einer Globalisierungstheorie: Räumliche Weite und Distanz wurden durch die Globalisierung, so wie sie bisher stattfand, zwar vernichtet, längst aber nicht aufgehoben. Unverzichtbar für deren Aufhebung und damit die Einlösung des Anspruchs von Globalisierung wäre die Ersetzung des säkularen Toleranzprogramms, das ebenfalls destruiert wurde, durch ein anderes, das ohne die genannte Distanzbedingung auskommt.
»Passive Tapferkeit«
Jenseits der genannten Dichteschwelle werden Verkörperungen unterschiedlicher Antworten auf letzte Fragen als sich aufdrängender Imperativ erfahren. Dem Kruzifix im Klassenzimmer wird die Intention zugeschrieben, den Schülern, die sich nicht zum Christentum bekennen, dieses aufzudrängen. Die Burka im Einkaufszentrum wird als Behinderung der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht auch derer empfunden, die nie vorhatten, mit den Trägerinnen dieses Kleidungsstücks zu sprechen.
Man kann Wahrnehmungen dieser Art als Fehlwahrnehmungen betrachten und versuchen, Konflikte durch Aufklärung zu beseitigen oder wenigstens zu entschärfen. In Einzelfällen mag dies ein Weg sein. Die Problemlage im Ganzen lässt sich so nicht bewältigen. Die genannte Schwelle, so sieht es aus, gibt es. Was nun also hieße es, an diesem Punkt, zur Bewältigung eben dieser Problemlage, Toleranz ins Spiel zu bringen?
In einem ersten Schritt hieße es wohl, auf Gesetzgebungen der genannten Art zu verzichten oder diese jedenfalls für eine Weile zu suspendieren. Die Betroffenen, und nur sie können hier Toleranz ins Spiel bringen, müssten sich mit diesem ersten Schritt abverlangen, die ihnen sich aufdrängenden Imperative zu ertragen. Dies wäre, ausdrücklich oder nicht, ein Rückgriff auf die vorchristliche Auffassung von Toleranz. In der Antike, bei Seneca etwa, gilt Toleranz als passive Tapferkeit. Sie meint die Befähigung, Schmerzen, Folter, Niederlagen und andere Ausnahmelagen zu ertragen und durchzustehen. Freilich sprechen wir heute in einer Lage, in der wir keinerlei Möglichkeit des Handelns haben, vielmehr lediglich die Option, bis zum Ende uns auferlegter Zumutungen durchzuhalten, kaum von Toleranz. In diesem Punkt ist uns der altlateinische Toleranzbegriff sehr fern. Wir haben aber, angesichts der uns sich aufdrängenden Imperative, durchaus die Möglichkeit, etwas zu tun. Wir können Gesetze dagegen erlassen. Sind wir der Auffassung, dies sei keine Lösung, entschließen wir uns also, das uns Zugemutete eine Weile zu ertragen, so kann man dies dennoch als eine Form der passiven Tapferkeit ansehen, aber als eine, der die Passivität und die Dauer Ergebnis unseres eigenen Entschlusses sind. Durchaus in Entsprechung zum altlateinischen Toleranzbegriff gilt aber auch hier, dass sich die Toleranz, die wir üben, nicht auf Dauer stellen lässt. Folter und Schmerzen lassen sich nicht auf Dauer ertragen, nur für eine Weile. Auch sich aufdrängende Imperative verkörperter Antworten auf letzte Fragen, die wir nicht teilen, vermögen wir nur eine Weile zu ertragen. Dies jedenfalls charakterisiert die Lage jenseits der genannten Schwelle. Ließe sich dieses Ertragen auf Dauer stellen, so gäbe es kein Problem. Offenbar gibt es aber eines.
Postsäkulare Reflexion
Dem ersten Schritt muss ein zweiter folgen. Genauer: Indem wir uns für den ersten Schritt entschließen, das genannte Ertragen nämlich, ermöglichen wir einen zweiten. Wir eröffnen einen Raum oder halten einen Raum offen, in dem es dann nur Transformation des säkularen Toleranzprogramms in ein anderes, der veränderten Problemlage angemessenes, kommen kann, tatsächlich kommt, oder auch nicht.
Dieser zweite Schritt fordert das Engagement aller Beteiligten. Grundlage und Ausgangspunkt ist das Gewahrwerden der veränderten Lage. Was hat sich verändert? Zugespitzt formuliert: Positive Religionsfreiheit, die ungehinderte Verkörperung der Antwort auf letzte Fragen, für die wir uns entschieden haben, hat ihre Unschuld verloren. Jenseits der genannten Dichteschwelle, und dies ist die Lage von der wir reden, wirkt sie desolidarisierend oder kann wenigstens so wirken. Das Gewahrwerden der Problemlage meint das Gewahrwerden dieser Möglichkeit.
Es wird wohl einiger Zeit bedürfen, bis diese Einsicht zu einer weitgehend selbstverständlichen Grundlage für Weiteres geworden ist. Nehmen wir einmal an, dieser Punkt sei erreicht. Wer immer dann die Verkörperung einer Antwort auf letzte Fragen im öffentlichen Raum platziert, wird zu erwägen haben, und dies schon bei der Ausgestaltung der jeweiligen Verkörperung, welche Konsequenzen sich daraus für die Solidarität ergeben, auf der die Freiheit, eben dies zu tun, letztendlich beruht. Sind Konflikte und Desolidarisierungen zu erwarten, so ist abzuwägen, ob das Insistieren auf der jeweiligen Verkörperung diesen Preis wert ist. Solches Abwägen wird, ein wenig genauer gedacht, die Einübung und Praxis einer Form der Reflexion verlangen, die erkundet, ob sich die konfliktträchtige Verkörperung, um die es geht, aus der betreffenden Antwort auf letzte Fragen tatsächlich und zwingend ergibt. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird dies zu einer genaueren Erkundung der Antwort auf letzte Fragen führen, die im Spiel sind, einer genaueren Erkundung auch der Frage, wie solche Antworten mit ihren Verkörperungen zusammenhängen und welche Art oder Arten der Bindung dabei wirksam sind. Die Resultate solcher Erwägungen werden dabei jeweils mit den zu erwartenden Desolidarisierungsprozessen zu konfrontieren sein. Wer auf einer desolidarisierenden Verkörperung insistiert, wird dies aus wohl erwogenen Gründen tun und diese auch nicht verheimlichen. Das Gespräch über diese, so ist jeweils zu hoffen, wird den Prozess der Desolidarisierung bis zu einem gewissen Grade bremsen oder abfedern.
Die skizzierte Form der Reflexion nimmt Antworten auf letzte Fragen, religiöse Überzeugungen also, aber nicht nur sie, ernst. Sie versenkt sich in sie und sucht zu verstehen, welche Arten der Verkörperung sich in der gegebenen Lage aus ihnen ergeben. Das Bindende dieser Konsequenz wird sich dabei jeweils nur von innen erfassen lassen. Es hat deshalb wenig Sinn, eine Burkaträgerin darüber zu belehren, der Islam verlange die Burka nicht unbedingt. Argumente dazu kann man beliebig hin und her schieben. Worauf es ankommt, ist die Reflexion der Burkaträgerin selber, um bei diesem Beispiel zu bleiben. Zentrales Prinzip dieser Form der Reflexion, man kann sie als postsäkulare Reflexion charakterisieren, ist das der inneren Wahrhaftigkeit. Antworten auf letzte Fragen sprechen in leisen Tönen. Nur wer überzeugt ist, tatsächlich hingehört und gehört zu haben, darf es riskieren, eine Verkörperung im öffentlichen Raum zu platzieren, die Konflikte erzeugt. Anzunehmen ist, dass dies eine gewisse Authentizität ausstrahlt, die Konflikte entschärft.
Triebfeder
Der Raum, den wir offenhalten, indem wir von Gesetzesvorhaben wie etwa dem Verbot der Burka für eine Weile absehen, macht postsäkulare Reflexion möglich. Nur in ihm kann sie geschehen. Postsäkulare Reflexion nämlich ist faktisch nur dann möglich, wenn sie nötig ist. Nötig ist sie in der beschriebenen Problemlage. Es gibt dort die Möglichkeit, entweder das säkulare Toleranzprinzip fortzuschreiben, indem man es durch Gesetze der genannten Art punktuell zurücknimmt, solange das geht, womit aber nichts gelöst ist. Oder es gibt die Möglichkeit, das Gesetzesvorhaben zu suspendieren, den Raum für postsäkulare Reflexion zu eröffnen und diese dann zu betreiben. Darauf freilich müssen sich, wie gesagt wurde, alle Beteiligten einlassen. Dies, so sieht es aus, ist der Schwachpunkt. Weshalb denn sollten wir damit rechnen, dass man sich darauf einlässt, und dies im Vollsinne, geleitet nämlich vom Prinzip der inneren Wahrhaftigkeit? Zeichnet sich da etwas ab? Gibt es so etwas wie eine Triebfeder, auf deren Wirksamkeit man hoffen kann? Es gibt sie. Man muss, um sie zu sehen, die Akzente der Betrachtung nur ein klein wenig verschieben.
Das Potenzial der beschriebenen Konflikte ist zwar nicht zu unterschätzen, zu bedenken aber bleibt, ob das Pittoreske, das sie ganz ohne Zweifel auch an sich haben, nicht eine temporäre Blindheit für Herausforderungen und Gefährdungen anderer Art erzeugt, mit denen uns die Dynamik der Zeiten, im Wesentlichen also, wenn auch nicht ausschließlich, unser eigener Erfindergeist, bedenkt. Die eskalierenden Probleme des Finanzsystems, der Klimawandel und die längst noch nicht ernsthaft begonnene, geschweige denn gelungene Entschärfung der nuklearen Militärpotentiale, sind so etwas wie alte Bekannte unter diesen Herausforderungen, für sich aber schon mehr als hinreichend, um Perspektiven und Wahrnehmungen zurechtzurücken. Der Blick allein auf sie könnte aber immer noch ein Stück Blindheit beinhalten. Die exponentielle Zunahme der Rechner- und Speicherkapazitäten wird sich fortsetzen. Wohin das führt, ist nicht abzusehen. Von den Szenarien der Futurologen mag man halten, was man will. Die Metapher des Exponentiellen, nehmen wir die Formulierung einmal so, zur Charakterisierung der Veränderungen, die sich aus der Zunahme der Rechnerkapazitäten ergeben, nicht zwingend zwar, aber durch sie ermöglicht, hat einen Erkenntniswert, der sich durch einen Blick zurück auf die letzten zwanzig Jahre belegen lässt.
Längst begonnen hat eine Entwicklung, die man als ein Interagieren drastisch sich beschleunigender Innovationen in der Genetik, der Nanotechnologie und der Robotik beschrieben hat. (Kurzweil 2005) Was da auf uns zukommt, ist ein ganz Anderes, wenn auch nicht das der Theologen, sondern ein von uns selber Gemachtes, was immer machen da heißen mag. Es wird wohl kaum ein Szenario geben, das neben exponentiell zunehmenden Beglückungen nicht auch exponentiell zunehmende Risiken sieht. Wie weit diese sich beherrschen lassen, wird weitgehend von der Verfasstheit der Solidarität sowohl der Betroffenen als auch der Akteure abhängen. Halal vergleicht den gegenwärtigen Zustand der Menschheit mit dem eines Heranwachsenden mitten in der Reifekrise. Sie habe, wie die Heranwachsenden, nur die Wahl, erwachsen zu werden oder unterzugehen. (Halal 2008) Erfahrungsgemäß werden die meisten Heranwachsenden erwachsen. Der implizite Optimismus dieser Metapher ist freilich zunächst nur dies: Optimismus.
Noch schlägt diese zweite Gruppe von Herausforderungen lebensweltlich nur sektoral durch. Man kann sie, so fern man dies will, als eine Angelegenheit der Experten betrachten und sich stattdessen an Kleiderordnungen und Entsprechendem abarbeiten. Lange wird dies jedoch nicht mehr so bleiben. In dem Maße, in dem die ganz anderen Herausforderungen dann lebensweltlich Konturen gewinnen, wird die Wertschätzung intakter Solidarität zunehmen. Die Relevanz letzter Fragen wird damit ebenfalls zunehmen, denn die Herausforderungen, von denen die Rede ist, verlangen Entscheidungen, die zutiefst in unser Verständnis des Menschen und des Menschlichen eingreifen. Für sich allein genommen wäre die Zunahme dieser Relevanz eher beängstigend. Allerlei Verbarrikadierungen in fixen Dogmengefügen blieben kaum aus. Einhergehend mit der zunehmenden Wertschätzung von Solidarität aber lässt die zunehmende Relevanz der Erkundung letzter Fragen gerade einen Rückgriff auf das Prinzip erwarten, das leichtfertige Gefährdungen von Solidarität im beschriebenen Sinne zu unterbinden sucht. Gemeint ist das Prinzip innerer Wahrhaftigkeit. Die gesuchte Triebfeder für den Rückgang auf dieses ist damit benannt.
Postsäkulare Toleranz
Fassen wir zusammen: Die Problemlage, in der wir heute, sofern wir es denn tun, Toleranz ins Spiel bringen, ist charakterisiert durch das Schwinden der Distanzbedingung, ohne die das säkulare Toleranzprogramm nicht auskommt. Die Transformation dieses Toleranzprogramms in ein der veränderten Lage angemessenes aktualisiert in einem ersten Schritt Fragmente des antiken Toleranzprogramms im Sinne passiver Tapferkeit. Dies hält einen Raum offen, für eine Weile wenigstens, in dem die Beteiligten und Betroffenen eine Form der Reflexion einüben und praktizieren können, die solidaridätsgefährende Verkörperungen von Antworten auf letzte Fragen in ihrer Verbindlichkeit befragt. Entscheidend ist dabei die Erkundung der Natur, der Triftigkeit und Verbindlichkeit des Schlusses, nach dem die betreffende Verkörperung aus der Antwort, die sie verkörpert, hervorgeht. Dies verlangt eine vertiefte Erkundung der betreffenden Antwort selber, zu der sicherlich immer auch ein Überdenken der Entscheidung gehören wird, die uns an jene bindet. Die Triftigkeit dieser Form der Reflexion, wir charakterisierten sie als postsäkulare, hängt davon ab, inwieweit sie sich vom Prinzip der inneren Wahrhaftigkeit leiten lässt. Eine Triebfeder, sich eben darauf einzulassen, sahen wir im Gewahrwerden der Herausforderungen, die als Konsequenz exponentieller Innovationen auf uns zukommen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden diese sowohl die Relevanz letzter Fragen als auch die Wertschätzung von Solidarität steigern. Postsäkulare Reflexion, geleitet vom Prinzip innerer Wahrhaftigkeit, entspricht beidem. Die genannte Entwicklung wirkt als Triebfeder, so jedenfalls ist zu hoffen, sich in eben dieser Form der Reflexion zu engagieren. Das in dieser gründende Toleranzprogramm charakterisieren wir als postsäkulare Toleranz.
Literatur
HALAL, WILLIAM E., Technology’s Promise: Expert Knowledge on the Transformation of Business and Society. Houndmills, Basingstoke, Hampshire England; New York, 2008.
KURZWEIL, RAY, The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology. New York, 2005.