Eine Verbindung zwischen seiner Biographie und seinem Denken hätte Kondylis abgelehnt, selbst wenn man versucht hätte, das Egozentrische, Beispielgebende und Apologetische auszulassen. Er hätte eine solche Rekonstruktion, ein mit sich und der Welt einig werden, diese ursächliche Verbindung von Weltsicht, Naturell und Lebensweg, im Nachhinein als Selbstüberschätzung abgelehnt oder abgetan. Kondylis ordnete sich in ein größeres Ganzes ein, und dachte in ›longue durée‹-Kategorien, er dachte planetarisch und minimalisierte sich so in seiner sozialen Bedeutung.
Kondylis will nicht anderen den Sinn des Menschseins durch eine Wertsetzung verkünden, in dem Glauben, der Einzelne, das Subjekt als vernünftiges, vernunftgeleitetes Wesen könne den Gang der Geschichte mit bestimmen, könne am Rad der Geschichte drehen. In einer solchen Relativierung seiner Präsenz war Kondylis davon überzeugt – ich zitiere Thukydides und höre, die historische Distanz aufhebend, Kondylis −: »dass der Einzelne im Bunde mit der Gesamtheit […] seine Kräfte unberechtigterweise überschätzt.« (Thukydides, III,4; viele der Thukydides-Zitate finden sich bei Kondylis selbst). Die Verbindung zwischen den beiden Denkern herzustellen, setzt einen Kontinuitätsbegriff voraus, der mit Bezug auf Fernand Braudels Kategorie der ›longue durée‹, als »repetitive Struktur« des Gleichbleibenden definiert werden kann, genauer: …»als die kontinuierliche Wiederholung gleichartiger Bedingungen für verschiedene Ereignisse. [...] Dies gilt für die begriffsgeschichtliche Dimension der Geschichte nicht anders als für die sachgeschichtliche.« Die repetitive Grundstruktur »ist Voraussetzung dafür, dass Neues aussagbar wird.« (Koselleck 2006, 59 f.). Aus dieser Sicht versuche ich die chronologisch erste Schicht der Basis des Kondylisschen Denkens zu vermessen.
Kondylis’ Distanz, um den Gedanken der Selbstrelativierung fortzusetzen, zur akademischen Bühne, dem irrlichternden Hochschulmarkt wurde eingeleitet oder verstärkt durch die Turbulenzen um seine Doktorarbeit, was sein Begehr um Anerkennung in der Wissenschaft nicht reduzierte, vielmehr anstachelte. Damit war er aber dem Zwang enthoben, sich an Revierkämpfen zu beteiligen, sich durch eine fortwährende Positionierung vor der akademischen, institutionalisierten Richterrunde zu legitimieren. Dem entsprach eine andere Variante seiner verinnerlichten Askese, entsprach seine Abwehr jeder Ikonik, die seine Person betraf. Mit der Darstellung eines Denkers wird dem Betrachter die Assoziation seiner Denkkonturen, seiner Philosophie aufgezwungen, ganz platonisch, und genau diesem platonischen Kurzschluss wollte Kondylis sich entziehen. Wird im Abbild die entsprechende höhere Wirklichkeit der Gedanken/Ideen gesucht, so wird aus den Gesichtszügen auf die höhere Ordnung der Gedankenwelt des Abgebildeten geschlossen. Insofern scheint es, als habe Kondylis die sich bescheidende, geradezu antisophistische Geste von Thukydides als Mahnung verstanden: »Für den festlichen Vortrag wird sich mein Werk wahrscheinlich nicht eignen, weil es bei dem Mangel an sagenhaften Schilderungen wenig unterhaltend ist; aber wenn diejenigen, die das Vergangene genau erkennen wollen und das Zukünftige wie es wohl gemäß der menschlichen Natur so oder ähnlich sich wiederholen wird, mein Werk nützlich finden, so wird das genügen.« (Thukydides, I,22).
Geht man davon aus, dass die moralisch-praktischen Vorstellungen ursächlich auch vom jeweiligen Menschenbild bestimmt werden und dieses Menschenbild, dieses Selbstbild nicht Ergebnis theoretischer Überlegungen, sondern lebensbestimmender Erfahrungen und Selbsterfahrungen ist, gilt es, dies auch bei Kondylis zu eruieren.
Ich bin mir bewusst, dass ich nach dem biographisch-archimedischen Punkt eher suche, als ihn zu finden, dass ich Kondylis in eine Reflexion und ein Nachfragen stelle, die er sogar gegenüber seinen Gesprächspartnern mehr oder weniger verwehrte. Seine Selbstauskunft (ein eigner publizierter Lebenslauf findet sich in der Doktorarbeit) blieb höchst fragmentarisch und selektiv auf den jeweiligen Gesprächspartner bezogen. Das bedeutet, dass er Herr seiner Biografie bleiben wollte, aber auch eine Mystifizierung seiner Person oder weniger dramatisch ausgedrückt: die Produktion von Widersprüchen. Umso strenger war der Verweis auf die Veröffentlichungen. Was uns hier [Tagung in Heidelberg; die Redaktion] zusammenführt, würde er nicht als sich geschuldet verstehen, sondern als Verständigung – ich will den Ausdruck Ideen vermeiden, über eine Denkhaltung, als deren Mediator er sich verstand.
Während seines Studiums der klassischen Philologie, der Philosophie und der Neuen Geschichte in Athen (1963 1969) erlebte Kondylis 1967 mit der Militärdiktatur eine politische Zäsur. Dem totalitären Systemen ist auf der alltäglichen Ebene eigen, private Ausweichstrategien abzufangen und die Wahlfreiheit rigoros einzuschränken oder gar aufzuheben und die Keller zu öffnen. Im familiären Bereich »herrschte« Kontinuität: sein Vater blieb, was er zuvor war: Militäroffizier, jedoch nicht aktives Mitglied des Systems der Obristen, und die »fälschten Wahlergebnisse, verwandelten Polizei und Armee in eine monströse Leibwache und hielten das Analphabetenvolk an Gottesfurcht und Altväterethos gebunden.« (Fakinos 1970, 7). Kondylis schließt sich der linken Studentenopposition an und übernimmt wohl seiner intellektuellen Kraft wegen eine besondere Position in der marxistisch orientierten Gruppe. Ob er deswegen verhaftet und/oder anderen Repressalien ausgesetzt war, ließe sich nur an Hand der Überbleibsel von Polizei- und Universitätsakten klären, wenn nicht auch diese vernichtet wurden. Kondylis wurde, und das nimmt sich für mich eher wie eine Schutzaktion aus, parallel zum Studium zum 1 1/2jährigen Militärdienst eingezogen, den er die längste Zeit neutralisiert bei den Gebirgsjägern, einer Maultiertruppe, wohl einem Strafbataillon, ableistete; der ›Reserveoffizier‹ wurde ihm verwehrt. Der Dienst an der Waffe zähmte oder beendete seinen linkspolitischen Aktivismus. Ähnlich müsste die Frage geklärt werden, welche ihm wohlwollenden Geister 1971 seine Ausreise nach Deutschland − er brauchte schließlich einen Pass −, ermöglichten oder erlaubten.
Als Heranwachsender war ihm − wie so vielen anderen − in den elterlichen Auseinandersetzungen, Nietzsche Trost und Erkenntnis und Spinoza moralisches Erkundungsterrain. Wie ein Kompromiss mit den Erwartungen der Eltern, seines Offizier-Vaters erscheint die Wahl des Jurastudiums, das er allerdings abbrach. Mit dem Studium der Altphilologie, Philosophie und Neuen Geschichte, schlägt er einen Lebensweg ein, der ihn von zuhause fortführen sollte. Dass er sich ins ideologische Gegenlager begab, mag eine rebellische Reaktion auf das strenge Elternhaus gewesen sein, eine Folge der häuslichen Auseinandersetzungen oder der besonderen Erwartungen an ihn. Doch in der moskauhörigen kommunistischen Parteigruppe traf er auf gleiche oder ähnliche Hierarchien, Nomenklaturen, Strukturen von Zwangshaltungen und Ergebenheit, wie er sie im öffentlichen Bereich beobachten konnte.
Seine Realitätserfahrung war also nicht die der sozialen Brüche in der griechischen Gesellschaft, sondern Machtverhältnissen ausgesetzt zu sein. Das bezieht sich auch auf die geopolitische und geostrategische Lage des Kleinstaates Griechenland als Objekt von ›Schutzstaaten‹, wie sie wieder einmal geradezu paradigmatisch dem Zeitgenossen Kondylis mit und während der Obristenherrschaft (21.4.1967) vorgeführt wurde.
Kondylis wurde kein Revolutionär, er bewältigte die diktatorische Übermacht, bewältigte seine Ohnmacht auf galileische Art. Er wurde aber auch kein Märtyrer. In seiner existenziellen Bedrohung, vielleicht in der Angst um sein Leben, in der Grenzerfahrung der Nichtigkeit des Lebens als Gegner eines herrschenden Systems, die Beispiele hierfür sind ihm nicht verborgen geblieben, fragte er sich, genauer: gab er sich die Antwort: wie überlebe ich, wie kann ich mich schützen, wie retten. Dass er, so mein erinnerter Eindruck, dass er diese höchst persönlichen Entscheidungsprozesse, die er nur mit sich selbst durchstehen konnte, danach nicht vor Gutsituierten ausbreiten wollte, sei ihm zugestanden. Er wollte nicht die Erfahrung wiederholen, jemanden ausgesetzt zu sein, der im Gnadengestus richtiges Verhalten definiert.
Kondylis durchlebte, wie schwierig und leidvoll es sein kann, zwischen, und ich sage dies mit Bedacht, Selbstverrat und Selbstachtung seine Haut zu retten, dass man das Überleben nur noch gegen die Ehrlichkeit vor sich selbst eintauschen kann. Diese Ehrlichkeit kann man nicht teilen und noch weniger muss man sie mitteilen. Solange man niemandem schadet, ist man nur sich selbst verantwortlich. Und warum soll er bei jemandem, dem solche Lebensprüfungen erspart blieben, Verständnis einholen, das sich nur als Verständnis für eine menschliche Schwäche erweisen würde? Das vielleicht Schmerzlichste für den jungen Denker Kondylis, der sein Leben noch vor sich sah, war die Einengung in der Selbstgesetzgebung , wie er sich seiner Autonomie beraubt sah. Die Selbstbestimmung vor Autoritäten zu verlieren, bedeutet, das Innerste der Autonomie in Gefahr zu bringen: die Selbstkontrolle, der Kondylis »den sozialen Überlebenswert« zuschreibt und die für ihn »zum Kern der Rationalität überhaupt gehört« (Kondylis 1999, 571 f.).
Eine besondere Strategie, sich vor innerer wie äußerer Anfeindungen zu schützen, ist, zu sich selbst, dem Geschehen, in das man verwickelt ist und zu den Akteuren eine Beobachterposition einzunehmen. Der Beobachter rettet sich in ein Außerhalb, gewinnt ein Unbeteiligtsein, das ihm Immunkräfte verleiht und aus der Konfrontation in die Haltung der Analyse des Geschehens versetzt. Dies ist zugleich die subtilste Form von Herrschaft: dem Zwang, der Repression die Freiheit des Denkens abzutrotzen, die Unterdrückungsmechanismen in der Reflexion aufzuheben.
Die Rechtfertigung dieser Haltung, die Verantwortung vor sich selbst, seine Verteidigung, wendet Kondylis in die Aufklärung, einer philosophisch anthropologisch orientierten Aufklärung, in der auch die über sich selbst als denkerisches Subjekt enthalten ist, und er entscheidet, sich nicht an Machtkämpfen zu beteiligen, seine Autonomie in der Distanz zur jedweder Macht zu bewahren.
Folge ich nun Kondylis’ Aufforderung, mögliche Selbstenthüllungen oder gar Bekenntnisse, die Selbstthematisierung in seinem Werk zu suchen, so bieten sich die zwei Studien an, die er unter den Titel Marx und die griechische Antike fasste, von denen sich die erste mit »Marx’ Dissertation und der Ausgangspunkt seiner geistigen Entwicklung« befasst und nicht nur in der Wahl des Themas auf Analogien zu Kondylis selbst verweist. Das Fundament seiner Analyse verdankt er Thukydides: »Glücklicherweise liefert uns die klassische, soziale und historische Analyse von Thukydides bis heute hinreichende Werkzeuge, um in die Tiefe zu gehen und die Dinge nüchterner zu betrachten. Sie lehrt uns vor allem, unsere Aufmerksamkeit auf die konkrete Struktur der in Frage stehenden individuellen und kollektiven Themen zu richten und sie in ihrer historischen Bedeutung zu betrachten.« (Kondylis 2001, 11). In Marx’ philosophischer Entwicklung analysiert Kondylis seinen eigenen Weg zur Philosophie bzw. Anthropologie.
Wie Marx, der 17 Jahre nach seiner Dissertation darüber nachdenkt, welche »Interessen« ihn denn »zum Studium der späteren griechischen Philosophie« getrieben haben, schreibt Kondylis die Marx-Schrift etwa 17 Jahre später, zu einem Zeitpunkt, zu dem er sich über seinen »Ausgangspunkt« (Gerhardt, 11 f.) klar werden musste. Sein Studium war − und dasselbe erkennt er in Marxens Weg − die Suche nach einem »ganz bestimmten Abschnitt der (philosophischen) Vergangenheit [...] um ihn in die Gegenwart und deren Problematik hineinzuprojizieren.« Es gilt die Strahlkraft, die »Fruchtbarkeit« (s.u.), die Erkenntniskraft der Tradition wahrzunehmen, um als »Epigone [...] Pionier« sein zu können.
Marxens Erstlingsschrift, »habe die Ambition zugrunde gelegen, Fragen zu stellen und zu lösen, die im Mittelpunkt der damaligen Debatten standen« (Kondylis 1987, 7 ff.) und insofern war seine Dissertation »in solchem Ausmaß von nicht-historischen und nicht-akademischen Fragestellungen geprägt«. Marx verschmelze »die Analyse einer philosophiegeschichtlichen Frage«, ohne dass diese ihren Eigenwert verliere, »mit einer aktuellen philosophischen Fragestellung [...] im Gewand einer modernen Begrifflichkeit« (Kondylis 1987, 37). Es ist ganz unspektakulär ein natürlicher Weg zur Philosophie (Neugierde, Zweifel, Konfrontation), es sind die Realitätserlebnisse und die öffentliche Diskussion darüber, die die Impulse zu philosophischen Fragen geben. Und bei Kondylis mag sich im Sinne Epikurs ein weiteres Motiv gebildet haben: Furcht, Ohnmacht und die eigene Schwäche mit Hilfe der Philosophie zu überwinden. Darin ist auch enthalten, dass eine Philosophie, die aus eigenem Erleben hervorgeht, eine Kohärenz aufweisen kann, die ein Mehr an Überzeugungskraft gewinnt gegenüber einem Denken, das sich auf Erlebnisse aus zweiter Hand bezieht.
Die Dynamik, Epigone zu sein, sich in die Geschichte des Denkens zu stellen und zugleich Pionier sein zu wollen, analysiert Kondylis mit Marx als dreistufige Entwicklung. So wie die Junghegelianer entdeckte Kondylis »die Wahlverwandtschaft« nicht mit der nacharistotelischen Philosophie, sondern mit Thukydides, um seinen »persönlichen Weg durch die Trümmer der vorangegangenen Synthesen hindurch bahnend zu Theorien zu gelangen, wie sie für die Zeiten weltgeschichtlicher Umwälzungen kennzeichnend sind.« Die Begründung für die Wahlverwandtschaft ist der zweite Grund, sich einer früheren Denkepoche zuzuwenden. Es ist das Motiv, sich argumentativer Hilfe in der Geschichte zu vergewissern, sich mit historischer Autorität auszustatten: »den geeigneten theoretischen Ausgangspunkt und zugleich die erwünschte historische Deckung zur Aufnahme ihres [der Junghegelianer] Kampfes gegen Theologie und Religion« zu finden.(Kondylis 1987, 9 f.). Die dritte Komponente, und dies zeigt Marx am Beispiel Epikurs als dem »Verfechter des Selbstbewusstseins«, ist das »Selbstbewusstsein« im Sinne von »Autonomie« (Kondylis 1987, 35). Kondylis benennt das Motiv, das Marx in seiner philosophischen Anstrengung vorantrieb, es ist das individuelle, »das prometheische Element als selbstverständliche weltschöpferische und -verbesserische Einstellung jeder echten, d.h. autonomen philosophischen Anstrengung.« (Kondylis 1987, 11). Wohlgemerkt, auch von Kondylis wird, wenn auch sehr verhalten, eine »weltschöpferische und –verbesserische Einstellung« intoniert, jedoch er bleibt dabei ›stehen‹, dass diese Einstellung auf der »autonomen philosophischen Anstrengung« gründe.
Zugleich erkennt Kondylis, und man darf die Charakterisierung der 68er Generation heraushören, die Selbstwertüberschätzung der Junghegelianer, die geradezu zirkelhaft den »feierlichen Primat der Gegenwart« setzen und zwar aus einer »apokalyptische[n] und eschatologische[n] Stimmung« heraus, »aus dem Glauben«, der offensichtlich nur ein Glaube an sich selbst war, »aus dem Glauben, die Gegenwart – und zwar diese Gegenwart – mache einen Gipfelpunkt der gesamten geschichtlichen Entwicklung aus, da sie mit einem Umsturz schwanger gehe, der die menschliche Geschichte in ein neues Flußbett lenken und sie zum ersten Mal nach höchsten und absoluten moralisch-humanistischen Werten gestalten werde.« (Kondylis 1987, 8).
Mit diesem kritischen Blick auf den Gang der Geschichte, mit der nüchternen Analyse der Genealogie von Gegensätzen, von Interessen und von Plänen der Weltverbesserung, der Genealogie »idealistischer Orientierungen« ist Kondylis ein Schüler von Thukydides. Dieser, vertiefte die Erkenntnisse und Methoden der Sophistik, so Kondylis, und ist »von der Erfassung des Zeitlichen zur Erfassung des Menschlichen übergegangen. Von der Tiefe und Fruchtbarkeit dieser Erfassung zeugt das Werk von Thukydides, dem genialsten Schüler der Sophistik und vielleicht dem größten Historiker, der je gelebt hat.« (Kondylis1 1992, S.12). Thukydides verfügte im obigen Sinne über ein die Welt umfassendes, tiefes Selbstbewusstsein und besaß die seltene Gabe eines pluralen Selbstbewusstseins (»die Reflexion der Zeit selbst«, Hegel, 6). Thukydides sei zu einer »bewusst multidimensionalen und in die Vergangenheit weit ausgreifende Aitiologie« des Peloponnesischen Krieges gelangt (Kondylis 1999, 126). Für Kondylis war Thukydides eine Schule des (antiplatonischen) Denkens: »Thukydides hat nicht das Geringste von seiner Aktualität verloren und auf seinem Werk läßt sich eine Analyse moderner Politik aufbauen − nicht aber auf Platons ›Gesetzen‹.« (Kondylis 2006, 164; vgl. Nietzsche, Kritische Studienausgabe, München 1999, Bd. 6, S. 155f.).
Thukydides thematisiert, dass er eine historia rerum gestarum verfasse, einen Erklärungsversuch des Verlaufs der menschlichen Geschichte unternehme. (Siehe Kondylis 1981, 307) Durch historische Analysen belegt Thukydides die zentrale sophistische Kategorie der Geschichte, das Primat der Anthropologie. Zu allgemeinen Aussagen über die Motive des Handelns und über das menschliche Verhalten, kann Thukydides gelangen, weil er ohne Bezug auf göttliche Instanzen die ›wahren‹ und vorgetäuschten Regungen des menschlichen Seelenlebens, die Strategien des Menschenverstandes, die Triebe, Motive, Pläne und Ziele erkundet, davon abratend zu glauben, »dass die Natur des Menschen so arg verschieden sei« (Thukydides, I,84). Thukydides geht von der Evidenz der Phänomene aus, praktiziert eine ›existenzielle Erkenntnisweise‹.
Thukydides’ Verweis auf die gleichbleibende Natur des Menschen zur Erklärung der Grausamkeiten im Peloponnesischen Krieg, ergibt nach Kondylis »anthropologisch und sozialontologisch nur dann Sinn, wenn damit gemeint ist, die Offenheit und Plastizität der menschlichen Natur sei [...] unbegrenzt und unbegrenzbar«, in Kriegs- wie in Friedenszeiten. (Kondylis 1999, 219). Es ist aber zu erkennen, dass für Thukydides die Geschichte nicht zirkulär verläuft, sondern wie eine fortlaufende Fieberkurve in typologischen Verläufen. Thukydides weiß, wie hell Friedenszeiten leuchten, sieht aber seine Aufgabe darin, das Dunkel der Geschichte zu erhellen.
Thukydides stellt fest, muss feststellen, dass keine Todesart im Peloponnesischen Krieg ausgelassen wurde: alle Gräuel, sagt er, kamen hier vor, »ja noch ärgere«. (Thukydides, III,81) Parteikämpfe brachten »über die Städte schweres Unheil, was ja freilich auch zu anderen Zeiten nicht ausbleibt noch je ausbleiben wird, solange die Menschen eben Menschen sind«. »Der Krieg [...] schwingt die Zuchtrute der Gewalt und lenkt die Leidenschaften der Menge«. Die »Begriffe und Bezeichnungen« aus den Friedenszeiten, in denen »Städte und Menschen bessere Gesinnungen« hatten – die Kultiviertheit kann sich kollektiv nur in Nicht-Kriegszeiten entwickeln − werden uminterpretiert, »je nach Umständen verändert«. So wird Vernunft zur Sinnlosigkeit, Begriffe verlieren ihre die Moral stützende Kraft, und »wer widersprach, machte sich verdächtig« (Thukydides, III, 82), der ethische Zerfall schreitet voran, »die Gesinnungslosesten brachten es daher am weitesten« (Thukydides, III, 83).
Thukydides diagnostiziert die Triebkräfte des Menschen und der Staaten – ohne das teleologische Element der Erlösung −, Ehrgeiz, Ehre, Neid, Furcht, den eigenen Nutzen, Macht und als »die höchsten Güter [...] Freiheit und Herrschaft«. Freiheit bedeutet, sich der Herrschaftsansprüche anderer zu erwehren, sich von ihnen zu befreien und über eigene Macht zu verfügen. Kollektiv ausgelebt kann sich die Machterweiterung in ihrer Wirkung noch steigern, insbesondere dann, wenn sich die »nicht minder gefährlich Verführerin die Tyche« (Thukydides III, 45), d.h. im Sinne des Strategischen gesprochen: das bewusst gewählte Risiko, hinzugesellt. Und hier steigert der Demos die Grausamkeiten und fördert grausam Machterweiterung und Herrschaft. »Thukydides glaubte sogar, die schlimmsten Paroxysmen und Greueltaten im Peloponnesischen Krieg seien der demokratischen Masse von Athen anzulasten.« (Kondylis 2001, 83).
Unterstellen wir Thukydides eine Triebtheorie als Ergebnis seines induktiven Verfahrens, so unterscheidet er zwischen den Trieben und Methoden und Mitteln, diese Triebe auszuleben, sie zu realisieren. Er sagt nicht, dem Menschen seien Destruktivität und Aggression angeboren, sondern beschreibt, mit welchen Mitteln, Strategien, Zielen und zu welchem Zweck imperialistisches Verhalten von Menschen und Staaten welche Folgen zeitige. Dabei rückt er das kollektive Verhalten als bestimmend in den Vordergrund, Aktionen, denen er die Reaktion, die Gegenstrategien, die Selbstbehauptungen der bedrohten, angegriffenen, geschädigten und geschändeten Menschen (und ihren Staaten) gleichgewichtig in ihren Trieben gegenüberstellt. Wird das äußerste Mittel zur Umsetzung der Machtansprüche, die kriegerische Aktion, gewählt, weil der Erfolg sicher scheint, sind die Ziele der Machterweiterung Landgewinn, Rohstoffe, Märkte und Sklaven. Thukydides erkennt mit Empathie in demjenigen, der sich nicht in der Machtkonkurrenz behaupten kann, im Beherrschten und Machtlosen das, was ihm sein Überleben sichert: die Furcht. Ein retrograder Trieb erscheint uns wie ein Widerspruch. Furcht ist die Re-Aktion auf den, der Angst macht, der die Angst instrumentalisiert; die Furcht rationalisiert und sichert das Überleben, im Gegensatz zur Angst, die in Panik endet.
Wenn auch Thukydides diese Art von Machtausübung nicht mit dem Begriff ›Amoralität‹ kennzeichnet, so bietet seine Darstellungsweise dem Leser doch eine Bewertungsmöglichkeit an, in der mit der Beschreibung ›so ist es‹ die moralische Missbilligung ›so sollte es nicht sein / es ist vielmehr so‹ in den ›protokollierten‹ Gegenpositionen vermittelt wird. In demselben Kontext baut er gegensätzliche Begriffsfelder auf: den Begriffen, Verhaltensweisen »Herrschsucht , Streitigkeiten, ungerechter Prozess, Gewalt, Ehrgeiz, Rache« stellt er die Begriffe, die Verhaltensweisen »maßvolle Herrschaft der Edelsten, Gemeinwohl, politische Gleichberechtigung, Ehrfurcht vor dem Heiligen, sich unparteiisch verhalten, mit allem Edlen verwandt« gegenüber. Er analysiert beschreibend die Strategien des Machtgewinns und die Folgen des Machtverlustes und bietet damit dem nach Macht Strebenden wie dem die Macht Verlierenden die Möglichkeit an, die für ihn ›richtige‹ Strategie zu finden. Insofern steckt darin Hoffnung auf ›Besserung‹, die vielleicht nur in die Selbsterkenntnis der eigenen Machtlosigkeit mündet. Er selbst als Historiker – und Kondylis fordert dies grundsätzlich vom Historiker: »kann das Motiv ermitteln und die Zweckrationalität beurteilen, er kann und muss aber nichts darüber sagen, ob der Akteur durch sein Motiv bzw. seine biopsychische Beschaffenheit zum Mord ›determiniert‹ war oder nicht.« (Kondylis1999, 170).
Rémi Brague resümiert die »Vorgeschichte der Unterscheidung von Sein und Sollen« mit der Kapitelüberschrift »Die Griechen: Eine Ethik ohne ›Sollen‹«, ein Verdikt, das auch Thukydides trifft: »Die antike Ethik braucht den Begriff des Sollens nicht.« (Brague, 24 ff.). Gleichwohl zitiert Brague die Stelle in Platons Gorgias, an der Platon den Schüler Gorgias’, den Halbstarken Kallikles über die Umwertung der Werte durch Sokrates sinnieren lässt: „Sag mir, Sokrates, sollen wir denken du treibst jetzt Ernst oder Scherz? Denn wenn du es nicht ernstlich meinst und das wahr ist, was du sagst, so wäre ja wohl das menschliche Leben unter uns ganz verkehrt, und wir täten in allen Dingen das gerade Gegenteil, wie es scheint, von dem, was wir sollten.“ (Platon, 481c). Damit gesteht der Sophist Kallikles ein – und die Sophisten haben Übung im komparatistischen Denken −, dass die menschliche Lebensführung geradezu entgegengesetzt ausgerichtet werden müsste, wenn Sokrates’ Wertvorstellungen gelten sollten. Das heißt, die Denkfigur Sein – Sollen wird sehr wohl angewandt, aber von denen, die sich so ganz auf das Weltliche, Reale beziehen, als würde ihnen bewusst, dass sie dem Sollen nicht − nach Platon niemals − gerecht werden können, da das Sein-Sollende nur das Gute, das höchste Gut ist. Der Ansatz der Sophisten kann entgegengesetzter nicht sein: »Der Vorrang der anthropologischen Problematik mußte dabei in den anthropologischen Vorrang des Willens zur Macht münden. Denn der auf sich allein gestellte Mensch [...] kann seine Lebensenergie, seine sozialen und auch seine ethischen [sein-sollenden] Zielsetzungen nur vom Willen zur Macht herleiten.« (Kondylis1 1992, 12). Kondylis sagte einmal, er habe auch deswegen die deutsche Sprache erlernt, um Kant im Original lesen zu können. Doch sollte er sich als Schüler von Thukydides Hoffnung gemacht haben, bei Kant eine ›weitere‹ Antwort auf die Frage zu finden, warum und wie das Übel, das Böse in die Welt gekommen ist, so las er bei Kant eine Thukydides zwar ›erhellende‹, aber nur zum Teil erklärende Antwort.
Auch Kant versteht, dass wir uns genötigt sehen, »unsere Augen von ihm [dem menschlichen Geschlecht] mit Unwillen wegzuwenden«; er erklärt die Hoffnung auf ein vollendetes Menschengeschlecht »in einer andern Welt« damit, dass wir das Telos der Weltgeschichte nicht erkennen bzw. als Individuen dem Telos nicht (immer) zu folgen vermögen. (Kant 1968, Bd. 9, 49). Kant führt eine ganze Liste von Entschuldigungen auf, darunter auch solche des Freispruchs, um den »natürlichen Hang zum Bösen«, die »angeborene Schuld« zu erklären; dieser Hang »muss [...] zu überwiegen möglich sein, weil er in dem Menschen als frei handelndem Wesen angetroffen wird.« (Kant 1968, Bd. 7, 685 f.).
Gut und Böse sind Folgen des freien Willens, und als solcher ist der Mensch »gut geschaffen«, woraus Kant ableitet: »er ist zum Guten erschaffen, und die ursprüngliche Anlage im Menschen ist gut«, eine Anlage, die nicht verloren gehen kann. Kant lässt jedoch eine Lücke, in die den Menschen moralisch Entlastendes eingefügt werden kann. Wo der Mensch nicht selbst die Kräfte aufbringt, gut zu sein, hilft ein Ruf, ein Gebot − den Verursacher, den Initiator identifiziert Kant hier nicht, und kann der Mensch der besagten Anlage nicht voll genügen, so ist er sich doch »eines für uns unerforschlichen höheren Beistandes« gewiss: »ungeachtet jenes Abfalls [vom Guten ins Böse] erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch können, sollte auch das, was wir tun können, für sich allein unzureichend sein, und wir uns dadurch nur eines für uns unerforschlichen höheren Beistandes empfänglich machen.«
Logischerweise ist darin die Voraussetzung enthalten, »dass ein Keim des Guten, in seiner ganzen Reinigkeit übriggeblieben, nicht vertilgt oder verderbt werden konnte, welcher gewiss nicht die Selbstliebe sein kann; die, als Prinzip aller unser Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist.« (Kant 1968, Bd.7, 694 f.). »Nicht die Selbstliebe« − ein schwacher Begriff im Verhältnis zu dem, was Thukydides beschreibt − und was sich in Kants schönen bzw. beschönigenden Metaphern fortsetzt: »das radikale Böse« ist »der faule Fleck unserer Gattung« (Kant 1968, Bd:7, 687) und die Frage, »wie ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache«, und wie ein guter Mensch ein böser werden könne, wendet Kant in das Bild, wie »ein böser Baum gute Früchte« bzw. wie »ein guter Baum arge Früchte« bringen könne (Kant 1968, Bd.7, 695), und an anderer Stelle verwendet er eine nicht weniger gefällige Metapher: »aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.« (Kant 1968, Bd. 9, 41). Zugleich kritisiert er die, die den »philosophischen wie den theologischen Chiliasm«, d. h. die Hoffnung auf Frieden und das Harren »auf des ganzen Menschgeschlechts vollendete moralische Besserung« als »Schwärmerei« verunglimpfen, »verlachen« (Kant 1968, Bd.7, 682 f.); er meint damit die Naturalisten, von denen er gar wenig hält: »Naturalisten in der Metaphysik und Moral sind Schwätzer«. (Kant 1924, 867). Dem Naturalisten unterstellt Kant, er negiere die Seinsqualität, in der die Sollensqualität enthalten ist; man kann sogar heraushören, dass nach Kant im Naturalisten diese Seinsqualität verschüttet ist. < Kants Moral ist »individualistisch [...] und verlangt die klare und bewusste Vorherrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit.« (Kondylis 1981, 642). Natur und Freiheit lassen sich nicht miteinander vereinigen, was Kant in folgende These fasst: »der Grund der Verbindlichkeit des Moralgesetzes habe mit ›der Natur des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist‹, nicht das Geringste zu tun.« (Kondylis 1981, 639). Kondylis konstatiert hier einen Gegensatz »in seinem ganzen Ausmaße« zur anthropologisch und soziologisch orientierten Moralphilosophie der Aufklärung. Es ist auch der Gegensatz zu seiner Position, der in Kants geschichtsphilosophischer Abhandlung noch forciert wird, zumal Kondylis sehr »enge Grenzen geschichtlicher Vorhersehbarkeit« vorgibt: »Als grundsätzlich unvorhersehbar muß jedenfalls die Geschichte von Ereignissen und Ereignisketten gelten.« (Kondylis2 1992, 1).
In der Geschichtsphilosophie Kants steht nicht wie in der Moralphilosophie das Individuum, sondern »die Gattung im Mittelpunkt.« In ihr werden sich, hier den Teleologen Kant zitierend, »diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner [des Menschen] Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln«. (Kondylis1981, 642). Kant stellt die philosophische Betrachtung der Weltgeschichte, »die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat«, und die sich des Telos der Geschichte gewiss ist, »der eigentlich bloß empirisch abgefassten Historie« gegenüber. (Kant verweist hier sehr indirekt auf Thukydides.) Kant eröffnet die »tröstende Aussicht«, dass »in weiter Ferne« sich die Menschengattung »endlich doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden.« Kant sieht sogar den Zeitpunkt kommen, wie »wahrscheinlicher Weise« mit und nach »der Verbesserung der Staatsverfassung in unserm Welttheile« diese Staatsverfassung der aufgeklärten Nationen anderen Staatsnationen »Gesetze geben wird« (Kant 1968, Bd.9, 48 f.).
In der Geschichtsphilosophie Sein und Sollen auch argumentativ, analysierend zu trennen, ist vom Telos her betrachtet quasi widernatürlich. Kant sieht die Einheit von Sein und Sollen in der Natur selbst: »die Natur weiß besser (als der Mensch), was für seine Gattung gut ist«. (Kondylis 1981, 643). Kondylis bricht das Zitat mitten im Satz ab, als würde er Kant unwillig das Wort abschneiden: »etc. etc.« Wenn man diesen Satz auf alle menschlichen Handlungen anwendet und keine dem Menschen höhere Natur annimmt, könnte man an der menschlichen Natur verzweifeln. Kondylis notiert Kants »ausgesprochen pessimistische Menschenauffassung« (Kondylis 1981, 641). Doch diese Skepsis führt Kant moralphilosophisch nicht zu einem »Agnostizismus in bezug auf Gut und Böse« (Kondylis 1981, 638). Bei Kant fand Kondylis eine für ihn nicht ausreichende Antwort auf die Frage, wie »Ursprung und anhaltende Wirkung des Bösen zu enträtseln« seien (Kondylis2 1992, 108), so wandte er sich wieder Thukydides zu.
Thukydides beschreibt keinen Urzustand, den die Menschheit zu überwinden fähig ist; es ist die Geschichte, die zeigt, dass der Mensch seiner Natur nicht entrinnen kann und in der Beschreibung des ›dramatischen‹ Verlaufs der Geschichte, zeigt sich eine Sprachlosigkeit des Autors, als würde er vor der Natur des Menschen kapitulieren. Zugleich, und dies lässt sich durch die Verlängerung der perspektivischen Linien erspüren, steht er auf der Seite der Leidenden. Ähnlich Kondylis, der sich gegen die Unterstellung der Universalethiker verwahrt, die dem, der die menschenrechtliche Rhetorik für leer hält, unterstellen, er habe »an willkürlichen Verhaftungen und Folterungen seine Freude«. (Kondylis 2001, 63).
Im Melier-Dialog zeichnet Thukydides luzide und beispielhaft die Strukturen von Machtverhältnissen nach: Kondylis kommentiert, wie die Athener die Unterwerfung der Melier fordern: »Sie tun es nicht schlechten Gewissens, sie glauben nicht, dass sie dadurch gegen die göttliche Ordnung verstoßen, denn die göttliche oder natürliche Ordnung, das innere Gesetz des Seins ist eben das Gesetz des Stärkeren. Aus der göttlich-natürlichen Ordnung leiten nur die Schwächeren eine Ethik ab − Ethik kann indes als Argument und Waffe nicht stärker als diejenigen sein, die bei ihr Zuflucht suchen müssen.« Wie Thukydides muss Kondylis sich nicht moralisch für seine Beobachtung und Analyse durch moralisches Distanzieren entschuldigen, wie es auch kein Zynismus eines moralisch Überheblichen ist, festzustellen, dass die Schwächeren einer göttlich-natürlichen Ordnung bedürfen, um in ihr Zuflucht zu finden, zumal er wie Thukydides beiden, den Mächtigen und den Schwächeren die Befolgung von Klugheitsregeln empfiehlt, »die dem natürlichen Gebot der Selbsterhaltung zu dienen haben«. Das der Macht inhärente Gesetz ist jedoch nicht der bloße Machterhalt, sondern die Macht ständig auszuweiten, während die Selbsterhaltung vom Schwächeren fordert, dem Stärkeren entgegenzukommen. (Kondylis1 1992, 13).
Thukydides analysiert die komplexe (macht-)politische Entscheidungsfindung in Krisenzeiten und hält die sozialpsychologischen Verhaltensweisen, die sich in diesen Prozessen erkennen lassen und die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dominieren als ubiquitär und in toto das menschliche Handeln stärker bestimmende Motive für die gegensätzlichen, da er überzeugt ist, dass sich die unverstellte, wahre Natur des Menschen in extremis offenbart. Aggression, Zerstörung sind in der Steigerung extremer, in den Folgen radikaler als es das ›spiegelbildlich‹ Gute in seiner Steigerung je sein kann. Dabei mag die Vergangenheit so schwer auf der Menschheit lasten, dass der Blick auf eine bessere Zukunft verstellt bleibt. Als Realist akzeptiert Thukydides, keineswegs affirmativ, die geschichtliche Realität, um sie in ihrer Genealogie, ohne einen moralischen Katalysator, aus sich heraus verstehen zu können, und verzichtet darauf, im ethischen Pro und Contra Partei zu ergreifen, d.h. mit einem moralischen Anspruch aufzutreten und sich, selbst im Mantel der Kompromisswilligkeit, sich dieser oder jener Machtstrategie bedienend, in die oder jene Machtphalanx einzureihen, um damit nur neue Machtkonstellationen zu fördern bzw. neue herzustellen. Und trotzdem ist bei Thukydides ein Ton der Klage − auch der Anklage − zu hören, in dem das Tragische nachhallt, wenn er auch diese Klage nur an sich selbst und an seine Leser richten kann.
Diese ›Klage‹, diese ›Kapitulation‹, verweist auf die Erkenntnis, dass die menschliche Natur im Extrem Krieg sich ›vollendet‹, zu ihrem Ende kommt. Auf die Frage, wie das Böse in die Welt kommt, antwortet Thukydides, es sei der Mensch selbst, der das Böse in sich trage. Der Mensch wird nicht durch außermenschliche Mächte in seiner Existenz oder zumindest für die Folgen seiner Handlungsweise entlastet. Wollte man vom ›reduktionistischen Menschenbild‹ des Thukydides sprechen, dann in dem Sinne, dass für ihn Böses und Gutes aus einer Wurzel wachsen. Den Menschen zu begreifen, heißt, das Böse in ihm zu begreifen. Thukydides spricht aus, was noch heute für andere »ein Rätsel«, das »Ursprungsrätsel des vernünftigen Selbst« (Köhler 2005, 184) ist.
Machiavelli gilt als Begründer der politischen oder politologischen Wissenschaft. Kondylis begründet dies − mit anderen − damit, dass Machiavelli die Zyklizitätstheorie des Polybius übernehmend, die von der sich wiederholenden Gleichförmigkeit der Phänomene und von einem naturgesetzlichen Schema des Lebens der Staaten ausgeht, was logischerweise zur Auffassung von der »Unveränderlichkeit der menschlichen Natur« führt. Wissenschaft bedeutet, der Ratio ein Feld zu eröffnen, »wo sie hervorragend ihre Forderung erfüllen kann, die einzelnen Gegebenheiten in ein theoretisches System einzuordnen und zu untersuchen«. (Kondylis 2007, 33). Machiavelli anthropologisiert jedoch die »natürliche Ordnung« durch den Nachweis, dass Aufstieg und Fall der Staaten durch Tugenden und Fehler der Staatsmänner und Gesetzgeber bedingt sind. (Kondylis 2007,36). Doch die gewichtigere Voraussetzung für die Entstehung der politologischen Wissenschaft ist die Trennung von Politik und Moral, von Wissenschaft und Philosophie. Um den Mechanismus von Politik zu erkennen, muss die normativistische Beurteilung aufgegeben werden, da es dem normativistischen Denkstil inhärent ist, die »objektive Gültigkeit der vertretenen moralischen Position für evident« zu halten, wie diese Evidenz auch der entsprechenden Historiographie zugesprochen wird. (Kondylis 1981, 445).
Erst die Trennung von Politik und Moral ermöglicht die Erkenntnis, in welchen Hinsichten beide als Vielfache und vielfach mit einander verwoben sind. Die Trennung dient zugleich als analytische Methode, aus der Distanz das eine und andere in den Blick zu bekommen und der wirbelnden Vermengung von Politik und Moral zu widerstehen. Kondylis entscheidet die grundsätzliche Frage, welcher der beiden antinomischen Erkenntnisweisen, dem Bezug auf Normen oder dem Bezug auf die Praktiken der höhere Erkenntniswert zukommt, mit dem Nachweis – Thukydides und Machiavelli und deren Nachfolger bis in die Aufklärung stehen hierfür – wie ethische Normen von der Politik instrumentalisiert werden, sich instrumentalisieren lassen bzw. welche Allianzen normativistisch Motivierte eingehen, um ihre Normen Praxis werden zu lassen.
Dies sei mit dem Kondylisschen Rüstzeug an einem Beispiel analysiert: Es ließe sich im Hinblick auf den Realsozialismus, die darin praktizierte Beziehung zwischen Moral und Politik analysieren, eine Beziehung die im Sinne der Partei und im Sinne der Widerspiegelungstheorie als »Übereinstimmung von Politik und Moral, Macht und Humanität im Sozialismus« (Fromm 1970, 152-159) oder als »Einheit von Geist und Macht« deklariert wurde. Ich folge Kondylis, wenn ich die Kommunisten »als Verfechter einer humanistischen Utopie und als Vollstrecker nackten Terrors« charakterisiere, die »beide Seiten des menschlichen Paradoxons« verkörpern. (Kondylis2 1992, 137). Ich möchte jedoch ein Beispiel aus der Gegenwelt wählen, das ebenfalls auf Thukydides zurückweist.
In einer Predigt vom 20.9.1914 vor dem Ausmarsch Kriegsfreiwilliger geht es um das Sein-Sollen, das in der kriegerischen Tat mit Gottes Hilfe zur Vollendung gelangt, zum Sein wird. »Der größte Gedanke, den ein Mensch fassen kann, nein, von dem er erfaßt wird, ist der Gedanke an Gott. Und dieser Gedanke verbindet sich in unserer Zeit unwillkürlich und ungekünstelt mit dem des Vaterlandes. Gott und das Vaterland. Wir spüren es jetzt unmittelbar: Beide gehören zusammen. − [...] Die Heimat hat euch eure Eigenart, euer Bestes, was ihr habt, geschenkt. Aber nicht nur jeder einzelne hat seine Heimat, sondern auch jedes große Volk, das durch Sprache, Sitte, Geschichte und Klima zusammengehört. [...] Ohne diese Gottesordnung des Vaterlands wäre die Menschheit zersplittert und zerrissen, wäre die Menschheit ein buntes Gewirr von einzelnen durcheinander gewühlten Individuen, mit auseinanderstrebenden Wünschen, Zielen und Absichten [...] Wenn diese Gottesordnung in Gefahr ist unterzugehen, wenn der durch eine heilige Geschichte, durch reiche, ehrliche Arbeit, durch das höchste sittliche Streben errichtete Bau von Neid und Machthunger der Nachbarn zerstört werden soll, dann ist es nichts weniger als unsere heilige Pflicht, sich zu wehren, dann ist der Krieg, der auf der einen Seite ein Frevel ist, auf der andern Seite ein Gottesdienst. Das ist der erste Sonntagsgedanke, den ich euch für euren harten Werktagsdienst mitgeben möchte: Eure Arbeit ist ein ›Werk des Herrn‹; euer Kriegsdienst ist ein Gottesdienst. [...] Ein schlechter, gottloser Mensch ist nie ein guter Soldat, und ein rechter Soldat ist immer auch ein guter Christ.« (Otto 1979, 96 f.).
Hier werden Sein und Sollen nicht nur (teilweise) vermischt, sondern das Sein findet im Sollen seine eigentliche und höhere Identität. Der teleologische Fluchtpunkt dieses Sollens ist das absolut Gute, Gott. Es bedarf gar nicht der eigenen Legitimation, d.h. der Legitimation vor den Menschen, sie wird vielmehr an den Menschen vorbei in den Willen Gottes projiziert und dann als Legitimation des kriegerischen Handelns wieder zurückgeholt oder empfangen. Gott selbst verantwortet, was der Mensch tut: »Eure Arbeit ist ein Werk des Herrn; euer Kriegsdienst ist ein Gottesdienst.« Mit und in Gott gelangt das Sollen zur Vollendung – ohne ihn ist der Krieger verdammt und scheitert: ›Ein schlechter, gottloser Mensch ist nie ein guter Soldat‹. Die Macht über die Soldaten, die in den Krieg ziehen, wird Gott anheimgestellt, wo es doch realpolitisch um imperialistische Ziele geht; der Mechanismus des Glaubens wird für die Machterweiterung eingesetzt. Die weltlichen Gründe und Motive für die kriegerische Arbeit: Bewahrung des Heimatgefühls, Vaterlandsliebe, Vaterlandsverteidigung, Wiederherstellung der Ehre, Selbsterhaltung und Machterweiterung, militär-präventive Maßnahmen gegen den unterstellten ›Machthunger‹ und ›Neid‹ der Nachbarn, gegen die Barbaren, werden als göttliche Emanationen überhöht und werden als höchstes Gut − und hier ist der Begriff ›Gut‹ wahrlich das Kainsmal des Sollens − der sich erfüllenden Natur des Menschen aus dem göttlichen Befehl, aus der göttlichen Ordnung deduziert. Die weltlichen Gesetze in dieser Situation werden für die kommenden Taten usurpiert. Jede Teilmoral, die ihr Sein-Sollen bis zur Vollendung realisieren will, muss sich aller Seinsbereiche bemächtigen, um die Einheit von Sein und Sollen erreichen zu können.
Wilhelm II. hatte (1891) von den Rekruten den unbedingten Gehorsam gefordert: »ihr seid jetzt Meine Soldaten; ihr habt euch Mir mit Leib und Seele ergeben«. Wilhelm folgert aus dieser Seele/Leibeigenschaft, dass es »bei den jetzigen socialistischen Umtrieben« vorkommen könne, »daß Ich euch befehle, eure eignen Verwandten, Brüder ja Eltern niederzuschießen« (Otto 1979, 94) – eben die Gräuel, von denen Thukydides spricht. Der Prediger des Krieges erhebt die Rekruten sogar zu Dienern Gottes, dem Gott des Krieges. Im Krieg, in diesem Krieg, der schon zu Gange ist, findet der Soldat die Möglichkeit, das Sollen sich anzueignen, es sich ganz zu eigen zu machen. Im kriegerischen Sein wird dem Krieger die participatio Dei zuteil. Mit der rhetorischen Figur des Chiasmus: »Ein schlechter, gottloser Mensch ist nie ein guter Soldat, und ein rechter Soldat ist immer auch ein guter Christ«, in diesem Strukturviereck werden Sein und Sollen zur gottgegebenen Notwendigkeit zusammengeschnürt. Diese Teilhabe am Göttlichen macht den Kämpfer (zuvörderst moralisch) immun gegen jeden Feind, legitimiert jedwede Gräueltat. (Thukydides V, 111) Horaz’ Beschreibungsformel: »Beglückend und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben«, impliziert hier, »für Gott und Vaterland« zu sterben. Diese Soldaten sind die auserwählten »Arbeiter« Gottes; sie ziehen mit dem Gefühl der Erhabenheit, einer präventiven Ent-Schuldung, in den Krieg; eine Niederlage wird geradezu undenkbar, bei diesem »Werk des Herrn«. (Die Parallelen zum Irak-Krieg drängen sich auf − und die Bush-Ära und Bush sind ein neues Bezugsparadigma der verheerenden Identifizierung von Sein und Sollen, wie auch Terroristen und Fundamentalisten jeder Couleur ohne die Denkfigur Sein – Sollen nicht auskommen, in Vermengung der sozialen, ethnischen, machtpolitischen, religiösen Motive und Ziele.)
Gert Otto, der die Predigt kommentiert, ordnet sie der »ideologischen Propaganda« zu. Wohl weiß er, dass die Genealogie solcher Predigten historisch weiter zurückweist, um diese »bis ins Totale gehende Verhaftung an den Geist eines monarchisch-nationalen Protestantismus« zu erklären. Diese Kriegspredigt in das Fach ›ideologische Propaganda‹ abzulegen, dem Prediger »unreflektierte Identifikation« zu unterstellen, den »sprachlichen Schwulst« und »das hohle Pathos« rhetorisch zu analysieren und sich degoutiert abzuwenden: »Das ist klebrig«, heißt, sie aus dem religiösen Bereich auszusondern. Diese Predigt darf keine Predigt sein, sie ist nicht die Anwendung biblischer Wahrheiten auf die Zeitgeschichte: Wir haben »es hier gar nicht mit Rhetorik, auch nicht mit Theologie, also auch nicht mit einer Predigt zu tun«. (Otto 1979, 101-106). Solange diese Predigten der Unkultur, dem Unglauben zugeordnet werden, sie aus der christlich-protestantischen Kultur als wesensfremd entsorgt werden, verpufft der aufklärerische Impetus, der zur Selbstkonfrontation führen könnte. Es wird zu Recht moralisch verdammt, aber auch, um sich nicht im Spiegel zu sehen, um der Selbstkonfrontation zu entgehen.
Analog der Dualität von Sein und Sollen lässt sich die Beziehung von Natur und Kultur sozialontologisch analysieren, und zwar »in der doppelten Perspektive der Offenheit oder Plastizität und der Grenzen oder Zwänge des Menschlichen«. Die Beziehung zwischen Natur und Kultur lässt sich als ein konkretisiertes Sein-Sollens-Verhältnis verstehen. Normalerweise wird die »blinde Notwendigkeit der Naturbestimmungen [...] der Freiheit in der Kultur« gegenübergestellt, »wobei Freiheit wiederum irrtümlicherweise mit der tatsächlichen Offenheit und Plastizität der Kultur verwechselt bzw. aus dieser abgeleitet wird. Das sind aber zwei ganz verschiedene Dinge.« Man geht also davon aus, in der Kultur finde das Sollen »die dem Menschen angeblich geschenkte Freiheit«, die »ethisch-normativ« verstandene Freiheit ihre Vollendung. Wie das Sollen, sozialontologisch gedacht, nicht von vornherein qualifiziert werden darf, so muss auch der Kulturbegriff für die Beschreibung sämtlicher Möglichkeiten der Plastizität verfügbar bleiben, folglich darf die »Plastizität der Kultur« nicht nur und ausschließlich als Überwindung von Natur und Geschichte gedeutet werden. Das Provozierende an diesem Sprachgebrauch ist die darin enthaltene Forderung der bedingungslosen Selbstkonfrontation, ohne Wenn und Aber: »Denn alles was man üblicherweise als ›inhuman‹ und als Wirkung der ›blinden‹ oder ›tierischen Natur‹ apostrophiert, wurde in der bisherigen Geschichte innerhalb der Kultur und mit den Mitteln der Kultur vollbracht; Konzentrationslager sind z.B. reines Werk der Kultur, d.h. etwas, wofür es in der Natur absolut keine Beispiele gibt.« Mag das Wort ›rein‹ in Verbindung mit ›Konzentrationslager‹ deplatziert wirken, so wird damit radikal dieser vorläufig ›höchste‹ Endpunkt der kulturellen Entwicklung, wird diese an ihr Ende gekommene Kultur nicht in den Bereich des Dämonischen, des Nicht-, des Unmenschlichen, der totalen A-Moralität abgeschoben, wird nicht abgespalten, sondern dem Menschen im ›reinen‹ Spiegel vorgehalten. Das angeblich Dämonische dem Menschlichen zuzuweisen, bringt leicht den Vorwurf ein, man relativiere das Böse, bringe es in die Bereich der Erklär- und Verstehbarkeit, ja man gerate sogar in die Nähe der Apologeten solcher Taten.
Für Kondylis ist »nur in der Sprache der Ethik« Kultur »ein normativ geladener Begriff«, nicht so in der Sozialontologie. »Logisch und sachlich« ließe sich »als Beleg für die ethische und ontische Freiheit des Menschen« nur anführen, wenn die Freiheit »schon in ihrer Entstehung auf einen freien Entschluss des Menschen zurückginge«, vergleichbar dem mythischen Herkules am Scheidewege. Doch der Mensch kann seiner Natur nicht entfliehen, die Freiheit kann sich nicht von ihren eigenen Bedingungen lösen. »Der Satz, des Menschen Natur sei die Kultur, besagt eigentlich, dass der Mensch unter dem Druck der (seiner) Natur zum Kulturwesen werden musste und dass die Stimme der (seiner) Natur daher in allen ihren Tönen und Nuancen in der Kultur weiter zu hören ist.« Natur und Kultur sind heilvoll und unheilvoll miteinander verwoben: »Die Kultur des Menschen ist demnach ebenso Natur wie seine Natur Kultur ist.« (Kondylis 1999, 217).
Hermeneutisch und moralpraktisch, und auch hier ist Thukydides anwesend, zieht Kondylis den Schluss, dass der Moralist »nunmehr der bloße Beobachter bzw. Analytiker von Sitten und Verhaltensweisen – nicht notwendig der moralische Normen aufstellende Philosoph« ist. (Kondylis 1981, 137). Hier findet offensichtlich ein Rollentausch statt. Moralist ist der, der nicht den Maßstab der Seinsgestaltung vorgibt, Sinn konstituiert, sondern der, der die Realisierungsstrategien von Normen aufdeckt, Werte in ihrer dogmatischen, ›objektiven‹ Verbindlichkeit, in ihrer Mittel-Zweck-Funktion erkennt, der die Verinnerlichung sozialer Disziplinierung im Namen der Moral nachzeichnet, der (im epikureischen Impetus) die Ratio für eine Lebensführung in autonomer Verantwortung mobilisiert, der zu einer Kritik im Sich-Distanzieren verhilft und demonstriert, wie »eine verstehende Betrachtung« im Streit entgegengesetzter Parteien, die sich sehr wohl des logisch verfahrenden Denkens bedienen, gerade nicht Partei ergreifen darf, »wenn sie überhaupt [auch sich selbst] verstehend bleiben will.« (Kondylis 1981, 36). Der Moralist verweigert sich der Erwartung, nach der Dekonstruktion der Entstehungsmechanismen von Konflikten mit einer Lösung, einer Ersatzlösung aufzuwarten. Er böte dem Suchenden nur einen neuen Kampfplatz an oder neue Projektionsmöglichkeiten, wo doch sein Ziel ist, den des Rates Bedürftigen auf sich selbst zu verweisen, ihn nicht neuen und versteckteren Befehlen auszusetzen.
Auch leitet der Moralist aus seiner Analysekraft eben nicht die Berechtigung ab, als neue und Glück verheißende Autorität, als Sinnstifter aufzutreten. Der Moralist will die Fähigkeit fördern, heteronome Moralen als solche in ihren Machtansprüchen zu fixieren und zu analysieren und in allen moralischen Verpflichtungen das Gefahrenpotenzial, den Machtmissbrauch, den Autonomieverzicht realistisch einzuschätzen. Der Moralist befreit nicht von außen, seine Denkmethode verhilft vielmehr zu dem, wozu die Aufklärung in jeder Generation verhelfen möchte, zur Selbstbefreiung.
In der Unterscheidung zwischen Optimismus und Pessimismus, zwischen einem pessimistischen und einem optimistischen Menschenbild, in dieser Gegenüberstellung gibt es eine weitere Haltung, und die nimmt Kondylis ein, es ist die des Melancholikers, dem vielleicht und das mag zugleich seine Schwäche sein, wie Kondylis im Titel seiner kleinen Abhandlung hinzufügt, nur das Mittel der Polemik bleibt. Auch wenn die Haltung des Melancholikers sich dem Pessimismus zuneigt, so ergeht sie sich nicht in einer »lähmenden Resignation« oder bewirkt »gar den endgültigen Abschied von den Angelegenheiten dieser Welt.« Die Melancholie kann auch als »geistige Waffe fungieren« – ich füge hinzu: zum Zwecke der Selbsterhaltung – und sie dient als geistige Waffe, »der Artikulierung und Befriedigung von sozialen Machtansprüchen«, die, um den obigen Begriff zu übernehmen, im ›sozialen Überlebenswert‹ enthalten sind. (Kondylis 1997, 281).
In der Mentalität des Melancholiker bleibt vorherrschend der Bezug auf die Ohnmacht; doch, und Kondylis weiß um die Ambivalenz eines jeden menschlichen Verhaltes, die Melancholie kann »in demselben Sinne in Kampf und Polemik übergehen, wie das Gefühl der Ohnmacht in die Suche nach Macht.« Kondylis weiß, um die Gefahr solcher ›Mutationen‹: »Melancholie ist der von außen oder von innen erzwungene Verzicht auf die Entfaltung des Machtwillens und zugleich die Brutstätte für eine plötzliche und doch vorhersehbare Explosion eben dieses Willens.« (Kondylis 1997, 285).
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