Der Siegeszug der neuzeitlichen Naturwissenschaft bringt nicht nur ein neues Weltbild mit sich, sondern er verändert auch die Art und Weise, wie wir Fakten selbst konzipieren. Spätestens mit Newtons berühmtem Diktum »hypotheses non fingo« trennt sich die Naturwissenschaft von der philosophischen Frage nach den Gründen der Naturgesetze. Dadurch gewinnen auch die Konzeptionen eines Schöpfergottes und der Welt als Schöpfung eine völlig neue Bedeutung. Während für viele neuzeitliche Denker die Welt selbst als Gesamtzusammenhang aller Fakten begriffen noch zum Guten strebt, so ist eine solche Denkweise kaum mehr mit der modernen Wissenschaft und dem durch sie initiierten Weltbild in Verbindung oder gar Einklang zu bringen. Auch die vor allem aus neuplatonischen Quellen geschöpfte und im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gelegentlich noch verbreitete Vorstellung, tote Materie sei für sich genommen schon böse, weil sie am radikalsten von Gott als dem reinen Guten getrennt sei, verliert sich zunehmend im modernen Weltbild. Ebenso erfolgen durch Galileo, Descartes und Newton weitreichende Angriffe gegen die aristotelische Lehre der substantiellen Formen und die damit verknüpfte Idee der Finalursachen.
Ein Weltbild gewinnt so an Verbreitung, dessen Faktenbegriff vor allem durch wissenschaftliche Betrachtbarkeit ausgemacht wird und in dem sich Erklärungen hauptsächlich auf das Aufzeigen von Kausalursachen beziehen. Dieses Weltbild ist allerdings keine Erfindung der Frühen Neuzeit, sondern geht auf den antiken Atomismus zurück. Dieser lehnt ebenfalls die reale Bestimmung der materiellen Welt durch Ideen oder substantielle Formen ab und bestätigt dafür die für sich bestehende und unreduzierbare Realität der Materie. Epikur begründet die umstrittene Schule des Epikureismus, die in der Frühen Neuzeit über die Texte von Epikur, Lukrez und ihrem Kritiker Cicero neu erschlossen werden. Der Epikureismus reduziert die Welt auf ein Zusammenwirken zweier Prinzipien, der Atome und der Leere, und lehnt herkömmliche metaphysische Spekulationen ab, etwa eine Einflussnahme der Götter auf die Welt oder die Annahme einer natürlichen Teleologie. Die vielfältigen Konsequenzen dieser Annahme bilden ein Menschenbild heraus, in dem die Rolle des Individuums betont wird und ebenso die der Lust als Prinzip jedes menschlichen Strebens.
Der Epikureismus taucht in der Frühen Neuzeit nicht zufällig wieder auf. Vielmehr reflektiert sein Erstarken die Einsicht, dass es in den Möglichkeiten des Menschen liegt, die Welt aus eigener Kraft zu erkennen und sie nach seinen Bedürfnissen zu gestalten; und er begleitet auch eine skeptische Bewegung, die die Bedingtheit des Menschen als Teil einer physischen Welt mit reflektiert und Wunder und immaterielle Dinge ablehnt. Dabei kommt es zu Konflikten mit den herkömmlichen theologischen Positionen, die zwar die Ideen von Aristoteles und Platon produktiv aufgegriffen haben, aber den Epikureismus nicht derart anverwandeln konnten.
Dies ist das Thema des neuen Buches von Catherine Wilson, das die Attraktivität einer antiken These, deren konstruktive Rezeption und kritische Auseinandersetzung im Kontext des 17. und frühen 18. Jahrhunderts rekonstruiert, in einem Zeitalter also, das von einer Aufbruchsstimmung in den neuen Wissenschaften gekennzeichnet ist, epistemologischem Optimismus, wie auch von religiösen Dogmen, sozialrevolutionären Utopien sowie einer neuen Debattenkultur und das schließlich zu einem neuen Bild des Menschen in der Welt führt. Der Epikureismus bietet ein Modell, das einerseits besonders attraktiv ist für die Erfordernisse moderner wissenschaftlicher Modellbildung, andererseits Menschen, Kirche und Gott zu entthronen droht. Wilson skizziert bereits in der Einleitung das Konfliktpotential auf eindrucksvoll pointierte Weise: »Epicurean cosmology and philosophy contradicted the Christian theses of the uniqueness of the world, the special status of men vis-à-vis other animals, and the doctrine of original sin. It implied that prayer and sacrifice were useless and made the notion of a providential plan in history unthinkable.« (4) Einerseits bietet der Epikureismus also Möglichkeiten, sich von den der wissenschaftlichen Methodik eher widersetzenden substantiellen Formen und der platonischen Ideenlehre zu lösen, andererseits birgt er ein enormes Konfliktpotential, denn gerade ein Angriff auf die metaphysischen Grundpfeiler des religiösen Glaubens wurde schnell mit der Gefahr eines Bürgerkrieges in Verbindung gebracht und mit allen Mitteln abgewehrt, wie etwa die Ächtung, gar Verfolgung der Anhänger des Spinozismus im 17. Jahrhundert zeigt.
Wilson spannt einen sehr weiten Bogen, der alle führenden Philosophen der Neuzeit, vor allem des 17. Jahrhunderts, umfasst und dabei auch einige der Denker nicht aus den Augen verliert, deren Bedeutung erst in der letzten Zeit wieder hervorgehoben wird, etwa Damaris Masham, Daniel Sennert, Margaret Cavendish, Walter Charleton, Ralph Cudworth, u. v. m. Das Buch baut auf zahlreichen bereits publizierten Aufsätzen auf und kann so als die Kulmination langjährigen Schaffens verstanden werden. Es gliedert sich, neben einer umfassenden Einleitung, in zehn Kapitel mit selbsterklärenden Titeln: Atomism and Mechanism; Corpuscular Effluvia: Between Imagination and Experiment, Order and Disorder; Mortality and Metaphysics; Empiricism and Mortalism; Some Rival Systems; The Social Contract; The Problem of Materialism in the New Essays; Robert Boyle and the Study of Nature; The Sweetness of Living.
Die meisten dieser Kapitel holen weit aus und beginnen mit einem kurzen Abriss der Bedeutung des antiken Atomismus als Gegenposition zum Aristotelismus und stellen so systematische Argumente in einer historischen Perspektive vor, die in der Antike zuerst eröffnet und später erneuert wird. Dabei wird die Ablehnung metaphysischer Spekulation als Argument für den Epikureismus ins Feld geführt, ebenso die Einheitlichkeit von irdischer Welt und Himmelssphäre, die Teilbarkeit der Materie, sowie die empirische Relevanz dieser Theorie, die gewissermaßen die »Rettung der Phänomene« vor aller Spekulation erlaubt. So wird auch schnell deutlich, dass der Epikureismus keineswegs als bloßer Materialismus aufgefasst wurde, sondern sowohl in der Antike als auch in der Frühen Neuzeit eingebettet war in eine Philosophie, »in which color, friendship, flowers, curiosity, and complexity play leading roles« (vi).
Die Rezeption des Epikureismus im 17. Jahrhundert ist durchweg heterogen, nimmt aber eine prominente Stellung im philosophischen Diskurs dieser Zeit ein. Zwar gibt es außer Thomas Hobbes keinen Philosophen, der Epikurs atomistische Ideen aufgriff und der zugleich ihre ethischen, politischen und religiösen Konsequenzen bejahen konnte. Selbst Pierre Gassendi, der eine zentrale Rolle in der Verbreitung des modernen Atomismus spielt, versucht diesen in eine christliche, vielmehr christianisierte Version umzuwandeln. Die größten Kritiker des Epikureismus, nämlich Morus, Cavendish, Stillingfleet und Tenison, stehen allerdings außerhalb der Hauptströmungen der frühneuzeitlichen Philosophie (38). Man kann sagen, dass von vielen Hauptvertretern der Philosophie der Neuzeit der Epikureismus in dem Spannungsfeld der zwei großen ›Labyrinthe‹ des Geistes rezipiert wird, das einerseits durch das Rätsel um die Struktur der Materie und der physischen Welt und andererseits durch die Frage nach der Beschaffenheit der menschlichen Freiheit angesichts physischer und diviner Determination eröffnet wird. Vor allem Leibniz, der diesen Ausdruck von den zwei Labyrinthen prominent gemacht hat, erhält in diesem Buch eine hervorgehobene Stellung auf insgesamt fast 40 Seiten. Dabei übernimmt er für sein System zwar mehr von Platon, Aristoteles und den Neuplatonikern als von Epikur, auch wenn er vor der Entwicklung der späteren Monadenlehre die Idee beseelter physischer Atome durchaus attraktiv findet; der Atomismus kann jedoch als ein kohärentes Angebot auf einen Ausweg aus den ›Labyrinthen‹ angesehen werden, auf das Leibniz aber, anders als Hobbes, aufgrund metaphysisch und theologisch bedingter Vorentscheidungen nicht einzugehen bereit ist. In diesem Sinne begreift Leibniz den Materialismus auch als eine Art Negativfolie, die er Locke zuschreibt und deren produktive Seiten nur unter großem intellektuellem Aufwand von den moralisch und theologisch problematischen Seiten zu trennen sind.
Wilsons Buch kommt das Verdienst zu, diesen Konflikt und seine Kampfschauplätze mit einer umfassenden Geste darzustellen und damit eine in der Forschung klaffende Lücke zu füllen. Eine Stärke dieser Arbeit ist ihre in allen Gebieten gleichermaßen souveräne Überblicksposition, auch wenn klar ist, dass eine detaillierte Ausarbeitung kaum von einem einzelnen Forscher geleistet werden kann. Eine andere Stärke ist es, die vielen miteinander zusammenhängenden Gebiete der Philosophie des 17. und frühen 18. Jahrhunderts aufeinander zu beziehen und als ein umfassendes Geflecht an komplexen Debatten darzustellen. So führt die Darstellung von der Diskussion um Atomismus und Korpuskulartheorie zu der Frage, wie die Ordnung der Welt begründet ist, was wiederum indirekt in dem Kapitel über den Sozialvertrag wieder aufgegriffen wird. Auch gewinnt angesichts des naturwissenschaftlichen Weltbildes und der neuen Alternative des Atomismus die Frage nach der Sterblichkeit der menschlichen Seele und nach der Genese von Gedanken aus der Materie an großer Brisanz.
Dabei wäre es natürlich ein Leichtes, Wilson Versäumnisse vorzuwerfen, denn angesichts einer solch umfassenden Zielsetzung sind Auslassungen sicher unumgänglich. Etwa wird die umfassende Rezeption von Demokrit und Leukipp nur am Rande erwähnt und es fehlt auch die in diesem Zusammenhang relevante Debatte um die Existenz des Vakuums, das durch die Versuche von Torricelli und von Guericke empirisch belegt wurde. Das Vakuum ist nicht nur eine zentrale Grundannahme des Atomismus, sein empirischer Beweis gegen alle apriorischen Argumente hat auch entscheidend dazu beigetragen, die Relevanz, ja persuasive Schlagkraft empirischer Beobachtung gegenüber metaphysischer Spekulationen festzuhalten. Manch ein Leser mag auch etwa einen dem Epikureismus zugeneigten Denker wie Christian Thomasius vermissen, ein anderer die lange Debatte um epikureische Moral, die kürzlich erst durch einen von Paganini und Tortarolo herausgegebenen Band neu beleuchtet wurde. Auch wäre die Debatte um Leibniz’ Haltung zum Atomismus durch einen Verweis auf den ausdrücklichen Epikureismus in den frühen Arbeiten zum Naturrecht in ein anderes Licht gerückt worden. Und schließlich mag manch ein kritischer Leser einen Verweis auf die durchaus vorhandene Rezeption der epikureischen Bekenntnis zur Lust als antreibendes Prinzip vermissen. Doch Wilson diese Auslassungen als Versäumnisse vorzuwerfen, wäre ungerecht, denn eine wirklich umfassende Studie über dieses Thema würde den Rahmen eines einzelnen Buches sprengen. Doch letztlich wird wohl jeder Leser an einigen Stellen bedauern, nicht mehr über manche Themen zu erfahren – so bleibt beispielsweise das Kapitel Empiricism and Mortalism auf gerade 14 Seiten beschränkt, was nicht viel Raum für eine umfassende Darstellung lässt und die Argumentation notgedrungen etwas sprunghaft macht.
Durch diesen – einzelne Philosophen oft nur streifenden – kursorischen Fokus setzt das Buch also solide Kenntnisse in der Philosophie der Frühen Neuzeit voraus und ist vor allem für Forscher und fortgeschrittene Leser empfehlenswert, die die vielen einzelnen Betrachtungen in das kontextbildende System des jeweiligen Denkers einzuordnen vermögen. Diese gewinnen dafür eine spannende Perspektive auf ein Zeitalter, das nicht umsonst in den letzten Jahrzehnten immer wieder neu herangezogen wird, um auch die Gegenwart besser zu verstehen: In der Frühen Neuzeit entstanden wohl mehr als in allen anderen Epochen der Menschheitsgeschichte die zentralen Spannungsfelder, in denen sich auch unser heutiges Denken situiert. Man kann Wilsons Buch nicht nur als eine bedeutende Arbeit über die Philosophie des 17. Jahrhunderts lesen, sondern als eine Vorstudie über ein heute ebenso relevantes Konfliktfeld: des Konfliktes des Menschen, der sich zwar als Teil einer materiellen Welt begreifen muss, sich aber nicht als ein bloß materielles Ding denken kann. In diesem Sinne hat diese Studie über den Epikureismus am Ursprung der Moderne einen Gehalt, der nicht in der bloß historischen Betrachtung aufgeht, sondern jenseits der philosophischen Rekonstruktion hinaus inspirierend ist, einen auch in der heutigen Zeit ausgetragenen Grundkonflikt im langen Atem der Geschichte zu betrachten.
Literaturhinweis:
GIANNI PAGANINI, EDOARDO TORTAROLO (Hrsg): Der Garten und die Moderne. Epikureische Moral und Politik vom Humanismus bis zur Aufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004
Ansgar Lyssy