Kant über die Revolution im Denken und als Recht

Als Immanuel Kant 1804 starb, hat sein treuer Schüler Schelling in einem Nachruf den Zusammenhang von Philosophie und Revolution im Denken des Königsbergers öffentlich gemacht. Es war überaus überraschend, als hier von Kant behauptet wurde, dass erstens »das große Ereignis der französischen Revolution ihm allein die allgemeine und öffentliche Wirkung verschafft hat, welche ihm seine Philosophie an sich selbst nie verschafft haben würde«, und dass zweitens »das Zusammentreffen beider gleichgewichtigen Umwälzungen« davon zeuge, »dass es ein und derselbe von lange her gebildeter Geist war, der sich nach Verschiedenheit der Nationen und der Umstände dort in einer realen, hier in einer idealen Revolution Luft schaffte.« (Schelling, 1860, S. 4)

Mit dieser viele Zeitgenossen überraschenden Wahrnehmung zur Philosophie Kants stand Schelling in der deutschen Geistesgeschichte nicht alleine da. – Vierzig Jahre später bekräftigte ein Sozialphilosoph aus Trier diesen Zusammenhang, als er schrieb, es sei »Kant's Philosophie mit Recht als die deutsche Theorie der französischen Revolution zu betrachten.« (Marx, 1975, S. 194)

So ist es naheliegend, die Kantische Philosophie zu zwei Problemkreisen zu befragen:

  1. Was verstehen wir unter Kants Revolution der Denkungsart? – und
  2. Inwieweit entfaltet sich bei Kant ein Denken der Revolution?

I.

Der spanische Meisterdenker Don José Ortega y Gasset hat die – zunächst paradox erscheinende – Wende, mit der Kant der europäischen Metaphysik eine neue Bestimmung anwies, einmal so beschrieben: »Uns Menschen des Mittelmeers, die wir der Kontemplation geneigt sind, wird es immer verblüffen, daß Kant, anstatt zu fragen: Wie muß ich denken, damit mein Gedanke sich dem Wirklichen anpaßt?, sein Problem im Gegenteil so formuliert: Wie muß die Realität beschaffen sein, damit Erkenntnis, d.h. Bewusstsein, d.h. ich, möglich sei?« (Ortega y Gasset, 1978.2, S. 438). Das nachzuvollziehen erfordert zuallererst eine fundamentale Infragestellung des herkömmlichen – cartesianischen – Subjektbegriffs. Kant konstruiert jetzt terminologisch neu eine Differenzierung ins Subjekt, indem er in ihm eine zugleich empirische und eine transzendentale Dimension identifiziert. Diese Erweiterung im Subjektbegriff durch Kant würdigt auch Ortega y Gasset, – weil nur so das Subjekt, das Ich, innerlich (und anthropologisch) teilhat an »der Sphäre des Universalgeistes.« (Ortega y Gasset, 1978.1, S. 336).

»Die Transzendentalphilosophie« also, so heißt es bei Kant, »betrachtet nicht die Gegenstände, sondern das menschliche Gemüth nach den Quellen, woraus in ihm die Erkenntnis apriori abstammt und deren Grenzen.« (Werke, AA, Bd. 18, Refl.-Nr. 4873)

Kants neue, jetzt transzendentalphilosophisch genannte, Denkungsart will etwas anderes als die bisherige Metaphysik, gerade nichts transzendentes, nichts mehr referenzloses, keine bloß reine Vernunft mehr, sondern Kant will eine welthafte Philosophie, eine Philosophie aus Weltbegriffen, er will der Erde treu bleiben, also: Kant begibt sich, wie er das selber sieht, philosophisch »nicht [in] die uns unbekannten Gegenden jenseits der Sinnenwelt, sondern [in] den dunklen Raum unseres eigenen Verstandes.« (Werke, AA, Bd. 18, Refl.-Nr. 5112)

Das lässt Kant zu jener grundsätzlichen Differenzierung im Ding-Begriff kommen –‚ ›Dinge, an-sich-selbst-betrachtet‹ versus ›Erscheinung‹ –, die die Erkenntnis von Dingen künftig nicht mehr dinglich (substantiell) versucht, sondern funktional, also abhängig macht von einem subjektvermittelten Konstruktionsvorgang, den die transzendentale Subjektivität organisiert.

In späten Briefen und Notaten hat Kant gerade das seinen Gesprächspartnern immer wieder mit ähnlichen Wendungen beizubringen versucht, so etwa mit der wiederholt vorkommenden Wendung: »Denn nur das, was wir selbst machen können, verstehen wir aus dem Grunde.« (Werke, AA, Bd. 12, S. 56). Oder, wie Kant in einem Brief betont, dass wir »nur das verstehen und Anderen mitteilen, was wir selbst machen können.« (Werke, AA, Bd. 11, S. 515).

Und noch in seinem Opus postumum heißt es: man solle es sich begreiflich machen, »daß wir nichts einsehen, als was wir selbst machen können. Wir müssen uns aber selbst vorher machen. (…) ›Selbstsetzung‹.« (Kant, 1920, S.611)

Kurzum: Das Neue des Kantianismus kommt trefflich in einem Diktum aus dem (Jenaer) Zentrum des Kantianismus jener Tage zum Ausdruck: »Das ächte Denken erscheint, wie ein Machen – und ist auch solches.« (Novalis, 1983, S. 404)

Dieser Aspekt des Konstruierens, des Herstellens wird dann das ganze künftige Programm der Reform der Metaphysik durch Kant entscheidend prägen.

Kant hat für dieses Verfahren ein Vorbild: Die unbestreitbaren Gewißheiten der Mathematik oder der Physik als Wissenschaft schienen in ihrer ›synthetischen‹ Verfasstheit begründet zu sein. Und deshalb: »Transcendental-Philosophie ist diejenige Wissenschaft die nicht anders als in Verbindung mit Mathematik möglich ist.« (Werke, AA, Bd. 23, S. 488). Es war ja ein wissenschaftstheoretisches Essential Kants, zu vermuten, daß eine Wissenschaft genau so viel Wissenschaft in sich habe, wie Mathematik in ihr sei. »Das Wesentliche und Unterscheidende der reinen mathematischen Erkenntniß von aller andern Erkenntniß a priori ist, daß sie durchaus nicht aus Begriffen, sondern jederzeit nur durch die Construktion der Begriffe vor sich gehen muß.« (Werke, AA, Bd. 4, S. 272). Die Erkenntnis-Kompetenz der Mathematik bemerkt Kant also darin, wie sie ihre Erkenntnisse begründet, d.h. konstruiert.

Damit hat Kant die Philosophie als kritische wieder anschlussfähig gemacht an das, was wir von heute her den Diskurs der Moderne nennen. Denn, wie schon zeitgenössisch gelobt wurde: »Alles leere Philosophiren ist durch Kant verbannt.« (Leipzig 1805, Sp. 10).

Diese Wende der Transzendentalphilosophie zu einem integrativen Subjekt, das, wieder in den Worten Ortegas, zugleich es selbst und seine Umstände ist, entfaltet von nun an ganz neue Dimensionen für die Operativkräfte im Subjekt, im Menschen. Es ist also dieses Neue »Subjekt, welches das Sein in die Welt setzt; ohne Subjekt gibt es kein Sein.«(Ortega y Gasset, 1978.2, S. 450).

Damit entwickelt Kant einen Sinn dafür, was man das tätige Selbstverhältnis des Menschen nennt. Er versteht Subjektivität neu als eine ›Subjekt-Objekt-Synthesis‹, mit der Kant das alte Ich und dessen alte eingebildete Allmacht wie auch die alte skeptische Unsicherheit verabschieden kann. Und womit etwas in Erscheinung tritt, »das Kant die allgemeingültige Welt nennt, das heißt diejenige, die für alle gilt.« (Ortega y Gasset, 1978.6, S. 102)

II.

Mit dieser Wende zu einer neuen welthaften Subjektivität lassen sich nun Welt- und Wirklichkeitszusammenhänge neu erschließen. Vor allem solche, die unmittelbar mit dem praktischen Wirken von Menschen (und nicht nur dem Erkennen) zu tun haben. Davor musste man bislang erkenntnisphilosophisch die Waffen strecken. Exemplarisch kommt das in einem geschichtsphilosophischen Stoßseufzer Lessings zum Ausdruck: »O Geschichte! Was bist du?« (Lessing, 1897, Bd. 13, S. 404).

So ist es nur auf den ersten Blick überraschend, dass sich auch Kant einem zunächst so chaotischen (und theoriefernen) historischen Vorgang wie dem einer Revolution verstehend zuwendet.

»Die Revolution eines geistreichen Volks, so schreibt Kant in einer seiner letzten Druckschriften, »die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern, sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein«, dass man »das Experiment auf solche Kosten« nicht zum zweitenmale unternehmen würde, sie bezeuge dennoch »eine moralische Anlage im Menschengeschlecht.« (Werke, AA, Bd. 7, S. 85)

Die Revolution ist also nicht, wie noch für den deutschen Jakobiner Georg Forster, »anzusehen als ein Werk der Gerechtigkeit der Natur« (Annalen, 1791, S. 242) – also gewissermaßen ›objektivistisch‹. – Für Kant ist sie subjektbestimmt, menschengemacht, sie ist, mit einem neuen Begriff von ihm, allererst ein ›Geschichtszeichen‹.

1.

Was meint Kant mit diesem Terminus ›Geschichtszeichen‹? Damit will er begreiflich machen, dass es bei bestimmten (seltenen) geschichtlichen Konstellationen dazu kommen kann, dass sie nicht einfach regellose Verläufe oder auch Beschleunigungen repräsentieren, sondern dass in ihnen plötzlich so etwas wir eine (historische) Selbst-Reflexion stattfindet, – und zwar über dreierlei: a. über Gründe ihres Herkommen, b. über die der Gegenwart und c. über Möglichkeit des Zukünftigen. – Wenn wenig später Hegel so etwas wie den ›Weltgeist‹ konstruiert, iegt diesem Kants ›Geschichtszeichen‹ begriffsgeschichtlich zugrunde.

Für Kant ist jenes Ereignis in Paris zunächst – sozusagen kontrafaktisch – ein Signum, wie Vernunft und Freiheit, für etwas Nichtanschauliches, Überempirisches. Also ein Hinweis, wie Kant sagt, eine »Anzeige auf ein übersinnliches Substrats.« (Werke, AA, Bd. 5, S. 196). Dort in Paris wird weder auf einen Naturmechanismus noch auf ein Glaubensgut, wie etwa »ein Zeichen des Himmels« (Matthäus 16, 1) hingewiesen. Die Große Revolution der Franzosen ist ihm ein – vom politischen Alltag durchaus abgehobenes – Zeichen für eine ganz eigene, übergreifende »Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen.« (Werke, AA, Bd. 7, S. 84) – Aber Tendenz wofür?

2.

Diese Revolution war für Kant nicht deshalb interessant, weil es hier Tendenzen gab, besonders entschlossen und kaltblütig eine neue (etwa antiklerikale, hedonistische) emanzipierte Lebensart für alle zu installieren oder weil hier in noch nie gekannter Radikalität die Formen der alten Herrschaft und ihrer Kultur zerstört wurden; auch nicht weil hier das ›Blaue vom Himmel‹ versprochen wurde. Diese Revolution bezeuge auch keinen – im Bild vom Rad-der-Geschichte symbolisierbaren – unaufhaltsamen Fortschritt des Menschengeschlechts zum Besseren.

Dasjenige, was Kant in der allgemeinen Anteilnahme für diese Revolution eben als jene moralische Anlage von uns Menschen begreift, meint zweierlei: (a) unser Unbehagen mit jeder dürftigen, mangelhaften Herrschafts- & Rechtskultur, und (b) eine Herrschaftsform für machbar (und vernünftig) zu halten, die einem jeden – welchen Standes er auch sei – seine ursprünglichen, unveräußerlichen und gleichen Menschenrechte garantiert. In einer Notiz bekennt Kant: »Auf die Rechte der Menschen kommt [es] mehr an, als auf die Ordnung (und ruhe). Es lässt sich eine große Ordnung und ruhe bey allgemeiner Unterdrückung stiften.« (Werke, AA, Bd. 15.2, Refl.-Nr. 1404).

Ist das nicht als ›Apotheose‹ des Umsturzes zu verstehen? – Nein, denn Kant macht es gerade dem Revolutionär, dem, der nun jene moralische Anlage im Menschengeschlecht durch seine Tat freisetzen sollte, besonders schwer. Denn vor diese Tat (menschenfreundlich hin oder her) setzt Kant eine große Hürde: das Verbot des Widerstandsrechts.

Kant erläutert dazu: »Die Politik dem Recht zu accomodiren ist gut und nützlich, aber umgekehrt falsch und abscheulich. Das gefährlichste aller Experimente ist die gewaltsame Veränderung oder vielmehr Umwandlung der Staatsverfassung.« (Kant, 1992, S. 117)

3.

Gefährlich, warum? Eben darum, weil, wie Kant erläutert, »einen fehlerhaft und rechtswiedrig eingerichteten Staat durch Revolution umformen zu wollen [ dann ] derselbe gänzlich in Anarchie aufgelöst zu werden Gefahr läuft.« (Werke, AA, Bd. 23, S. 183). Die praktische Folge ist dann die Rückverwandlung des menschlichen Zusammenlebens aus einem (wenn auch dürftigen) Rechtszustand in den Naturzustand. Das aber ist der »Zustand der Rechtlosigkeit« (Werke, AA, Bd. 6, S. 312), in dem sich naturwüchsig eine Gewaltkultur der verschiedenen (politischen, religiösen oder anderer) Gemeinschaften oder Zweckverbände untereinander und gegeneinander Platz schafft. Denn deren interne Verhaltensregeln (auch wenn sie die vielleicht charismatischen oder religiösen Schriften entlehnen) entbehren das Entscheidende, das diese Verhaltensvorschriften erst zu ›Recht‹ werden lassen könnte: ihre konfessionell, ethnisch, aber auch sozial neutrale Allgemeingültigkeit, d.h. ihre allen unterschiedlich Verschiedenen in der Gesellschaft zumutbare Verbindlichkeit. Die aber ist eben begründet im Formalen des Neuen Rechts.

Eine durch Umstürze unausweichliche Regression von Gesellschaft zurück in Gemeinschaft ist für Kant wegen seines weltbürgerlichen Menschenbegriffs inakzeptabel. Denn, wie er schreibt, der Mensch »ist ohne Gesellschaft sich selbst nicht hinreichend.« (Werke, AA, Bd. 15.2, Refl.-Nr. 1452)

Der Revolutionär agiert und schafft also in einem rechtspraktischen ›Niemandsland‹. Zu seiner absichtsvollen Zerstörung der überkommenen Rechtsordnung kann ihm durch keinerlei Gesinnungs- oder Machtwillen irgendein Recht zugebilligt werden, auch wenn er sich – pathetisch – durch (womöglich ›höhere‹) Gerechtigkeit‹ bewegt versteht.

Verbietet Kant also solche Veränderungen? Abermals nein! – In seinem Dialog mit dem Umstürzler (dessen praktische Autonomie ebenfalls nicht in Frage gestellt werden darf) akzeptiert Kant, das dieser sowieso tun wird, was er tun muss. Kant will nur den widerspruchsvollen und – im Moment des Tuns! – rechtsfernen, auch schreckenerzeugenden Sinn seines Tuns – la terreur – publik machen. Kant will dem Umstürzler zu Bedenken geben, dass er nichts Paradoxes wollen kann: nämlich ein Recht, um das Recht abzuschaffen. Das wäre, wenn es so etwas wie Vernunft gibt, vernunftwidrig. Es wäre – juristisch gesprochen – legis corruptio.

4.

Das ist aber immer noch nicht das letzte Wort Kants zur Revolution. Denn er ist kein Schulmeister (sondern, wie Walter Benjamin sagt, die ›Mitte zwischen Volkstribun und Schulmeister‹…).

Kant weiß: Tun und Denken sind nicht symmetrisch. Das Tun, die Praxis hat immer einen Überschuss auf ihrer Seite. Es ist der für Kant zentrale Synthesis-Gedanke, der im Tun (auch im äußerlichen der Praxis) eine gewisse Formbestimmtheit entfaltet, gerade darauf setzt er. Er zeigt dem Revolutionär einen schmalen Ausweg. Dieser kann sich legitimieren, aber nur dann, wenn er eines schafft: auf einen Zustand hinzuwirken, ihn herzustellen »wo es auf das Heiligste, was unter Menschen nur sein kann (aufs Recht des Menschen) ankommt.« (Werke, AA, Bd. 6, S. 304). – So bestimmt Kant dann sein allgemeines Rechtsgesetz: »handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne.« (Werke, AA, Bd. 6, S. 231) Dieser Begriff des Rechts »geht gänzlich aus dem Begriff der Freiheit im äußerlichen Verhältnis der Menschen zueinander hervor und hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicherweise haben und … der Mittel dazu zu gelangen zu thun.« (Werke, AA, Bd. 8, S. 289) Das ist inhaltlich identisch mit Artikel 4 der ›Erklärung der Rechte des Menschen und der Bürger‹ vom 26. Aug. 1789 (aus Paris).

Diese in der Französischen Revolution sichtbar gewordene moralische Anlage unserer Gattung – das universelle, säkulare und formale Recht als Lebensform – begrüsst Kant eben in der neuen Citoyen-Verfassung, die vernünftigerweise keine andere Form als »die republicanische« (Werke, AA, Bd. 7, S. 85) haben kann, – also Gewaltenteilung als neuer Herrschaftsalltag.

Kants neuer Rechtsbegriff verlangt vom Menschen nicht mehr übergreifend Subordination unter eine höhere Macht (gleich ob sie sich als göttlich, natürlich oder geschichtlich legitimiert), sondern entspricht – als moralische Verkehrsform – der Dialog- und Operativnatur der Neuen (transzendentalen) Subjektivität, die gerade mit jener Revolution (empirisch) in die Welt tritt. – Hier vermag Kant sogar noch etwas praktisches am Revolutionär und dessen Machtwillen zu würdigen, nämlich seine Entschlossenheit, vor der »selbst der Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels … verschwand – vor den Waffen derer, welche das Recht des Volks, wozu sie gehörten, ins Auge gefasst hatten und sich als Beschützer desselben dachten.« (Werke, AA, Bd. 7, S. 86)

Der neue (hochformale) Rechtsbegriff, den Kant aus der Revolution herausbuchstabiert, trägt dazu bei, die in jedem Menschen bemerkbare Allgemein-Menschlichkeit alltäglich zu machen.

5.

Dazu, dass Kant in der Französischen Revolution ein Geschichtszeichen wahrnahm, gehört also, dass mit ihr – eben mit Recht und Republikanismus – »eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt« (Werke, AA, Bd. 7, S. 88) werden.

Dieses – paradoxerweise – in unsicheren Zeiten in Erscheinung tretende Vermögen stabilisiert sich sofort zu einer die Zeiten überdauernden Geltung. »Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte«, so behauptet es Kant, »vergisst sich nicht mehr«, auch dadurch nicht, da hier »Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprincipien im Menschengeschlechte vereinigt« (Werke, AA, Bd. 7, S. 88) begreifbar werden.

Auch wenn an konkreten Revolutionen stets vieles zu wünschen übrig bleibt, so bleibt aber Kants Überzeugung lebendig, einen Grund für eine moralische Tendenz im Menschengeschlecht gefunden zu haben: Und zwar gerade in unserer Denkfreiheit. Mit Kant gesagt: »man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein muß).« (Werke, AA, Bd. 6, S. 188)

Fazit

Wenn also aus der Perspektive der Kantischen Kritischen Philosophie auf unsere bedürftige Gegenwart geblickt werden soll, lassen sich zwei Konsequenzen sicher ziehen:

  1. Es ist das Subjektivitäts- & Rechtsverständnis Kants, das uns gerade in der Turbulenz von Revolutionen anhalten sollte, immer wieder die Frage nach-allem-was-recht-ist öffentlich zu stellen. Dabei ist öffentlich eine Zentralkategorie seines Denkens – Kant spricht vom transzendentalen Prinzip der Publizität, also von deren begründender Kompetenz.
  2. Zum zweiten gilt es, den Fokus all der neuen Umwälzungsabsichten künftig auf das Eine zu richten – das Wichtigste, das man sich von Revolutionen zu erhoffen immer vergegenwärtigen sollte –, dass »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Marx 1964, S. 482) – und nicht umgekehrt –, um abschließend noch mal jenen Sozialphilosophen aus Trier zu Wort kommen zu lassen, da dessen Denken existentiell (und tragisch) mit dem der Revolution verbunden war.

Vortrag, gehalten in der Botschaft der Bolivarischen Republik Venezuela, Berlin, am 30. April 2013.

 

Literatur

Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe, Berlin 1902 ff., zitiert: AA, Bd., S.
JOH. W. v. ARCHENHOLTZ (Hg.), Annalen der brittischen Geschichte, Bd. 5, 1791 o.J.
KANTs Opus postumum, dargestellt und beurteilt von Erich Adickes, Berlin 1920 [Kant-Studien, Ergänzungshefte 50]
KANT, Der Streit der Fakultäten, hrsg. v. Steffen Dietzsch, Leipzig 1992
Ueber Immanuel Kant, in: Der europäische Aufseher, I. Jg., Leipzig, 4. Jan.1805 (Leipzig 1805)
LESSING, Ernst und Falk. - Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann u. Franz Muncker, Bd. 13, Leipzig 1897
MARX, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, MEGA, I. Abt., Bd. 1, Berlin 1975
MARX, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, Berlin 1964
NOVALIS, Das Allgemeine Brouillon. Schriften, hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel, Bd. 3, Stuttgart 1983
ORTEGA Y GASSET, Kant – Reflexiones de centenario (1724 – 1924). Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart 1978
ORTEGA Y GASSET, Vitalität, Seele, Geist. Gesammelte Werke, Bd. 1, Stuttgart 1978
ORTEGA Y GASSET, Reine Philosophie. Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart 1978
ORTEGA Y GASSET, Der Mensch und die Leute. Gesammelte Werke, Bd. 6, Stuttgart 1978
SCHELLING, Immanuel Kant †. - Sämmtliche Werke, Bd. 6, Stuttgart/Augsburg 1860