1.
Mein Menschenbild ist das der Literatur.
2.
Das klingt, fürs erste, nach einer Einschränkung und einer Lizenz. Die Einschränkung (›Literatur‹) scheint jenem weitesten Ausblick zu widersprechen, den Herder dem Menschen einst attestierte und der Wissenschaft vom Menschen, der Anthropologie, als Anfang empfahl. Hingegen scheint die Lizenz unmittelbar aus dieser Einschränkung hervorzukommen. Schließlich ist die Literatur, wenn nicht die Mutter, so die Verbreiterin aller Welt- und Menschenbilder. Ohne sie entbehrte die Welt des Lichts und der Wärme: so dachten die Aufklärer, während der eine oder andere Romantiker gerade Zeiten, die ohne sie auskommen mussten, von einem edlen Menschentum bewohnt sein ließ, das durch ihr Auftauchen in ernste Gefahr kommen sollte. Die Differenz verdankt sich weniger dem Bild des Menschen als dem der Literatur, manche sagen, der Schrift, und verweisen in dem Zusammenhang auf die seit Platon durch die Texte geisternde Vorliebe für mündliche Kommunikation, für Oralität, also für eine sprachliche Kommunikationsform, die ohne das Substitut der Schrift und des Aufgeschriebenen auskommt.
Die Literatur, das deutet sich hier bereits an, besitzt kein Menschenbild. Aber sie transportiert sie alle. Auf diesem Transportweg geschehen seltsame Dinge. Das liegt zum Teil daran, dass sie das Zurückkommen auf das, was bereits einmal verhandelt wurde, ungemein erleichtert und ungemein erschwert. Erleichtert, weil sie das Gedächtnis entlastet und einen gewissen Schutz gegen das Vergessen bietet (natürlich können auch Texte vergessen werden), erschwert, weil, sobald irgendwo ein Text sich einschiebt, man leichter auf ihn als auf die Sache zurückkommt, um die es in ihm geht. Der Text schiebt sich ein: er lässt sich herausholen, ausbreiten, untersuchen, während die Besinnung auf die Sache noch schweigt oder Zeit braucht. Der Text geht der Sache voraus. Dadurch erzeugt er eine Art fortlaufender Iteration, an der sich das Verstehen von Mal zu Mal, und zwar jedesmal anders, formt. Er selbst redet und schweigt, gibt und verweigert Auskunft – jedenfalls diejenige, die jeder Sprecher redend den anderen und sich selbst gibt und die sich in der hochrituellen Formel kundtut: »Ich denke (meine, glaube, bin der Überzeugung etc.), dass...« Man missversteht diese Formel, wenn man sie als letztlich redundanten Hinweis auf den performativen Akt des Redens oder die logische Form des Urteils nimmt. Wirklich deutet sie auf einen Stand der Gedankenausbildung, der sich nicht zwingend dem aktuellen Sprecher verdankt, ihn aber nötig hat, um sich kundzutun.
Ein als unverrückbar gesetzter Glaube unterliegt nicht allein der Erosion in der Zeit. Genau betrachtet verbindet er sich in jedem Denkakt mit neuen Inhalten und geht als ein anderer aus dieser Verbindung hervor. Dieser an sich einfache Sachverhalt wird dadurch verdunkelt, dass Glaubens- und Überzeugungssätze sich per se der Iteration verdanken. Im Fluss des sich immerfort neu an den Weltgegebenheiten orientierenden Überlegens sind sie dasjenige, worauf man zurückkommt oder zurückzukommen wünscht, und zwar durch Besinnung, also Rückversicherung: durch Rück-Bindung. Doch gleichgültig, ob das Geglaubte assoziativ oder kontrolliert, unmerklich oder in forcierten Akten der Neuorientierung mit neuen Inhalten zusammengeht, der Effekt ist immer derselbe: Niemand steigt zweimal in denselben Fluss.
Der Satz des Heraklit ist ein schlagendes Beispiel für das, was wir eine durch Überlegung, also durch Nachdenken gewonnene Überzeugung nennen. Leider lässt sich der Weg nicht rekonstruieren, auf dem der Philosoph zu seiner Überzeugung kam. Für die später Gekommenen reduziert sich daher seine Bedeutung auf die eines Apercus. Als solches allerdings entfaltet er eine Kraft, die an die Prägefunktion von Literatur denken lässt, zu deren monumentalen Frühzeugnissen er gehört. Bekanntlich steht diese Kraft in einem gewissen Kontrast zur Gedankenlosigkeit, mit der sich jeder einmal geprägte und in der kulturellen Überlieferung bereitliegende Satz gebrauchen lässt. Das gilt nicht allein für geprägte Sentenzen, sondern für das Material einer Sprache insgesamt, die, als »gebildete«, nach dem Ausdruck Goethes, »für dich dichtet und denkt«.
3.
Verwenden wir also, bevor wir die schwierige Arbeit der Menschenbildung in den Blick nehmen, ein paar Überlegungen auf die Bildung der Gedanken und des Mediums, in dem sie sich bilden: die Sprache. In der Sprache liegen die Hauptelemente der Bildung bereit. Sie liegen in ihr, doch nicht, um ihr entnommen und anderweitig verwendet zu werden. Verfügbar sind sie nur im Modus des weitersprechenden Zurückkommens auf etwas, das in kultureller Hinsicht gar nicht vorhanden ist, solange es in Bibliotheken und anderen nur von Spezialisten begangenen Aufbewahrungsorten niedergelegter und nachgelassener Zeugnisse von Kultur sich selbst überlassen bleibt – auch wenn enorme Summen in diese Einrichtungen fließen und rund um sie die bemerkenswertesten Symposien stattfinden.
Im Weitersprechen ist nicht die mechanische Repetition des Immergleichen, sondern das Weiterdenken gefragt. Aus einer älteren Sprechweise geläufig ist dafür die Formel von der ›schöpferischen Weiterentwicklung der Ideen und Ideenpotenziale‹. Doch man entdeckt schnell die leere Iteration in dieser Art von vollmundigem Verbal-Progressivismus. Es scheint, dass, was dabei ›Idee‹ genannt wird, sich zwar im Gang des Denkens wandelt – im Fluss bleibt, um mit Heraklit zu reden –, aber nicht im direkten Zugriff ›weiterentwickelt‹ werden kann. Bezeichnenderweise fällt die Bedeutung des Wortes ›entwickeln‹ an dieser Stelle auf eine ältere Stufe zurück. Eine Idee entwickeln bedeutet: sie entfalten, ausfalten, darstellen, nicht aber: sie auf einen neuen Stand bringen. Manchen Ohren mag das befremdlich klingen, vor allem dort, wo die verbale und gedankliche Gleichsetzung von ›Idee‹ und ›Konzept‹ als unverzichtbares Kulturgut gilt, es ist auch nicht erzwingbar, es liegt, wie eine Reihe vergleichbarer Schwierigkeiten, im kulturellen Bestand als Schwelle bereit, als Unebenheit des Sprechens, über die sich hinwegreden lässt oder nicht, auf die sich aber, wie gesagt, zurückkommen lässt.
Wie der Satz des Heraklit gehört auch das Wort ›Idee‹ zum Grundinventar einer Kultur, die zwar nicht als Weltkultur auftreten kann, in der diese aber vorgedacht und in gewisser Weise herbeigeführt wurde. Ich erwähne das, weil neben den platonischen Klassikern des Guten, Wahren und Schönen und, als ihrer christlich-modernen Ergänzung, der Freiheit auch diese ›Welt‹ in den Kreis der elementaren Ideen gehört. Und wie beim Satz des Heraklit, auf den in gewisser Weise die Ideenlehre Platons antwortet, insofern sie das, was im Fluss mit sich identisch bleibt, gedanklich zu isolieren versucht, erzeugt auch hier die Iteration, das Wieder-Holen des einmal Gedachten, das volle Sinnspektrum von der sorgfältigen Rekonstruktion des einmal niedergelegten Gedankens – bis zu den Einfällen, die jemandem durch den Kopf schießen, gleichgültig, ob das, was da schießt, stets die Minimalanforderungen erfüllt, die sich mit dem Begriff ›Denken‹ in theoretischer Hinsicht verbinden.
Auch der Gedanke ›Idee‹ ist frei, entwickelt zu werden, er konkretisiert sich in ständig wechselnden Bezügen und unterscheidet sich darin nicht von anderen Gedanken. Vielleicht wäre es sinnvoll, ihn von der Idee der Idee zu unterscheiden, die mehr ein aufzusuchender Gedanken-Ort als ein konkreter Gedanken-Inhalt wäre, obwohl dieser Gegensatz natürlich nur als differenter Gedankeninhalt existiert. Hier kommt es darauf an, die Zurückgebogenheit des Denkens zu markieren, seine Fähigkeit, die bereits eine Notwendigkeit impliziert, auf einmal Gedachtes zurückzukommen, ohne es jemals reproduzieren oder wiedererstehen lassen zu können, gleichgültig, ob die historische Distanz 5000 Jahre oder eine Sekunde beträgt.
4.
Die Idee eröffnet den Eigen-Sinn von Kultur. Das gilt nicht generell und es gilt nicht überall, aber es gilt überall dort, wo mit dem Vorhandensein von Ideen gerechnet wird. Sicher lassen sich elementare Kulturen denken, in denen die Konstanz der lebensbestimmenden Vorstellungen so groß ist, dass das Identische im Wechsel durch das Totem oder den Rhythmus der Jahreszeiten ausreichend repräsentiert erscheint. Dennoch muss überall, wo auch nur rudimentäre Aufschreibesysteme vorhanden sind, mit Wechsel gerechnet werden, weil diese Form des Festhaltens die differente Form des Zurückkommens-auf erzwingt. Die Ungreifbarkeit der Schrift, die Notwendigkeit, sie zu lesen, ihren Zeichen Bedeutung zu geben und diese Bedeutung zu reintegrieren, das heißt dem eigenen Denken in einem sachlich bestimmten, also wiederholbaren, und ereignishaften, das heißt prinzipiell unwiederholbaren Zusammenhang als Information zuzuführen, erzeugt die Fremdheit des Vergangenen als reflexionslogisch zu deutende Distanz, das heißt als Voraussetzung seiner Aneignung. Sie erzeugt aber auch – gleichgültig, wie hoch die Schwierigkeiten sich in hartnäckigen Fällen türmen – auf Grund der Dinghaftigkeit der Zeugnisse wie ihrer generellen Entzifferbarkeit etwas, das mehr ist als Nähe oder Vertrautheit, nämlich die Mitgegenwart eines Abwesenden, das damit gleichermaßen vergangen und präsent ist. In diesem Sinn figuriert bereits ein Amulett als Teil und Repräsentant eines Aufschreibesystems, das der Sprache korrespondiert und ihre Möglichkeiten über bloße Oralität hinaus erweitert. Schrift und Kultur gehören insofern zusammen, als die monumentale Überhöhung des Alltags durch die Schrift die Anamnesis, also das ans Erinnerungsvermögen von Einzelnen gebundene Wiedererkennen der Ideen, in einen gemein-kulturellen Vorgang verwandelt, genauer, in Kultur als Vorgang und Vorgängiges: ein Effekt, der in der Wissenschaft wie in den Literaturen und ihrer differenten Geschichte obenauf liegt, dessen alltagsprägende Gewalt aber nicht unterschätzt werden sollte.
5.
Überall dort, wo vom Menschen und seiner Kultur die Rede ist, stellt sich die Frage nach dem Alltag und seiner Praxis. Nicht selten entspricht ihm ein forciertes Praxis-Bewusstsein, dem es vorkommt, als sei jede spezialisierte kulturelle Praxis bereits ein Abfall von den Forderungen, eine Art Verrat am wirklichen Menschen und seinen Problemen, wie die allgegenwärtige Rede vom Elfenbeinturm eindrucksvoll unterstreicht. Die vor-terminologische, sich oft politisch verstehende Rede von ›Gesellschaft‹ stellt diesen Wirklichkeitsanspruch des Zusammenlebens und seiner impliziten, von jedermann zu beherrschenden Regeln heraus. Der Mensch ist überall auf Gesellschaft angewiesen: das ist eine, eher konservativ anmutende Deutung dieses Anspruchs. Die andere, allzu vertraute, erkennt in der Gesellschaft oder, noch allgemeiner, in der Kommunikation die hervorbringende Instanz nicht allein differenter Menschenbilder, sondern des Menschen selbst. Das würde bedeuten, dass die Weise des Zusammenseins den Menschen definiert – mit der Folge, dass überall dort, wo die Kunde von der Unhintergehbarkeit der Differenz angekommen ist, die Entlarvung der Menschenbilder als nahezu müßiger Kodifizierungen unterschiedlicher und im Ernstfall unvereinbarer Praxen rituellen Charakter annimmt. In solchen Diskursen bedeutet ›Kultur‹ kaum mehr als die Maske, die sich eine Gesellschaft vorhält, um ein unerklärliches, aber ›reales‹ Bedürfnis nach Identität zu befriedigen, wohlwollend interpretiert ein Mittel zur Selbstbeobachtung und -steuerung, also zur Abwehr existenzieller Gefahren, die sich aus den blinden Flecken und toten Winkeln ergeben, wie sie die Perspektive der Handelnden mit sich bringt.
Versteht man allerdings Kultur als Objektivierung der Struktur der Denkens, von der vorhin die Rede war, dann enthält ihre Interpretation als Mittel zur Selbsterhaltung sozialer Systeme einen Denkfehler. Kultur erschließt sich nur unter gemeinschaftlichen Aspekten: der geteilte Fund, die geteilte Überlieferung, der geteilte Fundus, das Zurückkommen-auf sind stets auch Kommunikatoren, über die der Einzelne der Vereinzelung entgeht – mit allen lebensweltlichen Konsequenzen. Selbsterhaltung ist dabei nur im Spiel, sofern der Ausfall dieser Kommunikation den Totalausfall jenes Selbstverhältnisses zur Folge hätte, das hier überall ›Denken‹ genannt wird und das wir, mangels anderer pragmatischer Bezugsgrößen, mit der Gattung Mensch zu verbinden gewöhnt sind. So betrachtet ist Kultur nirgends Mittel, sondern die Sache selbst. Es sei denn, man bewegt sich konsequent auf einer Ebene der Begrifflichkeit, auf der mit ›Leben‹ nichts anderes gemeint ist als eine spezifische Form der Selbsterhaltung physikalisch-chemischer Aggregatzustände.
6.
Begreift man Kultur als die menschliche Weise, beisammen zu sein, dann versteht man auch, dass der Begriff ›Partizipation‹ nur eine Seite ihres Funktionsspektrums umschreibt. Wenn die menschliche Weise, beisammen zu sein, aus der Logik elementarer Denkvollzüge hervorgeht, wenn also die gedankliche Erzeugung von Differenz durch Distanz den biologisch determinierten Zusammenprall der Einzelwesen mindert und in gewisser Weise aufhebt, dann lässt sie zugleich jene imaginären Kontinuen entstehen, in denen der Einzelne, das menschliche Individuum, sich gegen das Leben der Anderen absetzt und definiert, das heißt ›umgrenzt‹. Imaginär sind diese Kontinuen deshalb, weil sie den physikalischen Raum und die physikalische Zeit in einen Erlebnisraum und eine Erlebniszeit übersetzen – und übersetzend fortwährend interpretieren –, die zwar nur in der Vorstellung des Einzelnen existieren, aber so, dass ihr Vorhandensein nicht nur das Imaginarium, sondern das konkrete Weltverhältnis all jener Einzelwesen determiniert, die zusammen die Gesellschaft ausmachen.
Kants Formel von der ungeselligen Geselligkeit des Menschen bildet dieses Verhältnis recht genau ab. Kant selbst leitet sie aus dem Zusammenspiel von Bedürfnissen und Interessen ab, das durch den Interessen-Antagonismus der Einzelnen determiniert wird. Dieser Kampf der Interessen, der bei Marx einerseits als Konkurrenz der Kapitaleigner, andererseits als Klassen-Antagonismus wiederkehrt und in modernen Markttheorien als Glücks- und Erfolgsstreben des Homo oeconomicus festgeschrieben ist, entspricht dem elementaren Sachverhalt, dass jene imaginären Kontinuen einerseits ›Welt‹ erzeugen (in dem Sinn, dass ihr Verlust den eines jeglichen Wirklichkeitsverhältnisses nach sich zieht), andererseits aber keineswegs zusammen die Welt bilden, sondern zueinander auf Distanz bleiben. Die Individuen sind genötigt, diese Distanz zu leben und aus ihr heraus ihre Bedürfnisse zu definieren und durchzusetzen, was im Grunde nichts anderes bedeutet, als dass sie ihre Welt, sprich: ihr unablösbares In-der-Welt-Sein leben müssen, gleichgültig darum, dass es für andere, um nicht zu sagen für die anderen, in einem elementaren, durch die gemeinsame Redepraxis sofort verschleierten Sinn nichts anderes ist als ein Hirngespinst. Wenn also Gesellschaft einerseits als Kommunikation definiert werden kann, so bleibt sie andererseits jenes System konkurrierender Bedürfnisse, als das sie Hegel einst konstruierte.
Im Kern ist daher der Kampf der Interessen mit jenem Kampf der Götter identisch, in dem sich für Max Weber die historische Existenz des Menschen realisierte. Denn vorausgesetzt, dass die Artikulation selbst elementarster Bedürfnisse ans Imaginarium des Einzelnen gebunden ist, auch wenn die Spielräume in bestimmten, biologisch oder materiell determinierten Bereichen eng bleiben, so kann es zwar Interessenverbünde auf Zeit (und zu definierten Zwecken) geben, aber weder einen generellen und umfassenden Interessenabgleich noch jene unverbrüchlichen Formen der Solidarität des Meinens und Wollens, die von bestimmten Glaubens- und Überzeugungsgemeinschaften regelmäßig eingefordert werden. Das macht verständlich, dass nach jedem proklamierten Ende der Geschichte der Kampf der Götter respektive Weltanschauungen wieder aufflammt und die Geschichte ihren Fortgang nimmt. Der materiale Friedensschluss zwischen Interessen, das heißt zwischen Interessenträgern, verdankt sich nicht in der utopischen Menschengemeinschaft, sondern dem Recht, und das gilt, wie alle Beteiligten wissen, zwischen Rechtssubjekten und auf Zeit, also für ein bestimmtes historisches Personal.
Derselbe Gedanke führt zu der Überlegung, dass jedem Gesellschafts- und Rechtsverhältnis etwas Unabgegoltenes innewohnt, etwas, das die Empfindung reizt, es müsse doch möglich sein, die Dinge anders und besser, sprich: für den Einzelnen befriedigender und für das Gemeinwesen ertragreicher zu ordnen und zu gestalten. Die Härte des Rechts spürt neben dem, den sie trifft, auch der, den es betrifft, vor allem aber der, den es nicht betrifft, wenn er aus dem sicheren Abstand der Zeiten und der Kulturen auf andere Rechtszustände blickt. Auch diese Empfindung ist unvermeidbar, sie gehört zur Kultur und sie erklärt sich aus der Einsicht, dass Kultur kein Luxus ist, den sich Gesellschaft leistet, sondern das, worauf sie überall fußt. Was für das Recht gilt, gilt für die Lebensverhältnisse allgemein, die es regelt. Der Gedanke eines hier und jetzt erreichten Optimums ist, sofern er sich nicht dem Diktat der Macht- und Mehrheitsverhältnisse oder ideologischer Verblendung verdankt, der Besorgnis geschuldet, es könne nicht nur anders, sondern immer auch schlechter kommen. Darin liegen realistisches Korrektiv und Gedankenlähmung dicht beieinander.
7.
Anders als das Recht, das den Partialfrieden zwischen den divergierenden Interessen stiftet und bewahrt, dient Bildung der Homogenisierung und Ausdifferenzierung der Imaginarien, also jener Welt im Kopf, die der Einzelne mit sich trägt und die ihn mit seinesgleichen verbindet. Bildung geht daher immer auf Kultur und kulturelle Potentiale und erst in zweiter Linie auf Gesellschaft und gesellschaftliche Ist-Stände. Dieser elementare Sachverhalt wird von zwei Seiten verdunkelt: erstens durch das Interesse von Gesellschaft an Bildung, die sie, nicht ohne Grund, als unabdingbar für das eigene Fortbestehen und Überleben begreift, zweitens durch einen integralen Begriff von Gesellschaft, der sie umstandslos mit dem realen Leben wenn schon nicht des Einzelnen, so doch der Gattung gleichsetzt. So kann es – theoretisch und vermutlich auch praktisch – geschehen, dass eine forciert auf Innovation und Entfaltung kreativer Potenzen fokussierte Erziehung tatsächlich Anpassung und Wiederholungszwänge generiert, weil sie jene von vornherein als gesellschaftliche Aktivitäten definiert, das heißt an die Erfolgskriterien und Belohnungsmechanismen ausliefert, die dem Selbstreproduktionswillen oder dem Trägheitsgesetz einer Gesellschaft entsprechen.
In gewisser Hinsicht ist dieser Effekt nicht zu vermeiden. Das Interesse von Gesellschaft an Bildung kann sich nur in einem Prämiensystem manifestieren, in dem der soziale Rang bzw. der in Aussicht gestellte Aufstieg an erster Stelle steht, zwangsläufig gefolgt von den materiellen und immateriellen Zuwendungen, die sich aus der erreichten bzw. zu erreichenden Position ergeben. Solange Bildung bloß ein Mittel ist, diese Ziele zu erreichen, und vielleicht nicht einmal das erfolgversprechendste, bleibt es nicht aus, dass die ›Auszubildenden‹, wie wir sie mit leisem Spott in der Stimme nennen können, sich nur so weit auf sie einlassen, wie es für das Erreichen des Ziels erforderlich scheint, dass sie also, wie es in einem gewissen Jargon heißt, Bildungsinhalte als Bildungsangebote verstehen und ›rational‹, das heißt ausschließlich zweckbezogen selektieren. Das einzige Mittel, Bildung zum Selbstzweck zu machen und so der Vermittlung von Bildungsinhalten eine gewisse Eigenstabilität zu verleihen, besteht darin, ein institutionsinternes Prämiensystem anzubieten, das von der simplen, aber offenbar kaum verzichtbaren Notengebung über die Ausbildung von Gruppen- und Korpsgeist bis zur kastenähnlichen Überhöhung des Lehrer- bzw. Dozentenberufs reicht, die mit einer herrschaftsähnlichen Nobilitierung von Verabreichungsmustern und -gesten einherzugehen pflegt.
Bekanntlich zählt der Begriff des Selbstzwecks im Bildungszusammenhang zu den meistverpönten: non scholae sed vitae discimur – so lernten es die Schüler des alten humanistischen Gymnasiums und machten sich darüber lustig wie heutige Pädagogen über wilhelminische Bildungsattitüden. Denn natürlich wussten sie – oder die Intelligenteren unter ihnen –, dass dieser Satz zwar dem Kosten/Nutzen-Kalkül von Staat und Gesellschaft entspricht, ganz zu schweigen vom Bedarf der Wirtschaft an gut, das heißt für ihre Einsatzzwecke ausgebildeten Absolventen, dass er aber mitnichten die volle Wahrheit repräsentiert. Es gab und gibt eine informelle Gesellschaft der Gebildeten, die sich teils an einem gewissen Signalement, teils an den geteilten Bildungsinhalten erkennt, eine Gesellschaft in der Gesellschaft, wenn man so will, die sich weniger über die Zugehörigkeit zu gemeinsamen Institutionen als über den Typus von Institutionen, weniger über den gemeinsamen Beruf als über die Klasse von Berufen findet, und deren Entzücken über entdeckte Gemeinsamkeiten durch Exotik und Andersheit eher gesteigert als abgekühlt wird. Der klassische Reiseroman ist voll solcher unverhoffter Begegnungen und die gesellschaftlich wenig eingebundene Existenz des Schriftstellers scheint dafür prädestiniert zu sein, sie herauszulocken und ihre Bedeutung für das, was hin und wieder ebenso lakonisch wie prägnant ›Menschsein‹ genannt wird, vor den Augen aller auszubreiten, die durch eine solche Lektüre affiziert werden können.
Auch hier liegt der Selbstzweck nicht in den Bildungsinhalten, wohl aber in der Bildung selbst, in der Tatsache des Gebildetseins im Verein mit der Fähigkeit, Bildungserlebnisse zu teilen und den gemeinsamen Umgang selbst als Bildungserlebnis zu genießen. Die gegenwärtig in der akademischen Ausbildungspraxis als Nonplusultra der Bildung geltende Fähigkeit, komplexe Situationen zu erkennen, zu analysieren und, falls nötig, angemessene Handlungsvorschläge zu erarbeiten, ist in der Gesellschaft der Gebildeten mehr oder minder immer vorhanden. Aber sie wird vorausgesetzt und berührt nicht den Kern dessen, was gerade angesichts eines fehlenden Terminus ›Umgang‹ genannt wurde.
8.
Was zeichnet diesen Umgang aus? Was wäre so ungewöhnlich an ihm, dass es einer eigenen Analyse bedürfte? Vielleicht wenig, vielleicht nichts, vorausgesetzt, man bewegte sich in einer Gesellschaft, die nicht gerade an dieser Stelle von einer peinlichen und gelegentlich peinvollen Gedächtnisschwäche befallen wäre. An neueren Studien einer zur stabbrechenden Instanz über die Geschichte verkommenen Kulturwissenschaft zum George-Kreis und dem dort herrschenden Umgang zwischen dem ›Meister‹ und seinen Jüngern lässt sich ablesen, wie an der bewussten Stelle eine bedeutungsschwangere ›Lücke‹ entsteht, die anschließend mit den üblichen Unterstellungen und Verdächtigungen des Tagesgeschäfts gefüllt wird. Der eklatante Unwille zu verstehen, was diese längst in historische Distanz entrückte, sich für den heutigen Geschmack unangenehm elitär und männerbündnerisch inszenierende Personengruppe allen banalen Widrigkeiten zum Trotz über so viele Jahre miteinander verband, besitzt ein Fundament in den gegenwärtigen kommunikativen Strukturen, über das selten angemessen geredet wird. Der Wille, sich unter Gleichgesinnten zu bewegen, erschöpft sich nicht im sozialen oder politischen Kampf, schon gar nicht im Ausleben einer sexuellen Orientierung. Er wird erst dort erfasst, wo das eigene Weltverhältnis als Grundlage menschlichen Miteinanders unter kein Tabu gestellt wird.
Nochmals: Was zeichnet die zwischen Gebildeten herrschende Art des Umgangs aus? Und: Lassen sich Gründe finden, die es nahelegen, darin eine Weise des Miteinander zu konstatieren, deren Verbreitung in gewisser Weise unhintergehbar ist und deren versuchsweise strukturelle und gewaltsame Unterbindung schwere Verwerfungen im Selbstverständnis und in der Bereitschaft zur Verständigung über Normen und Lebensoptionen innerhalb einer Gesellschaft zur Folge hat?
Ein Missverständnis meldet sich in den öffentlichen Bildungsdebatten mit schöner Regelmäßigkeit zu Wort: als liege in der Förderung und Ausbildung des Denkens bereits eine einseitige Entscheidung für eine von allem sinnlich-praktischen Engagement abstrahierende rationale Verstandeskultur mit fatalen Konsequenzen für Nähe, Wärme, Sensibilität und ästhetischen Sinn. Symbolisch steht dafür die gefühlte Verdrängung der musischen Fächer bzw. Fachanteile zugunsten gefräßiger ›exakter‹ Fächer wie Mathematik und Physik in den Lehrplänen der Schulen. ›Denken‹ im eingangs skizzierten Sinn ist zwar nichts völlig anderes als die Erarbeitung mathematischer oder chemischer Formeln, aber es bliebe weitgehend unterbestimmt, wenn es nichts anderes als diese Tätigkeit meinte. In einem sehr elementaren Sinn beginnt Denken in allen Sinnen, soll heißen, in den komplexen und zu großen Teilen subkutanen, soll heißen, unterhalb und am Rande der Wahrnehmung ablaufenden Informations- und Entscheidungsprozessen, die den Organismus in seiner Umwelt verankern. Wie immer Bewusstseinsmodelle konstruiert sind, ihnen allen ist gemeinsam, dass sie eine Antwort auf die Frage bereithalten müssen, wie das, was die empiristische Linie der Philosophie als Sinnesdaten bezeichnet, ins Bewusstsein tritt und auf welche Weise es dort verarbeitet wird. Die zweite Welt des Bewusstseins ist zugleich die erste, in der alles, was ansonsten draußen oder dazwischen bliebe, die Form des Gedankens gewinnt und dadurch auch emotional ›greifbar wird.
Die Lust an der freien, nicht mit aktuellen Entscheidungsnöten befrachteten Denktätigkeit nimmt im gebildeten Umgang nicht ab, sondern zu. Sie ist und bleibt dem Modell des Austausches auch dort verpflichtet, wo, wie im ästhetischen ›Werkschaffen‹ – ein sonderbar altväterlicher Ausdruck für eine noch immer prestigeträchtige Tätigkeit –, der oder die Partner imaginäre oder entgrenzte Züge annehmen. Man könnte, in Analogie zur spielerischen Erprobung diverser Körperfunktionen, jene Lust als Funktionslust bezeichnen und sich damit einer Bedeutung des Schiller-Satzes bemächtigen, der da lautet: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«. Fragt sich nur, wo er so spielt, dass die übergriffige Formel aufgeht. Der Formel vom ›ganzen Menschen‹ wird sie kaum ansatzweise gerecht. Zu viele Annahmen, theoretische und praktische, auch widersprüchliche, drängen sich auf diesem Gelände. Eines scheint sicher: ohne die Rede vom Selbst und dem anhängenden Selbstgenuss bliebe die vorzunehmende Bestimmung Stückwerk. Real ist aber auch das Unbehagen, das einen angesichts dieser Rede beschleicht: zuviel wissen wir über die Brüchigkeit des Selbst in praktischer und theoretischer Hinsicht, um es an der Stelle als Letztinstanz stehen zu lassen.
9.
Versuchen wir es anders. Wenn Denken lustvoll ist, warum bedarf es dann der Prämiensysteme, um den Einzelnen in Bildungsprogramme hineinzulocken und dort, wenigstens eine Zeitlang, bei der Stange zu halten? Warum, wenn Denken notwendig integriert, fällt es dem Einzelnen immer wieder schwer, Wissensschwellen zu nehmen und Engpässe im Denken zu überwinden? Die Fragen von Talent und Begabung einmal beiseite gelassen, ergibt sich hier ein Problem, über das nachzudenken sich lohnt. Was vergangene Epochen Trägheit des Geistes nannten, lässt sich durch Fleiß überwinden. Aber der Fleiß ist selbst eine zweifelhafte Größe, insofern der Mix aus Anstelligkeit und Sturheit gegen sich selbst darauf ausgerichtet ist, die im Raum stehenden Prämien zu kassieren, und damit nur erneut auf das Ausgangsproblem verweist. Ohne Fleiß geht es nicht – dieser Satz ist grosso modo gleichbedeutend mit der resignierten Einsicht, dass im – sagen wir – intellektuellen Bereich ohne Prämien kein Durchkommen ist.
Die Richtung weist vielleicht ein Wort, das, eher absichtslos, bereits fiel, als es darum ging, die allgemeine Schwierigkeit zu skizzieren: Schwelle. Schwellenerlebnisse, Schwellenerfahrungen sind, grob gesprochen, lebensgliedernde Elemente, in denen sich reale Ereignisse mit einem Wandel von Bewusstseinsformen, also Einstellungen, Überzeugungen, Handlungsdispositionen verbinden. Schwellenerfahrungen können spontan, wie im Märchen, auftreten und dem individuellen Leben eine andere Richtung, einen anderen Richtungssinn geben, sie können, auf der anderen Seite, sich so eng mit gesellschaftskonformen Lebensmustern verbinden, dass die entsprechenden Gesellschaften ein reichhaltiges Arsenal an Riten und Ritualen bereitstellen, um sie zu begleiten, zu akzentuieren und – dies wäre der hier interessierende Aspekt – zu erleichtern. Übergangsriten hätten also im alltagsweltlichen Ambiente eine ähnliche Funktion wie Prämiensysteme im bildungsweltlichen Gefüge und manchmal erscheinen sie einträchtig auf ein und demselben Tableau, bei Schulabschlussfeiern etwa oder anlässlich der Verleihung eines Doktorgrades ›im feierlichen Rahmen‹, wie die einschlägige Sprachregelung lautet.
Schwellenerfahrungen im Bildungsbereich fallen primär in den Bereich stark personalisierter Bildung. Das ist besonders dort zu beobachten, wo sie einen emphatischen Anstrich bekommt, also in religiösen, esoterischen, geheimbündnerischen oder generell bündnerischen Kontexten. Das pietistische Erweckungserlebnis, die Initiationsstufen der Freimaurer, die diversen Pfade und Grade östlicher Weisheitslehren, der Homo novus des sozialistischen Kollektivs bieten dafür anschauliche Exempel. Sie alle betonen irgendeine Form von Gemeinschaft: auf Initiation beruhende Bildung besitzt eine stark vergemeinschaftende Komponente, die nicht allein Gebildete anderer Couleurs ausschließt, sondern regelmäßig die Frage nach der einen wahren Bildung aufwirft. In der Gesellschaft der Gebildeten stellt sich diese Frage nicht oder nur in den Grenzen wechselseitiger Schonung. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Man darf dem anderen nicht zu nahe treten, will man das Beste, was der Umgang mit ihm zu bieten hat, die eigene Weltsicht, nicht leichtfertig aus dem Spiel werfen. Bildungsgemeinschaften wollen mehr, oft zum Verdruss ihrer Mitwelt. Anders die Bildung des Herzens, der eine umfassende, das Bildungsprivileg und den Gesinnungsrigorismus unterlaufende Menschengemeinschaft gedanklich zugrunde liegt: wer ihr das Wort redet, unterstreicht die Partizipationsrechte gerade der minder Geförderten oder der Armen im Geiste. Politische Erweckungsmatadore wiederum scheinen den privilegierten Feind schon aus strategischen Gründen zu benötigen und zu pflegen, gleichgültig, ob sie ihn als Reaktion, als meinungsmonopolistischen Verteidiger des Bestehenden oder als Zerstörer von Sitte und Anstand ins Visier nehmen.
10.
Es fällt nicht schwer, die Produkte der Schriftkultur, genauer: die Sedimente stattgehabter Kulturprozesse, als eine Vielzahl von Schwellen anzusehen, angesichts derer das Weiterspinnen der eigenen Gedanken ins Stocken gerät und an seine Stelle jene einholende Bewegung tritt, die wir als ›Verstehen‹ bezeichnen, ohne ganz in das Innere dieses Vorgangs einzudringen. Jeder Verstehensvorgang wird von der Sorge oder Angst begleitet, nicht zu verstehen oder fehlzuverstehen, jedenfalls dann, wenn mit Sanktionen zu rechnen ist. Schriftgestütztes Lernen fällt immer zu leicht und zu schwer: zu leicht, weil das mechanische Repetieren, als Primärform des Wiederholens, teils prämiert, teils als ungültig beiseitegetan wird, zu schwer, weil der biographische Anreiz, zu diesem bestimmten Zeitpunkt diese bestimmte Verstehensleistung zu erbringen und damit ein Stück Kultur zu entziffern, in den wenigsten Fällen subjektiv erkennbar oder überhaupt gegeben ist. Ein nicht geringer Teil der realpädagogischen Anstrengungen richtet sich folglich auf diesen Punkt: die Schwellenangst oder -unlust auszuschalten bzw. durch ein lustbetontes Navigieren im Übergang, vergleichbar den rites de passage, zweckmäßig zu betäuben.
Wie bedeutsam dieser Zusammenhang für unser Kulturverstehen ist, verrät die Prominenz des Platonischen Höhlengleichnisses, in dem die Passage, das Verlassen des angestammten Platzes in der Gesellschaft, die Umkehr des Blicks und der Gang ins Freie als der zentrale Bildungsvorgang die Gestalt einer Kunstmythe angenommen hat. Lassen wir einmal die mythentheoretischen und gnoseologischen Probleme beiseite, die dieser Text seinen philosophischen Auslegern aufgibt, dann bleibt für einen modernen Leser der verblüffende Eindruck von zuviel Wissen und Aktivität im Hintergrund, angefangen bei der Schürung des Feuers über das Schattentheater bis hin zur Konstruktion der Höhle selbst und den dadurch ermöglichten ›gelenkten‹ Aufstieg – kurz gesagt von zuviel manipulativer Energie und wirklicher Manipulation im Dienst der Ideen. Dieser Eindruck entsteht nicht zufällig, er entspricht unserer kulturellen Situation. Wir meinen die Schattenspieler zu kennen, ebenso das Personal derer, die nichts sehnlicher wünschen, als uns die Binde abzunehmen, und wir fragen nicht nur, was sie daran verdienen, sondern auch, in wessen Auftrag sie möglicherweise handeln und welche Art von Wirklichkeitsverfälschung dadurch entsteht. Wer Wissen leicht zu machen verspricht, ist gleichzeitig willkommen und verdächtig: das gilt angefangen bei der Spiel- und Spaßpädagogik über die methodischen Sicherungen der Wissenschaft bis hin zu den notorischen Augenöffnern, die gern unter dem Stichwort ›Verschwörungstheoretiker‹ zusammengefasst werden. Der Platon der Politeia, sein Text zeigt es, ist selbst ein gewaltiger Verschwörungstheoretiker, nicht anders als die Aufklärer, die das Modell des Höhlengleichnisses auf den Gang der Wissenschaften und den gesellschaftlichen Prozess umlegten, nicht anders als die Aufklärungsgegner des neunzehnten Jahrhunderts, nicht anders als Marx und Engels, die im gesellschaftlichen Bewusstsein die platonische Höhle neu entdeckten, nicht anders als Freud, der eine nicht unbeträchtliche Anstrengung unternahm, die verdeckende Instanz zu entpersonalisieren, um die methodische Aufklärungsleistung als Stärkung der Ich-Position zu glorifizieren, nicht viel anders schließlich als jede Horde von Schulkindern, die froh ist, der Höhle der Klassen-Situation für ein paar Stunden ins Freie zu entkommen, um sich spielerisch anzueignen, was sie wirklich interessiert und, wie sie finden, ihre Welt ausmacht.
11.
Es gibt, heißt das, angesichts der vielen kulturellen Schwellen, die genommen werden wollen, außer den Hemmschuhen Scham und Angst auch gute, von Misstrauen gespeiste Gründe, dem Mitgenommenwerden durch die kulturellen Instanzen und ihre Auslegungspraxen einen gewissen Widerstand entgegenzusetzen. Bleibt der Widerstand gering, so entstehen jene angepassten Wesen, deren ›Kultur‹ sich auf dem Niveau von Wasserträgern bewegt, überschreitet er ein gewisses Maß, wächst die Gefahr, dass die Aneignung unterbleibt und, außer den im Wortsinn Ungebildeten, jene terroristischen Gruppen von scheinbar unangepassten, in Wirklichkeit die Verweigerung als Mittel der Selbstinszenierung und als Machtinstrument benützenden Individuen Zulauf erhalten, die ich an anderer Stelle die ›unbelasteten Beobachter‹ genannt habe und die in praktisch jeder gesellschaftlichen Position ... sagen wir: ein gewisses Problem darstellen. Unter Netzbewohnern hat sich für sie der Ausdruck ›Trolle‹ eingebürgert.
In gewisser Hinsicht ist die gebildete Weise des Umgangs zwischen Individuen vom platonischen Modell der Umwendung nicht zu trennen. Die, an welcher Stelle auch immer, überwundene Schwelle zwischen Nichtwissen und Wissen ist als Kerbe im Bewusstsein mitanwesend und stimuliert die latent gegebene Bereitschaft, im Überschreiten neuer Grenzen diesen quasi-mythischen Vorgang zu wiederholen und damit den Prozess der Selbstverständigung in Gang zu halten, der jetzt als offen und mit den Inhalten der Kultur vermittelt erfahren wird. Die Veränderung gegenüber dem platonischen Modell besteht darin, dass die Erleuchteten unter den Gebildeten eine mit mindestens ebensoviel Misstrauen wie Respekt bedachte Sondergruppe darstellen. Der Grund, man muss es kaum erwähnen, liegt darin, dass die kulturellen Inhalte im Umgang mit ihnen im Wesentlichen nicht verhandelbar sind und damit die Ergebnisoffenheit entfällt, die erst aus ihnen eine Sache aller macht, die etwas von der Sache verstehen.
Was lässt diese Weise des Umgangs und damit das Modell einer informellen Gesellschaft in der Gesellschaft in kulturell ausdifferenzierten Zonen unhintergehbar werden? Offenkundig der elementare Mechanismus des kulturellen Kompetenzerwerbs selbst. Was partiell gegen die Richtung des Selbst und damit gegen Widerstände erworben wurde, die sich aus der Sicherheit des eigenen Weltverhältnisses herschreiben und letzteres unwiderruflich modifizieren, kann nur in jener spezifischen Offenheit gelebt werden, die als Kennzeichen des sich seiner Bezüge versichernden Denkens den kulturellen Gewinn für das Individuum schlechthin bedeutet. Die Gesellschaft – oder das die Parameter setzende politische System – tut also gut daran, ihre Gebildeten, gleichgültig, ob es sich um Wissenschaftler, Künstler oder Publizisten handelt, gut zu behandeln, will sie sich nicht den morbus intellectus einfangen, den kollektiven inneren oder äußeren Exitus der Eliten und jene letztlich tödliche Gleichgültigkeit gegen ihre Leitvorstellungen und Werte, so ehrenwert sie an sich sein mögen, unter deren Maske jederzeit Verachtung und ein durch nichts zu beugender Veränderungswille aufbrechen können. Gegen diesen basisliberalen Grundsatz wurde in der Vergangenheit immer wieder vehement verstoßen. Die Folgen sind bekannt. Man darf darüber streiten, ob die Lektion wirklich so dauerhaft im politischen Gedächtnis des Westens verankert ist, wie stets beteuert wird.
12.
Es gibt eine Kultur der Verweigerung, die auf die Verweigerung von Kultur hinausläuft; sie besitzt eine subjektive und eine objektive Realität. Die subjektive Seite kann (rand)gruppenspezifische, fundamentalreligiöse oder radikalpolitische Wurzeln haben, sie kann auch durch kulturelle oder popkulturelle Reizüberflutung ausgelöst werden: lauter Gefahren, die gern beredet werden und deren professionelle Bekämpfung Eingang in die pädagogischen Mainstream-Konzepte gefunden hat. Seltener kommt in bildungstheoretischen und bildungspolitischen Räsonnements die objektive Seite vor – was nicht verwundert, da sie in der Regel, dank einem gewissen Denk-Automatismus, mit einem als konservativ verschrieenen Wertekanon und rückwärtsgewandten politischen Leitideen assoziiert wird. Empirisch lässt sich das bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen – obwohl auch ein spezifisch linker, progressivistischer Bildungskonservatismus zu existieren nie aufgehört hat –, aber es ist in der Sache nicht richtig.
Jedem Bildungssystem, das bestimmte Tugenden oder ›Fähigkeiten‹ forciert, wohnt die Tendenz inne, über falsche Prämierungen (oder, vorsichtiger gesagt, problematische Nebenwirkungen eingeschliffener Prämiensysteme) ein soziales Typenraster zu erzeugen, in dem die Gebildeten strukturell in der Minderheit bleiben. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist das kaum zu vermeiden. Dafür sorgt zuverlässig, auch wenn das viele Menschen bedauern, die reale Berufs- und Freizeitwelt. Heikel wird es in den klassischen Bildungsberufen, zu denen man den des Politikers nicht zu zählen wagt, obwohl in der Politik die Entscheidungen über die Zukunft der Bildung fallen – nach Kriterien, die einer Mehrheit einleuchten müssen, auch wenn sie sich im eigenen Lebensgang von ihnen nicht beeindrucken lässt. Letzteres ist der Grund, aus dem die Bildungspolitik den doublespeak liebt: nirgends klaffen die Motive, aus denen gelernt oder nicht gelernt wird, und das administrativ verhängte Angebotsdesign sichtbarer auseinander.
In mancher Hinsicht bleibt es gleichgültig, ob Bildungspakete so oder so geschnürt werden, ob es ein wenig mehr technikkonformes Wissen oder emanzipative Personbildung sein darf, ob die musischen oder die naturwissenschaftlichen Fächer nach vorn geschoben, ob Bildungsstandorte verteidigt oder innere Werte gestärkt werden. Auch die Zahl der Theater pro Region ist kein zuverlässiger Indikator für Bildung, obwohl die an ihnen Beschäftigten das naturgemäß anders empfinden. Nicht die Bildungssteuerung ist schuld an der Miss-Bildung, nicht das Fehlen von Bildung ist die Ursache, warum Bildung verfehlt wird, so wie Abwesenheit nicht den Mangel erklärt, allenfalls das Ausbleiben von Abhilfe. Am Ende bestimmt die Kultur der Bildung die Bildung der Kultur, unabhängig davon, ob sie von den Interessierten als herrschend oder marginalisiert, als besonders wertvoll oder als belanglos angesehen wird.
13.
Nicht nur die Öffentlichkeit ist es gewöhnt, im Bildungsbereich hinters Licht geführt zu werden, sondern auch der Einzelne. Die leere Attitüde, die hohle Phrase enthalten die Aufforderung, es sich bequem zu machen: Schlummern Sie sanft! Und auch das ist nur in Grenzen richtig. Die Mehrheit der Bildungsaktivitäten wird immer unter dem Verdacht des Als-ob stehen und den Argwohn beflügeln, die Zahl der Lebenslügen zu vergrößern. Zur Bildung gehört unabdingbar die Fallhöhe. Das Elaborierte und die Plattheit haben einander zuviel zu sagen, als dass sie ihr Gespräch zu irgendeinem Zeitpunkt einfach einstellen könnten. Es würde ihnen auch nicht bekommen. Zur Bildung gehört die gelebte Distanz, die personale Kommunikation erst ermöglicht und auch Nähe bedeutet. Daran ist nichts peinlich, es sei denn der Hochmut dessen, der unbedingt auf der sicheren Seite angetroffen werden möchte und deshalb die Kontamination scheut. Massenkommunikation hingegen hat die Tendenz zur absoluten Distanz. Das Symbol dieser absoluten Distanz ist die Scheibe, auf der die Botschaft der anderen Seite erscheint, ohne dass der Empfänger sie durch sein Verhalten in irgendeiner Form modifizieren könnte (es sei denn, er schaltet den Apparat aus). Nur wer sich absolut nicht beeindrucken lässt, bewahrt sich den Hauch einer Chance, der Verwandlung von Kommunikation in Konsum zu entgehen. In der Praxis entsteht daraus ein Zwitterverhalten, das ebenso korrupt wie unbelehrbar dem Schein von Kommunikation huldigt und in dauernder Gefahr steht, mehr von sich preiszugeben, als die Regeln der Umsicht und einer klugen Lebensführung erlauben.
Aus solchen in den Tiefenschichten der Gesellschaft ausgebildeten Dispositionen speist sich der Siegeszug jener unbelasteten Beobachter, die man auch als Hinzutretende bezeichnen könnte, um anzudeuten, dass sie gelernt haben, das Spiel nicht mitzuspielen und mitspielend zu verändern, sondern es im Hinzutreten in Frage zu stellen und dadurch prinzipiell zu entwerten, nachdem einmal der Fehler begangen wurde, sie hinzuzuziehen. Bezogen auf die Situation der Philosophie habe ich diesen Typus in einer früheren Publikation einmal wie folgt beschrieben:
Der unbelastete Beobachter ist nicht notwendig eine Person, die den Theoriebestand eines Fachs von außen mustert. Man käme auch rasch in Schwierigkeiten, wollte man dieses ›von außen‹ genauer beschreiben. Vielmehr ist er eine Kunstfigur: ein Habitus, der dazu dient, eine vorgefundene Situation willkürlich zu verändern. Um ihn anzunehmen, ist nichts weiter erforderlich als der Entschluss, Wissenschaft – oder jede andere Tätigkeit – als Spiel zu begreifen. Der unbelastete Beobachter sieht den Mitspielern auf die Finger, er wirkt zerstreut, solange sie bei der Sache sind, er lauscht, aber er hört nicht zu, er vergrößert auf jede erdenkliche Weise den Abstand, der ihn von den anderen trennt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt unterbricht er das Spielgeschehen. Er hat etwas mitzuteilen. Hat er einmal das Wort ergriffen, profitiert er von der Zerstreutheit der anderen, die nicht wissen, wie ihnen geschieht. Im Grunde könnten sie endlos weiterspielen, sie können es nach wie vor, solange sie nicht berührt, was der unbelastete Beobachter zu berichten weiß: dass nämlich ihr Spiel auf einer falschen Voraussetzung beruht und deshalb nur einen imaginären Gewinn abwerfen kann. Tatsächlich dauert es eine Weile, bis die Botschaft sich durchsetzt.
Doch das Spiel bleibt gestört, man ist nur noch halb bei der Sache. Wie viele unbelastete Beobachter verträgt es? Eines ist sicher: sobald sich die Waage dem neuen Typus zuneigt, ist die Einheit der Disziplin nur noch ein leeres Wort. An ihre Stelle tritt eine sektiererisch sich entfaltende Mimesis, und es ist vollkommen belanglos, welches Spiel sie von Fall zu Fall unterbricht. Wer über die rechte Einstellung verfügt, ist um Argumente selten verlegen, vor allem, wenn sie auf »harten Fakten« basieren. An diesen wiederum herrscht kein Mangel. Es kommt nur darauf an, sich ihrer ökonomisch zu bedienen. Also lautet die philosophische Maxime, die sich in der Figur des unbelasteten Beobachters verbirgt: multum non multa. Der kleinste Stein verursacht das größte Getöse.
Was hier in Bezug auf eine akademische Disziplin gesagt wird, lässt sich mühelos auf alle Bereiche übertragen, in denen Kultur vermittelt und gelebt wird. Schwellenverweigerung bedeutet etwas grundlegend anderes als Leistungsverweigerung. So kann es kommen, dass sich gerade in dieser Gruppe Leistungsträger finden, deren spezifische Leistung die der anderen nicht nur überstrahlt, sondern zur Rechtfertigung ihrer Entwertung dient. In gewisser Weise stellen sie mimetisch die sich in umwälzenden Entdeckungen und Erfindungen manifestierende, ansonsten auf zähe und langsame Akkumulation hinauslaufende Kulturbewegung in ihrer Person zur Schau: Ich habe das, was ihr sucht (oder wissentlich ausblendet).
14.
Diese Technik des Infragestellens besitzt eine ideologische Vorgeschichte, die vielleicht noch einmal geschrieben wird. Sie besitzt auch eine praktische Vorgeschichte in den alternativen Protestformen der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Ihr offenes Geheimnis ist die Machtfrage, die sie in alle Verhältnisse hineinträgt, zu Aufklärungs- und Emanzipationszwecken, wie sie behauptet, da sie ohnehin allen Verhältnissen inhärent sei. Reaktionär ist bekanntlich immer die Macht der anderen, aber auch die der Diskurse, die gebrochen werden müssen, damit endlich Licht am Ende des Tunnels aufscheint. Nichts fällt leichter als einen ›Diskurs‹ zu konstruieren, in dem sich der Konstrukteur nicht aufgehoben fühlt und den er deshalb dem Hohn und der destruktiven Gewalt des Publikums auszuliefern sich berechtigt fühlt. Das mag im Einzelfall berechtigt sein, doch die Folgen der einmal etablierten Massenpraxis sind desaströs. Die Kürze der Theorie, die nötig ist, um das Spiel zu spielen, garantiert die Abwesenheit jeden weitergehenden Sachinteresses, die Beliebigkeit des Verfahrens seine universelle Verfügbarkeit im Dienst als real angenommener Interessen. Anders als Leute, die, auch unter Hintanstellung ihrer persönlichen Belange, die richtigen Fragen zu stellen vermögen, zeichnen sich Trolle unter anderem dadurch aus, dass sie den persönlichen Vorteil nie aus dem Auge verlieren, dass sie Aufmerksamkeit, Prestige, Karriere, Einkommen, und ihr Profil mehr oder minder auffällig den Gegebenheiten anzupassen wissen. Dass sie überhaupt ins Zentrum der bildungstheoretischen Aufmerksamkeit aufrücken konnten, hängt auch mit dem Umstand zusammen, dass ihre allzu schlichte, keinem Gesellschaftsglied gänzlich ferne Erfolgsskala irgendwann kurzerhand von den planenden und steuernden Instanzen zu Selektions- und Förderzwecken übernommen wurde.
Gesellschaftliche Prozesse sind zäh, sie haben kein erkennbares Ende – geschweige denn Ziel – und bleiben, aufs Ganze gesehen, unergründlich. Nicht selten ist die beste Methode, sich einer Gefahr zu erwehren, die Nobilitierung: wer etwas zu verlieren hat, lernt das Regelwerk der Gesittung in einer Nacht. So entstehen mitunter irreale Aufstiegsmuster, die zur Nachahmung einladen und für den Einzelnen oder die Gesellschaft im Desaster enden. Eine rationale Maxime müsste daher lauten: Entfernt die Trolle! Oder, da sich der fromme Wunsch ohnehin nicht verwirklichen lässt: Schafft die konzeptionellen und praktisch-empirischen Voraussetzungen, um die Entstehung, Vermehrung und wundersame soziale Karriere dieses Bildungsphänomens einer eingehenden Beobachtung, Analyse und Bewertung zuzuführen, um es irgendwann wirksam einzudämmen.
Den sozialen Online-Netzen ist etwas Bemerkenswertes gelungen. Sie haben schonungslos die mikrokommunikativen Dimensionen des Problems aufgedeckt und quantitativ überwältigend dokumentiert. Eine Stunde Facebook-Lektüre leistet in diesem Feld mehr Aufklärung über Bildungszustände als manche minutiöse Aufarbeitung eines Pisa-Berichts. Angesichts dieses Ozeans an Informationen sollte es möglich sein, Beschreibungsraster und Analysemethoden auszuarbeiten, die es erlauben, nicht nur Profile von Konsumenten und potenziellen Straftätern zu erstellen, sondern auch kulturelles Verhalten und kulturelle Strategien zu durchleuchten, die in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft Effekt machen. Es ist wenig sinnvoll, gerade dieses Medium für einschlägige Kommunikationsdesaster verantwortlich zu machen und ihm damit die Schuld an etwas zuzuschieben, dessen Ursprung, zumindest teilweise, im Bildungssystem selbst zu suchen wäre.
Respekt verdient das Medium schon deshalb, weil es, aus gegebenem Anlass, erstmals dem Phänomen einen populären Namen gegeben hat. Ein gewisses Befremden könnte dem Argwohn entwachsen, mit der genannten Maxime werde womöglich zu einer Art umgedrehter Menschenjagd geblasen. Menschenjagd als die dunkle Seite dessen, was Strategen dieser Prozesse ›Schwarmintelligenz‹ nennen, ist, seit die Kumulationseffekte der Netze ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sind, ein heißes Thema, das sich mit dem angeschnittenen mehr als flüchtig berührt. Troll-Verhalten – oder, um zur vorgeschlagenen Terminologie zurückzukehren, die Strategie des unbelasteten Beobachters – lässt sich ganz gut als scheinpersonales Verhalten beschreiben. Das könnte die Fehleinschätzung erklären, der erliegt, wer in ihm nur eine Äußerungsform des ebenso banalen wie legitimen Bedürfnisses von Individuen zu erkennen wünscht, ihr Leben zu leben und es auf der sozialen Leiter so weit wie möglich zu bringen. Betrachtet man es unter dem Aspekt kultureller Schwellenverweigerung, dann verfliegt der Anschein, hier würde der legitime Selbstverwirklichungswunsch von Personen markiert und mit einem eher elitärem Kulturverständnis entspringenden Strafzoll belegt.
15.
Eine angelesene Assoziation: Hätte jemand angesichts des ersten Surfbretts auf dem Autodach eines Junglehrers, der von der letzten Unterrichtsstunde in die Ferien startete, Alarm geschlagen, weil er eine tödliche Gefahr für das kulturelle System heraufziehen sah, so wäre manches anders gekommen. Aber selbstverständlich hätte sich so ein Jemand, und zwar zu Recht, nur lächerlich gemacht. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die forcierte Konsum- und Freizeitgesellschaft das schon länger bestehende Bildungsproblem in eine neue Ordnung verschoben hat. Da es in niemandes Macht stand, sie aufzuhalten, beschäftigen sich seither Bildung und Bildungsvermittlung damit, sich zu ihr zu verhalten. Eine frühe Weise, sich zu verhalten, wurde, wie erwähnt, ›politisch‹ genannt: eine Verweigerungshaltung, die sich nicht auf die Schwellenerfahrung der Kultur, sondern auf den Konsum bezog – das Konsumidiotentum, wie es in jenen Jahren gern genannt wurde. Man muss sich unseren mittlerweile an der Pensionsgrenze angekommenen Junglehrer als wackeren Kämpfer gegen die Konsumidiotie vorstellen, anders täte man ihm vermutlich Unrecht. Sein Anspruch auf ungebremste Erlebnisfreizeit ist zwar Teil der Konsumlandschaft, aber er siedelt in einem sensiblen Gelände: die Auszeit von der Kultur ist ein aus den Zeiten der Aufklärung vertrautes Phantasma gemeineuropäischen Ursprungs. Selbstverständlich wurde es stets kulturell flankiert gedacht.
Der Reise- und Freizeitindustrie gelang der Coup, Tarzan mit Robin Hood zusammenzuspannen und in die Fabrikationsstätten einzuschleusen, in denen, nach fast einhelliger Überzeugung der Beschäftigten, Bewusstsein produziert wird. Bewusst machen, Bewusstsein erzeugen, Bewusstsein verändern: damit werden ganze Industriezweige ausgelastet, ohne dass in ihnen der seltsame Stoff Bewusstsein, aus dem das seltsame Produkt Bewusstsein gewonnen wird, unter anderen als Veränderungs-Gesichtspunkten überhaupt ins Blickfeld geriete. In unserem Fall heißt das: an die Stelle falschen, auf den passiven Konsum der allgegenwärtigen popkulturellen Angebote eingestellten Bewusstseins soll, durch pädagogische Magie, richtiges Bewusstsein gesetzt werden. Das erinnert nicht grundlos an klassische Dystopien von Samjatin bis Orwell. Doch natürlich ist alles anders gemeint. Denn dieses richtige Bewusstsein ist, von Haus aus oder durch den Willen seiner Produzenten, kritisch.
Worauf will das hinaus? Natürlich nicht auf eine Apologie unkritischen Bewusstseins, eher schon auf eine Befragung dessen, was hier ›Bewusstsein‹ genannt wird. Aber gleichgültig, was eine solche Befragung ergäbe: nach jahrzehntelanger Erprobung sind wenig Zweifel geblieben, dass der switch zwischen richtigem und falschem, zwischen unkritischem und kritischem Bewusstsein eine innerkonsumistische Dimension besitzt, vor der früh gewarnt und die seither selbst zum Objekt pädagogischer Gegen-Anstrengungen wurde. Auch kritisches Bewusstsein muss jene kulturellen Schwellen passieren, um wirkliches, sich in Bezügen seiner Kultur realisierendes Bewusstsein zu werden und nicht in der Rolle des unbeteiligten Beobachters zu posieren oder in Zonen aktiven Terrors abzudriften. Es ist nicht überflüssig, dergleichen zu bemerken, weil es noch immer den Schlüssel zur intellektuellen Biographie der heute Aktiven liefert und in gewisser Weise den Türöffner für ähnliche Phänomene spielte. Denn gleiches gilt für den switch zwischen einer unterstellten Bildungsidiotie, die sich an die eingefahrenen Verabreichungswege von Kultur hält, und dem aktuellen Ideal des selbstbestimmten Kulturaneigners, der sich sein Wissens- und Bildungsprogramm auf dem Tablet nach Wunsch und antizipierter Eignung zusammenstellt, gleiches, um vom Formalismus der Bildungskonzepte zum Formalismus der Bildungsinhalte überzuwechseln, für den an die Stelle der realen Geschichte einer realen Menschheit gesetzten switch von einer traumatischen und traumatisierenden Vergangenheit zu einer therapeutischen und gleichsam bergenden Gegenwart, gleiches für den switch zwischen falschen und richtigen Frauenbildern, falschen und richtigen Annahmen über die soziale Natur des Menschen bis zum lachmuskelreizenden Kitsch der jeweils neuesten, dem Zwang zur Akquise geschuldeten Forschungsergebnisse über die verhaltensbiologisch und gehirnphysiologisch begründete Unfähigkeit menschlicher Sexualpartner zur Monogamie. Und es gilt, nicht zu vergessen, für den switch zwischen dem herkömmlichen, einseitig einer falschen Sach-, also Fremdorientierung verschriebenen Selbstbild des Wissenschaftlers und dem karrierebetonten, selbstvermarktenden, kapitalertragssteuergeprüften Wissenschaftlerinnen-und-Wissenschaftler-Idol, das zwischen zwei Drittmittelanträgen ein Sinn-Vakuum erleidet, wie es nur, nun ja, durch Kulturkonsum gefüllt werden kann.
16.
Bildungsrede bleibt unvollständig, solange sie das ästhetische Terrain – und damit die Projektions- und Projektfläche der Kunst – nicht in ihre Überlegungen einbezieht. Dass Kunst – ästhetische Kunst, denn es gibt auch andere – von Haus aus projektförmig gedacht werden muss, wird klarer, wenn man das besondere Verhältnis bedenkt, das sie an den Bereich der Mythen und Mythendarstellung fesselt: Wo Mythos ist, muss Kunst werden – das wäre eine besondere Form des ästhetischen Imperativs, die sich nur dadurch vom – reichlich löchrigen – Verdikt des platonischen Sokrates über das Wissen des Mythos unterscheidet, dass sie das produktive Wechselverhältnis zwischen beiden Seiten ins Licht stellt. Wie und warum Kunst sich vom Mythos geschieden hat, ist eine Frage. Die andere wäre, wie und mit welchen Mitteln sie die Scheidung aufrecht erhält, ohne ihr Sonderverhältnis zum Mythos oder zur mythischen Weltsicht aufzugeben. Die Antwort lautet: durch ihre Projektform.
Es ist das herstellende, sprich: ›technische‹ Verhältnis zu dem, was Hegels Enzyklopädie-Paragraph 560 etwas brüsk, aber in der Sache völlig korrekt den Gott nennt, in dem der Projektcharakter der Kunst gründet. Ein Teil der Scientific community hat sich angewöhnt, die großen Menschheitsfindungen, also Religion, Kunst, Philosophie, Wissenschaft, selbst die Technik Projekte zu nennen. Das entspricht dem Selbstverständnis der darin Tätigen nur zum Teil. Solange das Selbstbild der Wissenschaft vom Methoden-Paradigma durchdrungen war, scheint ihr mehr an stabilen Ergebnissen gelegen gewesen zu sein als an unausgeschöpften Innovationspotenzialen, die durch ein fixes Methodenideal eher verdeckt werden. Vom Künstler als, mit Hegel gesprochen, »Meister des Gottes« wird dagegen erwartet, dass er das Staunenerregende, das Unerwartete und Unerwartbare an die Stelle des gewohnten Anblicks der Dinge setzt, so wie die Dichtung aus einer gewissen Perspektive als Prozess der permanenten Neuerfindung der Mythen mit anderen Mitteln in Wechselbeziehung zum jeweils gültigen Stand der Kultur angesehen werden kann.
Kunst und Literatur gelten daher seit jeher als bevorzugte Lieferanten von Schwellenerfahrungen. Bereits die hellenistische Antike erkennt daran, ob und wie sich jemand ihren Gebilden gegenüber ausdrückt, die typischen Anzeichen von ›Kultur‹. Das ist bis heute, allen Unkenrufen und Mordabsichten zum Trotz, so geblieben. Nicht geblieben, soweit Dokumente sprechen, ist die Dichte der jeweiligen Erfahrung und das soziale Prestige, das sich an die präzise Artikulation dieser Erfahrung heftet. Es ist schon eine Weile her, seit ein Werk wie Adornos Ästhetische Theorie ein gesellschaftliches Raunen erzeugen konnte. Immerhin handelt es sich um einen überschaubaren Zeitraum, so dass die Ursachen dafür durchaus in den Eigentümlichkeiten der Kultur gesucht und gefunden werden könnten, von denen hier die Rede war.
Die eigentümliche Schwindsucht der Poesie, vielfältig abzulesen am Wandel der, soweit noch vorhanden, einschlägigen Regale der Buchhandlungen, der Themen und Gegenstände der Kritik und der Absatzzahlen der Verlage, aber natürlich auch der Schriftsteller-Attitüden und dem, was man, mit dem bekannten Kafka-Wort, ihre Laufrichtung nennen könnte – nicht zu sprechen davon, dass bereits das Wort ›Dichtung‹ in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft zu einem Unwort herabgesunken ist –, hat unterschiedliche Gründe. Eine Ursache der Misere liegt in einer technologisch induzierten und indizierten kulturellen Zangenbewegung: einerseits dem Auszug vieler, nicht: Leser, sondern Leseeinstellungen, darunter gerade der wacheren, aktiveren, keine Suchbewegung scheuenden, neuheitssüchtigen und durch Design, sprich Ästhetik verführbaren, aus dem gedruckten Medium, insbesondere dem Buch als der prominenten Verabreichungsform von Literatur, andererseits der gegenläufigen, damit korrespondierenden, theoretisch wohlfundierten, aber in der Praxis verheerenden Abkehr vom Glauben an die Buchförmigkeit der Welt – zumindest ihrer Deutungen. Die zugrunde liegende, den Natur- und Sozialwissenschaften seit längerem geläufige Einsicht ist, wie der letzte Schlagabtausch über den kulturellen Eigenwert des Buches und der Buchkultur ausreichend belegt, in der literarischen Welt nie recht angekommen. Das hat, außer der dort anzutreffenden sentimentalen Neigung zu einer gewissen heiligen Einfalt, vielfältige kulturelle Gründe, unter denen die Buchreligion als kulturelle Gründungs- und Fundierungsinstanz mehr als gleichberechtigt neben der säkularen Verehrung für Erstausgaben und Klassikerbibliotheken steht. Ein Hauptgrund liegt in der distributiven Unumgänglichkeit der Buchform in den Jahrhunderten nach der Gutenberg-Revolution. Doch es gibt andere, raffiniertere Gründe. Ein Buch zu schreiben bedeutete für den literarischen, noch nicht zum Unterhaltungsschriftsteller verkümmerten Autor, die Welt nicht nur dem Inhalt nach, sondern auch formal zu deuten und als gedeutete zu gestalten. Die umschließende und auszugestaltete Form dafür war nun einmal lange Zeit das Buch. Es ist viel Witz, Erfindungsfreude und Tiefsinn in die damit gestellte Aufgabe hineingeflossen.
Lange vor der Erfindung des Computers und der durch ihn geschaffenen produktiven wie distributiven Möglichkeiten beginnt der Auszug der ästhetischen Literatur aus der formenden und deutbaren Hülle des Buches. Prousts À la recherche du temps perdu lässt sich dieser Absetzbewegung ebenso zuordnen wie Der Mann ohne Eigenschaften. Was bei Musil mangels medialer Alternativen als Nachlass blankliegt, scheint erst durch die digitale Edition eine befriedigende Form zu finden. Wenn dabei auch ökonomische Faktoren eine Rolle spielen, zeigt sich daran nur ein weiteres Mal, dass die Tage der Buchverlage als Schaltstellen der literarischen Kultur wohl gezählt sind. Ein Medium, dessen Zauberkraft verschwunden ist, das die formale Neugier der Schreibenden nicht mehr zu binden versteht – ganz zu schweigen davon, dass seine primären, sprich distributiven Qualitäten den Vergleich mit dem Pferdekutschen-Zeitalter nahelegen –, kann und wird als ästhetisches Faszinosum nicht fortbestehen – außer im antiquarischen Sinn.
Keine Bildung ohne ästhetische Bildung: dieser Gemeinplatz wenigstens wird sich erhalten. Ihn vorausgesetzt und ausgerüstet mit der in den letzten Jahrzehnten wieder gewachsenen, keineswegs resignativen Einsicht, dass die digitalen Kommunikationsmedien nicht etwa das Ende der Schriftkultur bedeuten, wohl aber ihre tiefgreifende Restrukturierung mit heute noch nicht wirklich abzusehendem Ausgang, sind wir gut beraten, die Sache der Literatur nicht fallenzulassen und an die historische Diskursanalyse zur Nachbehandlung zu überweisen oder im ökonomischen Überlebenskampf der Buchverlage zu verschleudern. Nicht etwa, weil es so schön wäre, im neuen Medium auch eine Literatur zu besitzen, sondern weil die Kultur ohne sie sowohl nach ihrer äußeren wie nach ihrer inneren Dimension unvollständig bliebe.