Einladende Betrachtungen
In einem sozialpsychologischen Experiment wurde die Leistungsfähigkeit fauler mit der von fleißigen Gruppen verglichen. Bei ansonsten sehr ähnlichem Sozialprofil, operationalisiert in Merkmalen wie Geschlecht und Alter, Bildung und Intelligenz, bedeutete ›faul‹ niedrige, ›fleißig‹ hohe Leistungsmotivation. Beiden Gruppen wurden einfache und komplexe Aufgaben gestellt. Gemessen und verglichen wurden Zeitaufwand und Effizienz der Lösungswege je Gruppe. Das Resultat: Fleißige Gruppen sind schneller und effizienter beim Lösen einfacher Aufgaben, weil sie eine hohe Bereitschaft mitbringen, Aufgaben gleich welcher Art lösen zu wollen. Diese eilfertige Bereitschaft mindert die Kooperationsfähigkeit der Fleißigen aber beim Lösen der komplexeren Aufgabe. Sie gönnen sich nicht die Zeit, um nachzudenken und über ihr Nachdenken mit anderen zu kommunizieren. Sie denken und gehen am liebsten schnell vor, denken ungern nach und gehen ungern nach und nach vor. Dagegen ist die faule Gruppe langsamer und ineffizienter beim Lösen der einfachen und schneller und effizienter beim Lösen der komplexeren Aufgabe. Bis sie sich Gedanken machen, ist die einfache Aufgabe von der fleißigen Gruppe bereits gelöst; weil sie sich Gedanken machen und Zeit lassen, lösen sie die kompliziertere Aufgabe schneller und effizienter als die fleißige Gruppe.
Obwohl es landläufige Vorurteile widerlegt, zeigt dieses Beispiel auf grelle Weise, wie wenig dem Mainstream der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Mainstream des Lebens einfällt. Es ist ein instrumentalistisch verkürzter Begriff von Faulheit, der nur eine Facette dieses Phänomens in den Blick bekommt, die traditionell Gegenstand der moralistischen Kritik gewesen ist: ihr offensichtlich kritisches Verhältnis zur Leistung, worauf immer eine Kritik der Faulheit antwortet. Faulheit oder, genauer und etwas weniger pejorativ bezeichnet, Faulenzen wird in diesem Gruppenexperiment mit Problemlösen identifiziert, also mit einem Handeln, das üblicherweise beim Faulenzen gemieden wird. ›Faulheit‹ versucht doch gerade, sich von Problemen und ihren Lösungen frei- und fernzuhalten, um in Ruhe und Frieden optimal faulenzen zu können.
Das heißt nun aber wiederum nicht, dass Faulheit oder Faulenzen kein Handeln ist. Zumindest lässt sich das ›Faulsein‹ als ›Faulenzen‹ handlungstheoretisch entfalten. So umfasst der Handlungsbegriff nicht nur äußeres oder inneres Tun, sondern auch Unterlassen und Dulden. Entscheidend für die Attribuierung des Handlungsbegriffs auf ein menschliches Verhalten ist dabei der subjektive Sinn, den Handelnde mit ihrem Verhalten verbinden, und für soziales Handeln ist darüber hinaus relevant, dass es seinem Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen und ›dadurch in seinem Ablauf orientiert ist‹, wie das etwa Max Weber in seinen soziologischen Grundbegriffen ausführt.
So betrachtet, lässt sich Faulenzen plausibel als eine Form von Handeln begreifen. Die folgenden Überlegungen versuchen erstens zu erkunden, ob und in welchem Sinn sich Faulheit oder Faulsein oder Faulenzen als Handlung verstehen lässt, um zweitens zu ergründen, ob und wie Faulenzen als ein Tun und ein Unterlassen aufgefasst werden kann. Schließen möchten diese Überlegungen drittens mit der Beantwortung der Frage, weshalb das Faulenzen einen so üblen Ruf besitzt.
Faulenzen als Handeln
Fragen wir zunächst, ob und in welchem Sinne Faulenzen überhaupt ein Handeln ist. Dazu steigen wir am besten über das ›Tun‹ ein, mit dem unser Alltagsverständnis Aktivitäten verbindet, die sich in physischen, psychischen und motorischen Aktionen manifestieren. Zunächst scheint klar, dass es ein im absoluten Sinne vollkommenes Nichtstun für Menschen als lebende Organismen ebenso wenig gibt wie einen vollkommen freien Willen. Jeder lebende Organismus und ein menschlicher ohnehin ›tut‹ oder in jedem ›tut sich‹ zumindest immer etwas. Seine Physiologie, sein Stoffwechsel und seine Organe arbeiten ununterbrochen, so dass man sagen kann, Leben allein ist eine Leistung und manchmal auch schon eine Arbeit. Überdies ›tut‹ sich auch Einiges im Raum des seelisch Unbewussten, das uns im Traum oder im Symptom zugänglich ist, falls wir den dazu passenden Schlüssel der Analytiker besitzen. Allerdings fällt ein solches Tun ohne unser aktives Zutun noch nicht unter den Begriff des Handelns. Dazu ist mindestens eine gewollte Absicht notwendig, ohne die sowohl das vegetative Wirken unserer Physis als auch die unbewusste Umtriebigkeit unserer Psyche gut auskommen können, weshalb es kein ›Handeln‹, sondern bloßes ›Verhalten‹ ist.
Davon zu unterscheiden sind Formen des Tuns, mit denen ein gemeinter Sinn, eine gewollte Intention verbunden ist. Und dieses Kriterium kann auch gut für das Unterlassen und das Dulden verwendet werden. Immer dann, wenn ein Unterlassen oder Dulden als Ausdruck einer menschlich gewollten Intention zu verstehen ist, darf es als Handeln angesprochen werden.
Wie in der Handlungstheorie üblich, lassen sich viererlei Arten der sinnhaften Orientierung des Tuns, des Unterlassens und des Duldens unterscheiden: die rationale an Zwecken, die rationale an Werten und das an Affekten und Traditionen orientierte Handeln. Von diesen viererlei Arten Sinn, an denen menschliches Handeln sich orientiert, möchte ich im faulenzischen Zusammenhang zwei Sinnorientierungen: zweckrationale und wertrationale sowie zwei Handlungsformen: Unterlassen und Tun untersuchen. So ergeben sich folgende Zuordnungen und Fragestellungen, die für ein Verständnis des Faulenzens ausgelotet werden: In welchem Sinn kann Faulenzen als wertrationales Tun und als Unterlassen von Zweckrationalität aufgefasst werden? [Faulenzen wäre demnach ein Tun, das seinem Sinn nach immer in gewissem Grade wertrational orientiert ist, weil es ausgeführt wird, um seines »E i g e nwert(es)« (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr, 1980, S. 12) willen, d.h. »…unabhängig vom Erfolg« (ebd.); weiter ist es seinem Sinn nach affektuell orientiert, weil es in besonderer Weise »emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen« (ebd.) sinnhaft bestimmt sein kann. Zweitens wäre Faulenzen ein Unterlassen und ein Nicht-Dulden, das seinem Sinn nach sich der rationalen Orientierung an Zwecken enthält und widersetzt, weil es sich gerade nicht an der »Erwartung des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ›Bedingungen‹ oder ›Mittel‹ für rational, als Erfolg erstrebte und abgewogene eigne Zwecke« (ebd.) ausrichten mag. Dulden als eigene Handlungsform lasse ich weg, da es als Nicht-Dulden oder mit Unterlassen identisch ist. Traditional ist Faulenzen nach der hier vorgetragenen Konzeption deshalb nicht, weil es genuin aktualistisches Tun und gerade nicht als eingelebte Gewohnheit zu verstehen ist.]
Beginnen wir mit der Frage danach, in welchem Sinne Faulenzen als Unterlassen von Zweckrationalität zu verstehen ist.
Faulenzen als Nicht-Tun. Unterlassene Zweckrationalität
Vorurteile gegenüber dem Faulenzen lassen leicht vergessen, dass für das Faulenzen kein generelles Nichts-Tun, sondern ein besonderes Nicht-Tun charakteristisch ist. Und dieses ›Nicht-Tun‹ kann ein Handeln sein, und zwar aktives Unterlassen der Aktivität, die sich bewusst an Zweck-Mittel-Erwartungen ausrichtet.
Was also unterlassen wir, wenn wir faulenzen? Wir tun nichts, was irgendwie durch fremd gesetzte Zwecke bestimmt ist und von uns verlangt, dass wir unser Verhalten, Denken und Fühlen als Mittel verstehen. Wir tun nichts, was irgendwie methodisch-systematisches Handeln wäre, das rücksichtslos gegenüber unseren aktuellen Gestimmtheiten und spontanen Lüsten und Launen uns auf irgendwelche fremdbestimmte Zwecke hinabzieht und unsere Energien zu fremden Diensten presst. Wir entsagen der Verplanung unserer Zeit und der Funktionalisierung unserer Aufenthaltsräume, lassen die geplanten Ziele und ihre Mittel und das zielführende Handeln überhaupt fahren, pfeifen auf die Zügigkeit und die Ergebnisorientierung, kurz: wir verweigern alles, was uns von der Außenwelt und der Mitwelt, von den Institutionen und Systemen angesonnen wird, wir kündigen aller Heteronomie. Dies aber bedeutet: Wer faulenzt macht sich unbrauchbar und unnützlich, und das hat zur Folge, dass, wer faulenzt, nicht anschlusstauglich ist.
Anschlussuntauglichkeit heißt in unserer modernen Welt hauptsächlich Suspension aller zweckrationalen Indienstnahme, heißt Subversion systemischer Heteronomien, die uns durch Berufsarbeit, Konsumarbeit und Familienarbeit und alle irgendwie systemisch definierten Rollenskripte vernutzen wollen. Daher ist Faulenzen auch nicht mit Relaxen oder Chillen identisch, und schon gar nicht mit Freizeit. Zwar sind in diesen verwandten, aber eben nur auf Regeneration ausgerichteten Formen des Unterlassens die zweckrationalen Handlungsmotive ausgeschaltet, aber doch nur vorübergehend und mit ausdrücklicher Erlaubnis. Denn Relaxen oder Abhängen, Chillen oder Entspannen, Anti-Stress-Programme folgen dem regenerativen Imperativ, der zwar befiehlt: ›Du musst auch mal runterkommen!‹, aber nur, um ›wieder draufzukommen‹ und seinen Rollenpflichten im Erwerbs- und Bildungssystem, in Familie und Freizeit wieder nachkommen zu können. Insofern verstehen und rechtfertigen sich diese legitimen Formen regenerativer Reproduktion wesentlich als Vorbereitung auf das neuerliche Sich-Einhängen in und Sich-Anspannen für systemische Zweck-Mittel-Reihen. Sie sind letztlich auf das Um-Zu-Motiv hin orientiert, das seine Adepten bald wieder in seinen Ordnungen sehen will, und zwar ›frisch‹ und ›erholt‹, um sich für die fremden Zwecke zu funktionalen Mitteln machen und verbrauchen zu lassen – gegen Geld versteht sich und nicht um ihrer selbst willen.
Zu diesem Verständnis des primär regenerativen Abhängens steht das anschlussuntaugliche Faulenzen konträr. Faulenzen als Unterlassungshandeln kollidiert in modernen Gesellschaften daher am heftigsten mit den Erwartungen des kapitalistischen Arbeitszeitregimes, dem zumindest in unserer okzidentalen Welt niemand entkommt, ohne erhebliche Entbehrungen in Kauf nehmen zu müssen. Die Anschlussuntauglichkeit des Faulenzens nimmt in dieser Frontstellung gegen die calvinistisch geprägte Arbeitsmentalität die Form einer radikalen Verwertungsverweigerung an. Wer faulenzt, ist anschlussunfähig, weil er nicht arbeitet und sich damit fürs Erwerbssystem unverwertbar macht. Kurz: Anschlussuntauglichkeit als Verwertungsverweigerung bedeutet Arbeitsuntauglichkeit.
Das Faulenzen verweigert sich dem affirmativen Schuften um des Schuftens, dem Malochen um des Malochens, dem Arbeiten um des Arbeitens willen und damit dem durchgesetzten Arbeitsselbstverständnis der Moderne. Diese hatte seit der Reformation allmählich den Spieß umgedreht, das Arbeiten als bloßes Mittel diskreditiert und zum sinngebenden Zweck, genauer: zum Selbstzweck habilitiert. Der erste, der offen gegen diese folgenreiche Umwertung einer Last in eine Lust opponierte, war Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx. In seiner Schrift Das Recht auf Faulheit von 1883 polemisierte er gegen den Wahn des laboristischen Lebenszeitfressers, zu dem das Arbeiten unter dem kapitalistischen Wirtschaftssystem geworden war. Statt ein ›Recht auf Arbeit‹ im Namen der sozialistischen Bewegung zu fordern, plädierte Lafargue für das ›Recht auf Faulheit‹ im Namen der Menschlichkeit.
Auch Lafargue war natürlich klar, dass die Forderung nach einem ›Recht auf Arbeit‹ dem Bedürfnis entsprang, die eigene Existenz angesichts des Elends der Arbeitslosigkeit über Rechtsgarantien auf Arbeit abzusichern. Gemessen an der Ausbeutung und dem Faktum entfremdender Arbeit aber, die den Produzenten im Industriekapitalismus nicht zum Konsumenten seiner Produktionen macht, und gemessen an der technologisch immer weiter erhöhten Arbeitsleistung aber, die die Produktivität der Arbeit bis zur Überproduktion steigert, verringert sich ja weder die Arbeitszeit, noch wird die tatsächlich zu leistende Arbeit weniger. Im Gegenteil: »Je produktiver die gesellschaftliche Organisation der Arbeit wurde, umso stärker wurde zugleich der gesellschaftliche Druck, mehr Arbeit zu mobilisieren.« (Lafargue, Das Recht auf Faulheit, 12, S. 7-28) Und dieser Befund gilt bis heute: Denn weder sinkt mit jeder technologischen Maschinen-Innovation die zu leistende Arbeitsmenge, noch schrumpft die Absorptionskraft des Arbeitsmarktes. Noch nie zuvor wurde so viel gearbeitet und noch nie arbeiteten so viele für so wenig Lohn wie heute.
Warum aber soll immer noch mehr gearbeitet werden, wenn die Arbeitsleistung immer größer geworden, also schon groß genug ist? Angesichts dieses ›Produktivitätsparadoxes‹ (Stephan Lessenich) erscheint die Forderung nach einem ›Recht auf Arbeit‹ als irrational und die nach einem ›Recht auf Faulheit‹ als rational. So betrachtet, gibt es gute Gründe, die Arbeitsgesellschaft und ihre »Liebe zur Arbeit« als »rasende Arbeitssucht« oder als Psychopathologie zu diagnostizieren, die die »Lebensenergie des Einzelnen und seiner Nachkommen« (Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit, in derselbe, Das Recht auf Faulheit und andere Satiren, Berlin 1986, S.31) ruiniert, oder, wie wir heute sagen würden, den Massen-Burn Out generiert.
Und Lafargue empfiehlt eine einfache Verhaltenstherapie: Arbeitet weniger, konsumiert mehr und genießt mehr freie Zeit! Sein Rat, immer mal wieder von mutigen, aber erfolglosen Gewerkschaftern aufgegriffen, ging auf Rationierung aus: ›Man muss, um Arbeit für alle zu haben, sie rationieren wie Wasser auf einem Schiff in Not.‹
Die Realisierung dieses arbeitsdiätetischen Vorschlags läuft allerdings auf eine Revolution der Arbeitsgesellschaft und ihres arbeitszentrierten Zeitregimes hinaus. Wir machen uns selten klar, dass wir 8 Stunden ›durch-‹schlafen und 8 plus n-Stunden ›durch-‹arbeiten sollen, dass wir unsere Kinder ohne Not um 6 Uhr aus dem Bett schrecken, um sie vor 8 Uhr in der Frühe in die Schule zu hetzen. Wir machen uns also selten klar, dass unsere Lebenszeit heteronom getaktet und einem rigiden Zeitregime unterworfen ist, das sich letztlich vom kapitalistischen Betrieb und seiner Effizienzversessenheit herleitet. Und auch hier begegnen wir einem Paradox, dem ›Zeitparadox‹: Noch nie war der Alltag – Haushalt, bindungspflegende Kommunikation und notwendige Arbeit – technologisch derart zeitsparend zu bewältigen und noch nie zuvor klagten die Menschen derart über Zeitknappheit. Die subjektive Empfindung von Zeitverlust bei objektivem Zeitzugewinn geht so weit, dass Zeitnotstand zum objektiven Statusmerkmal arriviert: Wer ihn mitteilt, erhält Verständnis und Zustimmung, wer ihn nicht teilt, irritiert und lebt verkehrt.
Lebt verkehrt? Ja, gerät unter den Verdacht, sein Leben suboptimal zu organisieren und die Fülle individueller Gestaltungschancen ungenutzt zu lassen, also seine Zeit mit unökonomischem, unverwertbarem Nichtstun zu vergeuden, vulgo: zu verfaulenzen. Eine solche faulenzische Zeitverwendung aber wird heute als Zeitverschwendung stigmatisiert. Schon Nietzsche sah das in der Fröhlichen Wissenschaft sehr scharf: »Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet – man lebt wie einer, der fortwährend etwas ›versäumen könnte‹…« ( Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, Frankfurt/M. 1982, 329tes Stück, Muße und Müßiggang, S. 203) So gesehen hat die Rückgewinnung der Verfügung über die eigene Lebenszeit das Zeug zur revolutionären Aktion. Und auf welche Weise könnte eine solche effektiver verwirklicht werden als durch Faulenzen?
Lafargue schlägt konkret 3 Stunden Arbeit pro Tag vor, den Rest zur freien Verfügung. Auf diese Weise würden die Verhältnisse wieder ins richtige Verhältnis verkehrt: Dann lebten wir nicht, um zu arbeiten, sondern arbeiteten, um zu leben! Und das ist, mit Verlaub, keine utopische Träumerei! Versucht uns die Ethnographie doch schon seit eh und je nahezubringen, dass die Menschen in Sammler-Jäger-Gesellschaften wesentlich entspannter als in den modernen High-Tech- und so genannten Hochkultur-Gesellschaften leben. Sie sammeln und jagen im Durchschnitt 2 bis 3 Stunden täglich und verbringen den Rest der Zeit in einem »mußeintensiven Zustand, der, was vielen nicht bewusst ist, der natürliche ist.« (Irenäus Eibl-Eibelsfeld: Menschenforschung auf neuen Wegen. Die naturwissenschaftliche Betrachtung kultureller Verhaltensweisen. Wien/München/Zürich 1976, S. 267) Und dabei mangelt es den Jägern und Sammlern an keinem der ernährungsphysiologisch wichtigen Nährstoffe wie Proteine, Vitamine und Kalorien, sondern ganz im Gegenteil, sie sind bestens mit ihnen versorgt und leben recht eigentlich »salutogenetisch«: »In Sammlerinnen- und Jägerkulturen, die immerhin das Gros der menschlichen Geschichte (rund 3 Millionen Jahre) ausmachen, hatte man also nicht nur ausreichend und gut zu leben, sondern verfügte auch über eine absolut vollwertige Kost… Ärztliche Untersuchungen ergaben, daß ihre Ernährung nicht nur voll ausreichend, sondern auch optimal zusammengesetzt war und sie infolgedessen über eine hervorragende Gesundheit verfügten. An Arbeit brauchten sie dafür lediglich 2 Stunden pro Tag aufzuwenden.« ( Zitiert nach Klaus E. Müller, Kleine Geschichte des Essens und Trinkens. Vom offenen Feuer zur Haute Cuisine. München, 2009, S.22)
Unter solchermaßen zurechtgerückten Zeitproportionen würde sogar Arbeiten wieder attraktiv, man muss es nur von der faulenzischen Lebensform her ins Perspektiv nehmen. Denn zeitlich reduziert, würzt Arbeit die Existenz und wird zu einer der Vergnügungen der Faulheit, zu einer »dem gesellschaftlichen Organismus nützliche(n) Leidenschaft.» (Lafargue a.a.O., S.22) Das Problem dabei ist, wie bei allem, was gut und schön zugleich ist, dass mögliches und schönes Glück die Leute eher überfordert als wirkliches und hässliches Elend. So meinte schon Paul Lafargue mit Blick auf die Änderung dieses falschen Bewusstseins der Arbeiterklasse, genau dies sei »eine schwierige Aufgabe, die meine Kräfte übersteigt.« (ebd., S.26)
Und wie recht Lafargue hatte! Aus der Arbeiterklasse wurde keine Faulenzerklasse. Weder der Sowjetkommunismus noch die deutsche Sozialdemokratie bewiesen welthistorische Klasse, als sie die Chance dazu hatten, sondern beide setzten alles daran, die permanente Steigerung der Arbeitsleistung im Wettbewerb der Systeme zu glorifizieren, zu heroisieren, ja zu vergöttern. So wurde nicht nur im amerikanischen Taylorismus jeder als Bummler und Faulenzer kriminalisiert, der im Arbeitstempo zurückblieb. Auch in der stalinistischen Fabrik wurde Bummeln, also eine dem laboristischen Schuften abgetrotzte Miniaturform des Faulenzens scharf verurteilt, wie etwa ein Bericht des Lyrikers Sergej M. Tretjakow zeigt, der 1937 selbst als Opfer einer stalinistischen ›Säuberungsaktion‹ hingerichtet wurde. Tretjakow schrieb 1931 ganz euphorisch über ein innerbetriebliches Tribunal »Arbeiter richten über Arbeiter«, das den Arbeiter Alexej Balduin aus der Fabrik ausschloss, weil er das Arbeitstempo nicht halten konnte und mit 50 Prozent unter dem Plansoll geblieben war: »Nieder mit den Faulpelzen! Nieder mit den Simulanten in der Fabrik! Hoch die Kämpfer an der Aufbaufront, die Verwirklicher der Ideen des Leninismus, die Stoßbrigadler!« (Sergej M. Tretjakow: Eine Sache der Ehre – eine Sache des Ruhmes, in: Gerd Stein: Lumpenproletarier-Bonze-Held der Arbeit. Verrat und Solidarität. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. Und 20. Jahrhunderts Band 5. Frankfurt/M.1985, S.258) Und dieselbe stigmatisierende Tendenz gegen das Faulenzen setzte sich in der bundesrepublikanischen Reform des Arbeitsmarktes fort, die der Sozialdemokrat und Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, heute Lobbyist des russischen Energiekapitals, 2001 in einem Bild-Interview massenwirksam zum Ausdruck brachte: ›Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.‹
Insofern ist im Hinblick auf einen gesellschaftlichen Gesinnungswandel in Sachen Faulenzen mehr als Skepsis angesagt, wenn schon die Vertreter der Arbeit sich mit denen des Kapitals darin einig sind, dass wir mehr und immer mehr statt weniger arbeiten sollen. Schärfer denn je wird das Faulenzen verfolgt und sozialmoralisch sanktioniert, und genau daran ist seine Anschlussuntauglichkeit schuld, die im Faulenzen sich manifestierende Verwertungsverweigerung, welche der Arbeit als prioritärer Sinnstifterin die Anerkennung verweigert. Die Arbeitssucht herrscht vor und es verhält sich mit ihr so, wie Ludwig Börne das mit Blick auf die populäre Verehrungssucht der ›Großen Männer‹ beklagte, die Länder und Völker mit Krieg überziehen und Massen von Menschen ihrer unersättlichen Ruhmsucht zu opfern belieben: ›Daß doch die wahnsinnigen Menschen immer am meisten liebten, was sie am meisten hätten verabscheuen sollten!‹
Doch vielleicht hängt diese eingefleischte Feindschaft gegen das Faulenzen auch damit zusammen, dass bislang kaum phänomenologische Erkundungen in seine süß-sanften Gefilde vorliegen? Vielleicht braucht es hier mehr Aufklärung, um die Leute auf den Geschmack zu bringen. Denn das ist ein Desiderat, an dem sich weder Lafargue noch sonst einer explizit versucht hätte. In ihren Träumen, Mythologien und Kosmologien allerdings, in den verkehrten Welten, den Paradiesen und Schlaraffenländer haben die Menschen schon immer in den Gegenwelten des Faulenzens geschwelgt. Es kommt aber nicht darauf an, eine solche Welt nur zu fantasieren, sondern sie zu realisieren! (Siehe hierzu ausführlich Mircea Eliade, Die Geschichte der religiösen Ideen, Freiburg i.Br., 2002.) Daher ist der nächste Abschnitt unserer kleinen Einladung zur Faulenzerei der Phänomenologie oder der Sinnstruktur des Faulenzens gewidmet.
Im Liegen nach Lust und Laune. Faulenzen als wertrationales Tun
Den vorigen Argumentationsfaden wieder aufnehmend, wird hier die Sinnstruktur des Faulenzens handlungstheoretisch gefasst. Während Faulenzen bisher als Unterlassen von Zweckrationalität thematisch wurde, also quasi ex negativo, soll es im Weiteren positiv bestimmt werden. Negativ ist Faulenzen als Handlungstypus nicht als Nichts-Tun, sondern als aktives Nicht-Tun zu verstehen. Positiv ist Faulenzen demgegenüber ein Handeln, das radikal wertrational orientiert ist, soll heißen, wer faulenzt, tut etwas um seines »Eigen-wert(es)« (Weber, a.a.O., S.12) willen, und zwar »…unabhängig vom Erfolg.« (ebd.) Die Frage ist, was dieses eigenwertige Tun eigentlich ist und worin es sich äußert? Was ist es, das den Reiz des Faulenzens ausmacht und von denen gesucht wird, die Faulenzen um seiner selbst willen immer wieder zu tun wünschen? Antwort: Das Eigenwertige des Faulenzens, die spezifische Qualität seines Tuns ergibt sich aus seiner Eigensinnigkeit.
Ist das Unterlassen von Zweckrationalität gewissermaßen die notwendige Bedingung zum Faulenzen, so ist die Orientierung an Eigensinnigkeit die hinreichende, die ganz wesentlich für die faulenzische Anschlussuntauglichkeit konstitutiv ist.
Notwendige Bedingung des Faulenzens ist der Rückzug aus der Sozialität, aus Gesellschaft und Gemeinschaft und aus ihren Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungszumutungen. Indem wir uns aus der Sozialität zurückziehen, tun wir den letzten Schritt weg von den Anderen und den ersten hin zu uns selbst. Dieses gänzlich unmilitärische, also nicht überhastete Retirement umfasst nicht nur die besprochene Verwertungsverweigerung gegenüber dem okzidentalen Laborismus, sondern in einem ganz elementaren Sinne auch den Rückzug aus den Sinnzusammenhängen und Systemselektionen des sozialen Lebens und dessen Erwartungszumutungen, die uns seitens der Anderen, der Gruppen, der Organisationen, kurz: der Gesellschaft angesonnen werden.
Im berufsarbeitsgestressten Abendland faulenzt es sich am besten und schönsten alleine, indem wir uns jeglicher ›Um-zu-Motive‹ entledigen und anspruchsvoller Anerkennungserwartungen seitens anderer entpflichten. Erst so sind wir befreit genug, die Pforte zu unseren Launen, zur eigenen Kontingenz und damit zum eigentlichen ›Territorium des Selbst‹ (Erving Goffman) zu durchschreiten und ihnen um ihrer selbst willen voller Behagen bewusst zu obliegen, kurz: zum eigensinnigen Faulenzer zu werden.
Diese Eigensinnigkeit des Faulenzens besteht im Drang zum Eigner der eigenen Eigenheit zu werden und auf diese Weise den echten und rechten Eigensinn freizusetzen. Denn im sozialitätsentlasteten Rückzug wird der faulenzende Einzige zu seinem Eigentum, und es ist der launische Faulenzer, der Max Stirner vorgeschwebt haben muss, da nur faulenzische Menschen mit vollem Recht von sich behaupten können, dass sie ihre »Sach’ auf Nichts gestellt« (zitiert nach der Reclamausgabe, Stuttgart 1972, S.412) haben, mit anderen Worten, auf nichts als den eigenen und dadurch einzigen Sinn. So die ultrakurze Quintessenz des Buches von Max Stirner Der Einzige und sein Eigentum, die im Original lautet: »Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt«. Faulenzen ist eigentlich der Zustand, den Max Stirner im Sinn gehabt haben muss. Kein Wunder also, dass ihn die Progressiven wie die Konservativen angefeindet haben, bis heute.
Eigensinnig unterlassen Faulenzer alles Heteronome und tun alles Autonome, sie tun nur das, was ihnen aktuell in den Sinn kommt und genießen genau dieses um seines Sinnes willen, ohne sich um dessen Voraussetzungen und Folgen zu sorgen. So erweist sich der Eigensinn faulenzischen Tuns in der Hingabe an die Laune des Augenblicks, aus der das spezielle faulenzische Behagen, dieses köstliche Sich-Treibenlassen, dieses Einsteigen in und Aussteigen aus dem Bewusstseinsstrom, das Changieren zwischen Gedankenlosigkeit und Besinnlichkeit, zwischen Diffusion und Konzentration entspringen, begleitet von unangestrengter motorischer Minimalaktion, um die Glieder zu dehnen, die optimalste Lockerung zu erzielen und so das perfekte Lageoptimum einzunehmen.
Faulenzen ist somit wesentlich aktualistisch bestimmt, d.h. durch die Neigungsfreiheit, einem Tun und Lassen einzig aus aktueller Lust und Laune zu folgen. Tun und Lassen nach Lust und Laune heißt, so lange etwas tun, als die Aufmerksamkeit, das Quantum an lustvoller Energie, das es aufgeregt hat, sich verbraucht, also so lange auf dem Klavier klimpern, in der Garage herum werkeln, Musikhören, TV glotzen und es laufen lassen, bis uns etwas Anderes einfällt, das sich gut anfühlt und dem wir darum folgen wollen. Das läuft auf radikal subjektivierte, also positiv gewendete idiosynkratrische Kontingenz hinaus, auf die pure Lust an der eigenen Laune.
Im Reich des Faulenzens also kehren wir eigensinnig bei uns selber ein, beim entspannten, sich selbst überlassenen ›Ich‹ und seinem eigenen und einzigen Sinnbereich. Aus einem Untertan der ›Über-Ich-Instanzen‹ und aus einem Spielzeug des ›Es‹, das unter dem Druck des laboristischen Regimes verständlicherweise auf Widerspenstigkeit schaltet, machen wir faulenzend einen interesselosen, weil selbstinteressierten, einen selbstbestimmten, weil mit sich in Übereinstimmung gekommenen, einzigen Eigner der eigenen Eigenheit aus uns, wie sich das Max Stirner nicht schöner hätte wünschen können.
Aus der radikalen Orientierung am Eigensinn ergibt sich schließlich auch ein spezielles Verhältnis zu Zeit, die plötzlich wieder subjektiv wird, also ganz mir und nicht mehr den anderen und den Systemen gehört. Faulenzen eröffnet die Chance, auf das Erleben eines absoluten Hier und Jetzt, entlastet von Vergangenheit und Zukunft. Im Faulenzen gewinne ich mir die Gegenwart zurück, in der wir wie Kinder von einem zum nächsten Einfall stolpern, springen, taumeln, einer Laune nach der anderen nachgebend. So ermöglicht der aktive Rückzug auf uns selbst die Re-Subjektivierung der Zeit und eröffnet mir auch die Chance auf Haltungen und auf ein Tun, das sich ausschließlich an dem orientieren kann, was mir gerade einfällt.
Sind damit essentielle Züge des faulenzischen Geistes, der Faulenzer-Mentalität beschrieben, zeigt ein Blick in die Etymologie eine weitere wesentliche Eigentümlichkeit des faulenzischen Handelns, die für die von Faulenzern angewendete ›Körpertechnik‹ (Marcel Mauss) charakteristisch ist, und das ist die Modellierung der Körperhaltung nach der Idee der Horizontalität. Denn Faulenzer suchen doch am liebsten eine Lage auf, die mehr Bequemlichkeit bietet als Sitzen und Stehen, und die finden sie im Liegen.
Das zumindest bestätigt seine Etymologie. Im Faulenzen stecken das ›Faulen‹ und das ›Lenzen‹. Mit Lenzen ist die typische Raumlage des faulenzenden Körpers bezeichnet, der sich im ›hingestreckten Ruhen‹, in einer Körperhaltung der Komfortlagerung der tätigkeitsentlasteten Horizontalen befindet. (Vgl. Grimmsches Wörterbuch)
Der Rückzug aus der Sozialität ist somit auch ein Rückzug aus der Vertikalitätszumutung des aufrechten Ganges, ein Rückzug aus der von Peter Sloterdijk so genannten Vertikalspannung und ein Einzug in die faulheitsinduzierte Horizontalentspannung.
Ein schönes Beispiel für faulenzische Horizontalität gibt Gilbert Keith Chesterton in seinem Essay über das Im-Bett-Liegen-Bleiben. (in: derselbe, Ballspiel mit Ideen, kleine Prosa, Freiburg/Basel/Wien 1963, S.120-123) Dem optischen Sinn des interesselos in der Horizontale Gebetteten öffnen sich Dimensionen, die den Laufenden oder Sitzenden nicht ohne angestrengte Abstraktionen zugänglich sind. Liegend nehmen die Augen die Decke über dem Boden, den Himmel über der Erde, die gewölbte Weite über der planen Fläche wahr und überschreiten die visuelle Profanität des Geerdeten und Zuhandenen, das den Blick nicht erholt, sondern mit seinen realistischen Unregelmäßigkeiten beunruhigt und durch die Disharmonien der Formen belästigt. Horizontalität gewährt so eine optisch vermittelte Ahnung von Transzendenz. Mit anderen Worten: Im Bett ist alles wett, weil wir erst liegend ganz bei uns sind und so gleichzeitig ohne Anstrengung, ohne Ziel, in der Schau des unbegrenzten Raumes über uns uns überschreiten.
Zwar ist die Horizontalitätskomponente für reines Faulenzen essentiell, dennoch kann auch sitzend im Lehnstuhl, stehend am Fenster und mehr lustwandelnd als gehend im Garten gefaulenzt werden. Doch bergen diese aufrechten Haltungsarten das Risiko aller Vertikalität, leichter in den Geltungsbereich des Tätigwerdens oder gar des Arbeitens abzudriften oder gewaltsam hineingezogen zu werden. Denn, während das Faulenzen im Idealfall das aufrechte Umherwandern lässt und sich ganz dem launischen Liegenbleiben anheim gibt, erfordert schon der Müßiggang Bewegungen in der Vertikalität und verleitet unwillkürlich dazu, die horizontale Komfortlagerung des Faulenzens aufzugeben.
Vom faulenzischen Horizontalitätsstandpunkt aus gesehen ist der reine Müßiggang nur eine temporär befristete Option, ein entspanntes Sich-Aufrichten auf Zeit, die nicht mit Flanieren oder mit Promenieren zu verwechseln ist. Denn beide Vertikalformen gehen gerade nicht auf eigensinniges Faulenzen nach Lust und Laune, sondern auf die urbane Übung von Statusdemonstration aus, fremde Anerkennung heischend und nicht eigensinniges Aneignen der eigenen Einzigartigkeit pflegend.
Außerdem macht Vertikalität in jedweder Form exponierter als Horizontalität und setzt uns Adressierungen aller Anderen aus, die immer etwas von uns wollen, also letztlich uns von uns weg auf ihre Interessen, Zwecke, Ziele hin entfernen wollen. Dies alles sind geläufige Machtspielchen, in die verstrickt zu werden, die faulenzische Haltung keinen Wert legen kann.
Allerdings können sonst sehr arbeitsame Menschen, die bewusst faulenzen, im faulenzischen Zustand, beim müßigen Umherwandeln, Herumflätzen und Rumstehen mit mancher Überraschung rechnen. So sind sowohl die horizontale Komfortlagerung als auch das vertikale Umherwandeln und ihre Affinität zur Eigensinnigkeit und Laune sehr gute Stimuli für Geistesblitz und Einfall, die die Hirnmarter am Schreibtisch und beim regelrechten Arbeiten scheuen, sondern nur »kommen, wenn es ihnen, nicht, wenn es uns beliebt…bei einer Zigarre auf dem Kanapee…beim Spaziergang auf langsam steigender Straße, oder ähnlich, jedenfalls aber dann, wenn man sie nicht erwartet…«. (Max Weber, Wissenschaft als Beruf, S.590) Nicht als Folge methodischer Bemühung und schwerem Grübeln am Schreibtisch, sondern müßiggängerisch oder müßigliegend fällt überhaupt etwas ein. Einfälle lassen sich nicht befehlen, sondern geschehen von selbst, wo nichts Heteronomes sie erwartet, um sie an Zwecke binden und ihrer Auratizität berauben zu wollen. Genau dies aber verhütet die faulenzische Atmosphäre der Eigensinnigkeit und Launenhaftigkeit, wo alles, was kommt, um seiner selbst willen Wertschätzung und Anerkennung uneingeschränkt erfährt. Und nichts überzeugt notorische Arbeiter mehr vom Faulenzen als die nur noch auf seinem Boden erlebbare Erfahrung, dass nicht methodisches und kalkulatorisches, letzthin technisches Handeln die begehrte Innovation und das Neue bewusst hervorlockt, sondern gerade die Unterlassung seiner und das eigensinnig einzige Sich-Gehen-Lassen.
Prinzipiell lässt sich in der Horizontalen dagegen strukturell nicht viel Erwerbsmäßiges ausführen, allenfalls Gewerbsmäßiges wie das etwas zynisch als ›horizontal‹ bezeichnete Gewerbe, eine der demütigendsten und anstrengendsten Arbeitsweisen, oder aber Kunstgewerbsmäßiges wie das Deckenmalen, das wir von Michelangelo her kennen oder vom KFZ-Mechaniker, der auf dem Rollbrett unterm PKW liegt und ihn repariert – lauter extreme Zumutungen an Körper und Geist und Seele, in denen der Laborismus die Horizontale appropriiert und sich als das entlarvt, was er vertikal schon immer war und ist, obwohl nicht mehr als solches wahrgenommen, Mühsal, Erniedrigung, Tortur.
Nach all dem Positiven des Faulenzens regt sich die Frage: Wo bleibt das Negative? Auch hier hilft die Semantik weiter, die das ›Faulen‹ als zweites Bedeutungsstück mit dem ›Lenzen‹ verbindet und auf die eine Gefahr aufmerksam macht, die radikalen Faulenzern drohen kann, auf den Zerfall, die Zersetzung im Sinne von etwas Schlechtem, Falschem, Schlimmem, Üblem. Davon weiß auch Eichendorffs berühmter Taugenichts zu berichten, der nach tagelangem Nichts-Tun zu der Empfindung gelangt, ›…als würde ich vor Faulheit noch ganz auseinanderfallen.‹ Diese Pathologie der Selbstauflösung kommt in Gang, wenn faulenzisches Nicht-Tun mit pathologischem Nichts-Tun verwechselt wird, wenn Faulenzen also nicht auf angenehme, eigensinnige Zustände führt, sondern von ihnen ab, auf unangenehme Leere wie Langeweile, Melancholie oder schlimmer noch auf Depression.
Faulenzen, so zeigt sich hieran, ist nicht ohne Gefahr. Dies gilt besonders für die unter uns, welche zwar wie wir alle auch vom ›stählernen Gehäuse‹ (Max Weber) des okzidentalen Laborismus umschlossen sind, aber sich in einem Maße widerstandslos und affirmativ von ihm in Besitz nehmen lassen, dass sie als Workaholics und Maniker des Schuftens in den Tretmühlen und Laufrädern der Arbeit enden müssen. Sie müssen sich das Faulenzen verneinen, um durchzuhalten, und als Folge es nur mehr auf laboristische Weise aushalten, ihr Leben. Roland Barthes sieht und bedauert genau dies an sich selbst. In einer Art Selbstdiagnose bringt er das in wünschenswerter Klarheit auf den Punkt: »Ich wäre versucht zu sagen, daß ich der Faulheit in meinem Leben gar keinen Platz einräume, und darin liegt der Fehler. Ich empfinde das als Mangel, als ein Unrecht.« (Roland Barthes, Mut zur Faulheit, in: David Dilmaghani/Nassima Sahaoui, Kleine Philosophie der Faulheit, Frankfurt/M., S.159f.) Genau: Im Laborismus gibt es bloß schuldhaftes Faulenzen, das seelisch schmerzt und leiden macht. Im herrschenden Laborismus fehlen die Kraft und die Freiheit zum Faulenzen, die uns von der Krippe an und so über alle gesellschaftlichen Agenturen absozialisiert wird. »Wenn Sie wollen«, so Roland Barthes im nämlichen Interview, »bin ich unfähig, Müßiggang…in mein Leben einzubeziehen. Außer den Freunden lasse ich nur mürrische Faulheit hinein.« (ebd.)
So setzt das Faulenzen unter modernen Kulturbedingungen Selbstkenntnis und Selbstgespür voraus, also die Fähigkeit, Launen und Einfälle zu schmecken und zu beurteilen und ihnen Abhilfe zu schaffen, falls sie üble und schlechte Stimmungen machen, die letztlich der Arbeitsstress uns einbrockt, und uns wie böse Träume bis ins Innerste der faulenzischen Horizontalen nachhängen. Auf diesem Feld erweist sich Faulenzen als Freizeitschule der Selbsterkenntnis, indem es uns die Erfahrung des scheinbar grundlosen Leidens zeigt und uns zugleich eine Übung darin bietet, sie durch einen Wechsel in andere Zustände, schlimmstenfalls in vertikale Arbeitszustände zu überwinden. Denn nichts vertreibt schlechte Laune so gründlich wie schlechte Laune: Erst einmal ins Arbeiten gekommen, wächst das Bedürfnis ebenso rasch, wieder mit ihm aufzuhören. Denn wie gesagt: Erst vom faulenzischen Standpunkt aus macht Arbeiten wieder als Mittel, als Würze des Lebens Sinn, das dazu beiträgt, sich im Faulenzen umso angenehmer genießen zu können.
Warum hat Faulenzen einen so üblen Leumund?
Nach dem bisher Gezeigten ist klar, dass die moderne Arbeitswut- und Zeitverknappungsgesellschaft nicht nur mit Faulenzen im dargelegten Sinne nichts anfangen kann, sondern dass sie es von Grund auf ablehnen und verurteilen muss. Politiker, Ökonomen und Erzieher, Gesetzesmacher und Weltverschlechterer, Betriebs- und Volkswirtschaftler, Lehrer und Professoren müssen und wollen zum Arbeiten und zur Nützlichkeit, zur Effektivität und zur Effizienz, zur Geschwindigkeit und zur Beschleunigung motivieren, um ihre gut bezahlten Rollen zu erfüllen und die lineare Kultur des Westens voranzubringen.
Wie aus der Diskussion der faulenzischen Unterlassung von Zweckrationalität genügend klar geworden sein sollte, steht Faulenzen als Form der Verwertungsverweigerung grundsätzlich gegen kapitalistisches Wirtschaften und die durch sie geprägte laboristische Mentalität. Zudem zeigt die positive Bestimmung des Faulenzens als sozialitätsentlastete, eigensinnige und horizontale Selbstaneignung des Menschen im Zeichen von Lust und Laune ihre Anschlussuntauglichkeit an eine effizienzrationalistisch vereinseitigte Moderne aber in einem noch viel grundlegenderen als bloß dem ökonomischen Sinn.
Das Eigenschaftswort ›modern‹ kommt von lateinisch ›modernus‹, was so viel heißt wie ›vor kurzer Zeit entstanden‹. Die Semantik des ›Modernen‹ bestimmt sie in nuce über ein besonderes zeitliches Verhältnis, in dem die als ›modern‹ bezeichneten Menschen und Dinge zu Menschen und Dingen stehen. Etwas ist modern, weil es zeitlich erst vor ›kurzem entstanden‹ oder im zeitlichen Sinne ›neu‹ ist. Moderne Kultur ist verzeitlichte Kultur ist Innovationskultur.
Das lässt sich nicht nur am Degout gegenüber all dem ablesen, was als ›alt‹ oder ›veraltet‹ und synonym als ›unmodern‹ eine spontane Empfindung der Abwertung provoziert. Indem moderne Kultur das Neue bejaht und die Neuerung begünstigt, wendet sie sich nicht nur vom Vergangenen ab, sondern auch vom Gegenwärtigen, das noch nie zuvor so rapid als ›alt‹ empfunden und missbilligt wurde als heute. Das hat die oft bemerkte Konsequenz, dass sich das Verhältnis von Vergangenheit,Gegenwart und Zukunft ändert. Durch schnelleres Veralten und schnelleres Erneuern schrumpft und schwindet das Gegenwärtige schneller und das Vergangene nimmt in dem Maße zu, wie es sich entfernt und wie die Zukunft näher rückt. In der Innovationskultur ›sind‹ Menschen und Dinge immer kürzer ›neu‹ und immer länger ›alt‹, oder wie es der Filmtitel sagt: Wer früher stirbt, ist länger tot.
Vor dieser Folie lässt Faulenzen sich als Kompensationsform lesen, die unter den Bedingungen einer technologisch beschleunigten Welt, einer laboristisch entfremdeten Arbeit und eines modernen Zeitregimes einen Kontrapunkt setzen könnte. Interessant ist hier ein Vergleich mit der Kategorie ›Kompensation‹, wie Odo Marquard sie im Anschluss an Joachim Ritter entwickelt hat. Die Anschlussuntauglichkeit des Faulenzens gewährt Moratorien der Langsamkeit inmitten der orkanartigen Moderne, ermöglicht authentischen Selbstgenuss im Medium von Lust und Laune und gewinnt der subjektiven Kultur die Zeit zurück, die die objektive Kultur chronometrisch enteignete. So erweist sich faulenzische Anschlussuntauglichkeit als Oase des Selbst, in dem die Zeit da ist, damit sich bewähren kann, was ihm zur einzigen und eigensinnigen ›Währung‹ werden soll. Denn, wenn es einen Sinn der von Menschen geschaffenen Kultur gibt, dann doch den, dass sie zur Entwicklung, wenn nicht gar zur Vervollkommnung ihrer Menschlichkeit taugt und nicht umgekehrt.