Dass der Ökonomismus ein Segen und ein Übel sei, wäre ein Gemeinplatz, über den zu reden es sich kaum lohnte, stünden sich hier nicht unerbittlich zwei Fraktionen gegenüber, die, jede auf ihre Weise, ihre Hausaufgaben gemacht haben und im Kampf um die Deutungshoheit auf den von ihnen beanspruchten Feldern um kein Jota nachlassen können. Das beginnt bereits beim Wort: Es macht einen Unterschied, ob man unter Ökonomismus die Möglichkeit versteht, jeden Aspekt des menschlichen Daseins einer ökonomischen Betrachtungsweise zu unterziehen, oder ob man darunter die flächendeckende Gewalt der progressiven Vernutzung von Mensch und Umwelt versteht, der um der Erhaltung elementarer Lebensbedingungen Einhalt geboten werden muss. Andererseits wirkt der Unterschied fragil, um nicht zu sagen künstlich vor dem Hintergrund, dass beide Deutungen eine Geschichte besitzen, in der jeder Fortschritt der ökonomischen Betrachtungsweise unausweichlich seine praktische Anwendung im Gepäck hat. Nicht ohne Grund, denn darin liegt ja die Ratio der ökonomischen Weltsicht, frei nach dem Bibelwort: Macht euch die Erde untertan. Die Kritik am Ökonomismus kommt angesichts der progressiven Gewalt einer Theorie, deren unmittelbare Bestätigung in einer sich unaufhörlich wandelnden und verfeinernden Praxis liegt, immer zu spät und zu früh: zu spät, weil sie es stets mit einer etablierten Praxis zu tun hat, zu früh, weil die bahnbrechende Natur dieser Praxis selbst in ihren himmelschreienden Auswüchsen gegen sie zeugt.
Was daran misslich scheint, erweist sich sub specie der Theorieentwicklung als durchaus produktives Verhältnis. Da es ›den‹ Ökonomismus nur in Gestalt einander überbietender Modelle und stetig modernisierter theoretischer und praktischer Verfahrensweisen gibt, besteht eine nicht unwesentliche Funktion der Kritik an ihm darin, dass sie der Entwicklung einen Richtungssinn gibt. Das gilt kurioserweise selbst für die Auslöser der weiterschwelenden Krise des Finanzsystems: zwischen dem systemkritischen Vorwurf fehlenden bzw. unvollständigen Risiko-Managements und den hyperriskanten Hegungen existierender oder einzugehender Risiken durch bestimmte Finanzmarktprodukte besteht ein ironischer Zusammenhang, der schwer zu leugnen ist. In der Kritik liegt die Chance und gelegentlich erzeugt die Chance erst die Kritik. Auch der Klimaschutz, das bislang ehrgeizigste Projekt zur Konsolidierung eines ausgedehnten Teilbereichs des Ökosystems Erde vor dem Hintergrund ökonomisch induzierter Gefährdungen ist, wie jeder Zeitungsleser weiß oder ahnt, nicht frei von solchen Pointen. Was die Öffentlichkeit in diesem Fall irritiert, ist der Umstand, dass die ökonomischen (und weltpolitischen) Interessen sich als Spalter in den wissenschaftlichen Prozess eingegraben haben und nicht abzusehen ist, wie sie daraus entfernt werden könnten. Das besitzt, neben der üblichen Auftragsforschung, eine ganz spezielle Qualität und stellt die Glaubwürdigkeit einer ganzen Disziplin in bis dahin unbekannter Weise auf den Prüfstand.
Alles hat, wie der Volksmund sagt, seinen Preis. Das gilt, selbstredend, auch für den Ökonomismus, als dessen ungeschminkter Ausdruck der Eingangssatz durchgehen kann: also die konsequente Anwendung der Kosten-Nutzen-Analyse auf den Gesamtbestand dessen, was menschlichem Handeln zugänglich ist oder in überschaubarer Zukunft zugänglich sein wird. Die Ökologie, deren kämpferische Ahnen einst gegen die verheerenden Folgen dieser Denkweise zu Felde zogen und ein anderes Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu seiner Umwelt forderten, ist innerhalb dieses Systems bloß ein Datenlieferant unter anderen. Wie die Diskussion um Big Data zeigt, ist der umfassendste Lieferant von Daten der Mensch in seiner aktuell verkabelten und vernetzten Version. Diese Daten werden nicht innerhalb wissenschaftlicher Projekte erhoben, sondern sie entstehen im ökonomischen Feld und werden abgeschöpft, um unmittelbar ökonomischen Zwecken zugeführt zu werden. Die Sozialwissenschaften blicken begehrlich auf dieses riesige Areal erforschbarer Materialien, deren Auswertung nicht nur methodische Revolutionen verspricht. Die Wissensquelle, die sich darin auftut, wird nicht aus datenrechtlichen Bedenken verschlossen bleiben.
Natürlich ›entstehen‹ diese Daten nicht einfach. Auch sie werden erzeugt, auch ihnen gehen Forschungen und Projekte vor allem in den Schlüsseldisziplinen Informatik und Computertechnologie voran, auch in ihnen finden Modelle des Homo oeconomicus zur Anwendung, die sich nicht einfach dem Marktgeschehen verdanken. Vom digitalen Fingerabdruck bis zum digitalen Doppelgänger dominiert das Prinzip methodischer Abstraktion und Modellierung. Es erinnert ein wenig an die Angst von Kindern vor ihren selbstgebastelten Dämonenmasken, wenn rührige Öffentlichkeitsarbeiter das Zeitalter der Furcht vor den Monstern ausrufen, die eine unheilige Allianz aus Wissenschaft, Markt und geheimdienstlicher Manipulation aus ihren geheimnisumwitterten Labors in die Lebenswelt strömen lässt, um den Menschen selbst zu einem Monster umzuschaffen. Monströs ist das Missverhältnis zwischen Alltagswahrnehmung und -verarbeitung hochkomplexer technischer Systeme und ihren Grundlagen im Wissenssystem von Anfang an. Seit Frankensteins Tagen gehört die publizistische Enttarnung wissenschaftlicher Monster zu den Weisen, dieses Missverhältnis für schlichtere Gemüter alarmistisch aufzubereiten. Doch im Zeitalter des Kasino-Kapitalismus wissen viele, dass hier gleich neben dem Lächerlichen das Bedrohliche residiert. Die Psychologie der Anwender in Bereichen, in denen ein Subsystem sich das System des menschlichen Miteinander definitiv zu unterwerfen droht, ist zu Recht ein Gegenstand öffentlicher Erörterung – allerspätestens dann, wenn die Ergebnisse ihres Handelns gerichtsnotorisch geworden sind. Zweifellos ist der ›nackte‹ Ökonomismus auch ein Problem der menschlichen Psyche, dessen Streuungen im wirklichen Leben sich in objektiven Daten und Katastrophen niederschlagen.
Was hier Psyche genannt wird, repräsentiert, aus einem anderen Gesichtswinkel betrachtet, den Stand einer Kultur. Das hängt mit der mangelnden Greifbarkeit der menschlichen Psyche ebenso zusammen wie mit dem Umstand, dass die Handlungsvorgaben des Einzelnen nicht nur von den Bedienoptionen der Geräte, sondern auch und vor allem von den impliziten Wahrnehmungs- und Handlungsregeln abhängen, wie sie in den Makro- und Mikro-Gemeinschaften gelten, die sich um jede Technologie und jedes gesellschaftliche Dogma ranken. Gesellschaftskonstitutive Institutionen wie die Wissenschaft realisieren den Druck, der als Zwang zur Ökonomisierung ihrer Aktivitäten sub specie nicht des gemeinen Wohls, sondern der betriebswirtschaftlichen Effizienz auf ihnen lastet, unter anderem durch eine schleichende Selektion ihrer Mitarbeiter. Die alerten Drittmittel-Eintreiber und Wissensunternehmer einer auf den Erwartungsstand der Gesellschaft gebrachten Professorenschaft repräsentieren eine eigene Wissenschaftskultur und damit einen eigenen Wissenschaftstypus, der es wert ist, erforscht zu werden. In der Publizistik, seit jeher unter ungebremstem ökonomischem Erfolgsdruck stehend, klafft die Schere zwischen offiziellem Selbstbild und Konsumenten-Wahrnehmung besonders weit auseinander: was einst Karl Kraus durch geschliffene Satire sichtbar zu machen wusste, ist durch den technologisch induzierten Wandel des Mediums zum Ärgernis im Auge des Alltagspublikums geworden. Kultur ist zerstörbar – nicht per se und für alle Zeit, doch in dem Maße, dass mit ihrem Wandel die Grundlagen für Lebensformen schwinden, von denen niemand sich gern verabschiedet. Gusseisern – um einen Ausdruck aus der alten Technologiewelt aufzugreifen – ist der Homo oeconomicus nicht.
Mai 2014
Die Herausgeber