Zwischen ›Nothtod‹ und ›Freitod‹ (Christian Wagner)
Narrative selbst bestimmten Sterbens in deutschsprachigen Texten
des 20. und 21. Jahrhunderts

1. Einleitung

Am Morgen des 6. Januar 1909 erfährt der Warmbronner Dichter Christian Wagner (1835-1918) vom Suizid seines Schwiegersohns Heinrich Kühnle in Warmbronn. Dieser hatte sich in der Nacht erschossen, um einer Verurteilung wegen Mordes an einem Landjäger zu entgehen, der ihn wegen Wilderei verhaften wollte. Bei der Verhaftung hatte Kühnle mehrmals mit einer geschliffenen Eisenstange auf den Polizisten eingestochen, diesem allerdings – entgegen seiner Einschätzung – keine tödlichen Verletzungen beigebracht.

Weil Kühnle in der Dorfgesellschaft, in der Wilderei von zahlreichen Menschen praktiziert und von einer noch größeren Zahl toleriert wird, als Handwerker, Ehemann und Vater von fünf Kindern sozial völlig integriert und auch weder psychisch auffällig geworden noch zum ›Tatzeitpunkt‹ physisch erkrankt ist, erkennt Christian Wagner im Vollzug dieser offenbar unerwarteten Selbsttötung eine bloß situativ bedingte Kurzschluss- oder Spontanhandlung, der er gleichwohl als individueller Handlung die grundsätzliche Bedeutung eines exemplarischen sozialen Ereignisses unterlegt, dessen programmatische Dimension ihn – den Dichter –, die gesamte Familie des Suizidanten und die Dorfgesellschaft betrifft. Wagners Position erscheint modern und aufgeklärt angesichts der bis in die Gegenwart in der Forschung notwendigen Hinweise, dass Suizid kein Ausdruck psychischer Erkrankung ist (z.B. Hörmann 1964, 627f.; Baumann 2012, 633), wie es über Jahrhunderte angenommen wurde (Problem der Definition von Krankheit), um Suizidanten zu pathologisieren, ihre Familien sozial zu diskriminieren und den Suizid aus ordnungs- und wirtschaftspolitischen Gründen zu kriminalisieren (zu Geschichte und Aspekten des Suizids vgl. Baumann 2001, Bormuth 2008, Anderheiden/Eckart (Hg.) 2012). Als besonderer Ausweis der Modernität von Wagners Auffassung kann gelten, dass er seine Konzeption des Freitods im Rahmen einer Lebenstheorie von der »möglichsten Schonung alles Lebendigen« entwirft. Damit trägt er der ebenso einfachen wie uneinholbaren Einsicht Rechnung, dass über den Tod kein Wissen verfügbar sein kann, weil es sich dabei um ein subjektiv geschlossenes, scheinbar erfahrungsloses – zumindest nicht kommunizierbares –, sozial aber um so nachhaltiger wirksames Ereignis handelt.

Wenn für Wagner der Tod zum Leben gehört als dessen Abschluss oder Vollendung, dann mag dies an barocke Deutungen des Lebens als Vorbereitung auf den Tod (›memento mori‹, ›vanitas‹-Konzept) erinnern oder auf Martin Heideggers Formel vom Leben als »Vorlaufen zum Tode« (101963, 267 [11927]) vorausweisen. Zu unterscheiden sind in jedem Fall eine Vor- und eine Nachgeschichte des Todes: der Sterbeprozess als Erfahrungsphase des Moribunden bzw. des Suizidanten, deren Tod zum ›Tod des Anderen‹ (vgl. Heidegger 101963, 237, Ariès 112005, 519ff [11978]) als Erfahrungs- und Kommunikationsgegenstand der Nachwelt wird. So sind zahlreiche Einträge in Wolfgang Herrndorfs Tagebuch (2013) seiner unheilbaren Krebserkrankung bis zum Suizid Reflexionen auf den Satz: »Aber in jeder Minute beim Tod zu sein, generiert eine eigene Form von Erfahrungswissen« (17. 08. 2011, 227). Dazu gehört die »unbegreifliche Nichtigkeit menschlicher Existenz. Im einen Moment belebte Materie, im nächsten dasselbe, nur ohne Adjektiv« (05. 10. 2011, 255). Als Suizid gilt dessen punktuelle Ausführung, nicht aber langjähriger Alkohol- oder Drogenkonsum mit Todesfolge.

Unserer Meinung nach ist die richtige und einfache Definition des Selbstmords folgende: er ist der Akt, durch den ein menschliches Wesen freiwillig schafft, was es für eine wirkende und hinreichende Ursache seines eigenen Todes hält« (Landsberg 1973, 105). Ähnlich Emile Durkheim (1983, 27): »Wir sagen also endgültig: Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte [Hervorhebung i.O.].

Für die Kommunikation des Suizids nimmt Wagner eine gattungsspezifische Differenzierung vor, die an den Merkmalen nicht öffentlich / öffentlich orientiert ist. Vor allem in Briefen, aber auch in anderen autobiographischen Formen berichtet und kommentiert er den detaillierten Ablauf des Ereignisses mit seinem Schwiegersohn als Ausdruck einer aufgrund mehrerer Vorstrafen wegen Wilderei verletzten Persönlichkeit, in literarischen und essayistischen Texten veröffentlicht er Auslegungsangebote des Suizids als allgemeinem Handlungstyp, d.h. als Indikator sozialer Unordnung und zugleich als Faktor individueller Ordnungsherstellung. Demnach scheint dieser Handlungstyp durch eine programmatische Prägung gekennzeichnet zu sein: eine normkritische Fundierung und Intention einerseits und den Hinweis auf eine andere, aber nicht mögliche Lebensform andererseits. Wer sich selbst tötet, scheint damit glaubwürdig, letztlich aber immer unfreiwillig sichtbar zu machen, dass in der bestehenden sozialen Ordnung für ihn kein Platz war. Wenn ›leben‹ bedeutet, zwischen Möglichkeiten wählen und sich in seiner Lebenspraxis (Erfahrung, Wissen, Beziehungen usw.) ›ausdehnen‹ zu können, zumindest einen bestimmten Handlungsraum zu behaupten, dann scheint für den Suizidanten der umgekehrte Prozess zu gelten, der sukzessive Verlust an Möglichkeiten der Weltaneignung und die zunehmende Vereinzelung und Verengung des Lebensspektrums.

Daher gilt jeder Suizid auch als Mitteilung an die Nachwelt. Jean Améry hebt diesen Aspekt im Brief an Hans Paeschke vom 13. März 1976 hervor: »Ich habe sehr ausdrücklich von der Botschaft [Hervorhebung i.O.] an Welt und Gesellschaft gehandelt, die in jedem Freitod steckt«. In seinem Essay Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod (1976) versucht er, »die Botschaft des Suizidanten zu übersetzen in die alltägliche Sprache. Seine Handlung sagt: Du Anderer als Teil des sozialen Netzes hattest recht gegen mich, was immer du mir zufügtest; aber siehe: ich kann der Rechtsgültigkeit mich entziehen. Dies tue ich, ohne dir etwas anzutun« (Améry 71981, 124). Gleichwohl scheint der Suizid einen Dissens mit Kultur und Gesellschaft zu markieren, indem er das zeitlich unbestimmte ›natürliche Ende des Lebens‹ in den gesellschaftlich geformten und strukturierten Lebensalltag hineinholt. Weil der Suizidant das Werk der Natur antizipiert, richtet er sich nicht gegen diese, dagegen schließt er sich vom intentionalen Zugriff auf die Gestaltungspraxis des Sozialen aus. Eine andere Deutung gibt Wolfgang Herrndorf (2013, 131) der ›Botschaft‹ des Todes: »Der Tod ist schließlich nichts anderes als die Mitteilung des Universums an das Individuum, nicht geliebt zu werden, die Mitteilung, nicht gebraucht zu werden, dieser Welt egal zu sein.« In jedem Fall verändert der Suizidant bestehende Strukturen des Sozialen, indem er durch das Faktum, dass mit ihm keine gemeinsamen Handlungen mehr möglich sind, die Genese neuer und neu wirksamer Formen des Sozialen bedingt.

Sei es, dass der Suizidant selbst, zumeist in autobiographischen Formaten wie Brief (vgl. Dietze 21989, Grashoff 2004) und Tagebuch – wie die in diesem Beitrag exemplarisch behandelten Suizidanten Jochen Klepper, Jean Améry und Wolfgang Herrndorf – seinen Suizid als unvermeidlichen Abschluss seiner Lebensgeschichte in der Form einer narrativen Sinnkonstitution als Ordnungsherstellung markiert; ich bezeichne dies als präsuizidales Narrativ (zu Schriftstellersuiziden: Baumeister 2010, zu literarischen Suizidgestaltungen: Tebben 2012, zu entsprechenden Anthologien: Strohmeyer 1999, zu Tod im Gefängnis: Tag/Groß 2012). Améry markiert diese Perspektive im Vorwort seines Essays: »Ich habe versucht, den Freitod nicht von außen zu sehen, aus der Welt der Lebenden oder der Überlebenden, sondern aus dem Inneren derer, die ich die Suizidäre oder Suizidanten nenne« (Améry 71981, 9f.). Sei es, dass der – vollzogene – Suizid zum Gegenstand eines speziellen Auslegungsangebots durch eine andere Person im Status des Beobachters, Vertrauten oder (Zeit-) Zeugen – wie im Fall Kühnles durch Wagner – oder durch die normative Bewertung legitimierter Institutionen und Systeme – wie z.B. Kirche oder Staat – gemacht wird, die jeweils allgemeine Geltung beanspruchen. Diese Verlautbarungen bezeichne ich als postsuizidale Narrative.

Dabei bezieht sich die ereignis- und personerschließende Bedeutung beider Narrative auf Sterben und Tod als soziales Ereignis und ist für die Lebenden bestimmt, für deren Erinnerungsbild vom Suizidanten und Regelungen im Umgang mit Sterben, Tod und Begräbnis. Die Narrative heben die Erinnerung an die Suizidanten für die Ordnung der Lebenden auf, die jene gerade verlassen wollten.

2. Der Suizid Kühnles als postsuizidales Narrativ Christian Wagners

Im Brief an die Kinder- und Jugendbuchautorin Tony (Antonie) Schumacher (1848-1931; vgl. Pfäfflin 2015, Augustin 2006) vom 24. Januar 1909 berichtet Wagner zunächst den Ablauf des Ereignisses, um dann zu dessen Kommentierung und reflexiv-narrativer Einordnung in sozialgeschichtliche Zusammenhänge dörflicher Strukturen zu kommen.

Und es war, beim Licht betrachtet, das Ehrenhafteste, Anständigste, was er thun konnte: Nach diesem Geschehniß u. seinen mehrmaligen Vorstrafen wegen Wilderns, wäre er seiner Lebtage nimmer aus dem Gefängniß herausgekommen u. so: Lieber Tod als Schmach! Deß mag er sich bewußt gewesen sein, u. so war derselbe eine That der Verzweiflung, ein Nothtod, nicht ein Freitod. […] Zuallerletzt noch ist ihm trotz unserem Protest das ehrliche Begräbniß verweigert, u. er so zwischen Tag u. Nacht in die Anatomie in Tübingen abgeliefert worden. (Kurz-Dambacher 2015, 100f.)

Wagner deutet den Suizid Kühnles vor dem Hintergrund des gültigen Koordinatensystems gesellschaftlicher und kirchlicher Normen und Werte als soziales Ereignis, als bedingten ›Nothtod‹, dem daher die Funktion einer Protesthandlung gegen ›die Obrigkeit‹ als Botschaft zukomme. Weil das Vorgehen der lokalen ›Obrigkeit‹ für das Selbstkonzept Kühnles verantwortlich gewesen sei, sei der Suizid für die Erhaltung von dessen Selbstachtung unvermeidlich gewesen. Nur die Vor- und Nachgeschichte des Ereignisses erzählt Wagner, während die Deutungen Frei- oder Nothtod keine Argumentation über die Rechtmäßigkeit des Suizids erhalten, die für Wagner als elementares Menschenrecht außer Frage steht. Lediglich versucht er, nahe liegende Kritik an seiner eigenen Position abzuwehren, indem er seine Programmatik darstellt, um dann deren Gültigkeit – mit dem Hinweis auf die verwandtschaftliche Nähe und der impliziten Behauptung existentieller Nöte des Suizidanten als Ursache für dessen Spontanhandlung – für diesen Einzelfall zu suspendieren:

Wohl wahr ist es allerdings, dass es von einem, dem das Leben als heilig gilt, dem seine Äckerlein Freistätten sind, wo weder Gift, Schlinge noch Flinte hinkommt, und wo sämtliche Tiere das Gnadenbrot bekommen, als widersinnig erscheinen muss, sich für einen Wilderer ins Zeug zu legen. Aber er war eben der Gatte meiner Tochter und treubesorgter Vater ihrer Kinder. (Wagner 2014, 29)

Das soziale Ereignis Suizid umfasst die Dimensionen Handlung (Ausführung des Ereignisses) und Narrativ (dessen Auslegungsangebot) und generiert spezielle Formen des Sozialen. Diese zeigen sich am Beispiel Kühnles in einer interessenfundierten Fraktionsbildung innerhalb der dörflichen Gesellschaft: Mehrere Dorfbewohner wenden sich mit verbaler und körperlicher Gewalt gegen den verletzten Landjäger, gegen lokale und regionale Repräsentanten der ›Obrigkeit‹, wofür sie rechtmäßig verurteilt werden (vgl. Wagner 2014, 68f.). Nach dem Tod seines Schwiegersohns bekennt sich Wagner öffentlich, literarisch und essayistisch, zu diesem, d.h. er verschafft dessen ›Ereignis‹ Teilhabe am kulturellen Diskurs und der kulturellen Überlieferung. Die Institution Kirche lehnt die Deutung des Suizids als Freitod als unchristlich ab und macht daraus eine ›Affäre‹ Wagner. So ist als Kommentar des Dekans Groß zum Pfarrbericht für die Visitation der Kirchengemeinde Warmbronn (19. März und 25. April 1909) zu lesen:

Die Ursache für die »Wildereraffäre [sei] in der […] Gleichgültigkeit gegen das Religiöse zu suchen und diese [werde] durch das Verhalten des Pfarrers Dörr« unterstützt. Dessen »intime[r] Umgang mit dem Dichter Wagner, der allgemein als Atheist und der Kirche entfremdet gilt, stärkte in den religiös Gleichgültigen das Bewusstsein, dass die Religion nicht so wichtig sei, wenn der Pfarrer selbst so wenig ernst damit mache.« Der Vikar Elwert schreibt: »Der Dichter Christian Wagner, 74 Jahre alt, stellt sich zum Geistlichen nicht unfreundlich, ist aber der Kirche seit Jahrzehnten entfremdet. […] Auch macht er dem Christentum, bzw. der Bibel zum Vorwurf, es werde(n) von dieser Seite aus viel zu wenig die Tiere in Schutz genommen. […] Freilich stimmt [dazu] schlecht das Eintreten für seinen Schwiegersohn, den […] Wilderer Heinrich Kühnle, dessen Selbstmord er in einem Gedicht ›Freitod‹ verherrlichte. Dieses Gedicht hat […] dem sonst gutmütigen Mann die Sympathie vieler geraubt.« Dekan Groß: »Dass er [Wagner] seinem Schwiegersohn, dem Wilderer, ein unwürdiges Gedicht im hiesigen Amtsblatt gewidmet hat, wird man ihm persönlich zu gut halten müssen. […] Es stellte, wenn auch verdeckt, den Tod des Selbstmörders in Parallele mit dem Tod Christi!! [Wagners Einfluss sei gering], da man ihn für einen Sonderling hält und er auch im allgemeinen sich nicht viel mit seinen Mitbürgern einlässt. Höchstens ist er Gegenstand des Neides, wenn ihm von Zeit zu Zeit namhafte Unterstützungen von auswärts zuteil werden«. (Pfarrbericht 1909, zit z.T. in Wagner 2014, 69; ich danke Harald Hepfer für die Überlassung seines Transkripts.)

Festgestellt wird, was Wagner erwartet hat, dass sein Leitsatz von der »Schonung alles Lebendigen« nicht zur Unterstützung eines Wilderers passe. Konsequent wird die Deutungskonkurrenz zwischen Freitod und Selbstmord ignoriert, wobei übersehen wird, dass das Gedicht schon 1897 unabhängig vom aktuellen Ereignis veröffentlicht worden ist und 1909 von Wagner zur Unterstützung seines Schwiegersohns wieder veröffentlicht wird (s. u. Kap. 3).

Ähnlich sieht sich Thomas Mann nach dem Suizid seines Sohnes Klaus (1949) aufgrund zahlreicher Kondolenzen in seinen Antworten zu Beurteilungen des ›Ereignisses‹, der Persönlichkeit seines Sohnes und seiner eigenen Rolle veranlasst, die er ohne diesen Anlass nicht vorgelegt hätte. So öffnet er seinem Sohn die Teilhabe an einem speziellen Segment des sozialgeschichtlichen Diskurses. Während für Wagner Aspekte wie die mögliche Verpflichtung des Suizidanten gegenüber Familie oder Gesellschaft keine prioritäre Bedeutung erhalten, hebt Thomas Mann gerade diese Aspekte hervor:

Stockholm, den 22. V. 49 Bei Ankunft im Hotel schwerster Chock. Telegramm, dass Klaus in der Klinik von Cannes in verzweifeltem Zustand liege. Bald darauf Telephonat von seiner u. Erikas Freundin dort: Mitteilung seines Todes. Langes Beisammensein in bitterem Leid. Mein Mitleid innerlich mit dem Mutterherzen und mit E.. Er hätte es ihnen nicht antun dürfen. […] Das Kränkende, Unschöne, Grausame, Rücksichts- und Verantwortungslose. (Tagebücher 1949-1950, 57)
Zürich, den 2. Juni 1949. Baur au lac. Klaus' Koffer, Schreibmaschine, Mäntel trafen ein, was Erika aufs neue zusetzte. Viel mit ihr über Klaus' Zustand und seine Tat, seine widerspruchsvolle seelische Verfassung, das Sich-Durchsetzen seines Todesverlangens gegen alles andere. – – (Tagebücher, 63) . . . namentlich Erika, die den Weggenossen verloren hat, um dessen Bleiben an ihrer Seite sie immer rang, tut mir unendlich leid. Er hätte es ihr nicht antun dürfen. Aber wer will rechten. […] Wir wollten erst alles hinwerfen und nach Hause fahren, fanden es dann aber, im Einverständnis mit Erika, besser, aktiv zu bleiben und dem Leben das Seine zu geben. (an Alfred Neumann Zürich 2. Juni 1949, Briefe 1948-1955, 89)
Dies abgekürzte Leben beschäftigt mich viel und gramvoll. Mein Verhältnis zu ihm war schwierig und nicht frei von Schuldgefühl, da ja meine Existenz von vorn herein einen Schatten auf die seine warf. […] Unaufhaltsam, trotz aller Stütze und Liebe hat er sich selbst zerstört und sich zuletzt jedes Gedankens an Treue, Rücksicht, Dankbarkeit unfähig gemacht. […] Ihm ist viel Unrecht geschehen, noch im Tode. Ich darf mir sagen, dass ich ihn immer gelobt und ermutigt habe. (an Hermann Hesse Vulpera 6. Juli 49, Briefe 1948-1955, 91f.)

Während Thomas Mann im postsuizidalen Narrativ den Suizid seines Sohnes nicht nur als dessen Versagen und Schuld, sondern auch als ›Rücksichtslosigkeit‹ gegenüber seiner Familie deutet und – offenbar die Unangemessenheit dieses Auslegungsangebots erkennend – gleichsam eine persönliche Unschuldserklärung abgibt, nimmt Wagner das soziale Ereignis Suizid zum Anlass, seine seit langem entwickelte Programmatik des Freitods als konstitutiven Bestandteil seiner Kultur- und Lebenstheorie, seiner literarischen Anthropologie, mit der Polarität von ›Nothtod‹ und ›Freitod‹ zu aktualisieren. Durch diese dichotomen Neologismen gewinnt er das Konzept einer Theorie des selbst bestimmten Sterbens, die auf den historisch belasteten Begriff ›Selbstmord‹ als Konnotationsgenerator traditioneller gesellschaftlicher, moralischer, strafrechtlicher und kirchlich-religiöser Stereotype, vorurteilsfundierter Verurteilungen und Verwerfungen sowie zugehöriger Konfliktkonstellationen zwar verzichten kann, aber den Freitod auf die Bedeutung einer bloß argumentativ funktionalen Deutungsfolie reduzieren muss. Suizid kann niemals Freitod, immer nur Nothtod sein, bedingt durch empirisch nachweisbare ›Nöte‹ des Lebens. Der Philosoph Paul Ludwig Landsberg (1901-1944), der selbst schließlich vom Suizid absieht und das ›Leid‹ bis zu seiner Ermordung im Konzentrationslager erträgt, schreibt: »Wenn der Mensch sich tötet, so fast immer, um dem Schmerz dieses Lebens im Hinblick auf ein unbekanntes Glück und eine unbekannte Ruhe zu entrinnen. Auf jeden Fall möchte ich anderswo hingehen... Ich will dieses Leid nicht ertragen, das meine Kräfte übersteigt und sinnlos ist« (Landsberg 1973, 119). Eine ähnliche Begründungsformel für den Suizid bietet Schopenhauer (1788-1860), wenn er 1851 schreibt, »dass die Schrecknisse des Lebens die Schrecknisse des Todes überwiegen« (Schopenhauer 2006, 276).

3. ›Freitod‹ – eine Begriffsprägung der Moderne von Christian Wagner

Nach den bisher bekannten Belegen hat Christian Wagner den Begriff ›Freitod‹ geprägt. Der Erstbeleg findet sich in seinem Werk Märchenerzähler, Bramine und Seher (1885; 1887 umbenannt in Sonntagsgänge I als erster Teil der Trilogie Sonntagsgänge, vgl. Dücker 2004); danach verwendet er den Begriff wieder in seinem programmatisch-systematischen Text Neuer Glaube (1894) an zentraler Stelle und gestaltet schließlich sein Konzept Freitod erneut im Gedicht ›Freitod‹ des Zyklus ›Aus dem Tagebuch eines Lebensmüden‹ im Gedichtband Neue Dichtungen (1897). Anlässlich des Suizids Kühnles 1909 veröffentlicht Wagner das Gedicht leicht verändert erneut, versehen mit einem situationsbezogenen Kommentar in mehreren regionalen Zeitungen. Mit dem Begriff Freitod reagiert er auf aktuelle Tendenzen des intellektuellen Diskurses, wie sie sich in den zahlreichen, auf allgemeine Akzeptanz angelegten Weltauslegungsangeboten verschiedener Gruppen der Moderne auch unter dem Dach der Lebensreformbewegung ausprägen. Wagner verdichtet das Theorem des selbst bestimmten und vollzogenen Todes im Begriff Freitod zur Möglichkeit eines programmatischen Lebensabschlusses, d.h. Kühnle erhält durch Wagners postsuizidales Narrativ Teilhabe an der Erinnerungskultur der Gegenwart. Zugleich bekräftigt Wagner seinen Anspruch, als Dichter der Moderne zu gelten.

3.1 Etymologie und Begriffsgeschichte

Während das Fremdwort Suizid und seine deutsche Lehnübersetzung ›Selbstmord‹ etymologisch auf lat. ›sui caedere‹, sich töten, zurückgehen und Suizid in mehrere europäische Sprachen (frz. le suicide, engl. the suicide, ital. il suicido, span. el suicidio) integriert ist, handelt es sich beim Begriff Freitod um ein eigensprachliches Kompositum (Kompositionsbildung), das im Zusammenhang intellektueller Tendenzen der Moderne 1885 von Christian Wagner erstmals öffentlich gebraucht worden ist. Geprägt hat Wagner den Begriff womöglich schon früher. Ein nicht systematischer Blick auf Wörterbücher ergibt folgende Bilanz:

Krug unterscheidet zwischen »Selbtödtung« (zufällig) und »Selbmord« (vorsätzlich), letzterer belege einen »Vorzug des Menschen vor dem Thiere, […] weil es ein Beweis seiner Kraft ist, sich auch über den stärksten Naturtrieb zu erheben« (Krug 1832-1838, 710-712). Obwohl es nicht angehe, den »Selbmörder als einen groben Verbrecher zu verdammen«, sei er »ganz im Stillen beizusetzen, um allen Anstoß zu entfernen«. Man dürfe den »Selbmord auch nicht mit dem freiwilligen Tode verwechseln«, der den Opfer- oder Märtyrertod »für höhere Zwecke« – Krug nennt Sokrates, Jesus und seine Jünger – bezeichne (Krug 714). »Freitod, 1906 von F Mauthner statt Selbstmord geprägt« (Paul 1960, 202). »Selbstmord. Der S., die freiwillige und überlegte gewaltsame Vernichtung des eigenen Lebens, ist in der Religionsgeschichte sehr verschieden bewertet worden. Die meisten theistischen Religionen verurteilen ihn« (von Glasenapp 1961, 1675). »Selbstmord. Als S. […] bezeichnet man die eigenmächtige Setzung einer Handlung in der Absicht, sich durch sie zu töten. […] Die eigentlichen Geisteskranken machen unter den Selbstmördern 10-20% aus« (Hörmann 1964, 627f.). »Freitod, der [nach Nietzsches ›Vom freien Tode‹ 1906 gepr. von Fritz Mauthner] (verhüll.): Selbstmord: den F. suchen, wählen« (Duden Universalwörterbuch 62007, 610; ebenso in: Duden. Großes Wörterbuch 21993, 1158). »Freitod m. euphemistisch für ›Selbstmord‹ (Ende 19. Jh.)« (Etymol. Wörterbuch 21993, 372).
»Selbstmord. Der Begriff ›S.‹ ist eine Neubildung des 17. Jh. in Anlehnung an nlat. ›suicidium‹ (Selbsttötung) mit implizitem Rückgang auf das lat. ›homicidium‹ (in der Bedeutung von ›Mord‹), die sich unter dem Einfluss der christlichen Theologie in der neuzeitlichen Metaphysik der Sitten vorzüglich seit I. Kant durchsetzt. Im Gegenzug zu dieser Tradition wird zu Beginn des 20. Jh. ›Freitod‹ geprägt im Anhalt an lat. ›mors voluntaria‹ (der freiwillige Tod). Von den kontroversen Deutungen des Phänomens, die sich in der weitverzweigten Nomenklatur auf eindringliche Weise spiegeln, sind noch am wenigsten betroffen ›Suizid‹, ›Selbsttötung‹ als die dem Wort nächste Übersetzung sowie ›Selbstvernichtung‹« (Ebeling 1995, 493). »Suizid II. Theologisch. Der Begriff Freitod ist so etwas wie ein Gegenbegriff zu Selbstmord: Er läßt sich bei den Philosophen A. Schopenhauer und F. Nietzsche finden, speziell in der Rede ›Vom freien Tode‹ [eben nicht Freitod] aus Nietzsches Also sprach Zarathustra« (Christ-Friedrich 2001, 445).

Ausführlich geht Baumann (1934) in seiner Dissertation zur Wortgeschichte von ›Selbstmord‹ und ›Freitod‹ hinsichtlich der Bildung des Begriffs Freitod auf Fritz Mauthner (1849-1923) und dessen Vorwort (1906) zu Walter Calés (1881-1904) Nachgelassene Schriften ein, in dem Mauthner beide Begriffe als Synonyme zu benutzen scheint. So heißt es in einem einzigen Satz, er [Mauthner] habe viele ihm nahe stehende Menschen »durch Freitod verloren« und sich »eingehend mit der Statistik der Selbstmörder beschäftigt«. Ein weiteres Beispiel: Es sei »infam, die Selbstmörder vom Gottesacker auszuschließen, […] aber ein Beweis von Genialität ist der Freitod« (Mauthner 1910, IX) auch nicht. In seinem Wörterbuch der Philosophie bekräftigt Mauthner, dass er »den neuen, nicht ganz einwandfrei gebildeten Ausdruck Freitod – im D[eutschen]. W[örterbuch]. noch nicht gebracht – dem ältern und an die Sprache des Strafrechts erinnernden Worte Selbstmord [vorziehe]. […] Freitod erinnert mich, wie Freitreppe, Freistatt, an etwas, das ins Freie führt, das Freiheit gewährt« (Mauthner 21924, 181f.). Obwohl Baumann durch zahlreiche Zeitzeugen bestätigt wird, dass Mauthner den Begriff nicht geprägt, sondern vorgefunden habe, bilanziert er, dass der »Urheber des Wortes Freitod – […] nach meinem Gefühl Fritz Mauthner heißt« (Baumann 1934, 21). Es erscheint aber unwahrscheinlich, dass Mauthner beide Begriffe unproblematisch synonym verwendet hätte, wenn er den jüngeren Begriff wegen dessen programmatischen Anspruchs selbst geprägt hätte.

Zwar erwähnt Baumann – so weit ich sehe – als einziger Wagners Gedicht ›Freitod‹ im Zusammenhang des Suizid-Diskurses zu Anfang des 20. Jahrhunderts, allerdings als »noch nicht datiert« (Baumann 1934, 43f., FN 1) und ohne weitere Kommentierung. Da er sich offenbar auf einen Wiederabdruck des Gedichts anlässlich des Suizids Kühnles bezieht, sich aber um keine weitere Kenntnis von Wagners Werken und Programmatik bemüht, bleibt ihm wie späteren Forschern verschlossen, dass Wagner seine Freitod-Konzeption als integralen Bestandteil seiner literarisch-kulturellen Anthropologie im Rahmen der »möglichsten Schonung alles Lebendigen« anlegt, wozu auch der zentrale Satz gehört: »Jedes Wesen ist vor allem nur da um sich seines Lebens zu freuen.« Getragen von einem emphatischen Freiheitsbegriff wird nicht nur die Wertschätzung alles Lebendigen, sondern auch die Ausrichtung aller sozialen Abläufe, Wahrnehmungen und Produktionen auf die möglichste Erhaltung des Lebendigen orientiert. Auch der Tod gehört unter dem Aspekt literarischer Anthropologie zum Leben. »Nicht unsere Kultur, welche meist nur ein glänzender Lack über die innere Rohheit der Seele ist, kann den Aberglauben, d.h. die Dämonenfurcht beseitigen, sondern allein die Kultur, die in dem Grundsatze gipfelt, nie und nirgends Qual zu schaffen; denn ohne Qual giebt es keinen Unhold« (Wagner 62002, 121).

Demnach ist der Eingriff in fremdes Leben, seien es Tiere zur Nahrungsproduktion, seien es Wälder zur Holzgewinnung, nur als letzte Möglichkeit zur Erhaltung menschlichen Lebens vorgesehen, während die freie Entscheidung zum eigenen Tod, die nur dem Menschen möglich ist, ihn aber auch vor allem anderen Lebendigen verantwortungs- und wertethisch auszeichnet, als Teil der Daseinsfreude und eines gelingenden Lebens gilt. Damit steht diese Position nur scheinbar der allgemeinen Tendenz der Moderne entgegen, die Bedeutung natürlicher Prozesse für Identitätsbildung und Gestaltung des Sozialen zugunsten kultureller Programmatik und interessenabhängiger Fragmentierung des Sozialen immer mehr zurückzudrängen. Ausgehend von Wagners Deutung wird ›Freitod‹ zur Legitimationsinstanz für Identitätsbildung vom Ende her, d.h. nicht mehr Herkunft, Abstammung und Vererbung dominieren die Identitätsbildung, sondern die selbst bestimmte Todesart ›mache‹ die Identität, weil sie den Platz des Suizidanten im Leben definiere. Eine Korrektur der ›Freitod‹- bzw. ›Selbstmord‹-Lemmata in Wörterbüchern und Enzyklopädien mit Hinweis auf Wagner scheint dringend geboten zu sein.

Obwohl Wagners neuer Begriff kein neues Phänomen schafft – der selbst bestimmte Tod hat eine reiche kulturgeschichtliche Tradition, so entzieht sich der republikanische Cato durch Suizid der Unterwerfung unter Caesar – scheint es doch erst der Neologismus Freitod zu sein, der formal (Kompositionsbildung), funktional (Nomen als Programmbegriff) und verwendungspraktisch (Referenz vollzogener Suizid, nicht ›bloß‹ lyrisches Weltauslegungsangebot) gleichberechtigt mit Selbstmord den »semantischen Kampf« in der speziellen Form der »Bezeichnungskonkurrenz« als »Streit um den adäquaten Ausdruck« (Felder 2010, 42, vgl. Felder 2012) ermöglicht. Unstrittig für beide Begriffe ist die außersprachliche, lebenspraktische Referenz auf die empirisch wahrnehmbare Selbsttötung eines Menschen. Der Konflikt ergibt sich aus den einander ausschließenden Perspektiven, Interessen und Werthaltungen, die beiden Begriffen üblichweise zugeschrieben werden: Während Freitod im Sinne von selbst bestimmt, ohne direkte Einwirkung einer anderen Person die Innenperspektive des Betroffenen (präsuizidal) bzw. die Außenperspektive des Zeugen (postsuizidal) markiert, gibt Selbstmord die normative Perspektive von Institutionen wieder, die die Tat als unrechtmäßige Flucht aus verbindlichen sozialen Bindungen verurteilen. Als Identifikationsbegriff bezeichnet Freitod den Lebensabschluss als Komplement zum Menschenrecht auf Unverletzlichkeit der Person, der Begriff Selbstmord stellt in traditioneller Deutung tendenziell die Menschenwürde in Frage, indem er Verantwortungslosigkeit und Egoismus des Suizidanten hervorhebt. Für Wagner inhäriert dem Deutungsbegriff Freitod die Dimension des Vorbildhaften, weil er die Glaubwürdigkeit des Lebens als programmatisch ausgerichtete Einheit sichtbar mache. Dagegen impliziere Selbstmord – zumindest unterschwellig – die Dimension von ›Tat‹ und ›Täter‹, von Verbrechen und Verurteilung (zu Freitod vs. Selbstmord vgl. Baumann 1934, 36-47). Wagner legt mit der Neuprägung ›Nothtod‹ das Fundament für einen segmentalen Ausgleich zwischen Freitod und Selbstmord, indem er beide Deutungsbegriffe auf Lebensprobleme bezieht, die nur durch Suizid lösbar scheinen. Wer einen der Begriffe verwendet, verortet sich in einer politischen usw. Tradition. Das führt zur Frage nach dem Handlungs- und Deutungsspektrum beider Begriffe; in welchen Kontexten begegnen sie, welche weiteren Wertentscheidungen sind jeweils zu erwarten?

3.2 Wagners ›Freitod‹-Konzept im intellektuellen Kontext der Jahrhundertwende

Damit geht es um soziale und kulturelle Phänomene der Jahrhundertwende, die nicht nur eine Kontrastkonzeption, sondern geradezu eine Alternative zur jahrhundertelang verwendeten Deutungsfolie Selbstmord erfordern, auf die die Polarität von institutioneller Verwerfung der Selbsttötung und deren philosophischer Rechtfertigung fundiert war. Welche programmatischen Voraussetzungen und Rahmungen sind für Wagners Neuprägung als Kern seines Konzepts Freitod als prä- oder postsuizidales Narrativ zu benennen? Hier ist zunächst eine Passage aus Friedrich Nietzsches (1844-1900) Also sprach Zarathustra (1883-1885, 21. Rede Zarathustras) anzuführen:

Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: ›stirb zur rechten Zeit!‹ Stirb zur rechten Zeit; also lehrt es Zarathustra. Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein! – Also rate ich den Überflüssigen. Aber auch die Überflüssigen tun noch wichtig mit ihrem Sterben, und auch die hohlste Nuß will noch geknackt sein. Wichtig nehmen alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht. Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbnis wird. Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden. […] Also zu sterben ist das Beste; das zweite aber ist: im Kampfe zu sterben und eine große Seele zu verschwenden. Aber dem Kämpfenden gleich verhaßt wie dem Sieger ist euer grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb – und doch als Herr kommt. Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will. Und wann werde ich wollen? – Wer ein Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben. […] Und jeder, der Ruhm haben will, muß sich beizeiten von der Ehre verabschieden und die schwere Kunst üben, zur rechten Zeit zu – gehn. (Nietzsche 1972, 333f.)

Nietzsche konstituiert den ›freien Tod‹ aus drei Komponenten: Erstens ist er als Todesart vom Ich als Subjekt bestimmt, zweitens ist sein Zeitpunkt variabel, drittens – als Folge aus den beiden ersten Komponenten – ist er als Mittel für ein wie auch immer definiertes Ziel einsetzbar. Unterfüttert ist diese Argumentation von der fundamentalen Opposition aktiv vs. passiv mit allen ihren politischen, philosophischen, religiösen, kulturellen usw. Konnotationen, die das selbst bestimmt handelnde Ich gegenüber einer passiven ›Masse‹ privilegieren. Indem der ›freie Tod‹ vollzogen wird, markiert er das Bekenntnis zu einer Programmatik und deren Kontinuität, d.h. er soll als Signum einer als sozial und geschichtsbildend inszenierten Tradition immer auch Mittel zu deren Erhaltung sein. Nietzsche definiert ihn als gleichsam unüberschreitbares Distinktionsmerkmal zwischen Elite bzw. Kämpfern und Masse. So werden im ›freien Tod‹ Höhe- und Endpunkt einer Lebensgeschichte identisch, im ›freien Tod‹ erfüllt sich der Sinn eines Lebens. Demnach generiert dieser faktische Tod das symbolische Überleben in der kollektiven Erinnerung der Bezugsformation.

Auch Gustav Landauers (1870-1919) Roman Der Todesprediger (1893) kann als Beleg dafür gelten, dass Wagners Neologismus vom intellektuellen Diskurs der Jahrhundertwende geradezu erwartet wurde. Für den menschlich und sozial isolierten Juristen Karl Starkblom, Protagonist in Landauers Roman, gibt es nur noch »den Tod« als »Lebenszweck« (Landauer 31923, 17), nachdem er die Erfahrung gemacht hat, dass das »Menschengeschlechte […] nicht weiß, wofür es lebt und – noch schlimmer – es gar nicht wissen will«. Für Angehörige seines »Gesellschaftskreise[s]« (Landauer 31923, 46) könne es daher nur den Selbstmord geben. Starkblom, der schließlich sozialistischer Parteiredner wird, behauptet, dass Menschen sich von Tieren nur dadurch unterscheiden, dass »wir […] sterben können, wann wir wollen. […] Der Selbsttod […], der freie Tod, der ist eigentlich, was uns wesentlich trennt, von allen anderen Tieren« (Landauer 31923, 66). Es gehe um »den freiwilligen Tod«, denn wenn der Mensch »sich einmal tötet, nicht aus Philosophie oder Langeweile, was dasselbe besagt, sondern aus Notdurft, aus gemeiner Verzweiflung, ist das nicht ein niederträchtiger, unwürdiger Tod?«. Und wenn der Sozialismus angesichts der unendlichen Wiederholung der immer gleichen Lebensabläufe nur »zum philosophischen Massentod der Menschheit« (Landauer 31923, 67) führen könne, müsste der Tod eben schon jetzt gepredigt werden. »Ich liebe den Tod und darum lebe ich. Ich werde sterben, das heißt, ich will sterben, und nicht mehr: ich soll sterben« (Landauer 31923, 68). Schließlich gibt Starkblom die unproblematische Akzeptanz des Todes zugunsten der Akzeptanz unvorhersehbarer Lebensprobleme auf, seine sehr natürlicher Begründung: Er verliebt sich und wird Vater.

Die von Landauer angeführten Komponenten des Selbsttodes wie Selbstbestimmung (Aktivität, Unterscheidung von Tieren) und Entscheidung über den Zeitpunkt finden sich in modifizierter Form auch in Ernst Haeckels (1834-1919) Abhandlung Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie (1904). Für ihn hat jeder Mensch »unzweifelhaft das Recht, seinen Qualen durch freiwilligen Tod ein Ende zu machen« (Haeckel 1904, 92).

Der freiwillige Tod, durch den der Mensch seinen unerträglichen Leiden ein Ende macht, ist tatsächlich ein Akt der Erlösung. Man sollte daher denselben vernünftigerweise als Selbsterlösung bezeichnen und mit aufrichtiger Teilnahme der christlichen Nächstenliebe betrachten; nicht aber […] als ›Selbstmord‹ brandmarken. […] Der ›Selbstmörder‹ – richtiger ›Selbsterlöser‹ –, ist […] in den meisten Fällen bemitleidenswert, aber nicht verächtlich oder gar ›sündhaft‹ und strafwürdig. (Haeckel 1904, 93)

Haeckel benennt nur die eine Seite der Selbsterlösung, nämlich die Befreiung ›von‹ den Leiden des Lebens, ob dies zugleich eine neue Bindungsperspektive – Erlösung oder Freiheit ›zu‹ – im Sinne der Erlösung als christlicher Perspektive eines Lebens nach dem Tod einschließt, bleibt offen. Folgerichtig kommt Haeckel vom Konzept der ›Selbsterlösung‹ zur Frage der Sterbehilfe für andere leidende Menschen, »wenn schwere Krankheit ohne Hoffnung auf Besserung ihnen die Existenz unerträglich macht und wenn sie selbst uns um ›Erlösung vom Übel‹ bitten« (Haeckel 1904, 96). Haeckel bejaht Sterbehilfe »auf Beschluss einer Kommission von zuverlässigen und gewissenhaften Ärzten, […] durch eine beeidete Kommission« (Haeckel 1904, 100, vgl. Eckart 2012). Dem steht die Behauptung entgegen, dass »die Freiverantwortlichkeit des Suizids […] empirisch nicht zu beweisen« (Pohlmeier 1996, 47) ist.

Landauer deutet den freien Tod als kulturkonstitutive Differenzmarkierung zwischen Mensch und Tier, Haeckel überhöht ihn – Nietzsche vergleichbar – zum Akt der ›Selbsterlösung‹. Damit hat der freie Tod in allen drei Konzepten die Funktion der ›Selbstmachung‹ (Aktivität und Deutung) und wird Teil eines modalen Handlungsgestus': Indem sich jemand für seinen Suizid auf den freien Tod beruft, schreibt er sich in eine Tradition ein und beansprucht die damit verbundene soziale Anerkennung. Auch Améry berücksichtigt diesen Aspekt: »Der den sie [die Wissenschaftler] den potentiellen ›Selbstmörder‹ nennen, muss gehindert werden, sich im Freitod zu konstituieren« (Améry 71981, 103). Landauer und Haeckel formulieren das Recht auf den nicht sanktionierten Vollzug des »Selbsttods« (Landauer) bzw. der »Selbsterlösung« (Haeckel), wobei nicht explizit wird, dass es sich dabei nicht um Akte der Freiheit, sondern um lebensbedingte ›Nothtode‹ handelt. Übereinstimmend zeigen ihre Konzepte, dass die Thematisierung des Suizids stets einen programmatisch aufgeladenen Argumentationszusammenhang erschließt, der durch je historisch gerahmte kulturelle, politische, religiöse usw. Einstellungen und institutionell legitimierte Begrifflichlichkeiten als Referenzphänomene bedingt ist.

Interessanterweise formuliert Haeckel im Zusammenhang von ›Selbsterlösung‹ und ›Sterbehilfe‹ auch den Tierschutzgedanken, um »namentlich bei den Haustieren […] ihre bescheidenen Lebensfreuden zu vermehren und ihren Schmerz zu vermindern« (Haeckel 1904, 96). Dies kann als Hinweis auf Wagners Freitod-Konzept gelesen werden, zu dessen Kontext Tier- und Naturschutz prioritär dazugehören (Dücker 2015; Wagner/Schwantje 2002), aber auch das Engagement für Minderheiten (›Zigeuner‹, Gastarbeiter), für Pazifismus und gegen den Krieg (vgl. Wagner 2014).

3.2 Wagners ›Freitod‹-Konzept

Der Erstbeleg für den Begriff ›Freitod‹ findet sich im ersten Teil von Wagners Sonntagsgängen (1885) unter dem 25. Sonntag. Bei den ›Sonntagsgängen‹ handelt es sich um Kombinationsstücke aus Lyrik und Prosa, die jeweils einer bestimmten Pflanze gewidmet sind. Der 25. Sonntagsgang ist dem Mohn und der Belladonna (atropa belladonna, Schwarze Tollkirsche) gewidmet, die im Gedicht mit Konnotationen wie dem mehrmals verwendeten »Labsal des Vergessens«, »Zaubermilch« (Wagner 2006, 87), »dunkles Schlummerleben« (87), »müde, lebensmüde, krank« (88), »seliges Labsal des Vergessens in dunkelglühender Belladonnafrucht […], gesegnet […] von den Müden und den Armen, und den Beladenen dieser Erde« (88), »Hochzeits- und Todtengesang« (90) verbunden werden, um so den Prosateil ›Freitod‹ vorzubereiten. Darin privilegiert Wagner den Freitod zur jederzeit möglichen »Flucht« des einzelnen aus dem »Kerker« (90) des Lebens, d.h. der Freitod ist bedingt durch Erfahrungen und Anforderungen des Lebens, seine Perspektive ist integraler Bestandteil des Lebens. Er generiert die Identität von Anfang und Ende im Bild der Einheit von »Hochzeits- und Todtengesang« (90). Womöglich ist hier ein impliziter Hinweis auf die Kreuzigung Jesu als Einheit aus Überwindung des Irdischen, Erlösung und Eingang ins Himmelreich mit zu lesen. Der Vollzug macht den Freitod zum sozialen Ereignis, denn »was ist das Schimpfen der Menschen über den sogenannten Selbstmörder meist was anderes als der Neid der Mitgefangenen über den, der seine Fessel gebrochen und die Freiheit gefunden« (90) hat. So kontrastieren Freitod (Erschließung eines subjektiven Freiraums frei von äußeren Anforderungen, aktive Sinngebung des Lebens) und Selbstmord (Flucht vor Verantwortung, egoistischer Verzicht auf die den Menschen charakterisierenden Erfahrungen des Leids) als Selbstdefinitions- und Zuschreibungsbegriff nicht nur unterschiedliche Wertmuster, sondern sie repräsentieren auch und vor allem unvereinbare Weltauslegungsangebote.

Niemand sollte aber – so Wagner – den Freitod unüberlegt als Spontanhandlung ausführen, weil er – in der Logik von Wagners These von der Wiederverkörperung – das Ende der Materialisierung von Atomen im Körper des Suizidanten bedeutet, die »viele Jahrmillionen sich […] gesehnt haben, dereinstmals zu solcher Gottähnlichkeit zu gelangen« (90). Fraglich sei es, ob diesen Atomen eine zweite Chance der Wiederverkörperung gegeben werde. Überdies nehme der Freitod neben den »Mühen« auch die »Freuden« des Lebens und bei einer »Wiederkehr« sei mit »andere[n] Mühen« wie mit »andre[n] Freuden« (91) zu rechnen. Dennoch sei »der empörte Stolz des besseren Menschen« gerechtfertigt, wenn er »zur momentanen Entwürdigung« des Freitods griffe, »um sich selbst, das bessere Selbst vor fernerer Entwürdigung zu wahren. – Und doch männlich ist dieses Sterben, dieses Sterben nach eigener Wahl, dieser Freitod gleich dem Freitode altskandinavischer Krieger« (91).

Bemerkenswert ist Wagners Berufung auf nordische Krieger- oder Kämpfermetaphorik, um den Freitod als Handlungskonzept der Moderne offenbar nach dem Vorbild Nietzsches als Modus der Elitenbildung zu überhöhen. Indem jemand den Freitod ausführt, macht er sich zugehörig zur Elite als Erinnerungsregister eines Kollektivs. Dass diese symbolische Selbstapotheose nur mit Hilfe eines prä- oder postsuizidalen Narrativs möglich ist, liegt auf der Hand. Es geht um den Schritt aus dem bekannten Leben und seinen Nöten, Bedrückungen, Ausweglosigkeiten hin zum symbolischen Überleben in der kollektiven Erinnerungskultur. Der Suizidant macht sich einen Namen, indem er seiner ›Daseinsfreude‹ in Handlung und deren Narration Ausdruck verleiht. Weil dies vorbehaltlose Selbstbestimmung voraussetzt, kann es grundsätzlich keine Dominanz kollektiver oder fremder Ziele und Werte über die Daseinsfreude des einzelnen geben. Freitod im Sinne Nietzsches und Wagners bezeichnet keine nihilistische Tat, die alles Werthafte negiert, sondern im Gegenteil gerade dessen Sicherung, indem sie der als wertindifferent kritisierten Masse absagt, um sich selbst sicher zu werden. Insofern mag hier eine Umdeutung des Todes von der Markierung des Endes zu der eines Anfangs aufscheinen, d.h. der Suizidant vollzieht eine symbolische Neugeburt. Demnach ist man der, zu dem man sich durch die Todesart als sichtbarer Ausdruck einer Programmatik macht.

Gleichsam die Gegenposition zu Wagners Privilegierung individueller Freiheit im Deutungsbegriff Freitod formuliert Eberhard Gothein in einer Akademischen Rede an der Universität Heidelberg im November 1914. »Krieg bedeutet absolute Unterordnung der Person und des Besitzes unter die Zwecke der Gesamtheit. […] Alles wird Organisation, was bis dahin Freiheit war.« (Gothein 1914, 4f.) Demnach treten an die Stelle bisher verbindlicher programmatischer Ordnungen möglichst funktionsangemessene technische Organisationsabläufe. Entsprechend erhält das Leben der gefallenen Universitätsangehörigen seinen Wert vom Tod, allerdings ist es nun ein einheitlich-kollektiver, kein selbst bestimmter Wert, weil – wie Gothein sagt – »wir es [das Leben] erhabenen Zielen weihen, weil wir es opfern können« (Gothein 1914, 110). Für den kollektiven Opfertod auf dem Schlachtfeld mit einheitlicher Begründung ist die Deutungsfolie Freitod nicht zu verwenden. Wagners Gedicht ›Freitod‹ lautet in der Erstveröffentlichung (1897):

Freitod

Was giebt dem Leben erst die rechte Weihe?
Das Sterben ist's, das selbstgewählte, freie.

Der Vorsatz stolz, sich von dem Stoppelweiden-
Auftrieb der Herden einmal auszuscheiden.

Das Hürdethor der Freiheit mit dem bloßen
Und unbeschützten Fuße aufzustoßen.

Schlafmüt'ge Daseinslust in blödem Herzen
Durch frisches Handeln kräftig auszumerzen. –

Freitod! – Wer hat zuerstmals dich erfunden?
Ein Göttersohn, ins Sklavenjoch gebunden,

Der, als ihn holten des Tyrannen Boten,
Die Ketten schlug ins Antlitz dem Despoten.

In diesem Gedicht verdichtet Wagner sein Konzept in verbindlicher Form. Innerhalb des aus neun Gedichten bestehenden Zyklus ›Aus dem Tagebuch eines Lebensmüden‹ bildet es den Höhe- und Wendepunkt einer Erfahrungskette 1) aus Überdruss an Alltags- bzw. Lebensroutine (›Wochenkalender‹), was Kafkas Diagnose vom »Grauenhafte[n] des bloß Schematischen« (Kafka 1973, 234) entsprechen mag, 2) aus Apathie gegen Naturphänomene (›Müdigkeit‹: »es schwinden die Tage/ Einförmig, in ödem Geleis'«, 54) und Aporie des »Erdüberzähligen« (55), 3) aus Enttäuschung über fehlende Anerkennung (›Lied der Bitterkeit‹), 4) aus Verlust der religiösen Orientierung (›Karfreitagsgedanken‹), 5) aus Enttäuschung über die nicht mehr wirksame Regenerationsquelle Nacht, die »wie ein stumm Gespenst so grau und hager« (59) kommt (›An die Nacht‹), 6) aus Desillusionierung über den Tag als Verführer (›An den Tag‹), dann folgt an siebter Stelle das Gedicht ›Freitod‹. Dessen Perspektive endgültiger Befreiung von allen Bedrückungen wird zum Wendepunkt: Die Möglichkeit des selbst bestimmten Todes verschafft dem lyrischen Ich die vermisste Distanz zu und Freiheit von den Lebensnöten. »Das selbstgewählte freie Sterben« als »rechte Weihe« des Lebens ermöglicht es dem Suizidanten »stolz [aus] dem Stoppelweiden-Auftrieb der Herden« durch »das Hürdethor der Freiheit« davon zu gehen. Seine Selbstzuschreibung zur Elite illustriert er, indem er sich mit einem gefangenen »Göttersohn« vergleicht, der mit seinem freien Tod ein programmatisches Zeichen setzt, indem er seinen Tod als Gegenwehr gegen die Repräsentanten des Tyrannen inszeniert. Dass »des Tyrannen Boten« ihn holen wollten, bestätigt, dass er schon im Leben eine selbstbestimmte Haltung praktiziert hat. Daher kommt es zur Koinzidenz von Lebens- und Todesprogrammatik. Obwohl auch dieser Freitod bedingt, also ein ›Nothtod‹ ist, verändert allein die Möglichkeit seines Vollzugs die Lebensqualität und -einstellung des lyrischen Ichs. Demnach scheint der programmatische Freitod die Redewendung vom Tod, vor dem alle Menschen gleich sind, außer Kraft zu setzen. Zugleich scheint dies darauf hinzuweisen, dass die Lebensalternative Freitod ein subjektives Weltbild voraussetzt, dessen Erfahrung im Leben für langfristig aussichtslos gehalten wird.

In den letzten beiden Gedichten des Zyklus gestaltet das lyrische Ich 8) seine allmähliche Wiederannäherung ans Leben (›Trüber Frühling‹), die Welt verharrt »in starrem Frostverbande«, die Tage ›schleichen‹ »in grauem Wartgewande« (62) in Richtung Frühling, 9) dessen bunte Blumen das Krankenzimmer (›Blumen neben dem Krankenbette‹) des lyrischen Ichs schmücken, das seine Lebensmüdigkeit überwunden zu haben scheint. Schon die Möglichkeit des Freitods erhält die Funktion der Erlösung von den Nöten des Lebens. Vorausgesetzt werden von Wagner die Sicherheit der Gewissensfreiheit – Freitod ist ins moralische, religiöse usw. Ermessen des einzelnen gestellt, ›Fraktionszwang‹ kann es nicht geben, es geht um »hermetische Freiheit« (Bormuth 2008, 285) – und die Gewissheit, keine Sanktionen gegen die Hinterbliebenen durch den Suizid auszulösen.

Reflexionen auf den Freitod erfolgen häufig aus Gründen der Rationalisierung des Suizids, faktisch und grundsätzlich geht es um den durch einen nicht lösbaren Konflikt mit dem eigenen Lebensentwurf und -vollzug bedingten Nothtod. Hermann Burger spricht in seinem Tractatus logico suicidalis in diesem Zusammenhang aus der Perspektive der »Totologie […] infolgedessen nicht von Frei-, sondern von Zwangstod« (Burger 1988, 53), d.h. er verwendet eine ähnliche Dichotomie wie Wagner mit ›Nothtod und Freitod‹. Allein als Deutungs- oder Zuschreibungsfolie in argumentativen Zusammenhängen erscheint ›Freitod‹ legitimiert. Der Begriff kann als Politikum, als Provokation von Autoritäten wirken, beansprucht er doch den sanktionsfreien Auszug aus jeder Form von Abhängigkeits- bzw. Vertragsverhältnis wie z.B. als Steuerzahler, Soldat, Arbeitnehmer, Ehepartner usw. Als Todesart mit programmatischem Anspruch ist Freitod grundsätzlich nicht realisierbar; indem er vollzogen wird, wird er zum ›Nothtod‹. Ohne den Eindruck, den Landjäger getötet zu haben, hätte Kühnle sich nicht erschossen. Ohne das therapieresistente Trauma der in ihrer Schmerzlichkeit niemals zu vergessenden Erfahrung des Konzentrationslagers hätte Jean Améry seinem Leben kein Ende gesetzt, ohne die unheilbare Erkrankung hätte Wolfgang Herrndorf nicht den Tod gewählt. Auch Jochen Klepper und seine Familie wären ohne die Aporie ihrer Lebenssituation nicht aus dem Leben geschieden. Mit der Überzeugung, eine offene Lebensperspektive zu haben, würde sich kaum jemand das Leben nehmen. Unausweichlich wird der Suizid »durch Nöte aller Art, psychische, physische und soziale« (Baumann 2012, 633). Die Entscheidung für den Freitod als Lebensperspektive befreit aus Unordnung und stellt selbst definierte Ordnung her. Aber es besteht auch kein Automatismus zwischen einer aporetischen Situation wie einer Krebserkrankung im fortgeschrittenen Stadium und der Entscheidung zum Suizid wie die Beispiele Fritz Zorn, Maxie Wander, Christoph Schlingensief zeigen. Landsberg hat sich – wie erwähnt – gegen den Suizid für das Ertragen des Leids entschieden.

Weil Wagner in seinem Gedicht keine Reflexion über das Pro und Contra des Freitods ausbreitet, sondern eine Handlungssituation gestaltet, kann deren sozialgeschichtliche Relevanz sich direkt als Kommentar entfalten, wenn ein entsprechender Bezug vorliegt. So geht der Suizid Kühnles in den Erfahrungssockel des Begriffs und in die Rezeptionsgeschichte des Gedichts ›Freitod‹ ein, das Wagner 1909 ohne die Verse 7-8 in mehreren regionalen Zeitungen veröffentlicht (mit Hinweis auf die frühere Originalveröffentlichung). Im Begleitschreiben an die Redaktionen, dessen Informationen weitgehend jenen im Brief an Tony Schumacher vom 24. Jan. 1909 entsprechen und das nicht in allen Zeitungen veröffentlicht wird, hebt Wagner hervor, dass es ihm um die »Ehrenrettung meines Schwiegersohnes [geht], dem die Ehre eines kirchlichen Begräbnisses versagt worden war. […] die unglücklichen Hinterbliebenen werden zeitlebens daran zu leiden haben« (Wagner 2014, 29; zu historischen Begräbnisverboten für Suizidanten vgl. Baumann 2001, 15-42). Wenn der Freitod dem Suizidanten Weihe und Würde verschafft, wenn er als Menschenrecht zu gelten hat, sind Diskriminierungen hinsichtlich der Bestattung aufzuheben. Gemaßregelt und verurteilt wird in diesen Fällen die Freiheit, die sich jemand nimmt. Implizit zumindest scheint in Wagners Ausführungen aber auch ein Hinweis auf die Verantwortung des Suizidanten für seine Familie und Hinterbliebenen, womöglich auch für bestimmte Referenzgruppen zum Ausdruck zu kommen.

4. Präsuizidale Narrative
4.1 Jochen Klepper (22. März 1903 – 11. Dezember 1942)

Am 11. Dezember 1942 führen der Schriftsteller Jochen Klepper, seine jüdische Ehefrau Hanni und deren jüngere Tochter Renate den selbst bestimmten Tod durch eine Gasvergiftung aus, um die drohende Deportation der Tochter und womöglich auch der Ehefrau zu verhindern. Dieser gemeinsame Tod bildet den Abschluss einer darauf gerichteten narrativen Sinnkonstitution, die schon wenige Monate nach der im März 1932 geschlossenen Ehe laut Tagebucheintrag vom 11. Juni 1933 einsetzt: »Ich ordne meine Sachen und Schriften, als wäre es mein Nachlaß. Aber in meiner Situation ist solche Sichtung von fast heilender, beruhigender und ablenkender Wirkung. – Alles Alte, Kaputte, nicht Verwertbare abstoßen, reinen Tisch machen in Eigentum und Manuskripten« (Klepper 1976, 70). Klepper reagiert damit auf Probleme mit seinen Eltern wegen seiner Eheschließung mit einer 12 Jahre älteren Jüdin, die zwei halbwüchsige Töchter in die Ehe mitbringt und auf berufliche und literarische Misserfolge sowie auf seine offenbar prekäre finanzielle Situation, die ihn von seiner Ehefrau abhängig machen würde. Er spricht am 14. Juni 1933 von »Selbstanklage«. Aber schon seit längerem scheint zu diesem Zeitpunkt der Selbstmord als eine Option zum Lebensplan seiner Frau zu gehören, wie er an diesem Tag (14. Juni 1933) verzeichnet: »Und immer werde ich die Furcht haben müssen, daß drei Dinge Hanni zum Selbstmord bringen: Wenn ich sterbe. Wenn sich zeigt, daß sich bei Hanni die Krebskrankheit ihrer Familie vererbt hat. Wenn ein völliger finanzieller Zusammenbruch kommt. Ich werde es immer fürchten müssen, so gern Hanni auch lebt« (Klepper 1976, 71). Für das Ehepaar Klepper gehört das Thema Selbstmord – Begriff und Konzept ›Freitod‹ werden im Tagebuch nicht thematisiert – nicht nur zur Gründungsgeschichte seiner Ehe (»Eine Ehe ist eine Lebensgemeinschaft, aber kein Todesbund« 27.06.1933, 80), sondern unterfüttert die gesamten 10 Ehejahre, nicht immer explizit, aber latent und wird bei entsprechenden Ereignissen virulent. Insofern ist das Leben der Familie Klepper im Wortsinn »ein Vorlaufen zum Tod« (Heidegger 101963, 267). Ihre Entscheidung zum Selbstmord ist keinesfalls eine Spontanhandlung, sondern Ergebnis eines kontinuierlich geführten Reflexionsprozesses, der als Intensivierung des gemeinsamen Lebens erfahren wird und dessen Rahmen schon im Sommer 1933 bestimmt ist. Dass zum Freitod in der Regel eine Vorgeschichte gehört, bestätigt auch Améry: »Der Freitod ist ja viel mehr als der pure Akt der Selbstabschaffung. Es ist ein langer Prozeß des Sich-Hinneigens, der Annäherung an die Erde« (Améry 71981, 83).

Im Laufe des Jahres 1933 wird der Selbstmord zum Orientierungs- und Fluchtpunkt der Eheleute Klepper. Für Jochen Klepper bedeutet dies auch eine selbstreflexive Neubestimmung seines Glaubens. Lebensorientierung scheint ihm die Möglichkeit des selbst bestimmten Todes zu bieten, der kein freier, sondern ein erzwungener ist.

23. Juni 1933: Meine Einstellung zum Selbstmord hat sich sehr rasch geändert. Alles ist dem Menschen erlaubt, alles Gute, alles Schlechte, weil die Rechnung zwischen Gott und dem Gläubigen beglichen ist. Wie konnte ich den Selbstmord ausnehmen? Mit welchem Recht zog ich eine Grenze? Mit welchem Recht sagte ich von dieser Schuld, sie könne nicht vergeben werden? […] Es heißt: ›Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben.‹ […] Aber ich glaube, daß der Selbstmord unter die Vergebung fällt wie alle andere Sünde. Und der, der ich heute bin, will ich mit Hanni sterben. […] Zwischen Hanni und mir ist nun im reinen, was noch nicht im reinen war. Auch alle Angelegenheiten, die die Kinder betreffen, sind besprochen. Wer sterben will, wird es dem anderen sagen. Ich werde es nicht sein – , glaube ich. […] In der Welt gilt nur noch dies eine: Wir sind zwei Verfolgte. […] Wir werden uns nicht auf den Selbstmord zutreiben lassen, werden unser bürgerliches Leben, ich mein künstlerisches Leben wie immer führen. […] Aber wir wollen zusammen sterben. Und soweit ich Mensch bin, sage ich nun: Der Mensch, der mein Leben ist, soll auch die letzte Stunde meines Lebens bestimmen. Und dann ist nur noch Gott. (Klepper 1976, 76-78)

Kleppers Tagebucheinträge scheinen auf eine Geschichte des ›Dritten Reichs‹ als System staatlich erzwungenen »Doppelleben[s]« hinzudeuten, wobei die gesellschaftlichen Rollen von »Bürger, Künstler, Christ« mit ihrem jeweiligen sozialen Entfaltungspotential verdichtet oder zurückgeworfen werden in »das ganz Einfache, Qualvollste [...]: Kreatur zu sein«. Diese oder »der übriggebliebene Mensch« hat nur die beiden sich ausschließenden Möglichkeiten »zu handeln und zu warten, zu hoffen und abzuschließen, in den Trieben der Hoffnung, des Ehrgeizes, des Blutes, des Ordnungswillens und im Glauben zu leben; während alles, was man als sein eigentliches Wesen empfindet, nur versinken möchte im Glauben« (Klepper 1976, 18.06.1933, 74). Für sein »Doppelleben« findet Klepper die Entgegensetzung von Streben nach »Verwurzelung [in] Familie, Volk, […] Kirche« und »leben wie Verbannte, im Außenseitertum« (Klepper 1976, 30.06.1933, 81). Letzteres kennzeichnet die Realität, so dass ein Doppelleben sich als Illusion erweist. Kleppers Argumentationsgang, sein ›Ringen‹, ist nachzuzeichnen, in dem er sein bzw. das allgemeine Recht auf Selbstmord gegenüber seinem Gott (»Der Selbstmord ist das einzig Endgültige, das der Mensch tun kann. Darum streift er an Gottes Recht. Darum ist der Schauer vor dem Selbstmord so tief«, 27.06.1933, 80f.; vgl. 18.06.1933, 74f.), seiner Kirche und gegenüber der kulturellen wie philosophischen Tradition legitimiert. Entlastend könnte der erste Satz von Schopenhauers Ueber den Selbstmord wirken: »So viel ich sehe, sind es allein die monotheistischen, also jüdischen Religionen, deren Bekenner die Selbsttödtung als ein Verbrechen betrachten« (Schopenhauer 2006, 275).

Die Akzeptanz der Möglichkeit des Suizids soll das Leben erleichtern, indem sie für dessen Bedrückungen ein Ventil definiert, dabei das Leben aber bloß als eine immer schon nicht belastbare, gleichwohl stets versuchte Möglichkeit relativiert. »Man kann nicht sagen: Ich nehme mir das Leben, aber ich bin bis zum Termin des Sterbens aktiv, als wollte ich noch leben. Man kann nicht eine Leiter an einen Ast anstellen und gleichzeitig den Ast absägen« (Klepper 1976, 4. Juli 1933, 83). Klepper vertritt aufgrund lebenspraktischer Erfahrungen die Gegenposition zu den theoretisch-moralischen, konfessionell gebundenen Äußerungen Tony Schuhmachers, die im Brief vom 26. Jan. 1909 Wagners Rechtfertigung des Freitods als »heidnisch« ablehnt, weil es nach christlicher Moral »größer, weil schwerer [sei], seine Last lebend zu tragen. Aber ich bin weit entfernt zu verurtheilen, wo ein Menschenkind eben nicht tragen kann« (Kurz/Dambacher 2015, 104). Obwohl es im Leben Kleppers und seiner Familie immer wieder Phasen des Erfolgs und der Anerkennung gibt, vor allem in Bezug auf seinen Roman Der Vater, gelingt es nicht, die Tendenz auf Verengung und Exklusion umzukehren oder auch nur nachhaltig anzuhalten. Der letzte Eintrag ins Tagebuch am 10. 12. 1942 lautet: »Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott – Wir gehen heute nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben« (Klepper 1976, 1133; zu Todesart und Begräbnis vgl. Thalmann 1978, 372-381).

4.2 Jean Améry (31. Oktober 1912 – 17. Oktober 1978)

Mit seinem programmatischen Essay Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod (1976) verschafft Jean Améry seinen literarischen und essayistischen Weltauslegungsangeboten das verbindliche Fundament. Gleich zu Anfang differenziert er zwischen Selbstmord und Freitod.

Ich mag das Wort [Selbstmord] nicht, werde auch an gegebener Stelle sagen, warum. Lieber rede ich vom Freitod [Hervorhebung i.O.], wohl wissend, dass der Akt manchmal, häufig, durch den Zustand drangvollen Zwanges zustande kommt. Als Todesart aber ist der Freitod frei noch im Schraubstock der Zwänge. […] Ich bin es, der Hand an sich legt, der da stirbt . . . (Améry 71981, 13)

Damit bekennt sich Améry emphatisch zu Wagners Neologismus, ohne aber von diesem als Urheber des Begriffs und seiner Freitod-Konzeption zu wissen, obwohl er im Abschiedsbrief an seine Frau vom 16.10.1978 diese auf Wagners Gedicht Freitod verweist: »Schau, mein Herzensliebling, ich bin am Ende meiner Kräfte und kann meinem Niedergang, intellektuellen, physischen, psychischen, nicht zusehen. Denk auch an das schöne Gedicht von Christian Wagner, das Du einmal für mich ausschnittest« (Améry 2007, 600; auch der Herausgeber verweist auf Freitod, vgl. Anhang 778).

Freitod in Wagners lyrischer Deutung ist Widerstand (Gegengewalt) gegen eine nur so zu deklassierende Übermacht, indem ein Anfang als wahrnehmbarer Appell markiert wird. (Sebald /1987 weist darauf hin, dass Améry es niemals akzeptieren konnte, keinen Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit der Waffe geleistet zu haben.) Améry diagnostiziert Anfang in diesem Zusammenhang als freie Entscheidung des Suizidanten (aktiv) über Todesart und Zeitpunkt. »Der Suizidant aber stirbt aus eigenem Entschluss« (91). Gleichwohl räumt er die Dimension des ›Nothtods‹ als Bedingtheit des »freien Entschlusses« durch strukturelle oder subjektive Gegebenheiten ein, wenn er im Modus der Definition schreibt: Der Freitod sei »ein freier Tod eben und eine hochindividuelle Sache, die zwar niemals ohne gesellschaftliche Bezüge vollzogen wird, mit der aber letztlich der Mensch mit sich allein ist, vor der die Sozietät zu schweigen hat« (102f.). Gegenüber anderen präsuizidalen Narrativen hebt Améry das aus keiner Richtung überschreitbare Alleinsein des Suizidanten hervor, der eine »geschlossene Welt« ist und auch in einer solchen lebt (vgl. Sebald 1987). An anderer Stelle verallgemeinert er dies zur »existentielle[n] Einsamkeit des Einzelnen« (119) bzw. zur »Fundamentalkondition der Einsamkeit« (120), die als menschliche Grundbefindlichkeit Amérys Rede von der womöglich komplementären »Todesneigung« (82) – er zieht diesen Begriff Freuds ›Todestrieb‹ vor – rechtfertigen mag. Diese zeige sich »in jeder Art von Resignation, in jeder Faulheit, jedem Sich-gehen-Lassen« (83), wohl als Symptom des Verzichts auf aktive Lebensgestaltung, zumeist allerdings besiegt durch den »Lebenstrieb« (83). Gleichwohl setzt bei Erfahrungen dieser Art der Entschluss zum Freitod an: »Der Zwischenfall, der euch belanglos erscheint, mag es ja für euch sein, das leugne ich nicht; für mich aber ist er ein entscheidendes Lebensereignis, entscheidend genug, daß ich mir seinetwegen den Tod gebe« (66). Der Suizidant ist keineswegs krank, »er ist nur anders« (65) als die anderen. Nur im Freitod hat er sich »total verwirklicht [und] ein nie zuvor gekanntes Glücksgefühl« (79) der Freiheit stellt sich ein. Améry findet dafür die als Überschrift des letzten Kapitels seines ›Freitod-Diskurses‹ gesetzte Wendung »Der Weg ins Freie« (Améry 71981, 127). Dass Améry die Transformation des eigenen Todes – für die Perspektive der Nachwelt – zum Tod des anderen reflektiert hat, zeigen seine Abschiedsbriefe mit Entschuldigungen für seinen Freitod und die dadurch hervorgerufenen Unannehmlichkeiten (Améry 2007, 597-601). Dessen verwaltungspraktische Folgen hat er so gut wie möglich erleichtert.

4.3 Wolfgang Herrndorf (12. 06. 1965 – 26. 08. 2013)

Wolfgang Herrndorfs präsuizidales Narrativ Arbeit und Struktur, zunächst in der Form eines digitalen Tagebuchs und Blogs, postum als Buchveröffentlichung (Dez. 2013), zeigt insgesamt die gleichen konstitutiven Aspekte wie die Erzählungen Kleppers und Amérys. Herrndorfs »Tagebuch eines angekündigten Selbstmordes« (Lahme 2015) aufgrund einer als nicht heilbar diagnostizierten Krebserkrankung setzt am 08. 03. 2010 ein und schließt mit dem Eintrag vom 20. 08. 2013, die Kontinuität bzw. Prozesshaftigkeit der zunehmend dichteren Annäherung an den Suizidvollzug bestimmt den Inhalt der Einträge. Es geht um Alltagsereignisse, Krankheitssymptome, -verlauf und -statistiken (Erwägung von Überlebenschancen), um Träume, Rückblicke und Erinnerungen. Dafür prägt Herrndorf schon kurz nach Beginn der Einträge am 30. 04. 2010 seinen programmatischen Begriff »Existstrategie« (50) und versteht darunter sein individuelles Konzept der auf den selbst bestimmten Tod ausgerichteten »Psychohygiene« (50).

Entscheidend dafür ist, »die Sache nicht in einem Moment der Verzweiflung, sondern der Euphorie hinter mich bringen zu können, und ohne Probleme. Voraussetzung dafür war, dass zwischen Entschluss und Ausführung nicht mehr als eine Zehntelsekunde liegen dürfe. […] Weil, ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt, und ich will es auch jetzt nicht. Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben«, ist der entscheidende Faktor. »Ich muss wissen, dass ich Herr im eigenen Haus bin. Weiter nichts« (50).

Daher gewinnt die Differenz zwischen Aktivität und Passivität lebensbestimmende Bedeutung. »Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße. Ich könnte micht nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen. Das ist der ganze Trick« (25.08.2010, 86). Durchgehend wird das Zeitbudget neu berechnet. Was ist noch möglich, was nicht mehr, was ist erst durch die präsuizidale Lebensform möglich (»Der Gedanke, den Diktator einer Bananenrepublik zu erschießen, drängt sich als sinnvollste Möglichkeit in den Vordergrund, viel besser lässt sich das Leben nicht nutzen«, 107f.), was muss nicht mehr gemacht werden (»Steuererklärung, Rentenversicherung, Zahnarzt«, 108). »Es beginnt: Das Leben in der Gegenwart« (111). »Die Zukunft ist abgeschafft, ich plane nichts, ich hoffe nichts« (16.07.2011, 218). Diese temporale Beschränkung bewirkt neue Aufmerksamkeit des Suizidanten auf seine Fremdwahrnehmungen durch andere, d.h. er generiert neue Formen des Sozialen:

1. Ich bin besorgt, dass die Freunde besorgt sein könnten.
2. Ich melde raus, wie gut es mir geht.
3. Das beruhigt meine Freunde.
4. Sie machen sich keine Sorgen mehr.
5. Sie denken, dass es mir gut geht, und freuen sich für mich.
6. Sie mögen mich.
7. Aber das haben sie auch schon vorher getan.
8. Wie ich an ihrem Verhalten mir gegenüber während meiner Krankheit ja auch problemlos erkennen konnte. (129)

Hatte für Améry die Vorstellung eines Selbstmordattentäters noch keine reale Referenz, so hält sich der moribunde Herrndorf für einen »ideale[n] Selbstmordattentäter«. Der Möglichkeit, Soldat zu sein, gewinnt er die Chance ab, »noch einmal unter gleichen Bedingungen anzutreten wie alle« (18. 12. 2010, 171). Die Gewissheit der Todesperspektive erlaubt Wahrnehmungen wie die, dass Tote oder Sterbende »pietätvoller« (255) behandelt werden als Lebende, die es gebrauchen könnten, dass künstlerische Arbeit angesichts des Sterbens sinnlos sei (vgl. 335), »dass außer der aktuellen Gegenwartssekunde in meinem Bewusstsein nichts Platz hat« (26. 07. 2012, 347).

Dass der Suizid angesichts einer unheilbaren Krebserkrankung durchaus nicht zwangsläufig ist, zeigen Christoph Schlingensiefs Tagebuch (2010) und Fritz Zorns Aufzeichnungen im Format einer Anamnese (1983): Für beide wird die Diagnose Krebs zum Anlass, ihr Leben zu bilanzieren und den ›Kampf‹ gegen den Krebs als eine Art Übergangsritual zu deuten, vom symbolischen Tod des bisherigen Lebens durch die im Ausgang offene Therapie als Übergangsphase (»ich erblickte [in] Operation und erster Narkose […] ein Symbol für Tod und Wiedergeburt, […], einen symbolischen Tod [um] zu einem vielleicht glücklicheren Leben auferstehen« Zorn 1983, 132 zu können) bis zur symbolischen Wiedergeburt als Entschluss, auch bei einer nur vorläufigen Heilung oder schon bei Akzeptanz der Krankheit als Teil des Lebens anders, bewusster, mit veränderten Wertorientierungen zu leben als vor der Erkrankung. Die Krankheit zerreißt gleichsam den Schleier vor der Wirklichkeit und lässt deren unverstellte Erkenntnis zu. »Nein, ich will leben. Ich will auf alle Fälle leben. Aber nicht, um wieder in diesen blinden Trott zu verfallen, noch schneller, noch mehr, sondern ich will ein Leben leben, das einen Sinn ergibt und sich den Menschen nähert« (Schlingensief 62010, 21f.).

5. Schluss

Christian Wagner fördert mit dem Neologismus ›Freitod‹ nicht nur die Expansion der für den kulturellen Diskurs akzeptierten produktiven Themen und Handlungen, sondern auch die Legitimation des aufklärerischen Möglichkeitsprinzips hinsichtlich der Todesart. Dass semantische Kämpfe wegen des Erfahrungssockels der Begriffe die Geschichte gesellschaftlicher Konflikte erschließen, dass prä- und postsuizidale Narrative neben historischen und begriffsgeschichtlichen Erkenntnissen die ›Frontbildung‹ heftiger Kontroversen der (jeweiligen) Gegenwart modellieren, wird über langwierige Gesetzgebungsverfahren zur Sterbehilfe hinaus eindringlich belegt durch deren Personalisierung. So lässt Udo Reiter, der ehemalige Intendant des MDR, anlässlich seines Suizids (2014) folgende Erklärung von Günter Jauch verlesen.

Nach fast 50 Jahren im Rollstuhl haben meine körperlichen Kräfte in den letzten Monaten so rapide abgenommen, dass ich demnächst mit dem völligen Verlust meiner bisherigen Selbstständigkeit rechnen muss. Vor allem die Fähigkeit, aus eigener Kraft die Toilette zu benutzen und das Bett zu erreichen und wieder zu verlassen, schwindet zunehmend. Parallel dazu beobachte ich auch ein Nachlassen meiner geistigen Fähigkeiten, das wohl kürzer oder später in einer Demenz enden wird. Ich habe mehrfach erklärt, dass ein solcher Zustand nicht meinem Bild von mir selbst entspricht und dass ich nach einem trotz Rollstuhl selbstbestimmten Leben nicht als ein von anderen abhängiger Pflegefall enden möchte. Aus diesem Grund werde ich meinem Leben jetzt selbst ein Ende setzen. Ich habe vielen zu danken, die meinen Weg begleitet und meinem Leben Freude und Sinn gegeben haben. (Die Welt 19.10. 2014).

Franz Müntefering, der als Minister zurückgetreten ist, um seine Frau zu pflegen, lehnt Reiters subjektive Argumentation mit dem Hinweis auf die Entstehung von »Helden der Selbsttötung« (Machowecz / Schirmer Die Zeit 16.10.2014) ab. Obwohl der Komplex der Sterbehilfe juristisch geregelt ist, geht die Auseinandersetzung um den Freitod und seine Bewertung weiter.

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