Aleida Assmann
im
Gespräch mit Renate Solbach
______________
Vom Vergessen der Kunst
Grenzüberlegungen
zur Kulturanthropologie
Das
Vergessen, das Neue und die Kunst
Solbach:
Lassen Sie mich mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke beginnen, dem
wir bemerkenswerte Verse über die Anfänglichkeit der
Kunst, über vergessene Kunst und das Vergessen in der Kunst
verdanken. Das Gedicht Archaïscher Torso Apollos,
das auf den oft zitierten Satz endet: Du musst dein Leben
ändern, beginnt mit dem Hinweis auf einen Verlust:
die radikale Nichtverfügbarkeit des Kunstwerks, wie es einmal
ersonnen wurde:
Wir kannten nicht sein
unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel
reiften.
Aber, fährt Rilke fort, der Torso
übernimmt die Funktion des nicht mehr gekannten Ganzen, das
vielleicht ein Stückweit rekonstruiert, aber nicht
wiederhergestellt werden kann. Das prägnante Bild vom Kandelaber,
/ in dem sein Schauen, nun zurückgeschraubt, / sich
hält und glänzt, könnte als
Metapher für jegliche kulturelle Überlieferung
gelten, es wird vom Dichter aber explizit auf die Kunst bezogen, die
den Betrachter ansieht wie das ubiquitäre Auge der
Surrealisten. Man könnte fast denken, es seien die
unvermeidlichen Verluste der Kunst, die diesen ihren
eigentümlichen Charakter, ihr eigentümliches
Vermögen an den Tag bringen. Können Sie dem Gedanken
etwas abgewinnen? Ginge die Kunst in einer vollständigen
Repräsentation der Vergangenheit unter?
Assmann:
Eine vollständige Repräsentation der Vergangenheit
ist natürlich nicht möglich. Das ist das Undenkbare.
Ebenso wie die Realität lässt sich die Vergangenheit
nicht verdoppeln. Die Kunst ist immer eine Bezugnahme dazu, kein
1:1-Verhältnis, denn sie ist einerseits weniger, und
andererseits aber auch mehr. Sie ist weniger darin, dass sie
auswählt und immer nur Einzelnes heraufholt. Sie ist mehr,
weil sie dem, was sie heraufholt, etwas hinzufügt, was es so
in der Vergangenheit nicht gibt: sagen wir eine Geschichte, eine
Narration, einen Sinn, einen Zusammenhang, eine Form. Alles das sind
Dinge, die hinzugetan werden, von daher ist diese Idee
eines 1:1-Verhältnisses ein Adynaton, d.h.: etwas,
das nicht geht.
Ich finde es sehr reizvoll, mit
dem Gedanken des Torso das Gespräch zu beginnen. Die Gestalt
des Torso regt dazu an, anders wahrzunehmen. Ein wichtiger Punkt beim
Torso ist der, dass bestimmte Teile fehlen, was dazu führt,
dass die eingespielte Hierarchie des Blickes, zu unterscheiden zwischen
Wichtigem und Unwichtigem, nicht mehr funktioniert. Das Wichtige ist
meistens das Gesicht. Gerade das, was traditionellerweise in den
Mittelpunkt des Blicks gerückt wird, und damit auch eine
Hierarchie des Sehens in Gang setzt, das fehlt hier. Durch die
Lücke, durch den fragmentarischen Charakter polt sich das
Sehfeld um und es gilt, dass man eigentlich nicht mehr so einfach
entscheiden kann, was wichtig ist. Gleichzeitig bedeutet das aber auch,
dass es an einem Torso nichts Unwichtiges gibt. Gefordert wird eine
– wie man vielleicht mit Freud sagen könnte
– gleichschwebende Aufmerksamkeit. Das ist auch ein Impuls
der Kunst überhaupt, dass das Kunstwerk oder der Text nichts
enthalten, was unwichtig ist, dass alles potentiell gleich wichtig ist.
Das birgt natürlich eine Überforderung des
Betrachters, da man dieser Gleichgewichtigkeit nie gewachsen ist. Jeder
Blick ist extrem reduzierend, aber dadurch werden das Wiederkommen und
das wieder Neuentdecken dessen, was man beim ersten Hinblicken nicht
gesehen hat, möglich. Insofern finde ich diesen Gedanken sehr
reizvoll.
Der andere Punkt ist die Geschichte mit
diesen Augen, die da gewachsen sind und zu denen man nicht
zurück kommt. Dazu fällt mir ein, dass es in der
Kunstbetrachtung, in der Kunsttheorie – sagen wir mal der
Neuzeit, also auch der Zeit, in der wir beide sozialisiert und geschult
sind – so etwas wie eine Bruchlinie oder eine Grenze gibt,
die unüberschreitbar ist. Das ist die Grenze, an der der
Prozess der Entstehung des Kunstwerks endet und das Produkt beginnt.
Die Regel, mit der wir aufgewachsen sind, ist die, dass wir diesen
Prozess nicht rückwärts abschreiten oder diesen Weg
nicht zurück gehen können. Wir können nicht
vom Produkt zurück in den Prozess gehen, denn alles, was wir
aus dem Prozess wissen, hat sich in einer Form der
›Transsubstantiation‹ völlig
verändert. Es ist eine Metamorphose und aus dieser gibt es
keinen Weg zurück. Gewiss gibt es Schulen und Interessen, die
das durchaus versuchen. Der Biographismus des 19. Jahrhunderts ist
bekannt. Es gibt auch eine interessante französische Schule,
die sich ›critique
génétique‹ nennt und sich vor allem
mit dem Vergleich von Handschriften beschäftigt. Die
rekonstruieren tatsächlich den Prozess, der hinter dem Gewebe,
der geronnenen und gefestigten Struktur steht. Ich changiere jetzt
zwischen bildender - und Wortkunst hin und her, was man in diesem Fall
ruhig tun kann. Die These ist die, dass das Kunstwerk selbst seine
Spuren auslöscht. Die ›critique
génétique‹ will dagegen das
›Geronnene‹ wieder verflüssigen und die
Vorstufen zeigen, die ihm vorangehen. Dieses Verfahren zeigt aber
letztlich auch, dass es kontingent ist, an welcher Stelle man den
Prozess des Kunstschaffens arretiert.
Von seiner
Vorgeschichte ist das Kunstwerk, so wie es uns vor Augen steht, also in
der Regel abgeschnitten, sie ist getilgt. Insofern handelt es sich aber
nicht um einen Torso. Die Leerstelle des Torso definiert seine Kontur,
die Leerstelle des Kunstwerks ist Teil seiner Struktur. Sie ist der Ort
des Eindringens und immer neuen Auffüllens. Ich
möchte hier noch hinzufügen, dass die Genese von
Kunst seit der Neuzeit auch viel mit Zerstörung zu tun hat.
Ich habe eben nur gesagt, das Kunstwerk lösche die Spur seiner
Entstehung aus. Man könnte das noch viel radikaler wenden und
sagen, das Kunstwerk zerstört seine Vorgänger und
setzt sich gewissermaßen an ihre Stelle. Das ist der
revolutionäre Impuls, der im Gebot der Innovation drin steckt.
Im Rahmen der westlichen Kunstgeschichte muss man Neues schaffen und
wenn man das einmal unter dem Aspekt des Vergessens anvisiert, dann
heißt das, dass permanent viel vergessen werden muss. Ein
sehr probates Mittel, Neues zu schaffen, ist also das Bestehende zu
vergessen. Das ist das Konzept der kreativen Zerstörung, das
seit dem späten achtzehnten bzw. frühen neunzehnten
Jahrhundert existiert – ich glaube Karl Philipp Moritz hat
diese Formel von der kreativen Zerstörung geprägt.
Diese Formel ist letzlich der Impuls oder der Anspruch, sich an die
Stelle dessen zu setzen, was vorher da war und sich nicht in einer Form
der Hörigkeit oder Nachfolge in die Reihe zu stellen. Man
könnte gegen Rilke vielleicht einen anderen klassischen Text
setzen und zwar Shakespeares Hamlet. Da gibt es eine Stelle, an der er
darüber nachdenkt, was es mit der Botschaft seines Vaters auf
sich haben könnte, der ihm das Gebot hinterlassen hat, sich an
ihn zu erinnern. Es heißt dann: »Adieu, adieu,
gedenke mein«. Hamlet spricht dann davon, dass er, um dieses
Gebot zu erhalten, sich sein Gehirn wie eine Schreibfläche
vorstellt, von der er wie von einer Tafel alles, was da aufgeschrieben
ist, auswischen muss, damit er dieses neue Gebot eintragen kann. Dieser
radikale Impuls, dass man das Gedächtnis so manipulieren kann,
dass man es leert, das ist das Konzept der Tabula rasa, das am Beginn
der Neuzeit steht, das ist eine sehr gewaltsame und gleichzeitig sehr
kreative Form des Vergessens, um Erneuerung zu inszenieren, um
Innovation durchzusetzen.
Solbach:
Das führt eigentlich fast organisch zur zweiten Frage. Aber da
Sie an Shakespeare erinnern, noch eine Bemerkung. Mir fällt
ein Text von Sophokles ein. Da gibt es das Bild vom Auswischen der
Tafel in der Rede der Kassandra. Die Tendenz ist aber eine andere. Es
geht um die Angst, vergessen zu werden. Das ist wahrscheinlich der
Unterschied.
Assmann: Genau. Die
Positivierung des Schreckens der eigenen Auslöschung.
Solbach:
Ihre Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis haben Sie bekannt
gemacht. Ist auch das Vergessen über das gezielte Selektieren,
Verdrängen, Zurechtbiegen dessen, was gewesen ist und vom
Gedächtnis so und so bewahrt wird, für Sie ein Thema?
Könnte es, in Analogie zu Prousts memoire
involontaire, eine Art unwillkürlichen Vergessens
geben, das dem Gedächtniswesen Mensch das Weiterleben sichert?
Ein Vergessen, das nicht fälscht, sondern entsorgt?
Wäre die Kunst in ihrem Immer-neu-Sein
vielleicht so etwas wie ein notwendiges Korrektiv des
Gedächtnisses? Wie steht es um die Lebensechtheit der Statue
eines Giuliano de Medici aus der Hand Michelangelos? Wie weit reicht
eine Kunst des Gedenkens? Benjamins Engel der Geschichte blickt auf das
Trümmerfeld des Gewesenen: Aus dem Sichten, Sortieren,
Bewahren, Verändern entsteht das Neue. Es gibt aber eine
Neuheit des Blicks, die bestätigt werden möchte. Wo
findet man eine solche Bestätigung in unserer Literatur?
Assmann:
Die Grundfrage ist sehr spannend. Können wir über das
›Vergessen-an-sich‹ sprechen? Können wir
es ablösen vom Erinnern? Es gibt Bücher
darüber, Harald Weinrich hat ein sehr schönes
Lethebuch geschrieben. Man kann das schon fokussieren und es ist auch
sehr wichtig, es in den Blick zu nehmen. Wahrscheinlich aber ist es
illusorisch, es abzutrennen, eher sollten wir uns Erinnern und
Vergessen wie zwei miteinander verbundene Waagschalen vorstellen. Eine
strikte Trennbarkeit würde dazu führen, dass man
Erinnern auf ›Speichern‹ und Vergessen auf
›Löschen‹ reduziert. Das wäre
dann eine gleichgewichtige Ordnung, die aber nur mechanisch
funktioniert, zum Beispiel im Computer. Da haben wir die Funktion des
Einschreibens und die Taste ›Delete‹ in
spiegelsymmetrischer Form. Von dieser Vorstellung muss man sich immer
wieder distanzieren. Die interessante These, die ich gerade jetzt
wieder auf einer Tagung von einem Neurowissenschaftler gehört
habe, ist die, dass es für die Neurowissenschaften kein
Vergessen gibt. Für die gibt es genauso wenig ein Vergessen
wie für Freud in der Psychoanalyse. Die Gründe sind
unterschiedliche, aber es ist sehr interessant, dass die Hirnforschung
ebenfalls darauf beharrt. Nun kann man sich fragen, was das bedeutet.
Schließlich haben wir ja die subjektive Evidenz, dass es so
etwas gibt, was wir Vergessen nennen. Vielleicht hat diese Sache bei
den anderen nur einen anderen Namen. Vielleicht haben sie auch andere
Konzepte. Man sollte jedenfalls einmal versuchen, das
zusammenzuführen. Eine Möglichkeit könnte ja
die sein, dass sie das, was wir in der Alltagssprache Vergessen nennen,
anderweitig beschreiben. Die Neurowissenschaftler würden
sicher nicht sagen, niemand vergisst irgendetwas, das wäre ein
Missverständnis. Ihre Beschreibung ist eine andere. Ich denke
da auch an den sehr informativen Aufsatz eines Psychologen, Daniel
Schacter aus Harvard, der hat über Vergessen geschrieben unter
dem schönen Titel Die sieben Sünden
des Gedächtnisses (The Seven Sins of Memory: How the
Mind Forgets and Remembers). Die sieben Sünden, nach dem
Muster der christlichen Todsünden. Dabei geht es aber nicht
eigentlich um das Vergessen, sondern um Fehlleistungen des
Gedächtnisses. Die werden schon anerkannt und an erster Stelle
schreibt er über etwas, das er
›transience‹ nennt. Also das heißt, ein
gewisses Verblassen als Vergessensvorgang wird schon anerkannt. Es gibt
aber auch viele andere Varianten, die entweder mit einem Fehler bei der
Speicherung oder mit einem Fehler beim Rückrufen zusammen
hängen. Also an beiden Stellen können im Gehirn
Aussetzer passieren. Zum Beispiel kann man beim Speichern abgelenkt
sein. Wenn man zum Beispiel zerstreut ist, kann man etwas falsch
registrieren oder von vorneherein falsch einordnen und dann kann man es
hinterher auch nicht mehr abrufen. Dasselbe gilt dann auch für
den Ruckruf, auch da gibt es viele Formen sich
Gedächtnisinhalte zu blockieren, das ist dann wie eine
Schublade, die man nicht auf bekommt, oder man weiß, irgendwo
liegt es drin, aber man weiß nicht wo.
Soviel
vielleicht als Seitenblick auf die Hirnforschung, die meint, dass es
das Vergessen nicht gäbe. Grundsätzlich ist aber
interessant, dass wir Vergessen und Erinnern nicht wirklich voneinander
trennen können, weil sie sich bei der Arbeit ständig
gegenseitig unterstützen. Das gilt für die
Selektionsprozesse des Gedächtnisses, des Erinnerns. Etwas zu
fokussieren ist nur möglich, indem ich sozusagen einen dunklen
Hof darum bilde, der vieles andere abschattet und der Aufmerksamkeit
entzieht. Da ist Vergessen immer schon kooperativ mit beteiligt.
Besonders interessant finde ich zwei andere Formen der Zusammenarbeit
von Erinnern und Vergessen. Auf die eine hat Friedrich Georg
Jünger aufmerksam gemacht. Er spricht vom
›Verwahrensvergessen‹ und er sagt, dass Dinge, an
die wir uns sehr lange nicht erinnert haben und die in gewisser Weise
im Unbewussten erhalten sind, sich durch das oberflächliche
Vergessen besser und frischer konservieren lassen.
›Verwahrensvergessen‹ heißt, etwas
wurde nicht immerzu aufgerufen und deswegen auch nicht ständig
besichtigt und damit abgeflacht oder immer wieder umformuliert, sondern
hat sich in einer gewissen sinnlichen Frische erhalten. Man
könnte sagen, dass Prousts Madeleine sehr viel damit zu tun
hat. Hätte er jedes Jahr oder gar jede Woche dieses in
Lindenblütentee getauchte Gebäck zu sich genommen,
wäre dieser Mega-Effekt nicht zustande gekommen.
›Verwahrensvergessen‹ zeigt sehr schön,
dass das Vergessen eine Form des Konservierens sein kann.
Das
zweite Beispiel findet sich bei Freud, der sich in seinem Werk Der
Mann Moses und die monotheistische Religion die Frage
gestellt hat, wie es eigentlich kommt, dass eine Religion wie das
Judentum über Jahrtausende diese Gewalt über
menschliche Herzen und Geister ausüben kann? Wenn es sich um
eine Tradition unter anderen handelte, könnte man sich
für oder gegen sie entscheiden. Aber wie ist der
›Zwangscharakter‹ dieser Religion zu
erklären, fragte er sich, die Tatsache, dass der Imperativ
nach wie vor gleich gebieterisch funktioniert? Seine Antwort darauf
war, dass das nur etwas mit Vergessen zu tun haben kann. Auch er
benutzt Vergessen als einen Erinnerungsverstärker. In diesem
Fall ist es das Trauma oder das Trauma der Schuld, also die
Verdrängung und der Schuldkomplex, die diese Erinnerung zu
einer unabweisbaren machen. Auch hier handelt es sich also um eine
äußerst komplexe Verschränkung von Erinnern
und Vergessen.
Solbach: Die
Namen der Künstler Anselm Kiefer, Rosemarie Trockel, Christian
Boltanski stehen für drei unterschiedliche Formen eines
›transgredierenden‹ Gedenkens. Kiefers Objekte
– ich erinnere an das von Ihnen in einem Aufsatz behandelte Zweistromland
von 1989 – könnte man vorausentworfene Relikte der
menschlichen Zivilisation nennen: strahlungsresistente
Überbleibsel, die von vergangenen Katastrophen und dem Schutt
der Geschichte Zeugnis ablegen. Dagegen scheinen Trockels Objekte und
Installationen eine (halb)verlassene kulturelle (weibliche) Praxis zu
bezeugen. Boltanski transferiert mit seinen Fotodokumentationen
– wie Sie in Lüdenscheid ausgeführt haben
– Elemente des familiären (privaten) Gedenkens in
den öffentlichen Raum. Wie andere zeitgenössische
Künstler verwischen, verschleiern, umspielen diese drei die
Grenze zwischen Relikt und Kunstwerk. Sind das für Sie
unterschiedliche Weisen, das Ende (ein Ende / Enden) der Kunst zu
gestalten? Sind es unterschiedliche Weisen des Zuendedenkens der Kunst?
Oder sind es Neuanfänge, Aufbrüche in eine neue Kunst
des Sehens und Sehenlernens?
Assmann:
Mit dem Konzept vom Ende der Kunst kann ich nicht viel anfangen. Zwar
sehe ich immer wieder das Ende bestimmter Formen von Kunst, aber aus
jedem Ende entsteht immer wieder etwas Neues. Es handelt sich dann
vielleicht um Epocheneinschnitte.
Solbach:
Das Ende ist auch als Formungsprinzip zu verstehen.
Assmann:
Das Ende ist ein Formungsprinzip und wir brauchen
es, damit sich das Neue absetzen kann gegen das, was zur Tradition
geworden ist. Da die Kunst sehr viel zu tun hat mit Aufmerksamkeit, da
sie Aufmerksamkeit erhalten muss, muss auch dieser teilweise
schmerzhafte Wahrnehmungseffekt immer wieder hergestellt werden durch
solche Brüche. Ich würde die Sache eher unter diesem
Aspekt des Bruches sehen. Ich finde die Formulierung ›von
der Kunst zum Relikt‹ interessant und nachdenkenswert. Wir
haben bereits über den Torso gesprochen, aber ein Relikt ist
noch einmal etwas anderes. Ich denke, dass es etwas zu tun hat mit
einem anderen Verhältnis zur Zeitlichkeit der Kunst. Die Kunst
– wenn wir uns das in einer ziemlich allgemeinen Dimension
vergegenwärtigen – hat viel zu tun mit dem Kampf
gegen Wandel, dem Kampf gegen das Verschwinden in der Zeit, dem Kampf
gegen den Erosionsprozess der Zeit. Gerade die Renaissance tritt mit
einem neuen, offensiven, positiven Selbstverständnis an, das
die Kunst etwas Überzeitliches zu schaffen vermöchte.
Shakespeares Sonette nehmen Horazformeln auf: monumetum aere perennius.
Wir können etwas verewigen, es der Zeit entreißen
und das, was bleibt, ist damit das, was die Dichter oder die
Künstler schaffen. Ein sehr hohes Selbstbewusstsein ist in
diese Gründungsphase der westlichen Kunst mit eingetragen, das
sehr viel mit einer Überwindung von Zeitlichkeit zu tun hat.
Dem
gegenüber ist die o.g. Formulierung geradezu eine Inversion
in dieser speziellen Thematik. Es geht nicht mehr darum, dass die Kunst
widersteht, überwindet und dem Verfall trotzt, sondern in die
Kunst selbst ist die Katastrophe eingeschrieben. Die Kunst als
vielleicht empfindlichster Seismograph für
Zerstörung. Die Umfokussierung von einem Trotzen
gegenüber der Zeit hin zum Konservieren der Spuren des
Einschlags der Zerstörung und der Katastrophe. Darin zeigt
sich ein völlig neues Kunstkonzept. Aus diesem Grunde finde
ich die Formel ›von der Kunst zum Relikt‹ so
interessant.
Sie haben eindrucksvolle Beispiele
aus der bildenden Kunst gewählt, man könnte das aber
auch an einem Gegenwartstext der Literatur zeigen. Einer der Romane der
israelischen Gegenwartsautorin Zeruja Shalev heißt Späte
Familie. Der Subtext dieses Romans – und so
heißt auch der Untertitel in der hebräischen
Originalfassung – ist ›Thera‹, das ist
eine griechische Insel, deren minoische Kultur durch einen
Vulkanausbruch zerstört worden ist. Es gibt nur Spuren und ein
paar Bilder, die noch immer mit erstaunlicher Farbigkeit leuchten. Ein
Faszinosum ähnlich wie dasjenige Pompejis. Der Bruch: Eine
blühende Kultur und Zivilisation, die plötzlich
erlischt. Das ist eine durch eine Naturkatastrophe induzierte
Zerstörung. Nach dem 20. Jahrhundert wissen wir, dass Kulturen
vor allem auch durch menschliche Gewalt zerstört und spurenlos
getilgt werden können. Das gesamte osteuropäische
Judentum, das ebenfalls eine florierende lebendige Kunst und Kultur
gewesen ist, gibt es nicht mehr oder nur noch in minimalen
›Spurenelementen‹. Das Jiddische als Kunst- und
Kultursprache ist ebenfalls nur in Spurenelementen übrig
geblieben und ich denke, dass Zeruya Shalev sich hier indirekt
über ein Thema aus der Antike auch dieser rezenten
Geschichtserfahrung vergewissert und die Thematik der
Zerstörung und Kunst als einen Seismographen der Katastrophe
auf ihre Weise ausgeführt hat.
Die
Künstler selbst, könnte man vielleicht noch
hinzufügen, geben ihrem Werk einen anderen Charakter. Gerade
bei Boltanski kann man zeigen, dass sich das Ganze sehr stark in
Richtung eines a-mimetischen Kunstbegriffes bewegt. Kunst bildet nicht
ab, schafft keine zweite Wirklichkeit, sondern benutzt Material, in das
sich etwas eingeschrieben hat. Dass zum Beispiel Kiefer mit so
interessanten Materialien arbeitet, zeigt auch, dass das Konzept des
Materials auf eine neue Basis gestellt worden ist. Beuys hat
wahrscheinlich damit begonnen zu zeigen, dass das Material der Kunst
nicht neutral ist, sondern dass es einen eigenen historischen Prozess
durchmacht und heterogen ist. Es ist damit nicht mehr nur symbolisches
Zeichen, sondern erhält zusätzlich einen eigenen
Index. Das Kunstwerk schafft einen Index, an dem sich etwas
niederschlägt, an dem etwas sichtbar wird und von daher
würde ich in der Tat zustimmen, dass sich hier etwas wirklich
Neues entwickelt.
Solbach:
Haben Sie bei Boltanski nicht auch manchmal das Gefühl, dass
es sich um produktive Ironie handeln könnte? Bei dem Projekt
›tote Schweizer‹, das Sie in Lüdenscheid
vorgestellt haben, hatte ich sehr stark den Eindruck, das die ironische
Komponente eine große Rolle spielt.
Assmann:
Genau. Eine ironische Komponente, mit der er auf tiefe Verunsicherung
aus ist. Ich habe den Eindruck, dass Boltanski mit dem Schweizer
Projekt etwas in Gang setzt. Er zerschlägt unsere inneren
Bilder, indem er sie ironisch in Frage stellt. Es geht um einen
Ikonoklasmus der inneren Bilder. Die Bilder, die wir mit uns herum
tragen, sind eigentlich sehr fest situiert, sind zuverlässig
abrufbar – sie sind ja die Deutungshilfen, die Schablonen,
die wir überall hin mitbringen – und damit stehen
sie uns aber auch im Wege. Boltanski fasziniert auch die
Außengrenze des kulturellen Gedächtnisses. Diese
Außengrenze aber ist der Müll; ständig wird
Kulturabfall transformiert in Müll, das heißt in
einen Verfallsprozess eingespeist, aus dem nichts mehr zurück
kommt. Das ist auch richtig so, denn es muss einen Humus geben und
dieser Humus muss sich zersetzen dürfen. Das Neue entsteht
eben auch durch Kompostierung. Aber es gibt natürlich immer
die Frage, wo zieht man diese Grenzen? Das Archiv ist eine Institution,
die zwischen dem in der Kultur erinnerten und dem aus der Kultur schon
herausgeleiteten und verworfenen angesiedelt ist, eine Art
Zwischenspeicher, ein Zwischenraum, der ganz nah am Müll
residiert. Man weiß, dass die Archivare, da sie auch nur
endliche Lagerungsräume zur Verfügung haben,
ständig ›kassieren müssen‹, wie
es bei ihnen heißt. Sie müssen immer wieder Platz
schaffen und sie sind mit der Entscheidung, was sie jeweils wegwerfen
sollen, ziemlich allein gelassen. Es gibt natürlich klare,
gesicherte Zentralbereiche, aber an der Peripherie wird unklar, warum
und ob etwas wichtig ist. Dass etwas wichtig ist oder sein
könnte, entscheidet sich erfahrungsgemäß in
dem Moment, in dem man es vernichtet hat. Dann fällt einem
ein, warum man es gebraucht hätte. Mir jedenfalls geht es
regelmäßig so beim Sortieren und Ordnen meiner
Papiere.
Mnemotechnik und
Gedächtniskunst
Solbach:
Die moderne Kultur ist eine ›besserwisserische‹
– sie ist definitiv vorläufig und vorläufig
definitiv. Auffällig prägt sich das in einer
umfassend negativ orientierten Gedenkkultur vor allem im
deutschsprachigen öffentlichen Raum aus. Auch die Kunst
partizipiert an diesem Trend. Damit meine ich nicht, dass heutige Kunst
vorwiegend negativ oder negativistisch ist. Eher könnte man
sagen, dass sie einem universalisierten Schrecken aufruht. Für
wie tief halten Sie den Einschnitt zwischen der Kunst des 19. und des
beginnenden 20. Jahrhunderts mit ihren Aufbrüchen und
Menschheitsposen und den Kunstentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte,
die alles in allem einen eher gedämpften Charakter tragen und
eine Art Unglauben an die Mission der Kunst transportieren?
Assmann:
Vielleicht müssen wir unterscheiden zwischen einer Mission der
Kunst auf der einen und einem negativen bzw. positiven Selbstbild der
Kunst auf der anderen Seite. Ich denke, Künstler brauchen ein
positives Selbstbild, sie müssen das Gefühl haben,
dass Kunst wichtig ist – Art matters.
Künstler zeichnen sich dadurch aus, dass sie davon
überzeugt sind. Sie können nicht
defätistisch sein von Anfang an und sagen, mit Kunst
können wir nichts ausrichten. Ich glaube, dass sie das
höchstmögliche Bild von der Kunst haben und dass das
auch relativ schwankungsunabhängig ist. Künstler sein
heißt, ein völlig kontraintuitives Leben zu
führen, Dinge zu tun, die andere nicht tun würden und
auch nicht zu fragen, was unmittelbar dabei herausspringt, ob es sich
umsetzen lässt. Hinter der Kunst steht eine Obsession und sie
wird getragen – sonst hätten wir es mit Wahnsinn
oder Manie zu tun – durch das unerschütterliche
Vertrauen, dass Kunst wichtig ist. Von daher würde ich
zunächst einmal sagen, dass das positive Selbstbild der Kunst
nicht angefochten ist. Was in der Tat angefochten ist, ist die Frage,
was Kunst leisten kann. Das ist aber auf einer anderen Ebene
anzusiedeln. Das Misstrauen in eine Mission der Kunst besteht aus guten
Gründen, da die Kunst sich immer auch zu allem
möglichen hat verleiten und in den Dienst stellen lassen. Man
weiß, wie kurzatmig und kurzfristig die Gültigkeit
solcher Missionen ist. Was wir heute nicht mehr haben, ist die
politisierte Kunst, die in den sechziger und siebziger Jahren noch
zentral war. Die Kunst, die der Ideologie eine Schlagkraft gab, die ist
nicht mehr zu finden, aber vielleicht ist der Provokationscharakter der
Kunst an diese Stelle getreten.
Dass Kunst etwas
bewirkt und zwar möglichst schnell beim Betrachter
Zustände, körperliche Affektionen vom Ekel bis zum
Lachen oder zum Schmerz herstellt, unmittelbare Anrührungen
und das Erschüttern, das alles ist geblieben, aber ohne
ideelle oder ideologische Komponente. Es gibt vielleicht noch eine
letzte Form der politischen Mission von Kunst, die wir heute aber eher
die ethische Aufgabe von Kunst nennen würden. Ein Beispiel: Es
gibt den Fotografen James Nachtwey, der Filme und vor allem Fotos macht
und ausstellt. Überall in der Welt reist er zu den
Ärmsten der Armen und man kann auf seiner Homepage lesen, dass
er sich als Zeuge versteht, dort taucht das Wort
›Witness‹ auf. Das Selbstverständnis des
Künstlers als eines Zeugen, der aufmerksam machen
möchte und damit zu einer hohen moralischen Instanz wird,
halte ich für ganz charakteristisch. Der Künstler als
Zeuge, der hinweist auf das Leid der Welt, das ist eine sehr aktuelle
Form der künstlerischen Mission. Ansonsten fällt auf,
wenn wir beispielsweise an Boltanski denken, dass es so etwas gibt, wie
eine starke Individualisierung der Kunst, die mit Beuys begonnen hat.
Ihre Devise lautet: ›Die Kunst, das bin ich.‹ Ich
denke da zum Beispiel an eine Boltanski-Ausstellung in Darmstadt auf
der Mathildenhöhe. Alle Räume hatten etwas mit Zeit
zu tun. Man betrat die Ausstellung und folgte dem Künstler zur
Eröffnung durch einen dunklen Tunnel, in dem man
natürlich nichts sah. Man schob sich miteinander hindurch und
hörte etwas. Es machte ›Bum, Bum, Bum‹.
Das war die Frequenz von Boltanskis Herzschlag, die aufgenommen worden
war. Durch diesen Engpass und Tunnel wurde man in die Ausstellung
geführt.
Solbach: Das
hört sich an wie eine Mutterleibserfahrung.
Assmann:
Ja, das ist es wirklich. Man betritt den Organismus Boltanski und damit
wird deutlich, dass das ›Nadelöhr‹ in
die Kunst hinein der Körper ist, und die Ausstellung selbst
hat auch mit jedem Werk auf den Künstler selber verwiesen. Ich
denke, das ist etwas Neues, im Sinne einer Engführung von
Kunst. Weg von den Missionen, zurück zur existentiellen
Erfahrung, die auch die körperliche Existenz des
Künstlers einschließt. Eine andere Form der
Engführung sehen wir in der biographishen Perspektive, die
eine große Rolle spielt, Künstler arbeiten viel mit
autobiographischen Materialien, mit Dingen also, die lange Zeit als
außerhalb der Kunst stehend verworfen wurden. Kunst geht
über in Leben. Dass das eigene Leben zum Material wird, ist
eine Entwicklung, die im Moment mit Händen zu greifen ist, vor
allem in der Erzähl-, in der Romanliteratur. Die Familien-
oder Generationenromane zeigen das und der Punkt hierbei scheint mir zu
sein, dass der Zugang zur ›großen‹
Geschichte oder Vergangenheit möglich wird durch das
Nadelöhr der ›kleinen‹ Vergangenheit,
der Familiengeschichte und des Familiengedächtnisses. Es
werden keine großen Tableaus gezeichnet, keine
übergeordneten Entwicklungen dargestellt, sondern eine feine
Linie, die von biographischer Erfahrung getragen ist.
Solbach:
Hat das vielleicht etwas zu tun mit dem Zeitzeugenkonzept,
über das wir vor dem Interview geredet haben. Und eine andere
Frage ist: Man beobachtet auch auf anderen Gebieten, dass der
Globalisierungseffekt, den es auch in der Kunst gibt, sogenannte
›Regionalisierungen‹ hervorruft. Glauben Sie,
dass die von Ihnen angesprochene Entwicklung auch diesen Aspekt hat?
Assmann:
Nehmen wir als Beispiel die 68er Bewegung, deren 40-jähriges
Jubiläum wir gerade begehen. Der Vergleich 1968 und 2008 ist
sehr interessant. Die Globalisierung hat damals noch nicht in der Weise
durchgeschlagen, aber die Perspektive war durchaus weltweit, denn sie
war darauf gerichtet, dass die unterdrückten Völker
dieser Erde eigentlich wichtiger seien als die Nachbarn, neben denen
wir wohnen und so engagierte man sich in Kuba oder sonstwo...
Solbach:
Das war dieser anti-imperialistische Zug damals...
Assmann:
Die anti-imperialistische Bewegung, die weit Entfernten waren in
allernächster Nähe, für die interessierte
man sich. Man interessierte sich aber nicht wirklich für die
eigene Geschichte, die eigene Familie usw. Das Eigene war verdeckt
durch das große Engagement für das Ferne. Dieser Zug
in die Ferne hatte viel mit dem Zug in die Zukunft zu tun. Dem
gegenüber sehen wir jetzt, dass wir zwar in einer
globalisierten Zeit leben mit allem, was dazu gehört, dass wir
aber viel stärker mit uns selber beschäftigt sind,
als es damals der Fall war. Man könnte sagen, das Pendel
schlägt in die andere Richtung aus. Es fehlt dieser Zeit auch
ein wenig Zukunftsoptimismus und ein kritischer Impuls der
Veränderung. Diese Dinge werden im Moment eher klein
geschrieben. Das hängt auch damit zusammen, dass eine
Generationenablösung erleben. Die nach '68 kommenden
Generationen sind immer noch damit beschäftigt, sich von den
'68ern abzusetzen. Sie müssen ihre Ideale oder Ziele so
formulieren, dass sie möglichst deutlich von denen der 68er
unterschieden sind. Damit sind wichtige kritische Impulse der 68er
für die Gegenwart zeitweilig verschlossen.
Solbach:
Die antike Mnemotechnik sollte das Erinnern leicht machen, nicht
thematisieren. Dem diente die imaginäre Topographie der
Gedächtnisörter, die von den
äußeren Orten des Gedenkens sorgfältig
unterschieden werden müssen. Bücher, die für
das kindliche Fassungsvermögen bestimmt sind, bewahren die
Erinnerung daran noch heute: die Fibel, der Orbis Pictus, alle
Bücher, die eine Art mechanischer Ordnung in den
Schriftzeichen nützen, um die sichtbare Welt zu ordnen. Paul
Klee als Maler, Walter Benjamin als Sammler, Jorge Luis Borges als
Erfinder magischer Landkarten und imaginärer Labyrinthe haben
sich solcher Modelle angenommen und ihnen als Formen der
Welterschließung zu neuer Aufmerksamkeit verholfen. Auch die
A.B.C.-Bücher Paul Mersmanns wären in diesem
Zusammenhang zu nennen. Sind künstlerische Arbeiten dieser Art
als Metaphern des kulturellen Gedächtnisses zu sehen? Was ist
an solchen Arbeiten leicht zu verstehen, was entzieht sich dem
Verstehen?
Assmann: Die
Mnemotechnik ist zunächst einmal eine Merkhilfe, nicht mehr.
Beliebige Inhalte, die man sich merken will, sollen mit dieser Technik
besser im Gedächtnis verankert werden, mit Hilfe von Orten und
Bildern, in die man diese Gedächtnisinhalte umschreibt. Auf
der anderen Seite steht die Mnemotechnik in ihrer Ausarbeitung in der
Renaissance als universales System für das Wissen der Welt.
Eine Vision, wie man das alles zusammenbringen kann. Vielleicht, so
hoffte man, wenn die richtige Formel gefunden wird, dann bekommen wir
das Wissen in einen überlegenen Blick. Es ist sehr
interessant, dass diese Vision am Ausgang des Mittelalters und am
Anfang der Neuzeit steht. Es handelt sich um ein kleines Zeitfenster in
der Geschichte der Menschheit, das es erlaubte, eine solch
überbordende Phantasie zu entwickeln. Als ein Ziel, das
wirklich zu erreichen und wünschenswert wäre. Ein
Pansophismus, der alles Wissen zusammenholt. Die vielleicht
größte Figur dieses Projekts ist Athanasius Kircher,
der Zeitgenosse von Comenius, der damit beschäftigt war,
Formeln, Anordnungen, Konstellationen zu schaffen, in denen alles
synchron nebeneinander gestellt werden kann. Diese Idee wurde sehr
schnell anachronistisch, da es sich auch um die Zeit handelt, in der
die neuen Wissenschaften, die Naturwissenschaften beginnen. Die Royal
Society begann mit ihren Experimenten und in dem Moment wurde die
Evolution des Wissens in einer Weise losgetreten und tangentiell
beschleunigt, die diese Hoffnung sehr bald begraben hat. Aber ich nehme
nicht an, dass sie aufgegeben wurde, ich glaube die Menschheit
träumt diesen Traum immer noch, vielleicht in irgendwelchen
Enklaven und Zirkeln. Vielleicht sind die Freimaurer der letzte dieser
Zirkel oder die Anthroposophen. Es gibt jedenfalls Richtungen, die
dieses Ideal weiter hochhalten und den Zusammenhalt wieder einfordern.
Aus diesem Zentrifugalen, aus dieser Wissensmaschine versuchen sie
zurück zu gehen auf ein eher durch Gestalten
zusammengehaltenes Wissen, das die Einheit verbürgt.
Ich
denke also, dass es das gibt, aber ich glaube nicht, dass die Kunst
jetzt eine größere Rolle dabei spielt. Wir
müssen vielleicht auch über die verschiedenen
Schreibtechniken nachdenken, die dabei verwendet werden. Das ABC wird
hier ja erwähnt. ABC ist die Fähigkeit des Schreibens
und Lesens, eine Kulturtechnik, aber auch eine Herrschaftspraxis und
eine Form von Herrschaftswissen. Dieses Herrschaftswissen des
Schreibenkönnens ist inzwischen abgelöst oder
überformt durch die nächste Stufe, das digitale
Wissen, die digitale Schrift, die Fähigkeit, mit der
Computerschrift umzugehen. Auch da muss man mithalten, und wenn man
sich diese rasante Evolution der Schriftentwicklung anschaut, ist es
wiederum interessant, dass auch die Mnemotechnik als kompensatorische
Kraft immer wieder mit hineinkommt. Je unsinnlicher das Schreiben
selber wird – es sind ja nur noch elektrische
Stromstöße –, desto anschaulicher werden
die sogenannten Icone – icons – auf dem Bildschirm,
die uns helfen, diese Schrift zu verwalten. Ich finde es sehr
interessant, dass sich auf dem Bildschirm des Computers archaische
Bilder und neueste Technik kreuzen. Aus dem Englischen
übernehmen wir z.B. ein Wort wie ›to
scroll‹, wenn wir rauf- und runtergehen in einer Datei. Und
›scroll‹ ist die Manuskript-, die Buchrolle, die
in Form des Papyrus über zwei Rollen läuft und die
man in der einen Richtung auf und in der anderen zurollt. Wir wissen
nichts mehr von diesen archaischen Schreibtechniken, aber im Computer
ist noch ein Gedächtnis für diese älteren
Formen des Schreibens und Lesens erhalten. Wir brauchen
Anschaulichkeit, weil wir unser Wissen letztlich doch wieder an Bilder
binden müssen ...
Solbach:
Die zivilisatorische Entwicklung tendiert dazu, das kulturelle
Gedächtnis Spezialisten zu überantworten:
Wissenschaftlern, Künstlern, Konservatoren, Museumsleuten. Des
weiteren könnte man sagen, dass Ausdifferenzierung der
Archivfunktion und Vermehrung der Medien eine zweite
Entäußerung mit sich bringen. Jegliches Wissen ist
abrufbar, aber ausgelagert, wenn man den lebendigen Umgang der Menschen
mit ihm als Maßstab nimmt: ein, wie es scheint, unumkehrbarer
Prozess. Wie zufällig ist zum Beispiel Modersohn-Beckers
Begegnung mit der ägyptischen Grabkunst, deren Resultate in
einer Kölner Ausstellung dieses Jahr zu sehen waren? Wie
arbiträr ist das Verhältnis unserer Kunst zur
Vergangenheit insgesamt?
Assmann:
Auf Paula Modersohn werden wir gleich zu sprechen kommen. Ich
möchte erst einmal bei der These anfangen, die ich nur
unterstützen kann, dass es tatsächlich so etwas wie
eine starke Auslagerung ganzer Gedächtnisfelder gibt. Das ist
im Schreiben letztlich schon angelegt. Indem wir etwas niederschreiben,
speichern wir es ab, lagern es aus. Das geschieht nun auf einer
gesamtgesellschaftlichen Ebene. In der Kultur überhaupt,
vollzieht sich so etwas wie eine Auslagerung, Ausdifferenzierung und
starke Professionalisierung von Gedächtnisarbeit. Man muss sie
nur einmal aufzählen, die vielen Planstellen, die geschaffen
sind und auf denen Menschen ständig emsig tätig sind.
Das sind die Bibliothekare, die Archivare, es sind die
Museumskuratoren, die Historiker an den Gedenkstätten. Sie
alle haben dauerhaft damit zu tun und letztlich vermitteln sie dem Rest
der Gesellschaft ein wenig das Gefühl: Ihr macht das und wir
sind davon befreit. Das ist nun einmal das Merkmal einer funktional
differenzierten Gesellschaft, in der wir leben, dass diese Dinge
abgelöst werden und dann eine eigene Dynamik entfalten. Die
Frage könnte jetzt lauten, wie die Vermittlung ins Innere der
Gesellschaft hergestellt wird, wenn wir all diese Bereiche auslagern.
Ich denke, die Medien spielen da eine ganz große Rolle. Sie
funktionieren in unserer Gesellschaft als Vermittler zwischen diesen
externalisierten Gedächtnisbereichen. Wobei man allerdings
sagen muss, dass die Medien selbst kein Gedächtnis schaffen.
Das will ich immer wieder betonen, denn sie sind permanent damit
beschäftigt, Gedächtnistermine wahrzunehmen
– alle Medien, Fernsehen, Rundfunk, Verlage usw. folgen dem
Jubiläumskalender. Man muss wissen, wann das nächste
Bachjahr ist, wann Goethe und Schiller wieder dran sind und so weiter.
Das wird alles zentral registriert, verhandelt und langfristig in die
Planung einbezogen. Das heißt die Medien sind die Agenturen
dieser ›Anlasserinnerung‹, wie man sie auch
nennen könnte.
Solbach:
Die Medien sind eigenartig gedächtnislos.
Assmann:
Deswegen sehe ich in den Medien auch keine
Gedächtnisproduzenten, sondern höchstens
Aufmerksamkeitssteuerungsagenten. Das, was sie gerade hochhalten, wird
am nächsten Tag, in der nächsten Woche oder im
nächsten Jahr schon wieder durch das nächste Ereignis
überlagert. D.h. es bildet sich nichts, es kann sich nichts
bilden, es kann nicht zu einer vertiefenden Beschäftigung
kommen. In demselben Maße, in dem Erinnerung produziert wird,
wird auch Vergessen produziert durch Überschreiben. Das
Problem besteht darin, das die Medien diese Dinge zwar triggern, sie
immer wieder auslösen, aber indem sie eine Schicht
über die andere ablagern, löschen sie sie auch aus.
Wir müssen also woanders danach suchen, uns fragen, wo die
stabileren, stetigeren Instanzen sind, die so etwas wie ein kulturelles
Gedächtnis aufbauen.
Zunächst
aber finde ich die Frage der Archivfunktion interessant. Wenn wir das
etwas Allgemeiner nehmen, könnte man sagen, das kulturelle
Gedächtnis – wir reden hier mit einem neuen Begriff,
man kam ziemlich lange ohne ihn aus. Vor dreißig Jahren hat
man dazu vielleicht Tradition gesagt. Was unterscheidet den Begriff
›Kulturelles Gedächtnis‹ von dem der
›Tradition‹? Der Begriff
›Tradition‹ beschreibt ein Kontinuum kultureller
Weitergabe, das immer schon normativ aufgeladen ist. Der Begriff des
kulturellen Gedächtnisses ist dem gegenüber eher
neutral. Erstens schließt er auch das Vergessen ein, aber er
schließt auch einen Strukturwandel von Tradition mit ein.
Wenn wir auf Paula Modersohn-Becker sehen, dann ist es interessant,
dass sie etwas aufnimmt, das wir nicht Tradition nennen, denn mit
dieser ägyptischen Grabkunst ist sie nicht verknüpft.
Es gibt keinen interkulturellen Zusammenhang, der sie ihr vermitteln
würde. Sie kommt daran, da es Museen, eben diese Orte der
Gedächtnis-, der Erinnerungsspezialisten gibt, der
ausgelagerten Erinnerung. Die Museen, die auch so etwas sind wie Orte
der Spolien, der Trophäen, der Ansammlung von Relikten, sind
sehr viel mehr als traditionsbildende Speicher. Ägyptische
Grabkunst heißt hier genauer gesagt, die Portraitkunst der
Mumienmalereien. Mumienportraits, das ist ja die älteste Form
von Malerei auf der chemischen Basis von Farben, die unseren bereits
sehr nahe kommen und die Illusions-Effekte, die dabei erzielt werden,
sind ganz außergewöhnlich. Einerseits malerisch,
andererseits der lebendige Effekt dieser Gesichter. Es ist wirklich so,
dass die Gesichter vor einem aufleuchten. Das Eindrucksvolle bei diesen
Bildern ist diese Mischung aus formaler Reduktion auf der einen Seite
und einem ganz außergewöhnlich lebensnahen Eindruck
auf der anderen Seite. Das hat eine Malerin wie Paula Modersohn-Becker
entdeckt und in einem Spiegelverhältnis mit diesen
frühen Malern und ihrer Technik und Kunst hat sie sich in
ihrer Malerei neu anregen und befruchten lassen. Das ist ein
großartiger Effekt, wenn über Jahrtausende so ein
neuer Kontakt zustande kommt. Das ist etwas ganz anderes, als etwas
über eine Tradition weiterzureichen. Traditionen sind linear
und laufen durch die Zeit durch, hier läuft nichts durch die
Zeit, hier springt es sozusagen von einem Zeitpunkt zum anderen
über und es entsteht ein Verhältnis der Nähe
des Entfernten, das in Traditionen nie möglich wäre.
Ein ähnliches Beispiel ist auch die Negerplastik. So
heißt das Buch von Carl Einstein, das den Kubismus sehr stark
beeinflusst hat. Das ist das Spannende, dass in der Kultur solche
Sprünge möglich sind. Die Voraussetzung
dafür ist, dass es ein Archiv gibt, das diese Dinge materiell
erhält und zusammenholt und die neue Begegnung
ermöglicht. An diesem Punkt kann man sehen, dass es nicht nur
so etwas gibt wie kreative Zerstörung, von der wir eben
gesprochen haben, sondern auch kreative Erinnerung. Der Sprung ist
letztlich ein Zusammenholen von Entferntem und gerade die Moderne hat
sich sehr intensiv beeindrucken und beeinflussen lassen von kulturell
peripheren Dingen, die diese Künstler unter ganz anderen
historischen Bedingungen wieder entdeckt haben.
Man
könnte hier auch T. S. Eliot nennen, der in seinem Waste
Land Zitate aus dem Sanskrit einbaut und wirklich kulturelle
Impulse aus der ganzen Welt versammelt. Frazer war der große
Ethnologe (das ist auch die Zeit in der die Ethnologie erfunden wurde
und in der die großen Zettelkästen entstehen), wo
die Ethnologen als Jäger und Sammler von Kulturen um die Welt
reisen. Insofern gibt es in der Moderne eine neue Aufmerksamkeit und
Sensibilität für diese Anknüpfungsmomente,
die erst möglich werden durch ein Zerschlagen oder Verblassen
von Tradition. Das heißt, man muss aus seiner eigenen
Tradition heraustreten, um einen ganz neuen Gedächtnishorizont
aufmachen zu können, in dem man sich auf eine andere Weise
inspirieren lässt. Der Kolonialismus ist da ein ganz wichtiger
Vermittler. Es gibt ja auch eine enge Verbindung zwischen Ethnologie
und Kolonialismus. Die Ethnologen sind ja am Anfang weitgehend die
Spezialisten für die fremden Länder und das ist
eigentlich bis heute so in den Geisteswissenschaften. Sie mussten
sagen, wie man in diesen Ländern am Besten regiert,
dafür brauchte man die Kunde von den fremden Kulturen. Die war
nie ganz uneigennützig, aber für die
Künstler haben sich damit auch neue Perspektiven aufgetan.
Solbach:
Es gibt eine Ästhetik der Zerstörung und eine der
Form. Zusammen genommen entspricht dies der Duplizität von
Vergessen und Vergegenwärtigung im Gedächtnis. Das
Trümmerfeld kann ein Ort des Gedenkens sein, aber es verdeckt
auch das Gewesene und hilft, es unsichtbar zu machen. Es ist selbst
vielleicht eher ein Zeichen des Vergehens oder Vergangenseins als des
Vergangenen selbst. Welchen Sinn hat die Bewahrung solcher
Örter und Anblicke? Welche kulturanthropologische Bedeutung
käme dagegen dem durchgeformten Kunstgegenstand zu?
Assmann:
Gegenfrage: »Gibt es eine Kunst ohne Form?« Ich
glaube, das geht gar nicht. Ich würde dagegen halten und
sagen, dass Form die Minimalbedingung von Kunst überhaupt ist
und das ist auch genau das, was sie unterscheidet von der amorphen
Realität. Wir können soweit gehen, zu sagen, dass
selbst das ready made noch über diese
Formqualität verfügt, weil es dann nämlich
die Form dieses ready mades ist, die zum Prinzip
erhoben wird. Ob es das Pissoir ist oder dieses
Gerät, an dem Flaschen trocknen, plötzlich steht es
uns eben in seiner reinen Form vor Augen. Insofern
glaube ich nicht, dass die Form als eine Alternative gegenüber
einer anderen hier aufgebaut werden könnte. Was ich vielleicht
hier noch anfügen möchte, ist der Weg von der Form
zur Formel. Dieser Schritt ist für den
Gedächtnisdiskurs wiederum von großem Interesse,
denn es ist auf der einen Seite die Form, die etwas
abschließt und überlieferungsfähig macht,
aber es ist die Formel, die etwas wiederholbar macht, jetzt in einem
noch engeren Sinne, das heißt, Formel und Reproduktion gehen
zusammen. Reproduktion gemeint im Sinne von Vervielfältigung
auf der einen Seite und Weitergabe auf der anderen. Wofür man
eine Formel hat, das kann man weitergeben. In diesem Sinne war Warburg
das Genie, das Kunst und Erinnerung auf eine neue Weise zusammendachte
und auf die Formel eingegangen ist. Wobei ihn die Tradierbarkeit von
Kunst interessierte. Zum einen innerhalb der Tradition selbst, man
denke an die homerischen Formeln oder die Topoi, also die
wiederholbaren Elemente in einem Kunstwerk. Zum anderen aber auch
innerhalb des individuellen Gedächtnisses. Und das ist ein
Punkt, der mir sehr wichtig erscheint: Was geschieht im Betrachter beim
Anschauen von Kunst oder beim Lesen von Texten? Wie entsteht der Konnex
zum Leser und Betrachter? Hier sind die Formeln für die Produktion
fast ebenso entscheidend wie für die Rezeption,
weil sie das sind, was den Wiedererkennungscharakter von Werken
ermöglicht. Das sind nicht nur die Stereotypen, von denen wir
vorhin gesprochen haben, die dann wieder auch gebrochen werden
müssen, um einen unvoreingenommenen Blick zu
ermöglichen. Es ist das Vorwissen, ohne das wir Kunst
überhaupt nicht wahrnehmen können. Und ein
für mein Gefühl unterschätzter, aber
unüberbietbar wichtiger Teil ist der
›Familiarisierungseffekt‹. So könnte man
den Vorgang vielleicht im Gegensatz zum Verfremdungseffekt nennen: Wenn
wir etwas sehen, freuen wir uns an dem, was wir wiedererkennen
können. Dieser Wiedererkennensbezug ist ein sehr individueller
und hängt vollkommen von dem ab, was man weiß und
was man schon gesehen hat. Man muss in sich dieses Gedächtnis
in Schichten aufbauen, und was einen einmal beeindruckt hat, wird einen
das nächste Mal wieder beeindrucken. Das heißt, im
Betrachter baut sich dieses kulturelle Gedächtnis durch
Familiarisierung auf, wobei Familiarisierung nicht zur Stereotype wird,
sondern zu einer wirklichen Vertiefung des Eindrucks. Und so gehen wir
auch durch die Museen, bleiben vor einem Bild stehen oder laufen
gelangweilt zum nächsten, wenn wir nichts in uns aufgebaut
haben, das uns anzieht. Man kennt das ja, dass die Hörhilfen,
diese Audioguides die Menschen immerhin dazu zwingen, einmal
fünf Minuten stehen zu bleiben. Es wird einem etwas
erzählt und plötzlich kann man es lange aushalten vor
einem Bild. Das ist ein Teil dessen, was man Bildung nennen kann, das
bedeutet ganz konkret: eine Vorerfahrung, die man für die
Wahrnehmung weiterer Kunstwerke nutzen kann. Diese Form von kultureller
Bildung ist eine effektive Pädagogik des kulturellen
Gedächtnisses, die eine sehr subjektive ist, da jeder einen
anderen Weg gehen kann.
Schluss
Solbach:
Eines Ihrer Bücher trägt den Titel Der
lange Schatten der Vergangenheit. Es handelt aus gegebenem
deutschem Anlass von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Man
könnte den Titel aber auch als eine ästhetische
Metapher lesen: der Schatten der Ideen, ›umbra
idearum‹, ist eine Renaissancemetapher für die
Kunst. Ist das Reich der Vergangenheit mit dem Reich der Ideen
deckungsgleich? Anders gefragt: Erfahren wir alles über den
Menschen, wenn wir die Vergangenheit befragen? Was erfahren wir nicht?
Wo liegen die Grenzen von Ordnungs-, wo die Grenzen von Leiderfahrungen
vergangener Generationen und Kulturen?
Assmann:
Vielen Dank für das schöne Stichwort
›umbra idearum‹, das mir nicht ganz unvertraut
ist, da ich mich länger mit dem Barock-Epiker Milton
beschäftigt habe. Allerdings ist der Begriff des Schattens
zweideutig. Erstens steht er in einer platonischen Tradition. Schatten
sind für Platon das, was nicht real ist, ein Bild der
Realität, aber nicht die Realität. Die Differenz, der
Abstand werden hier immer mit gedacht und die Anschaulichkeit der Kunst
ist nur die zweite oder eine verminderte Stufe der Ideen, sie macht die
Ideen anschaulich. Im Sinne Platons ist die Kunst als Mimesis
grundsätzlich minderwertig. Zweitens sind Schatten etwas, das
man vorauswerfen kann. Wenn die Sonne im Rücken ist, dann
finden wir die Schatten vor uns und diejenigen, die uns kommen sehen,
sehen als erstes unseren Schatten. Diese Bedeutung, dass Schatten auf
etwas verweist, das erst noch kommt, ist dann diejenige, die im Neuen
Testament eingesetzt wurde. Das heißt, die
Hebräische Bibel, das sogenannte Alte Testament zeigt uns
Bilder im Sinne von Schatten, die das bereits anzeigen, was dann erst
im Neuen Testament als Realität eingelöst wird. Also
man könnte sagen, dass ist die
›Vorahmung‹, nicht die Nachahmung dessen, aber es
ist eben in gewisser Weise auch nicht substantiell, die Substanz kommt
noch. In beiden Fällen geht es um diese ontische Differenz
gegenüber dem Eigentlichen. Oscar Wilde hat darüber
einen sehr schönen Aufsatz geschrieben, The Decay of
Lying, also der Niedergang der Lüge, den er beklagt.
Mit Lüge meint er letztlich die künstlerische
Phantasie und er sagt, es gebe nichts Höheres als diese. Die
Kunst sei in dem Reich anzusiedeln, in dem Platon die Ideen ansiedelt
und er geht so weit, das auch platonisch zu wenden, indem er sagt, es
sei das Leben, das der Kunst folge. Die Kunst gibt dem Leben seine
Struktur vor und ist in diesem Sinne auch Vorahmung. Das erscheint
nicht unplausibel, wenn man bedenkt, wie die Kunst unsere
Wahrnehmungskonventionen geprägt hat. Stehe ich in einer
bestimmten Landschaft und sehe eine Eiche und Wiesen und dann ein paar
Hügel im Hintergrund, dann beeindruckt mich das und ich komme
auf vorgeprägte Bilder zurück. Ich habe Caspar David
Friedrichs Bild gesehen habe und das hat mich so beeindruckt, das ich
mit diesem Blick, den ich von Caspar David Friedrich gelernt habe, auch
die Landschaft sehe. Das könnte man auch in andere Bereiche
hinein verlängern. In einer amerikanischen Kleinstadt zum
Beispiel gefällt einem eine bestimmte Ecke oder auch eine
Kneipe, wenn sie an Hopper erinnert. Das heißt, man freut
sich, wenn die Realität dem Bild möglichst nahe
kommt. Da ist schon sehr viel dran, was unsere Wahrnehmungskonvention
usw. betrifft.
Das Wort Schatten hat
natürlich auch andere Konnotationen. Ich habe den Begriff
wahrscheinlich mehr unter dem Aspekt einer dunklen Wolke verwendet. Ein
Raum ist verdüstert, aus dem man noch nicht heraustreten kann
– man ist noch im Schatten und kommt noch nicht in die Sonne:
das entspricht der Markierung eines Bewegungsraums, der
eingeschränkt ist, einer depressiven Präokkupation.
Wir reden hier über die Vergangenheit im sogenannten
posttraumatischen Zeitalter in dem wir stehen, nicht nur als Deutsche
nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern natürlich auch an anderen
Orten der Welt in der postkolonialen Situation, mehrere Jahrhunderte
nach der Sklaverei usw. Das alles sind Traumata der Geschichte, die im
Moment wieder hochkommen und noch einmal neu durchlebt werden und ihre
Schatten werfen.
Es gibt mehrere Schatten und
dieser Schatten ist einer vor dem man sich hüten muss, dass er
nicht in die Depression führt. Inzwischen gibt es eine Kritik
am Traumabegriff, der auch zu einer Falle werden kann. Es gibt den
Gegenbegriff der ›resiliance‹, den die
Psychotherapeuten stark machen. Damit ist die Fähigkeit
gemeint, aus negativen und traumatischen Erfahrungen heraus
Gegenkräfte zu mobilisieren. Daneben gibt es
natürlich auch den Impuls, in dieser Falle der Vergangenheit
nicht stecken zu bleiben, sondern Konsequenzen für die Zukunft
zu ergreifen. Das ist immer die Frage der Umsetzung mit dem Blick in
die Zukunft, der dann auch aus dem Schatten herausführt.
Auf
eine letzte Konnotation von Schatten hat mich ein Kollege in Chicago,
Michael Geyer, aufmerksam gemacht. Er sagte, Schatten nenne man auch
das, was man auf einem Röntgenbild entdeckt, zum Beispiel ein
Schatten auf der Lunge. Das ist ein Makel, ein Mangel, mit dem man
leben muss, den man nicht los wird, der einem dann aber auch anhaftet
und der einen charakterisiert, der nicht einfach beseitigbar ist.
Insofern ist auch dieser Schatten ein Teil dieses Bildes.
Solbach:
Der mit dem anderen gemeinsam hat, dass man mit ihm umgehen lernen
muss. Ich danke Ihnen für das Gespräch.