In den Beziehungen zwischen den Völkern spielt das Bild, das sich die eine Nation von der anderen macht oder das einer Nation bezüglich der anderen suggeriert wird, eine kaum zu überschätzende Rolle. Bis in den zwischenmenschlichen Bereich hinein bestimmen solche Pauschalvorstellungen von den anderen das Klima zwischen den Völkern, vielfach über sehr lange Zeitspannen hinweg. Damit überdauern sie tendenziell die wechselhaften politischen Vorgaben und Programme, auch wenn diese ihrerseits auf die nationalen Stereotypen zurückwirken können.
»Dem Deutschlandbild, das sich die Franzosen machen, entspricht etwa unser Russlandbild«, schreibt Manfred Koch-Hillebrecht in seiner Studie Das Deutschenbild (1977, S. 248), »dort die Deutschen der Madame de Staël, die sich in ihren unergründlichen Wäldern die Märchen der Gebrüder Grimm gegenseitig vorlesen, sich an Kachelöfen wärmen, Sauerkraut essen und im übrigen die Sitten und Gebräuche ihrer Vorväter wahren. Hier die geduldige russische Seele, die den unendlichen Weiten der Ebene entspricht, die schneebedeckte Tundra, auf der eine Troika mit Glockengeläut vorbeiläuft, angetrieben von einem gutmütigen Kutscher. Dort Richard Wagners Opern, die die Gefühle und nicht den Intellekt ansprechen – hier das Wolgalied und die Donkosaken, die zu Tränen rühren.«
Wer sich vergleichend mit solchen nationalen Stereotypen beschäftigt, stößt im Rahmen Europas auf eine West-Ost- (wie auch Nord-Süd-)Schiene, auf der Urteile sich in aller Regel bewegen. Die Wahrnehmung des jeweils östlichen Nachbarn als barbarisch (bzw. natürlich) und des jeweils westlichen als dekadent (bzw. zivilisiert) macht zweierlei deutlich: Erstens sind die Stereotypen nicht völlig beliebig, denn ihnen liegen in der Regel Ungleichzeitigkeiten der jeweiligen national- und regionalgeschichtlichen Entwicklung zugrunde, aus denen langlebige Unter- und Überlegenheitsgefühle resultieren. Zweitens steckt in den Vorstellungen, die man sich von einer anderen Nation macht, indirekt Wesentliches vom nationalen Selbstbild. Wenn sich z. B. die Deutschen für fleißig und ordentlich halten, dann liegt es nahe, dieses Selbstbild dadurch auszudrücken, dass andere Völker – im Osten und Süden – als faul und unordentlich betrachtet werden. Gemessen am Leitbild des heroischen Befreiungskampfes, das die polnische Nationalbewegung seit den blutig niedergeschlagenen Aufständen von 1830/31, 1848 und 1863 bestimmte, nahmen sich die Tschechen, die ihre nationale Emanzipation überwiegend mit anderen Mitteln betrieben, wie ein Volk von Feiglingen aus. Der polnische Heroismus, der die Bewunderung vieler Liberaler Europas fand, war indessen großenteils ein Erbe adeliger Werte. Als das stärker kleinbürgerlich geprägte ›polnische Gemeinwesen‹ in der preußischen Provinz Posen gegen Ende des 19. Jahrhunderts seinen nationalen Selbstbehauptungskampf intensivierte, richtete es sich am Vorbild just der Tschechen auf, die ohne große Worte im gesellschaftlich-ökonomischen Kleinkampf gegen die deutsch-österreichische Hegemonie angetreten waren.
Nationale Stereotypen – es klang schon an – sind in der Regel nicht eindeutig in ihrer Wertung, sondern ambivalent konstruiert, auch wenn man sagen kann, dass Selbstbilder eher positiv, Fremdbilder meist eher negativ gefärbt sind. Der russische Publizist Nikolai Danilewski, dessen Buch Russland und Europa (zuerst 1871) zur Bibel des Panslawismus wurde, stellte die »Völker des romanisch-germanischen Typs«, charakterisiert durch »Gewaltsamkeit« als Ergebnis übermäßigen Individualismus', den slawischen Völkern mit ihrer »angeborenen Humanität« gegenüber und sah sich seitens Wladimir Solowjews, eines seiner schärfsten Kontrahenten, dem Vorwurf ausgesetzt, das Lehrbuch der Weltgeschichte (1859) des Deutschen Heinrich Rückert plagiiert zu haben. Die positive oder negative Wertung kann sich also ändern, ohne dass die alten Klischees aufgegeben werden. Viele der antisemitischen Topoi lassen sich relativ problemlos philosemitisch umwerten, wie der geschäftliche und berufliche Erfolg west- und mitteleuropäischer Juden. Man kann die Verhaltensweisen der Deutschen als diszipliniert oder als starr und autoritätshörig bezeichnen, die bereits erwähnten Polen als idealistische, glühende Patrioten oder als verantwortungslose Abenteurer und Fanatiker. Jede der beiden Einschätzungen, die positive wie die negative, bezieht sich auf genau dieselben (vermeintlichen) Eigenschaften, nur in jeweils unterschiedlicher oder sogar gegensätzlicher Bewertung. Gegenüber den regelrechten, deklarierten Feindbildern, die meist begrenzten Perioden und politisch-sozialen Kräften zuzuordnen sind – sie bündeln negative Qualitäten, die einer Gruppe angeblich unveränderlich zugehörig sind und hochgradig affektiv aufgeladen werden –, verfügen die allgemeineren nationalen Stereotypen gerade wegen ihrer ambivalenten Struktur und des Mangels an ideologischer Zielgerichtetheit über ein größeres Maß an Dauerhaftigkeit und Vielfältigkeit bei der Verwendung. Denn sie scheinen zeitlos und unpolitisch.
Aus alledem ergibt sich für die historische Forschung (was von mir hier nicht geleistet werden kann), dass sie sich nicht mit der Rekonstruktion jeweiliger Bilder und deren Deutung begnügen kann, sondern verstärkt auf die spezifischen Konstellationen achten muss, in denen sie entstehen. Dabei gilt es zu beachten, dass die historische Analyse wechselseitiger Wahrnehmung nicht auf die bilaterale Kommunikation beschränkt werden darf. Die Wirklichkeit war und ist polylateral, und so stehen auch die deutsch-russischen Beziehungen und die damit verbundenen Bilder von jeweils anderen im Kontext einer Vielfalt zwischennationaler Kontakte.
Nun würde es den über Jahrhunderte entwickelten deutsch-russischen Beziehungen und namentlich den reichhaltigen Russland- und Russenbildern der Deutschen nicht gerecht, alles unter den Gesichtspunkt nationaler Stereotypen zu subsumieren. Lew Kopelew hat aufgrund seiner Studien darauf bestanden, wie er 1989 in einer essayistischen Projektskizze (in ders., Und dennoch hoffen, 1991, hier S. 91) formulierte, »dass es in keinem anderen westlichen Land vergleichbare Überlieferungen einer geistigen Verbindung mit Russland gibt wie in Deutschland«, neben den ebenfalls wichtigen, wirtschaftlich-sozialen, staatspolitischen und militärischen Beziehungen. Das von Kopelew bis zu seinem Tod geleitete ›Wuppertaler Projekt zur Erforschung deutsch-russischer Fremdenbilder‹ hat die wechselseitige Wahrnehmung der Deutschen und der Russen in einer bis dahin nicht gekannten Intensität und Breite erforscht, zurückgehend bis auf das Mittelalter, doch die Zeit seit den mittleren 1920er Jahren aussparend. Die die Sicht der Deutschen behandelnde Reihe der West-Östlichen Spiegelungen umfasst fünf Bände, die seit 1985 erschienen.
Speziell seit dem 19. Jahrhundert suchten deutsche Geisteswissenschaftler und Dichter das als geheimnisvoll empfundene Russland zu verstehen und gelangten oftmals zu der Auffassung, zwischen beiden Völkern gebe es aufgrund einer Art Seelenverwandtschaft eine schicksalhafte Verbindung. Namen wie Rainer Maria Rilke, Ernst Barlach, Thomas Mann und Heinrich Böll, um im 20. Jahrhundert zu bleiben, machen deutlich, dass die geistige Verbundenheit mit dem großen Nachbarn im Osten von Schriftstellern und Künstlern ganz unterschiedlichen geistigen Zuschnitts empfunden wurde.
Die politische Wahrnehmung Russlands wurde vom späten 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart von der Kontinuität des Russischen Imperiums, seiner Riesenhaftigkeit und geographischen Lage bestimmt, auch über die Brüche von 1917 und 1991 hinaus. Der Sympathie der adelig geprägten Führungsschicht namentlich Preußens für Russland – beim Tod Nikolaus I. 1855 titelte die »Kreuzzeitung«: »Unser Kaiser ist tot« – lag eine lange Tradition der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zugrunde. Man kann sagen, Brandenburg-Preußen ist nur mit Rückendeckung der Russischen Zaren zum Königtum, zur norddeutschen Hegemonialmacht und zur europäischen Großmacht aufgestiegen. Und nur mit russischer Unterstützung konnte Bismarck in den Jahren vor und um 1870 die Einigung Deutschlands unter Führung Preußens verwirklichen. In einem Erlass an den preußischen Gesandten in St. Petersburg vom 31. Januar 1868 sprach Bismarck deshalb von Russland als dem »natürlichen historischen und intimen Bundesgenossen«. Nicht das Zarentum, sondern der Panslawismus mit seinen expansiven und popularen Tendenzen, die inneren Spannungen und die Instabilität ließen Bismarck das Großreich im Osten in der Folgezeit mehr und mehr als potentiell friedensbedrohend wahrnehmen.
Ausgesprochen angesehen waren Russland und die Russen in weiten Teilen des deutschsprachigen Mitteleuropa namentlich in Preußen, während und unmittelbar nach den antinapoleonischen Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 gewesen, und zwar zunächst das gesamte politische Spektrum umfassend. Zar Alexander, der nach außen zeitweise liberalisierende Neigungen erkennen ließ, wurde als Befreier verehrt, die später so furchteinflößenden Kosaken, gleichsam die Vorhut der russischen Truppen, wurden im Frühjahr 1813 in Berlin und anderswo begeistert gefeiert. Die Gassenjungen sangen: »Ja der Russ' – hat uns gezeigt, – wie man's machen muss...« Als der radikale Burschenschafter Carl Ludwig Sand 1819 den konservativen Schriftsteller und russischen Staatsrat August von Kotzebue erdolchte – 1813 mit seinem »Russisch-deutschen Volksblatt« einer der rührigsten antinapoleonischen Publizisten –, war in diesen Kreisen die Stimmung längst gegen das russische ›Reich der Sklaverei‹ umgeschlagen.
Seit der Entwicklung politischer Strömungen und einer öffentlichen politischen Debatte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die Stellung zu Russland zu einem Dauerthema der deutschen Intellektuellen. Bekenntnisse, für und gegen Russland, die von nüchterner Analyse wenig getrübt waren, dienten in einem metaphorischen Sinn kontroversen Stellungnahmen in den Grundfragen der Verfassungs- und Gesellschaftsentwicklung in Deutschland. Russland- und russenkritisch bis russophobisch – man unterschied im 19. Jahrhundert wenig zwischen Herrschaftsordnung und Volkscharakter – war die ›Bewegungspartei‹, also Liberale und, mehr noch, radikale Demokraten. Diese sahen im Zarenreich eine halbasiatische Despotie, deren Bestreben darin bestehe, in dauernder Expansion das zivilisierte Europa zu unterjochen, so wie sie die freiheitsliebende, edle polnische Nation immer wieder in den Zustand der Knechtschaft zurückgestoßen habe. (Der Strom polnischer Emigranten, der sich nach dem Aufstand von 1830/31 nach Westen ergoss, trug wie in anderen europäischen Ländern so auch in Deutschland erheblich zur Verdüsterung des Russlandbildes bei.) Das russische Volk schien verdorben durch jahrhundertelange Fremdherrschaft, dann Staatssklaverei mit dem typischen Staatskirchentum, ein bedauernswerter, primitiver Menschenschlag: maßlos, triebhaft, trunksüchtig, grausam – alles Charakterisierungen, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in die bürgerliche Gesellschaft getragen wurden und dort, weit über die politische Sphäre hinaus, geradezu als Negativfolie für deren auf die Autonomie des Individuums und dessen Selbstdisziplinierung gerichtete Bestrebungen dienen konnten. Angst- und Überlegenheitsvorstellungen verbanden sich schon zu dieser Zeit in einer charakteristischen Weise.
Als Mann des Fortschritts und der Freiheit wie auch als deutscher Patriot stand man in der Regel im Lager der Feinde Russlands, und zwar desto entschiedener, je radikaler man in Deutschland dafür eintrat. Die jungen Kommunisten Karl Marx und Friedrich Engels propagierten 1848 gegen Russland, die Garantiemacht der reaktionären Kräfte in ganz Europa, den revolutionären Krieg. Sie nahmen an, dieser würde analog der französischen Levée en masse von 1793 das größte Hindernis für eine Entwicklung in ihrem Sinn aus dem Weg räumen. Auch später blieben Marx und Engels (und nicht sie allein) in kriegerischem Geist auf die russische Außenpolitik fixiert, die sie des »Mongolismus« und des Strebens nach Weltherrschaft ziehen. Der Briefwechsel von Marx und Engels enthält, darüber hinaus, wiederholt russenfeindliche Äußerungen regelrecht chauvinistischer Art.
Die Konservativen und monarchischen Legitimisten schätzten Russland und die Russen ebenso, wie die Progressiven sie ablehnten, und im Grunde waren es dieselben Züge und Eigenschaften, auf die sie sich – jeweils anders benannt und anders bewertet – bezogen. So lobten die Konservativen die Alleinherrschaft der Zaren und die Duldsamkeit und Untertänigkeit der breiten Volksschichten. In den patriarchalischen Verhältnissen des noch weitestgehend agrarischen Russland war die Welt noch in Ordnung, Familie und Gemeinde als Keimzellen des Staates schienen intakt, die unverbildeten, instinkt-sicheren russischen Bauernmassen in ihrer Anhänglichkeit an die Autorität von Kirche und Monarchie unerschütterlich. Der katholische Theologe Franz von Baader erwartete etwa von Russland Impulse für die Errettung des westlichen Christentums. Doch artikulierten sich seit dem vielfach neu aufgelegten Bericht des Marquis de Custine (deutsch zuerst 1843) auch rechts von den liberalen Hauptströmungen des Bürgertums zunehmend kritische Stimmen, die großenteils ähnliche Vorstellungen transportierten wie die eher progressiven Autoren. Wissenschaftlich fundierte landeskundliche Beiträge, wie August von Haxthausens in drei Bänden 1847 bis 1852 erschienene Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Russlands, fanden demgegenüber weniger Aufmerksamkeit.
Die Faszination, die – im frühen 20. Jahrhundert noch gesteigert - von der spezifischen Religiosität der Russen ausging, hatte, ebenso wie die zunehmende Begeisterung für die russische Musik und Literatur: für Tolstoi, Tschechow und Dostojewski, nicht unbedingt mit politischem Konservatismus zu tun. Es ging hier eher um eine Begleiterscheinung der gesellschaftspolitisch diffusen und disparaten bürgerlichen Zivilisationskritik, die in ihren verschiedenen Ausdrucksformen um und nach 1900 rasche Verbreitung fand. Der Mythos von der Urkraft der russischen Seele stand für die Sehnsucht nach einem weniger geschäftsmäßig-nüchternen, dafür authentischeren und geborgeneren Leben, als das im hochkapitalistischen Deutschland möglich schien.
Im politischen Feld nahmen seit den 1880er Jahren im Zeichen des Imperialismus die Aversionen gegen Russland dramatisch zu, jetzt auch bei den konservativen ostelbischen Großagrariern, die den einheimischen Getreidemarkt schützen wollten, und den Militärs. Der Rückversicherungsvertrag wurde von Bismarcks Nachfolgern nicht verlängert, auch wenn der Faden später, in den 1920er Jahren, mit dem Vertrag von Rapallo und dem Berliner Vertrag sowie der geheimen militärischen Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, wieder aufgenommen wurde. Namentlich die Generalstabsoffiziere beider Seiten knüpften dabei engere, auch persönliche Kontakte.
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war in der Reichsleitung wie in den Reichstagsparteien das Schlagwort von der ›unvermeidlich‹ kommenden Auseinandersetzung mit dem ›Slawentum‹ mehr und mehr zur gängigen politischen Münze geworden. Man erlebte die faktische Aufrüstung bei den gegebenen geographischen, demographischen und wirtschaftlichen Potenzen des Zarenreichs als höchst bedrohlich, und die Gruppe derjenigen, die sich, wie der junge konservative Historiker Otto Hoetzsch, eher von Sympathie getragen, wissenschaftlich mit Russland beschäftigten, gerieten politisch an den Rand, wenn sie für eine nüchtern kalkulierte Ostorientierung Deutschlands eintraten. Stattdessen wurden seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend maßlose, gegen Russland gerichtete Expansions- und Kolonialpläne publiziert, so etwa in den Schriften Paul Rohrbachs, der Russland »wie eine Orange« zerlegen wollte.
Am Ende des Ersten Weltkriegs, zwischen den Wochen vor Abschluss des separaten Friedensvertrags von Brest-Litowsk (3. 3. 1918) und der Kriegsniederlage der Mittelmächte, sah es tatsächlich einige Monate so aus, als wäre es der deutschen Militärmacht möglich, nicht nur weite Gebiete des früheren Russischen Reiches abzusprengen, direkt oder indirekt zu annektieren oder in Satellitenstaaten zu verwandeln, sondern selbst den gesamten russischen Reststaat, seit November 1917 bolschewistisch regiert, in Abhängigkeit von Deutschland zu bringen und wirtschaftlich zu ›durchdringen‹. Manche deutschen Militärs und Diplomaten dachten sogar daran, in den Bürgerkrieg zwischen ›Rot‹ und ›Weiß‹ zu Gunsten antikommunistischer Kräfte zu intervenieren und dadurch die Bolschewiki zu stürzen. Es ist die Erfahrung dieser hybriden und im Hinblick auf die kriegsentscheidende Westfront selbstzerstörerischen Politik des Frühjahrs und Sommers 1918, die die späteren Illusionen des Jahres 1941, den sowjetischen vermeintlichen ›Koloss auf tönernen Füßen‹ durch einen ›blitzartigen‹ Überfall zum Einsturz bringen zu können, etwas leichter nachvollziehbar macht.
Die deutsche Sozialdemokratie arbeitete vor 1914 und nach 1918 zwar eng mit ihren russischen Genossen zusammen und unterstützte diese in vielfältiger Weise, doch die Vorstellungen über Russland und die Russen blieben auch dort im Negativklischee stecken, wenn etwa August Bebel 1891 auf dem Erfurter Parteitag vom »Hort der Grausamkeit und Barbarei« und dem »Feind aller menschlichen Kultur« sprach. Bei Kriegsausbruch unterschied sich die Sprache der sozialdemokratischen Funktionäre gegenüber dem russischen Feind häufig denn auch kaum von den Hasstiraden der bürgerlichen slawophoben Nationalisten, wenn etwa der spätere preußische Ministerpräsident Otto Braun in seinem Tagebuch (Eintrag vom 5. 8. 1914) die »halbasiatischen, schnapsgefüllten russischen Kosakenhorden die deutschen Fluren zerstampfen, deutsche Frauen und Kinder martern, die deutsche Kultur zertreten« sah. Für die sozialdemokratische Partei und ihre millionenfache Anhängerschaft, aber auch für noch breitere Schichten des deutschen Volkes war das Feindbild vom aggressiven Zarismus als ›Hort der Reaktion‹ ein wesentlicher Faktor für die Begründung der Kriegsunterstützung. Ein ähnliches Phänomen gab es übrigens auf der russischen Seite, wo – ungeachtet der traditionellen Wertschätzung deutscher Wissenschaft und Kultur seitens der kritischen Intelligenz – der ›zivilisationsfeindliche preußische Militarismus‹ im Bündnis mit einem brutal-effizienten Kapitalismus die Entsprechung zum deutschen Feindbild des Zarismus und der ›russischen Dampfwalze‹ bildete. Auch dort, in St. Petersburg und Moskau, war der ›unvermeidliche‹ Zusammenprall der von beiden Reichen geführten Völkergruppen, der slawischen und der germanischen, schon jahrelang herbeigeredet worden.
Ernst Nolte hat in seinem Werk Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 (1987) das Erschrecken des deutschen Bürgertums über die Radikalität und Grausamkeit des nachrevolutionären Bürgerkriegs in Russland als eine der wesentlichen psychologischen Voraussetzungen für den späteren Nationalsozialismus herausgearbeitet. Man muss eine solche Problemstellung nicht tabuisieren. Es ist unverkennbar, dass sich in Reaktion auf den Roten Oktober 1917 und den folgenden, beiderseits grausam geführten Bürgerkrieg ein militanter und auf der Rechten teilweise schon antisemitischer Antibolschewismus artikulierte. Dessen Wurzeln reichen allerdings sehr viel weiter zurück, und er war lange mehr nach innen, gegen die deutsche revolutionäre Arbeiterbewegung, als nach außen gerichtet. Jedenfalls kann man sagen, dass in der gesamten Gesellschaft – von den Konservativen bis zu den Sozialdemokraten und nicht zuletzt die christlichen Kirchen einschließend – die Abwehrhaltung gegen ›Chaos‹ und ›Terror‹ klar dominierte, die mit dem Bolschewismus identifiziert wurden, wobei sowohl russische Emigranten (in Berlin zahlreich vertreten) als auch deutschbaltische Kreise, rechtsgerichtete Ideologen wie Max Erwin von Scheubner-Richter und Alfred Rosenberg, als Vermittler und Deuter von Bedeutung waren und blieben. Die Konsolidierung der inneren Verhältnisse Sowjetrusslands mit der Neuen Ökonomischen Politik führte dann vielfach zu einer nüchterneren Betrachtungsweise.
Allein die KPD, seit Ende 1920 Massenpartei, verteidigte vorbehaltlos das russische Vorbild, während sich die Sympathien für den Versuch der Bolschewiki, aus den Trümmern der alten Welt eine neue Gesellschaft aufzubauen, selbst auf der sozialdemokratischen Linken in Grenzen hielten. Hier ging es überwiegend darum, einen Interventionskrieg der kapitalistischen Mächte mit seinen angenommenen reaktionären Wirkungen zu verhindern, während die Ablehnung der inneren Zustände Russlands gerade bei einigen dezidierten Marxisten, so denjenigen USPD-Führern, die den Anschluss an die neue Kommunistische Internationale und die Vereinigung mit der KPD zurückwiesen, unverkennbar an die Kritik der Vorkriegssozialdemokratie am Zarismus anschloss. Kompromisslos und geradezu vernichtend setzte sich Karl Kautsky mit dem »tatarischen« und »kalmückischen Sozialismus« der Bolschewiki als einer spezifischen Erscheinung der russischen Rückständigkeit auseinander.
Der aggressive rechtsorientierte Antibolschewismus fand Verbreitung etwa durch die vielgelesenen Bücher Edwin Erich Dwingers, der über seine russische Gefangenschaft und die Teilnahme am Bürgerkrieg auf Seiten der ›Weißen‹ berichtete und dabei Sympathie für die einfachen Russen zeigte. Bei manchen der radikalen Antibolschewisten von rechts, so dem Gründer der überparteilichen ›Antibolschewistischen Liga‹, dem späteren Deutschnationalen und Nationalsozialisten Eduard Stadtler, gewannen das Streben nach »nationaler Diktatur«, vermengt mit einer spezifischen Kapitalismuskritik, so stark an Gewicht, dass er die Sowjetunion als erfolgreichen »nationalen Sozialismus« begriff und die Deutschen aufforderte, von »Russland zu lernen« (in: Gewissen vom 30. 1. 1921). Teile der antiliberalen Rechten gingen noch weiter und entwickelten unter dem Eindruck der tief verstörenden Kriegsniederlage, der in Deutschland steckengebliebenen Revolution und des demütigenden Versailler Friedens ein neues, teilweise schwärmerisches Interesse für Russland als Gegenpart und Gegenmodell zum Westen, ohne die eigenen politischen Werte grundsätzlich zu revidieren.
Wie schon im 19. Jahrhundert galt jetzt wieder, dass man, häufig ohne die konkreten Zustände allzu genau zu prüfen, eigene Vorstellungen in Russland hineinprojizierte. Der ›russische Mensch‹ - das war jetzt die Revolte der ›Erniedrigten und Beleidigten‹. Russland und Bolschewismus standen für einen ebenso kühnen wie erschreckenden Aufbruch, die Revolte gegen das Bestehende. ›Aufopferung‹, ›Idealismus‹ und ›Gläubigkeit‹ der Bolschewiki, wobei die russische Tradition des Messianismus stets mitgedacht wurde, faszinierten nicht nur Arthur Holitscher, der 1921 einen dichterisch anspruchsvollen und weit verbreiteten Reisebericht Drei Monate in Sowjet-Rußland veröffentlichte. Neben dem eher links konnotierten Interesse für die künstlerischen und pädagogischen Experimente der 20er Jahre und neben der humanitären Hilfe für das verwüstete Land sah man vor allem auf bürgerlich-konservativer Seite Russland weiterhin als traditionelle Großmacht – ob Rot oder Weiß – und unter den Bedingungen des Versailler Friedens natürlichen Verbündeten des Deutschen Reiches. Dazu passte eine Art Russophilie, die den bolschewistischen Umsturz als die russische Form gewaltsamer Volkwerdung gegen die rationalistische westliche Zivilisation, gegen das römische Erbe und den internationalen Kapitalismus interpretierte, wie man sie, neben anders gerichteten Beiträgen, in der Zeitschrift »Die Tat« fand, am Ende der Weimarer Republik eines der Organe der sog. Konservativen Revolution. Der Bolschewismus wurde hier sozusagen slawophil umgedeutet. Dabei wurde vor allem die Gemeinschaftsidee – und das fand auch das Interesse der bündischen Jugendbewegung – als wesentlich angesehen.
Der ›Nationalbolschewist‹ Ernst Niekisch träumte von einem preußisch geprägten »germanisch-slawischen Block« von »Wladiwostok bis Vlissingen«, so in seiner 1930 erschienenen Schrift Entscheidung (S. 180 ff.); Russland war ihm Vorbild als »Feldlager gegen den Westen« (in: Widerstand 11/1931). Niekisch hatte sich 1929 zur Begründung seiner Position ausdrücklich auf den von ihm wiederentdeckten Aufsatz Dostojewskis Deutschland, die protestierende Macht bezogen. Das war gewiss eine Minderheitsposition abseits der intellektuellen Hauptströmungen. Die Faszination durch Russland war jedoch verbreitet und so stark, dass Begeisterung und Entsetzen dicht beieinander lagen und nicht selten in ein und derselben Person zusammenflossen. Alles in allem war das Russland-Bild der geistig aktiven Schichten Deutschlands während der 20er und frühen 30er Jahre in seiner ganzen Ambivalenz von Sehnsucht, Verzweiflung und revolutionärer wie gegenrevolutionärer Romantik gekennzeichnet.
Es war hauptsächlich die Hitler-Regierung, weniger Stalin, die, ohne die Vertragspolitik der Weimarer Republik gegenüber Moskau aufzugeben, die Zusammenarbeit Deutschlands mit der Sowjetunion seit 1933 auf ein Minimum reduzierte. Bereits wenige Tage nach seinem Amtsantritt verkündete der neue Reichskanzler in einer internen Besprechung mit den Befehlshabern des Heeres und der Marine, am 3. Februar 1933, als das zentrale Ziel seiner Außenpolitik »die Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung«. Ab 1935/36, seit dem sowjetisch-französischen Militärpakt und dann dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs, wurde das diesem Vorhaben dienende Feindbild erkennbar radikalisiert, ›der Bolschewismus‹ ungeniert als ›Weltfeind Nr. 1‹ herausgestellt. In der Zwischenphase des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts vom August 1939 und der damit einhergehenden fünften Teilung Polens trat die propagandistische Mobilisierung dann noch einmal zurück.
In Adolf Hitlers Vorstellung von Sowjetrussland spielte das slawische Element keine aktive Rolle. Die ethnischen Russen, unfähig zu eigener Staatsbildung, stellten sozusagen nur das Menschenmaterial für andersrassige Führungsschichten. Den Bolschewismus zeichnete laut Hitler aus, dass hier das internationale Judentum als quasi parasitäre Elite («Ferment der Dekomposition«) in einer stets im Diffusen bleibenden Verbindung mit dem Eroberungstrieb der seit Urzeiten aus den Steppen Asiens herandrängenden »Horden« das in seinem Wesen eigentlich weiche und unterordnungsbereite Russen- bzw. Slawentum beherrschte und benutzte.
Das Gegenstück zum nationalsozialistischen Antibolschewismus bildete der teils ideologisch verfestigte, teils in naivem Wunschdenken begründete Probolschewismus etlicher Angehöriger des antifaschistischen deutschen Exils. Stärker als die Vertreter der politischen Gruppen (gerade auch der Linken außerhalb der KPD und ihrer engeren Gefolgsleute), die in Distanz zur Sowjetunion standen oder seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre distanzierter wurden, exponierten sich manche Schriftsteller als Apologeten des stalinistischen Systems ausgerechnet in der Phase der Moskauer Prozesse, bis hin zu Lion Feuchtwangers Schrift Moskau 1937.
Bei der Planung und Durchführung des Russland-Feldzugs, des ›Unternehmens Barbarossa‹, setzten sich auf deutscher Seite nicht diejenigen durch, die die von Stalin »unterworfenen Völkerschaften«, eventuell einschließlich der Russen, gezielt für den antikommunistischen Kreuzzug gewinnen wollten, sondern die Verfechter im Sinne Hitlers und Himmlers »rücksichtsloser« Besatzungs–, Kolonial- und Germanisierungspolitik unter bewusster Einkalkulierung von Millionen Todesopfern. So wurde der Russland-Feldzug, dem nur hinsichtlich des Angriffszeitpunkts eine halbwegs rationale militärstrategische Entscheidung zugrunde lag, zu dem tiefsten Einschnitt in den Beziehungen zwischen den Deutschen und den Russen überhaupt. Er war ein rassenideologischer Vernichtungskrieg in Form und Inhalt, der – viel mehr als der Erste Weltkrieg – Hassgefühle gegen die Invasoren hervorrufen musste.
Die Wehrmacht war, vor allem in ihrer Führung, von der Verstrickung in die Verbrechen nicht nur nicht frei, sondern teilweise sogar aktiv daran beteiligt. Man hatte die Heerführer von Anfang an auf die – wie es hieß – »erbarmungslose, völlige Vernichtung des Feindes« eingeschworen, und so war bereits im Mai 1941, also vor dem Beginn des Feldzugs, in einer Geheimen Kommando-Sache der Panzergruppe 4 des Generals Erich Hoepner, eines späteren Hitler-Gegners, die Rede vom ewigen »Kampf der Germanen gegen die Slawen«, von der »Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung« und von der »Abwehr des jüdischen Bolschewismus« durch die Zertrümmerung Russlands. Zumindest für das Jahr 1941 wird man von einer weitgehenden Kongruenz zwischen politischer und militärischer Führung Deutschlands in Bezug auf den Krieg im Osten ausgehen dürfen, auch wenn der ›Kommissarbefehl‹ vom 6. Juni 1941, der die pauschale Erschießung politischer Führungsoffiziere der Roten Armee zum Gegenstand hatte, von den Wehrmachtsführern nur teilweise unverändert in die Truppe weitergegeben wurde.
Nachdem die unerwartet heftige Abwehr der Roten Armee die ursprüngliche Vorstellung der Nationalsozialisten von der ›Sklavennatur‹ des ›gutmütigen und primitiven Russen‹ schon nach einiger Zeit desavouiert hatte – auch die Praxis des Zusammenlebens im Winter 1941/42 differenzierte und relativierte das Bild –, wurde das Hassbild von den ›asiatischen Horden‹ und den ›bolschewistischen Bestien‹ nach der Kriegswende im Osten in umso grelleren Farben gezeichnet. Wir wissen aus internen Stimmungsberichten nationalsozialistischer Einrichtungen, dass mit der Niederlage bei Stalingrad ein – sicher widersprüchlicher – Meinungswandel unter den Deutschen begann. Die Propagandabehauptung über die völlige Unfähigkeit des sowjetischen Systems und die Unterlegenheit des ›russischen Menschen‹ galt bis zu einem gewissen Grad als widerlegt. Für die Deutschen in der Heimat spielte Mitleid mit den sowjetischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen oft eine Rolle; diese erschienen häufig weit weniger primitiv und durchaus gebildeter als vorher angenommen. Auch unter den Soldaten war die Anteilnahme am Schicksal der einfachen Russen, mit denen es wenig Verständigungsprobleme zu geben schien, nicht nur ausnahmsweise zu finden. Dennoch blieb die Überheblichkeit gegenüber dem ›rückständigen‹ und ›unordentlichen‹ Land vorherrschend, von dessen Kultur der normale Landser nichts wusste und dessen Lebensbedingungen er am Maßstab des seit langem hochindustrialisierten Deutschland beurteilte. Als sich spätestens im Sommer 1943 mit dem Scheitern der Kursk-Offensive der Kriegsverlauf eindeutig gegen Deutschland kehrte, begann sich zudem Furcht vor einer Revanche breit zu machen. Die Berichte der vor der Roten Armee flüchtenden Deutschen aus den Ostprovinzen und die Übergriffe sowjetischer Soldaten bei der Eroberung Ostdeutschlands führten gegen Ende des Krieges dann nicht nur bei den unmittelbar Beteiligten offenbar eher zu einer verstärkten Übernahme oder Erneuerung des von der Goebbels-Propaganda gezeichneten Schreckbildes als zu seiner Ablösung. In welchem Maß diese beträchtliche antibolschewistische und russenfeindliche Übereinstimmung zwischen Führung, Heer und Bevölkerung auch für die Jahre vor 1945 gilt, vor dem Übertritt der Sowjetarmee auf das deutsche Gebiet, kann bisher nicht eindeutig beantwortet werden, auch wenn Feldpostbriefe und andere Quellen in diese Richtung weisende Indizien liefern.
Die rund 3,3 Millionen deutschen Soldaten, die in sowjetische Gefangenschaft geraten waren – 1,1 Millionen starben an Hunger, Entkräftung und Krankheiten –, wurden in der Nachkriegszeit mehrheitlich zu Zeugen politischer Anklage gegen das System der UdSSR. Sie hatten vor allem dessen repressive Seiten erlebt und fühlten sich pauschal als unschuldige Opfer. (Das noch schlimmere Schicksal der 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland, von denen 3,3 Millionen ums Leben kamen, geriet ebenso wenig in den Blick wie der überfallartige Beginn und der Charakter des nationalsozialistischen Ostfeldzugs.) Eine vom Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt angestellte soziologische Untersuchung Zum politischen Bewusstsein ehemaliger Kriegsgefangener (1957) zeigte für die 50er Jahre eine so eindeutige Ablehnung des Kommunismus wie bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe. Da die Gefangenschaft in der Regel nur wenige persönliche Begegnungen mit Russen außerhalb des Lagerbetriebs ermöglicht hatte, blieben differenzierte Äußerungen die Ausnahme. Deutlich war aber das Bemühen, den ›einfachen‹, im Grunde guten Russen vom abscheulichen Sowjetsystem abzuheben, wie es in etlichen Erinnerungsschriften und ›Tatsachenberichten‹ geschah. Doch mochte ›der Russe‹ als solcher auch liebenswerte Züge besitzen, so Kameradschaftlichkeit und Freundlichkeit selbst gegenüber Fremden, im Kollektiv blieb er meist doch der Barbar, demgegenüber festes Auftreten und eine harte Sprache vonnöten seien, um verstanden zu werden.
Für die Nachkriegszeit ist die Feststellung wichtig, dass im Krieg erstmals Millionen Deutsche persönliche Erfahrungen mit Russland und den Russen gemacht hatten – und zwar in extremen oder zumindest außergewöhnlichen Situationen. Diese Erfahrungen setzten sich fort in der russischen Kriegsgefangenschaft und im Kontakt mit der sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland, speziell in der Ostzone. In der Vier-Sektoren-Stadt Berlin wurde die Blockade der Westsektoren 1948/49 wichtig für die Festlegung der Volksmeinung gegen die Sowjetunion. Der Verlauf des deutsch-sowjetischen Krieges mit den enormen Verlusten und Zerstörungen insbesondere in Russland hätte die UdSSR vermutlich auch ohne Stalinismus zu einer unerbittlichen Siegermacht werden lassen. Doch die sowjetische Staatsräson, nach außen maximale Sicherheit durchzusetzen, verband sich mit der Dynamik des politisch-ideologischen Systems unter der Herrschaft Stalins. Unabhängig davon, wie man den Anteil der Sowjetunion an der Teilung Deutschlands in zwei Staaten gewichtet, trat die ›Revolution von außen‹ den Einwohnern der Sowjetischen Besatzungszone in Verbindung mit massiven Eingriffen in das alltägliche, nicht nur politische, Leben und Demontagen einer Vielzahl ganzer Fabrikanlagen sowie massiven Reparationsentnahmen aus der laufenden Produktion entgegen. Und so belebte die Entwicklung in der Ostzone und in Ost-Berlin im Westen Deutschlands die noch kaum abgeklungene Russophobie und förderte den Anschluss an die westlichen Besatzungsmächte, insbesondere an die USA, die vor allem anderen materielle Stärke verkörperten. Von den Briten und den Amerikanern durchgeführte Meinungsumfragen lassen unter den Westdeutschen und Westberlinern mehrheitlich von Anfang an eine größere Zustimmung speziell zu den USA erkennen; mit dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges ab Frühjahr 1948 wird dieser Trend ganz deutlich.
Der westdeutsche CDU-Politiker Konrad Adenauer, früherer Kölner Oberbürgermeister, verfocht seit 1945 konsequent einen Kurs der Abgrenzung vom Osten, der separaten Zusammenfassung der drei Westzonen und ihrer Verflechtung mit Westeuropa. Es liegt indessen auf der Hand, dass die Vorstellung, das deutsche industrielle und später auch militärische Potential würde nur kurz nach dem Krieg mit dem eines amerikanisch geführten westlichen Blocks vereinigt werden, Sowjetrussland – und das wohl nicht nur an der Spitze – alarmierte und das Propagandabild vom ›deutschen Revanchismus‹ für lange Zeit verfestigte. (Es gehörte später zu den Voraussetzungen der deutsch-sowjetischen Entspannung, dass die darin ausgedrückte Furcht in der Bundesrepublik überhaupt ernst genommen wurde.) Bestimmt vom Leitbild des christlichen Abendlands, sah Adenauer in der Sowjetunion bzw. in Russland eine halbasiatische, kollektivistische, atheistische und expansive Macht und in ›den Russen‹ (die in Deutschland weiterhin fast durchweg mit den Bewohnern der Sowjetunion gleichgesetzt wurden) den dadurch geprägten Menschentypus. Adenauer sprach in seinen Reden allerdings meist von den »Soffjets«. Damit waren die politischen Führer der Sowjetunion gemeint, deren russisch-kommunistischer Nationalismus keine europäischen Züge trage, sondern – so in einer Rede am 20. Juli 1952 – Ausdruck »des in der Kultur zurückgebliebenen Teiles Asiens« sei. (Eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Russland und der Sowjetunion ist auch im historischen Nachvollzug kaum möglich. Ich versuche jedoch, bei der Wiedergabe den jeweiligen Akzent zu treffen.)
Die Betonung des vermeintlichen asiatischen Wesensbestandteils Russlands bei Adenauer und anderen CDU/CSU-Politikern knüpfte nicht nur indirekt an entsprechende Parolen der NS-Zeit und früherer Perioden an, sondern auch an (bis heute anhaltende) Debatten unter Kulturwissenschaftlern und Historikern über die Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Zumindest in den frühen 50er Jahren scheint Adenauer überzeugt gewesen zu sein, dass ein aggressiver sowjetrussischer Imperialismus die Sicherheit der Bundesrepublik auch militärisch gefährde und mit seinen »Weltherrschaftsplänen« ganz Westeuropa zu »überrennen« drohe. Die grundsätzliche politisch-ideologische Gegnerschaft, in dieser Phase von beiden Seiten mit äußerster Schärfe ausgefochten, ersetzte noch jahrelang eine nüchterne Analyse der Aggressionsmöglichkeiten.
Kurt Schumacher, die in den frühen Nachkriegsjahren dominierende Führergestalt der SPD, bekämpfte von einem demokratisch-sozialistischen und gesamtdeutschen Standpunkt aus vehement Adenauers Innen- und Außenpolitik, in seiner Ablehnung des Sowjetkommunismus war er aber nicht weniger entschieden als sein Kontrahent. Den deutschen Kommunisten warf Schumacher vor, keine eigenständige deutsche, sondern eine »russische Staatspartei«, eine Agentur des Moskauer Imperiums, zu sein, und so ging es für ihn im Verhältnis der Sozialdemokratie zur KPD gar nicht in erster Linie um gesellschaftspolitische Differenzen, sondern um die Frage deutscher oder sowjetrussischer nationaler Loyalität. Schumacher hatte im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger gegen das zaristische Russland gekämpft; sein Bild vom Sowjetkommunismus knüpfte direkt an die Russland-Kritik der SPD vor 1917 an. Er sah Sowjetrussland als eine totalitäre, staatskapitalistische Macht, die sich auf Sklavenarbeit stütze. Am 17. August 1951 sprach er in West-Berlin sogar vom »Sowjet-Faschismus«.
Die Russen als Volk oder Individuen spielten weder bei Adenauer noch bei Schumacher eine erkennbare Rolle; beide hatten zum russischen Volk im Grunde keine Beziehung und bedienten sich der traditionellen Klischees. Demgegenüber hatte der sozialdemokratische Westberliner Bürgermeister Ernst Reuter während und nach dem Ersten Weltkrieg einige Zeit im revolutionären Russland gelebt und hatte dort als Volkskommissar der Wolgadeutschen Republik sogar eine prominente politische Rolle gespielt; er war anschließend führend in der jungen KPD tätig gewesen, bevor er die Partei wegen ihrer, wie er meinte, in Moskau befohlenen abenteuerlichen Putschtaktik verlassen hatte. Auch Reuter wurde ab 1947/48 zu einem scharfen Gegner der sowjetischen Politik in Deutschland, er betonte aber stets die Notwendigkeit, zwischen den Russen und dem Stalin-Regime zu unterscheiden. Dabei waren seine Vorstellungen vom russischen Volk frei von den üblichen Vereinfachungen.
Die Festlegung der westdeutschen (und Westberliner) Politiker gegen die Sowjetunion verlief indessen nicht so glatt, wie spätere Wahlergebnisse vermuten lassen könnten. In allen Parteien, die sich in der Hauptstadt Berlin bildeten, artikulierten sich zunächst Positionen, die eine Erhaltung der Einheit der Stadt und des Landes nur bei Vermeidung einer Stellungnahme für oder gegen eine der Siegermächte für möglich hielten. Die Deutschen sollten, wie der Christdemokrat Jakob Kaiser formulierte, »Brücke zwischen Ost und West« sein, anstatt den sich abzeichnenden Konflikt zwischen den Siegern noch anzuheizen. Im ›Zentralausschuss‹ der Berliner und ostdeutschen Sozialdemokraten um Otto Grotewohl wurde kurzzeitig sogar eine regelrechte Ostorientierung erwogen, inspiriert übrigens von dem erwähnten nationalrevolutionären und russophilen Schriftsteller Ernst Niekisch; dieser erwartete von den Westmächten lediglich einen kapitalistischen Gewaltfrieden und setzte deshalb auf die Verständigung der deutschen Arbeiterbewegung mit der UdSSR.
Tendenzen, an die Tradition deutsch-russischer Zusammenarbeit anzuknüpfen, wie sie etwa der frühere Diplomat Rudolf Nadolny vertrat, blieben im bürgerlichen wie im sozialdemokratischen Lager in der Folgezeit vereinzelt und konnten fast vollständig isoliert werden. Dabei hätten sich auch der Sowjetunion aufgeschlossene Positionen auf reale Erfahrungen mit Russen stützen können. Schriftsteller, Künstler, Theaterleute berichteten von hochgebildeten Besatzungsoffizieren, die die deutsche Kultur nicht nur bestens kannten, sondern auch liebten. Politiker, die in Kontakt mit Offizieren der Roten Armee kamen, waren zudem verblüfft von deren Offenheit und Freundlichkeit, ja Herzlichkeit. Weit verbreitet waren und sind die Erzählungen von der Kinderliebe gerade der einfachen Sowjetsoldaten, die die Deutschen gerade angesichts dessen tief beeindruckte, was die östlichen Sieger hinter sich hatten und was man selbst erlebt hatte. Sogar viele Kriegsgefangene kamen mit einer echten Sympathie für die russischen Menschen aus den Lagern zurück, in ihrer Erinnerung Geschichten über diese oder jene verständnisvollen und hilfsbereiten Soldaten oder Zivilisten, namentlich über manche Ärztinnen und Ärzte. Daneben, teilweise völlig unvermittelt, die scheinbare Bestätigung des alten Klischees von der Unberechenbarkeit ›des Russen‹ – oder ›des Iwan‹, wie man noch bis in die 70er Jahre sagen hörte –, seines Schwankens zwischen geduldiger Gutmütigkeit und aufbrausender Gewalttätigkeit, ja Brutalität. Das Stehlen von Uhren, das übrigens – wie manches andere Unerfreuliche – selbst bei den keineswegs notleidenden Angehörigen der US-Armee vorkam, gehört ebenfalls zu den gängigen Erzählungen, ergänzt durch Anekdoten über die unsachgemäße Benutzung von Sanitäranlagen. Das waren auf deutscher Seite Vergewisserungen der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit. Traumatisch und in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist die Erinnerung an die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch sowjetische Soldaten bei der Eroberung des ostelbischen Deutschland.
In den 50er, teilweise noch 60er Jahren, der Phase des Kalten Krieges, konnte auf der Grundlage einer realen Kommunismus- und Russenangst erneut erfolgreich der Abwehrkampf des ›Abendlandes gegen den Bolschewismus‹ beschworen werden – in einer Intensität und mit Untertönen, die deutliche Anklänge an die nationalsozialistische Periode enthielten und jedenfalls vielfach in diesem Sinne verstanden wurden. Gewiss gab es jetzt nur noch selten unverblümt russenfeindliche Aussagen, aber nicht nur in breiten Schichten des Volkes, auch in den intellektuell und politisch führenden Kreisen gingen die Feindbilder ›Kommunisten‹, ›Sowjets‹ und ›Russen‹ ineinander über: die Sowjetunion als ein Riesenmilitärimperium, das den Angriff gegen Westeuropa vorbereiten und jederzeit ausführen würde, wenn ihr dazu Gelegenheit gegeben würde. Ein bekanntes Wahlplakat der CDU aus den 50er Jahren zeigt einen riesigen, abstoßend-furchterregenden Soldaten der Sowjetarmee mit mongolischen Zügen, auf den mehrere Bahnen zulaufen. Der gegen die Sozialdemokratie gerichtete Text lautet: »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!« Noch direkter war der Appell, den eine Darstellung 1952 vom regierungsamtlich geförderten »Volksbund für Frieden und Freiheit« enthielt: Ein russischer Soldat reißt eine Frau an sich. Der Text: »Frau komm...« Vereinfacht könnte man sagen, dass die frühe Bundesrepublik ihre Identität zu einem beträchtlichen Teil aus der Kontinuität der Feindschaft zur Sowjetunion, über den Bruch von 1945 hinaus, gewann.
Wie lange selbst von seriösen Zeitungen eigenartige Töne zu vernehmen waren, zeigt ein Artikel der »Stuttgarter Zeitung«, die anlässlich der Ankunft des sowjetischen Botschafters Zarapkin im Januar 1969 schrieb, dieser habe eine »gewaltige Stimme«. Da »Kopf und Hände grobknochig sind und er auch noch ein bärbeißiges Gesicht besitzt und so den Eindruck erweckt, als könnte er ohne Waffe einen Bären erlegen, ahnte man in Bonn nichts Gutes.« Ferner Beispiele aus eigener Erfahrung. Ich erinnere mich, dass um die Mitte der 60er Jahre der Direktor des Gymnasiums, das ich in West-Berlin besuchte, anlässlich einer schulischen Gedenkveranstaltung zum Aufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 hauptsächlich über seine Erlebnisse aus der Kriegsgefangenschaft und die »russische Art der Menschenführung« sprach, die er als Schlüssel zum Verständnis der Verhältnisse in Ostdeutschland und Osteuropa ansah. Im Erdkundeunterricht war die Rede davon, die Knechtseligkeit der Russen käme daher, dass sie jahrhundertelang vor den Tataren hätten ›Kotau‹ machen müssen. Außerdem gebe es da noch die »unendliche Weite der russischen Ebene«... Geschichtsbücher ließen sich – in einem ohnehin äußerst knappen Raum – über die Physiognomie Lenins und deren familiären Hintergrund aus und stellten abwegige Verbindungen zu den ›asiatischen‹ Aspekten seiner Persönlichkeit und seiner Politik her.
Wir dürfen aber annehmen, dass auch im Kalten Krieg das Wissen über Russland und die Russen nicht gänzlich in den Parolen der Stammtische, in Propaganda und Gegenpropaganda aufging. Das betrifft nicht nur die nostalgische, teils betont unpolitische, teils dezidiert antikommunistische Pflege russischer Kultur und Folklore. Der Donkosaken-Chor war außerordentlich populär. Zudem gastierten wiederholt das Moskauer Kammerorchester und der Staatszirkus. In meiner Schule, um das ein weiteres Mal anzuführen, wurde mit monatelanger Vorbereitung ein ›Russischer Abend‹ veranstaltet, wobei hauptsächlich Lieder und Rezitationen vorgetragen wurden. Das war ungefähr die Zeit, als der Lyriker Jewgeni Jewtuschenko eine viel beachtete und von starken Sympathiebekundungen begleitete Reise in die Bundesrepublik unternahm. Jewtuschenko berichtete später, er sei auf der Straße oder auf Bahnhöfen immer wieder von älteren Menschen angesprochen worden, die – häufig unter Erwähnung ihrer Kriegsgefangenschaft – in gebrochenem Russisch sentimentale Gefühle geäußert und ihre Liebe zum russischen Volk erklärt hätten.
Auch die Einbeziehung der Meinungsforschung lässt die Ambivalenz
der Vorstellungen und Urteile der Deutschen über die Russen in den
Nachkriegsjahrzehnten erkennen und nicht nur eindeutige Ablehnung,
wie häufig angenommen; es ging mehrheitlich wohl eher um ein
Fremdbild als um ein geschlossenes Feindbild, besonders, wenn der
Akzent auf ›Russland‹ statt auf ›Sowjetkommunismus‹ lag. Zwar
schrieb man ›den Russen‹ laut Allensbacher Umfragen (hier aus dem
Jahr 1958) in hohem Maß negative Eigenschaften zu, doch standen
nicht »rücksichtlos, brutal« (46 Punkte), auch nicht »dickköpfig,
stur« (41 Punkte) an der Spitze, sondern die Charakterisierungen
»genügsam, anspruchslos« und »unberechenbar« (jeweils 156 Punkte).
Eine frühere Allensbacher Umfrage, vom August 1955, nach dem
NATO-Beitritt und der Souveränitätserklärung der Bundesrepublik und
kurz vor Adenauers Moskau-Reise, macht deutlich, dass damals große
Teile der westdeutsche Bevölkerung in relativer Distanz zum
Ost-West-Konflikt verharrten, indem sie die Bedeutung politischer
Systeme für das individuelle Glück nicht hoch veranschlagten.
Immerhin 36 % der Frauen und 37 % der Männer hielten die Moskauer
für genauso glücklich wie die Menschen anderswo; bei den Männern
lehnte eine relativ größere Gruppe (46 %) diese Aussage ab.
Nun lebten die Deutschen ab 1949 in zwei Staaten, und Deutschland
war nicht mit der alten Bundesrepublik identisch. Es war gleich
nach dem Zweiten Weltkrieg entlang der innerdeutschen Grenze zu
einer Aufspaltung des offiziellen Bildes von den Russen gekommen.
In penetranter Weise lobhudelten die ostdeutschen Gefolgsleute der
Sowjetunion und verlangten unzweideutige Bekenntnisse zum
›Vaterland aller Werktätigen‹ mit seinem genialen Führer Stalin,
der Gegenstand von Liedern und Gedichten selbst aus der Feder
bedeutender Literaten wurde. Jahrzehntelang galt in der DDR die
Parole: »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!« Und 1968
erhielt die »unverbrüchliche Freundschaft« mit der Sowjetunion
sogar Verfassungsrang: Die DDR sei mit ihr »für immer und
unwiderruflich« verbündet.
Gerühmt wurde übrigens nicht nur das Sowjetische, sondern – in unmittelbarer Verbindung damit – auch das National-Russische. Man übernahm die Interpretation der russischen, auch vor-bolschewistischen Geschichte, wie sie in der Stalin-Ära, insbesondere im Krieg gegen Deutschland, ausgeformt wurde. Und in Abgrenzung vom Westen beschwor man die Tradition der deutsch-russischen Waffenbrüderschaft aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Im Ostberliner Museum für deutsche Geschichte hing ein Ölgemälde über den Einzug russischer Truppen in Berlin im Frühjahr 1813 mit dem Titel: »Die Befreier kommen!«
Für die meisten Ostdeutschen verstärkte die offizielle unkritische Lobpreisung Russlands eher Skepsis und Ablehnung. Die Bezeichnung ›die Freunde‹ für die Repräsentanten der Sowjetunion und die Sowjetarmee hatte selbst bei SED-Mitgliedern einen ironischen Unterton. Während man in der Sowjetzone, dann der DDR während der frühen Nachkriegszeit direkten, häufig als willkürlich empfundenen Eingriffen der Besatzungsmacht ausgesetzt war, handelte es sich späterhin eher darum, dass die Sowjetunion als Garantiemacht der eigenen, ungeliebten Staatsordnung wahrgenommen wurde. Die regelrechte Russophobie nahm im Lauf der Zeit ab. Erhalten blieb, bis in die Partei- und Staatsspitze hinein, ein gewisses Überlegenheitsgefühl des Mitteleuropäers gegenüber dem grobschlächtigeren Osteuropäer. Von denen, die beruflich in engem Kontakt mit der Sowjetunion standen, konnte man mehr als gelegentlich die Auffassung hören, die Planwirtschaft und das ganze Ostblocksystem würden besser funktionieren, wenn sie nicht mit dem Bleigewicht der russischen Tradition und der russischen Mentalität belastet wären. Es ist bekannt, dass Walter Ulbricht in seinen letzten Amtsjahren den sowjetischen Führern mit Belehrungen über die richtige Handhabung der marxistisch-leninistischen Doktrin auf die Nerven ging.
Es sollte aber auch nicht übersehen werden, dass in den viereinhalb Jahrzehnten der Existenz der SBZ bzw. DDR als des Hauptverbündeten der UdSSR Verbindungen in einem Ausmaß und in einer Intensität geknüpft wurden, wie nie zuvor in der russisch-deutschen Geschichte. Auch wenn von den allen Schülern vermittelten Russisch-Kenntnissen in der Regel nicht viel zurückblieb (das war offenbar auch ein psychologisches Phänomen), wurden doch viele Führungskader in Russland ausgebildet oder studierten zeitweise dort. Auch die Urlaubsreisen der Ostdeutschen nach Russland blieben, selbst quantitativ, nicht ganz unbedeutend. Neben die naturgemäß engen politischen Kontakte traten wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle, ein Pfund, mit dem übrigens nach 1989 viel zu wenig gewuchert worden ist. Daneben vermittelten die breite Streuung russischer Bücher und Filme sowie die Tätigkeit der Gesellschaften für deutsch-sowjetische Freundschaft ein sicher gefärbtes, aber trotzdem viel dichteres Bild, als das in der Bundesrepublik der Fall war.
Es gab auch eine Spezies russischer bzw. sowjetischer Literatur, die nur im Westen Deutschlands erscheinen durfte, so vor allem die Werke Alexander Solschenizyns, von der Erzählung Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch bis zur großen Trilogie über den Archipel Gulag. Diese und andere Bücher, so Lew Kopelews autobiographische Berichte, beeinflussten eher das Bild der intellektuellen Kreise Westdeutschlands von der Sowjetunion. Das galt nicht nur für das traditionell antikommunistische Spektrum, sondern zunehmend auch für kritische Linke. Die Übereinstimmung und enge persönliche Freundschaft zwischen Heinrich Böll, seinerseits in der Sowjetunion viel verlegt und als Autor außerordentlich populär, und Lew Kopelew ließ eine neue Variante von deutsch-russischer Verständigung erkennen, die – jenseits der offiziellen Beziehungen zwischen den Staaten wie auch jenseits der gängigen Scheidelinien und Äußerungsformen des Ost-West-Konflikts – auf Nonkonformismus und beiderseitige selbstkritische Reflexion setzte. Kopelew fand, ebenso wie vorher schon Solschenizyn, nach seiner Zwangsexilierung Anfang 1981 zuerst im Hause Bölls Aufnahme.
In Westdeutschland erschienen bereits seit den späten 50er Jahren zunehmend Bücher über die Sowjetunion, die das Bedürfnis nach genaueren Kenntnissen gleichzeitig ausdrückten und zu befriedigen suchten. Für die geistige Aufgeschlossenheit, die solche Publikationen ermöglichte, wirkte sich das Interesse relevanter Industriekreise an der Ausweitung des Osthandels gewiss günstig aus. Obwohl dessen Entwicklung nicht einfach parallel zur Intensität der staatlichen Beziehungen verlief, wurde zunehmend deutlich, dass die Protagonisten des osthandelsinteressierten Großkapitals auch eine gewisse politische Normalisierung für wünschenswert hielten. Weitere Faktoren waren das ›Tauwetter‹ der Chruschtschow-Ära und der währenddessen langsam, aber durchaus widersprüchlich sich vollziehende Übergang zu einer gewissen Entspannung im Ost-West-Verhältnis.
Nach vielen Reisen und mehrjähriger Arbeit legte beispielsweise Günther Specovius 1963 ein dickleibiges Buch über »Mensch und Gesellschaft im Sowjetstaat« unter dem Obertitel vor: Die Russen sind anders. Specovius ging es um Differenzierung und um Verständnis für Russland auch unter sowjetischen Verhältnissen. Er meinte, dass man sich den »Blick für die Eigenart des sowjetischen Lebens« nicht durch entschiedene Ablehnung des Kommunismus trüben dürfe. Dem Ziel der Versachlichung und des Verstehens dienten auch die Schriften des in Moskau geborenen und Russisch als zweite Muttersprache beherrschenden Klaus Mehnert, der in seinen Büchern das deutsche Publikum aufforderte, den kulturellen Leistungen der Russen Achtung zu erweisen, statt sie pauschal zu verurteilen und dadurch in eine Trotzhaltung zu drängen. Mehnert, 1906 als Deutscher in Moskau geboren und von den Russen am Ende seines Lebens (1983) als dem »zweiten Volk seines Lebens« sprechend, war in der Bundesrepublik einer der besten Kenner der Sowjetunion, die er aus jahrelangen Aufenthalten als Zeitungskorrespondent und von zahlreichen Reisen kannte. In seinem zuerst 1958 erschienen Werk Der Sowjetmensch bemühte er sich um ein anschauliches, vielgestaltiges und realistisches Porträt der Bewohner der UdSSR und insbesondere ihres alltäglichen Lebens, dabei deren sympathische Seiten und die spektakulären Erfolge des Sowjetstaates nicht verschweigend. Aus der Fülle der Schilderungen konnte, wer wollte, auch die Bestätigung der gängigen Stereotypen herauslesen. Mehnert selbst stellte einen spezifischen Zusammenhang zwischen Russentum und Bolschewismus her. Ursprünglich seien die typischen Merkmale des russischen Menschen – die Unterordnungsbereitschaft, die Leidensfähigkeit, der Mangel an Individualismus, auch der Messianismus – den Bolschewisten von Nutzen gewesen, um das Land besser beherrschen zu können. Nach Jahrzehnten, in denen diese, großenteils erfolgreich, gegen bestimmte andere russische Eigenschaften wie Disziplinlosigkeit und Fatalismus angekämpft hätten, eigneten sich die Russen inzwischen, also um 1960, immer weniger als »gefügige Objekte bolschewistischer Herrschaft« (Taschenbuchausgabe von 1961, S. 332). »Verbürgerlichung« und »Intellektualisierung« würden sich als gesellschaftliche Grundtendenzen fortsetzen und eher verstärken und eine Transformation des Systems begünstigen.
Von ähnlicher Bedeutung wie die Schriften Mehnerts waren für die westdeutsche Meinungsbildung zeitweise die Artikel und Bücher Hermann Poerzgens, der – etwa gleichaltrig mit jenem – ebenfalls schon vor dem Zweiten Weltkrieg als Korrespondent in der Sowjetunion tätig gewesen war; seit 1956 berichtete er für die »Frankfurter Allgemeine« wieder aus Moskau. Dazwischen lagen u. a. elf Jahre sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Poerzgens in relativ freundlichem Ton gehaltene Reportagen sollten westdeutschen Simplifikationen entgegenwirken. Wie Mehnert betonte er, dass es nicht möglich sei, »Sowjetisches« und »Russisches« strikt zu trennen. Vielmehr sei das Sowjetische – so Poerzgen in dem 1958 erschienenen Taschenbuch So lebt man in Moskau – »ohne ein starkes russisches Element nicht zu denken« (S. 155).
Hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Staaten Bundesrepublik Deutschland und UdSSR brachte erst die Neue Ostpolitik der im Herbst 1969 gebildeten sozial-liberalen Regierung Brandt/Scheel mit dem Deutsch-Sowjetischen Vertrag von 1970 den Durchbruch zum sukzessiven Abbau der Konfrontation und zum Ausbau der Beziehungen auf allen Ebenen, nicht zuletzt auf den wirtschaftlichen und kulturellen. Auch die neuen Regierenden hatten bestimmte Bilder von Russland (bzw. der Sowjetunion) und den Russen im Kopf, auch wenn der Kreml in den späteren Worten Egon Bahrs für sie letztlich ein »dunkler Begriff« war, was nicht zuletzt in der »krankhaften Geheimhaltungssucht« der sowjetischen Seite begründet gewesen sei. Die Auffassungen hinsichtlich einer fortbestehenden Bedrohung durch die UdSSR waren nicht ganz einheitlich. Generell kam man aber davon ab, dem weltrevolutionären Anspruch des Sowjetkommunismus größere Bedeutung zuzumessen. Sofern eine gewisse expansive Tendenz der sowjetischen Weltpolitik weiterhin konstatiert wurde, sah man sie, so Helmut Schmidt in seinen Erinnerungen Menschen und Mächte (1987, S. 30f), als »geradlinige Fortsetzung und Ausfächerung der Politik des alten Russland«. »Russisch-traditionalistisch« seien somit Dreiviertel der sowjetischen Gesamtstrategie einzuschätzen gewesen.
Ermutigt durch intensivierte Kontakte zu Vertretern der UdSSR in den Vorjahren, vor allem im Jahr 1969, im unmittelbaren Vorfeld des Regierungswechsels, hofften die Architekten der Neuen Ostpolitik, die östliche Supermacht in Richtung auf eine immer rationalere West–, insbesondere Deutschlandpolitik pädagogisieren zu können. Außenpolitische Entspannung sollte, so die Überlegung der nun in Bonn Regierenden, den inneren Wandel im Sowjetkommunismus, namentlich in Russland selbst, begünstigen und somit auf lange Sicht auch die Voraussetzungen für eine spätere Lösung der deutschen Frage schaffen; die Entspannung verstärkte und beschleunigte den Einstellungswandel aber auch in der Bundesrepublik. Die Erinnerungen an die Kriegsereignisse verblassten immer mehr, während erstmals ein Klima entstand, das es ermöglichte, nach dem Massenmord an den Juden auch die nationalsozialistischen Verbrechen am russischen Volk (wie an anderen slawischen Völkern) öffentlich zu thematisieren. Intern hatte das schon bei Adenauers Moskau-Besuch 1955 eine Rolle gespielt. Trotzdem dauerte es noch etwa drei Jahrzehnte, bis sich das Bewusstsein diesbezüglich auch in weiten Teilen des liberal-konservativen Spektrums verändert hatte, erkennbar vor allem an der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Bundestag am 8. Mai 1985.
Auch in den 70er und 80er Jahren hörte die Furcht vor Sowjetrussland in der Bundesrepublik nicht auf. Ernsthafte militärische Bedrohungsanalysen waren für den Bundesbürger ohne Expertenwissen kaum von gezielter Stimmungsmache und Hysterie zu unterscheiden. Längerfristig sank die Zahl der Westdeutschen, die sich von der Sowjetunion bedroht fühlten; 1969 waren es laut Umfragen noch gut 30 Prozent, und die Mehrheit war inzwischen bereit, sich mit dem Verlust der früher deutschen, seit 1945 polnischen bzw. sowjetischen Gebiete östlich von Oder und Neiße abzufinden. Im Januar 1989 – Gorbatschow war bereits fast vier Jahre im Amt – sahen nach Erkenntnissen der Forschungsgruppe Mannheim nur noch 10 % der Westdeutschen eine sowjetische Bedrohung, 80 % gar keine solche mehr. Allerdings schwankte die Zahl derjenigen, die sich von Russland bedroht fühlten, auch in den 70er und 80er Jahren je nach weltpolitischer Konjunktur. Charakteristisch für die Veränderung der Atmosphäre gegenüber der früheren Nachkriegszeit war jedoch, dass die erneute Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes nach 1979 durch die Raketenrüstung, die Afghanistan-Invasion und die polnischen Ereignisse in der Bundesrepublik bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung weniger gegen die Sowjetunion, schon gar nicht gegen das russische Volk, als gegen die amerikanische Hegemonialmacht ausschlug.
Der Ausbau der zwischenstaatlichen Beziehungen Bundesrepublik Deutschland – UdSSR brachte auch vermehrte menschliche Kontakte mit sich. In der Bundesrepublik wuchs das Interesse an der Sowjetunion, und die sog. Ostforschung änderte ihren wissenschaftlichen Zugang in Richtung auf eine distanziertere Analyse der sozialen, politischen und kulturellen Entwicklung Osteuropas einschließlich der Sowjetunion. In den Medien setzte sich gegenüber der Zeit des Kalten Krieges eine differenziertere Sichtweise durch. In diese Periode fiel die Entdeckung oder verstärkte Wahrnehmung russischer bzw. sowjetischer Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler als gesamteuropäischer Größen. Der deutsche Massentourismus begann auch die Sowjetunion zu erfassen (wenngleich sich in der Gegenrichtung wenig bewegte). Ein russischer Journalist berichtete mir Anfang der 80er Jahre von seiner Teilnahme an einer Wolga-Don-Kreuzfahrt mit 250 Touristen aus Südwestdeutschland. Ein Empfang der Belegschaft des Autowerks Togliatti mit Kulturprogramm endete in reger Konversation – mit und ohne Dolmetscher. Nach zwei Stunden habe man zusammen getanzt und gesungen, und es sei schwer gewesen, sich zu trennen. Der Journalist zeigte sich überrascht über die ungewöhnliche Herzlichkeit, die so viele Menschen ohne Ausnahme ergriffen habe. Er habe mehrere Deutsche gesehen, die so bewegt waren, dass sie weinten.
Michail Gorbatschows Besuch in Deutschland (West) im Juni 1989 markiert das Ende der Annäherung unter dem Dach der blockübergreifenden, aber den Status quo respektierenden Entspannungspolitik; der Besuch glich einem Triumphzug. Das kann mit Gorbatschows persönlicher Ausstrahlung allein nicht erklärt werden. Es war das Resultat eines langjährigen Abbaus von Feindbildern und der Relativierung von Fremdbildern. Auch in den 70er und 80er Jahren wurde zwischen den Russen und dem kommunistischen System seitens der deutschen Bevölkerung nicht in dem Maß unterschieden, wie das kritische Intellektuelle in Russland gewünscht hätten, nur eben mit einer gegenüber dem Kalten Krieg umgekehrten Tendenz. Die sowjetische Führung profitierte jetzt von dem Einstellungswandel der Deutschen gegenüber den Russen. Es scheint sehr schwierig zu sein, im Kontakt zwischen Völkern solche Unterscheidungen konsequent durchzuhalten.
Mit dem Ende des sowjetkommunistischen Systems und der Wiederherstellung eines eigenen russischen Staates 1991 sind im deutsch-russischen Verhältnis die ideologischen Gegensätze verschwunden. Nationale Ressentiments und Klischeevorstellungen haben über die letzten Jahrzehnte in den führenden Schichten Deutschlands wie in der Gesamtbevölkerung stark an Gewicht verloren und dürften heute so schwach entwickelt sein wie selten seit der Wende zum 20. Jahrhundert. Das heißt nicht, dass unser Bild von den Russen heute frei von nationalen Stereotypen ist; manche Elemente davon drohen im Hinblick auf die durchaus verständliche imperiale Nostalgie russischer Politiker, die ›Nomenklaturdemokratie‹ mit starken autoritären Elementen, die desolaten Zustände in der Übergangsgesellschaft und die teilweise wenig erfreuliche Präsentation der neureichen Russen im Ausland sogar wiederbelebt zu werden. Ist die Zeit unwiderruflich vorbei, wo die Rede von der ›russischen Seele‹ als Zerrspiegel des Selbst zur Kompensation von Selbstunsicherheit und Selbstüberhebung diente? Es scheint so, auch wenn seit Mitte der 90er Jahre wieder stärker Tendenzen sich geltend machten, die auf eine eindimensionale Wahrnehmung hinausliefen.
Anders als in früheren Phasen der deutsch-russischen Beziehungen kann Deutschland heute den Versuch machen, Brücke zwischen Ost und West zu sein, eine besonders enge Zusammenarbeit mit Russland zu entwickeln, ohne aus der europäischen Integration auszusteigen. Vielmehr geht es darum, Russland – in welchen Formen auch immer – an den Einigungsprozess Europas anzukoppeln. Ein solcher Ansatz wird von der gegenwärtigen Regierung offenbar ernsthaft vertreten und findet auch bei den Oppositionsparteien breite Unterstützung.
Der Begriff ›Völkerfreundschaft‹ ist vielleicht propagandistisch verschlissen. Wir können hier auch offen lassen, ob es, streng genommen, zwischen Völkern etwas der Freundschaft zwischen Einzelmenschen Entsprechendes überhaupt geben kann, und nicht nur teils gemeinsame, teils unterschiedliche Interessen und möglicherweise verbindende Werte. Ganz sicher lässt sich aber sagen, dass eine positive, stabile und emotional unterfütterte Beziehung sich nur dann entwickeln kann, wenn sie nicht auf völlig verzerrten und dabei verfestigten Vorstellungen vom anderen Volk beruht, sondern auf dem erfolgreichen Bemühen, es in seiner Komplexität wahrzunehmen. Und auch dem Einzelnen in dem anderen Land können wir nicht wirklich nahe kommen, wenn wir sein Volk und dessen Kultur missachten, und sei es durch Unkenntnis.
Eine Voraussetzung, das andere Volk unvoreingenommen und realistisch zu sehen, besteht – so meine ich – in der Fähigkeit, auch uns selbst als etwas Spezifisches zu akzeptieren. Wir können und sollen uns kritisch zu den verschiedenen Aspekten der Vergangenheit und Gegenwart des eigenen Volkes stellen. Unser Selbstbewusstsein muss ein selbstkritisches sein, auch wenn es sich, um fruchtbar zu bleiben, nicht in Selbstanklagen erschöpfen darf. In jedem Fall bleiben wir als Angehörige einer national-kulturellen Einheit in besonderer Weise geprägt von der gemeinsamen Geschichte und Sprache. Auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen, identifizieren uns die anderen als Träger bestimmter kollektiver Eigenheiten. Bei aller Klischeehaftigkeit der Bilder vom eigenen wie vom anderen Volk gibt es wohl doch ein Substrat, das zu ignorieren den Umgang miteinander schwieriger und nicht einfacher macht.