Wagner-Rezeption in Frankreich: sie beginnt mit einem Pfeifkonzert. Wir schreiben den 13. März 1861 – erneut hat sich Richard Wagner aufgemacht, Paris zu erobern, und diesmal steht ihm kein mürrisches Seefahrergespenst, sondern ein richtiger bon-vivant zur Seite: Tannhäuser. Zwar schwankt dieser zwischen Venus und Elisabeth, zwischen Fleisch und Himmel, doch Wagner ist überzeugt, endlich ein einigermaßen marktgerechtes Produkt gefunden zu haben. Die Partitur hat er noch einmal umgearbeitet und ihr ein verknäult-wollüstiges Bacchanal hinzugefügt, mit dessen Hilfe das französische Publikum gnädig gestimmt werden soll, bevor es mit deutsch-romantischer Jenseitssehnsucht konfrontiert wird. Und doch, es fliegen die Fetzen – während auf der Wartburg der Sängerkrieg tobt und um holde Liebe gestritten wird, vermissen die Herren vom Jockey-Klub ein Ballett mit ihren leichtfüßigen Geliebten und pfeifen die Vorstellung gnadenlos nieder. Wieder will das verständige Frankreich nichts von deutscher Treibhaus-Kunst wissen. Nach der dritten Vorstellung zieht der Meister sein Werk zurück. Und doch stehen wir hier vor jenen Ereignissen, welche die französische Wagner-Begeisterung nachhaltig verursacht haben. Denn während die Pariser Presse mit seltener Einmütigkeit den deutschen Künstler wieder auf die andere Rheinseite wünscht, machen sich einige Wenige auf, Frankreichs Ehre, wie sie selbst sagen, zu retten und den Makel des Banausentums zu tilgen. Einer von ihnen, der Vater aller französischen Wagnerianer, ist Baudelaire, der Wagners Bedeutung, die weltüberwindende Kraft seiner Musik, die Modernität der Verschränkung von sinnlicher Dämonie und höchster Idealität, in seinem Bericht über die Aufführung des Tannhäuser in Paris in höchsten Tönen preist. Selten fällt bei ihm das Wort ›Patrie‹, doch beim »Fall Wagner« liegen die Dinge anders, denn nun läuft Frankreich Gefahr, eine künstlerische Revolution ersten Ranges schlichtweg zu verpassen. So kann die Wirkung, die von Baudelaire ausgeht, kaum überschätzt werden: das Toben in Frankreich hält an, aber nun finden sich für Wagners Musikreligion auch zahlreiche Fürsprecher. Man beginnt, wie Villiers de l’Isle-Adam, nach Bayreuth zu pilgern, in Paris wird die Revue wagnérienne, die sich die Verbreitung der Ideen des Meisters zum Ziel setzt, aus der Taufe gehoben und so steht auch bald der französische Wagnerismus dem deutschen an Intensität in keiner Weise nach. Zwar bleiben die Aufführungen Wagnerscher Kunst in Frankreich Mangelware und die theoretischen Schriften des Meisters weitgehend unbekannt, doch es wird, dem Beispiel Baudelaires Folge leistend, teilweise fehlende Sachkompetenz mit grenzenlosem Enthusiasmus und künstlerischer Intuition wettgemacht. Noch im 20. Jahrhundert erhebt Marcel Proust dann in seinem Gesellschaftstableau der Recherche den Faktor Wagner zur Elle, an dem sich wahrer Kunstverstand am zuverlässigsten messen lasse.
Dies ist nun der Rahmen, in den es eine der vielleicht aussagekräftigsten Wagner-Rezeptionen, oder eher Wagner-Erfindungen dieser Zeit zu stellen gilt. Denn kaum ein anderer zeitgenössischer Künstler verkörpert die Leidenschaftskomponente des französischen Wagnerismus mit ihrer Verquickung von Ablehnung und Bewunderung, von partieller Unwissenheit und tiefer geistiger Verbundenheit besser als Stéphane Mallarmé. Zwar lassen sich seine überaus dürftigen Wagner-Kenntnisse keinesfalls auf den gesamten französischen Kunstbetrieb ausdehnen, doch gerade sein Wagner-Tableau scheint symptomatisch einerseits für die Übertragungsmechanismen jener elektrisierenden künstlerischen Substanz aus Deutschland und andererseits für die Modalitäten ihrer Integration in eine ihr fremde intellektuelle Landschaft. Aus diesem Grunde ist es auch nur schwer nachvollziehbar, dass bis heute die Beziehung des französischen Dichters zum Parsifal-Komponisten den weniger bekannten Seiten der Geschichte des Wagnerismus in Frankreich zuzurechnen ist. Die Rêverie d’un poète français und die Hommage à Wagner haben sich in der Wagner-Forschung nie jener Beliebtheit erfreut, die ein Thomas Mann oder eben jener Ur-Wagnerianer, Baudelaire, in den letzten Jahrzehnten genossen haben. Die hermetische Dignität der Texte Mallarmés mag hierfür sicherlich eine Erklärung sein. Dennoch wäre es bedauerlich, Mallarmé nur einigen wenigen Lyrik-Spezialisten zu überlassen, die sich oft damit begnügen müssen, die Missverständnisse des Dichters zu perpetuieren, ohne dabei nach tieferen Zusammenhängen suchen zu können, deren Bedeutung jedoch, gerade im Hinblick auf die unterschiedlich gearteten intellektuellen und kulturellen Kontexte beider Künstler, besonders aufschlussreich sein könnten. Dementsprechend soll im weiteren Verlauf versucht werden, den »gravierenden Konflikt« (Philippe Lacoue-Labarthe) zwischen Wagner und Mallarmé neu zu deuten und besonders den ästhetischen Standpunkt des Komponisten zur Geltung kommen zu lassen. Hierdurch kann schließlich vermieden werden, dass, wie so oft, die Auseinandersetzung des französischen Dichters mit der Kunst Richard Wagners zur Philippika gegen die Anmaßungen des deutschen Gesamtkünstlers umfunktioniert wird.
Wie gesagt: es verwundert nicht, dass die Wagner-Forschung den Mallarméschen Felsen bisher so sorgfältig umschifft hat. Die Undurchsichtigkeit der Schriften des intransigent elitären Dichters ist hierfür zweifellos der Hauptgrund. Mallarmé hatte es immer abgelehnt, seine künstlerische Vorgehensweise in ein ästhetisches System mit klaren Umrissen zu zwängen. Lyrik wurde von ihm als Heiligtum behandelt und entsprechend galt es, sie vor jedem frevelhaften Zugriff zu bewahren: »[retrancher] cet art sans mystère contre les curiosités hypocrites, sans terreur contre les impiétés«, “[le mettre] à l’abri d’arcanes dévoilés au seul prédestiné« (Mallarmé, Hérésies artistiques. L’Art pour tous). Nun gibt es, zugegebenermaßen, zwar mehrere divergierende Interpretationsversuche der Hommage à Wagner; wirklich zu überzeugen vermag jedoch angesichts dieser obskuren Schwierigkeit des Textes keiner von ihnen. Vorsicht ist also fürs weitere Vorgehen geboten und es kann schon jetzt, vorab, festgestellt werden, dass eindeutige Aussagen über Mallarmés ästhetische Beurteilung des Phänomens Wagner nicht geleistet werden können, es sei denn, sie gehen auf Kosten der besonderen künstlerischen Qualität des französischen Textes. Erschwerend kommt zu dieser offenkundigen Verschlüsselung und Verkomplizierung der ästhetischen Aussage hinzu, dass der Dichter wohl selbst eine sehr ambigue Vorstellung vom »Gott Wagner« (Hommage) hatte, dem er teilweise ironisch, teilweise mit Respekt zu begegnen pflegte, den er aber vor allem als ernstzunehmenden künstlerischen Konkurrenten betrachtete.
Die wahre Hürde für jede Analyse des Mallarméschen Wagnerismus
besteht aber darin, dass Mallarmé, wie er es selbst zugegeben hat,
nur sehr lückenhafte Kenntnisse von Wagners Werk besaß. Schlimmer
noch: er verfügte, als er seine faszinierende und anregende Arbeit
verfasste, wohl nur über Informationen aus zweiter Hand. Dass es
sich bei dieser zweiten Hand um Charles Baudelaire, Catulle Mendès
oder Édouard Dujardin handelte, ändert nichts am problematischen
Charakter einer Kunstkritik, die sich mit einer vermittelten
Anschauung begnügen muss. Wir haben es also mit der Rezeption einer
Rezeption zu tun, wobei noch bemerkt werden sollte – der Fall
Baudelaire ist hier bezeichnend –, dass bereits auf der ersten
Rezeptionsstufe ein großes Maß an Subjektivität zum Tragen kam. Als
Bezugspunkt der Selbststilisierung zum künstlerischen Rivalen
Wagners, die Mallarmé in der Rêverie d’un poète français
vollzieht, muss so weniger der Schöpfer des Rings als das
Bild – oder besser, müssen die widersprüchlichen Bilder gelten, die
von ihm in den intellektuellen Kreisen der französischen Hauptstadt
tradiert wurden. Beide Werke Mallarmés sind überhaupt erst das
Produkt dieser Denktradition, da es Dujardin, der Gründer der
Revue wagnérienne, selbst war, der, um seiner Zeitschrift
einen weiteren glanzvollen Namen zu sichern, den Dichter zu seinem
Ausflug in die Gefilde Wagnerscher Kunst anregte.
Doch, sieht man einmal von den Umständen ab, die die Entstehung der
Rêverie d’un poète français und die Hommage à Wagner
begleitet haben, so stellt sich heraus, dass beide Texte
keinesfalls nur als agonale Gelegenheitsarbeiten anzusehen sind,
sondern auf einem echten Interesse des Dichters für den Bayreuther
Meister beruhen. Besonders der kunstideologische Standpunkt belegt,
dass sich Mallarmé fast zwangsläufig von der Kunst Richard Wagners
angezogen fühlen musste: schließlich war dem französischen Lyriker
Kunstreligion kein Fremdwort, da er selbst Kunst als zutiefst
religiös betrachtete und vom Künstler mithin verlangte, jedwedes
Zugeständnis an den herrschenden Kunstgeschmack zu verbannen und
nur auf die Freilegung dieses heiligen Urgrunds hinzuarbeiten. Und
in diesem Zusammenhang war er genauso wenig wie Wagner gewillt,
sakrale Kunst und mit ihr den alten Gott (»ce vieux et méchant
plumage, terrassé, heureusement, Dieu« (Mallarmé, Brief an Henri
Cazalis, 14.5.1867) wieder aufleben zu lassen. Jenseits aller
kirchlichen Dogmen wurde mit Hilfe der Kunst nach dem eigentlichen
Grund aller Religiosität, dem Wesen des Göttlichen gesucht. Es
lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass Mallarmé, hätte er
denn Wagners späte Schrift Religion und Kunst gelesen, dem
hier entwickelten Gedankengang sicher nicht seine Zustimmung
versagt haben würde: »Man könnte sagen, dass da, wo die Religion
künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion
zu retten«. Zugegeben: solchen Spekulationen eignet immer eine
gewisse Fragwürdigkeit. Dennoch lässt sich auch im Blick auf die
nachfolgende Passage, in der Mallarmé sein Projekt der Rettung
göttlicher Substanz durch künstlerische Vermittlung präsentiert,
nicht leugnen, dass, obwohl ein nachhaltiger Einfluss der
Kunsttheorien und Werke Richard Wagners auf den Dichter
ausgeschlossen werden kann, der metaphorische Aufbau fast wie ein
Rückgriff auf Bayreuther Gedankengut anmutet: »c’était impossible
que dans une religion, encore qu’à l’abandon depuis, la race n’eût
mis son secret intime d’elle ignoré. L’heure convient, avec le
détachement nécessaire, d’y pratiquer les fouilles, pour exhumer
d’anciennes et magnifiques intentions. […] Autre chose ceci que la
résurrection catholique hantant des écrivains stricts
contemporains: ils sont à leur insu convoqués par la noire agonie
du monstre qui ne veut périr tant que mainte merveille y séjourne,
et l’accepteraient volontiers intégralement, ce qui est faute
identique à n’en pas tenir compte. Au lieu, sinon de le combattre
(il meurt), mais de s’approprier le trésor.« (Stéphane Mallarmé,
Solennités).
Der Text scheint zumindest anzudeuten, dass eines der wichtigsten
Motive in der Wagnerschen Mythologie, das bereits in den
Wibelungen auftauchende Motiv des Drachentöters, dem
französischen Dichter nicht ganz unbekannt war. Und es lassen sich
auch noch weitere Parallelen zwischen beiden Künstlern feststellen:
das Drama ist ihnen seit der Antike ein Ort, der aufs engste mit
Religion verknüpft ist, wie auch eine Gattung, die im Gegensatz zu
den anderen Künsten osmotisch mit der Gemeinschaft seiner
Adressaten, die der Franzose »Foule«, der Deutsche »Volk« nennt,
verbunden ist. Sogar für einen so elitären Dichter wie Stéphane
Mallarmé führte der Weg zur Auferstehung des Heiligen nur über das
Theater, aber nicht über das Zur-Schau-Stellen von Kunst, sondern
über das Zelebrieren seines unergründlichen Mysteriums. So ist auch
nachzuvollziehen, dass Mallarmé Wagners kunstreligiöse Vision, die
seiner eigenen, zumindest vom Ansatz her, sehr ähnelte, so schnell
und intuitiv verstehen konnte. Zum Modell taugte ihm der deutsche
Utopist hingegen überhaupt nicht. Zu stark empfand er die störende
Nähe zu seiner eigenen Kunstvorstellung, um nicht das Gefühl zu
haben, die eigenen Ideen verzerrt wiederzufinden. Ist dies
vielleicht die wahre Ursache für die offene Zurückhaltung, die er
in Rêverie d’un poète français in Sachen Wagner an den Tag
legt? Wirft er ihm nur deswegen vor, mit seinem Operntempel auf
halber Höhe des heiligen Berges (»à mi-côte de la montagne sainte«)
Halt gemacht zu haben? Zur korrekten Einschätzung dieser
persönlichen Gründe gilt es nun besonders auf die Divergenzen
zwischen dem deutschen und dem französischen Kunstprogramm zu
achten und auch jene Verzerrungen miteinzubeziehen, die das
Rezipieren eines bereits von anderen abgebildeten Stoffes
unweigerlich mit sich bringt. Vergessen wir nicht, dass es darum
geht, Mallarmés Wagner-Bild mit allen Idiosynkrasien und allen
Missverständnissen, die es konstituieren, herauszuarbeiten.
Zu diesen Missverständnissen gehört sicherlich auch Mallarmés Vorwurf, Wagner habe mit seinem ambitionierten ›Kunstwerk der Zukunft‹ keine grundlegend neue theatralische Form geschaffen. Die vom deutschen Komponisten geleistete Verbindung von Musik und Drama liefe, so Mallarmé, nur auf eine willkürliche Addition von Musik und dramatischen Handlungsmomenten hinaus, wodurch letztere zwar vervollkommnet und verherrlicht würden, die Fabel des Stücks aber unangetastet bliebe: »Quoique philosophiquement elle ne fasse là encore que se juxtaposer, la Musique […] pénètre et enveloppe le Drame de par l’éblouissante volonté qui s’y allie: pas d’ingénuité ou de profondeur qu’avec un éveil enthousiaste elle ne prodigue dans ce dessein, sauf que son principe même, à la Musique échappe« (Rêverie). Mit anderen Worten: hier wird das Grundpostulat der Wagnerschen Ästhetik, die Integration der Musik ins Drama, schlichtweg geleugnet. Und gerade diese Vorstellung der rein pleonastischen Funktion von Musik bei Richard Wagner gehörte zum üblichen Arsenal der damaligen Wagner-Kritik, die höchstwahrscheinlich von einem falschen Verständnis der Leitmotiv-Technik ausgehend, nicht müde wurde, das Instrumentalisieren der Musik durch den Text zu beklagen. Wagner hatte sich zwar schon im Kunstwerk der Zukunft (1849) bemüht, dieser Fehlinterpretation seiner auf Synthese beruhenden Kunst entgegenzuwirken (»erst wenn sie selbst als einzelne Künste aufhören, werden sie alle fähig, das vollendete Kunstwerk zu schaffen; ja ihr Aufhören in diesem Sinne ist ganz selbst schon dieses Kunstwerk, ihr Tod unmittelbar sein Leben«), die Wirkung solch theoretischer Standortbestimmung sollte jedoch besonders in Frankreich, wo diese nur sehr bruchstückhaft vorlag, eher gering bleiben. Sogar Claude Debussy vermeinte, in den Leitmotiven nur einfache »Wegweiser« erkennen zu müssen. In Mallarmés Text, der ja nicht das fertige künstlerische Ergebnis, sondern mangels besseren Wissens lediglich die ästhetische Intention bewertet, nimmt diese Kritik noch ungewöhnlichere Formen an: so habe der vermeintliche Musikrevolutionär nicht allein seine zugegebenermaßen »himmlische« Musik dem Text lediglich aufgestülpt, sondern dadurch auch noch eine schon zu diesem Zeitpunkt verstaubte Theatertradition fortgeführt: »Allant au plus pressé, il concilia toute une tradition, intacte, dans sa désuétude prochaine, avec ce que de vierge et d’occulte il devinait sourdre, en ses partitions« (Rêverie). Dabei fällt auf, dass dieses Urteil nicht nur ein krasses Verkennen von Wagners Intentionen bezeugt, sondern zugleich auch nahelegt, dass Mallarmé höchstwahrscheinlich doch mehr über Wagner gelesen hat, als man gemeinhin annimmt. 1860 war in französischer Sprache der Lettre sur la musique erschienen, mit dem Wagner gedachte, das französische Publikum auf sein Gesamtkunstwerkprojekt einzustimmen. Die Übertragung der Hauptgedanken von Oper und Drama und Die Kunst und die Revolution wirkt jedoch in französischer Sprache weniger eindeutig und lässt vor allem nicht Wagners Willen erkennen, die verschiedenen Künste zu verschmelzen: »je cherchais ainsi à me représenter l’œuvre d’art qui doit embrasser tous les arts particuliers et les faire coopérer à la réalisation supérieure de son objet«. Wenn Mallarmé also von einer »adjonction« des Orchesters spricht, oder auch von einer »juxtaposition«, führt er wahrscheinlich nur jene Fehlleistung der Übersetzung weiter, bei der von »coopération« und nirgendwo von Fusion die Rede ist.
Doch der Dichter beklagt nicht nur die Modalitäten der künstlerischen Gestaltung des Gesamtkunstwerks, sondern zeichnet außerdem für das Werk Wagners eine Genealogie, die bis in die griechische Antike zurück reicht. Die Bayreuther Vision mutet ihm wie die Erneuerung der griechischen Tragödie an, womit er ja – Nietzsche zufolge – nicht so ganz falsch liegt, obwohl diese Bestimmung in seinen Augen eine eher negative Konnotation aufweist, da er mit dieser Kunstform die veralteten Kategorien der Mimesis und der Katharsis verbindet. Wie kann sich auch ein Drama anmaßen, Drama der Zukunft zu sein, wenn es als einzige »Überraschung« eine jahrhundertealte Ästhetik bereithält? Dass Wagner darüber hinaus immer wieder mythische Gestalten, die das Publikum zur Identifikation herausfordern, in seinen Stücken auftreten lässt, verschlimmert die Sache noch, da auch diese Orientierungspunkte nicht gerade den Weg in die Zukunft weisen. Unversöhnlich prallen hier Wagners Mythenkonstruktion und das kompromisslos moderne Theaterkonzept Mallarmés aufeinander: »le drame éveille dans le spectateur un intérêt profond pour une action qui s’accomplit devant lui, qui est, dans la mesure du possible, une fidèle imitation de la vie humaine« (Richard Wagner, Lettre sur la musique).
Als besonders unglücklich stuft der französische Dichter Wagners Unfähigkeit ein, trotz seines subversiven Selbstbewusstseins nicht mit den zementierten Grundregeln des europäischen Theaters aufgeräumt und nicht die leidige Identifikation des Zuschauers mit den Bühnenereignissen verabschiedet zu haben. Solange vor dem Publikum nur Figuren auftreten, in denen es sich wiedererkennt – auch wenn der Rahmen nicht unbedingt der eines bürgerlich realistischen Trauerspiels ist –, so lange wird auch das Theater nur als simpler Spiegel fungieren und niemals zur Offenbarung einer höheren Wahrheit taugen können: demzufolge bleibe auch Wagner auf der Stufe eindimensionaler Darstellung stehen und würdige die Kunst mit seinen Opern zur einfachen Unterhaltung herab.
Mallarmé beklagt daraufhin das Übermaß an banaler Wirklichkeit, ja sogar des Anekdotenhaften, das die von Wagner erschaffenen Helden mit sich herumschleppen. Sie wirkten wie das genaue Gegenteil der religiösen Tiefe, die er in öffentlichen Vorstellungen sondiert wissen will, und erstarrten so sehr zu theatralischer Konvention, dass sie im Endeffekt weniger als Mittler denn als Hindernisse zwischen dem Publikum und dem Wesen des Heiligen auftreten würden. Und dann, endlich, als gelte es nun die bereits alte deutsch-französische Rivalität neu anzufachen, wird als Kontrastprogramm zu deutschen Kunstirrungen der von Racine ererbte, zur Universalität tendierende französische Geist beschworen: »Voyez-le [i.e. l’esprit français], des jours abolis ne garder aucune anecdote énorme et fruste, comme une prescience de ce qu’elle apporterait d’anachronisme dans une représentation théâtrale, sacre d’un des actes de la Civilisation. (Exposition, transmission de pouvoirs, etc. t’y vois-je, Brünnhild ou qu’y ferais-tu Siegfried)« (Rêverie). Nun stellen wir hier nicht ohne eine gewisse Genugtuung fest, dass Mallarmé eigentlich jenes Argument gegen Wagner zu Felde führt, das dieser dazu eingesetzt hatte, um Kritik an der ›Grand Opéra français‹ zu üben. Soviel zum Miss-Verständnis. Denn Wagner hat immer wieder der Grand Opéra die mangelnde Substanz ihrer historischen Sujets, ihre Vorliebe für ausgefallenes Lokalkolorit und die Seichtheit ihrer ferngesteuerten Helden vorgeworfen. Noch verwirrender wirkt hierbei, dass er diese Kritik am fehlenden »Reinmenschlichen« und mythisch-universalen Kern dieser Opern auch in dem Lettre sur la musique vorträgt, die Mallarmé ja höchstwahrscheinlich bekannt war: »dans le mythe, en effet, les relations humaines dépouillent presque complètement leur forme conventionnelle et intelligible seulement à la raison abstraite; elles montrent ce que la vie a de vraiment humain, d’éternellement compréhensible«. Beruhte die entschiedene Verurteilung der dominanten Textarchitektur Wagners höchstwahrscheinlich auf einem Formulierungsproblem, so dürfte es sich hier eher um die Verteidigung des französischen Universalitätsanspruches gegenüber ähnlich gearteten deutschen Ambitionen handeln. Es scheint also, zumindest an dieser Stelle, die Übernahme eingeschliffener interkultureller Verurteilungsmechanismen vorzuliegen.
Alles jedoch erklären diese Mechanismen nicht. Mallarmé waren sicherlich auch die Unzulänglichkeiten der ersten schal naturalistischen Bayreuther Inszenierungen zu Ohren gekommen, die sogar Wagners Unwillen ausgelöst hatten. Der Meister hatte daraufhin sogar erwogen, ein unsichtbares Theater zu erfinden, was wiederum eindeutig der Forderung nach einem mentalen Theater, wie sie in der Rêverie erhoben wird, entsprochen hätte. Nichtsdestoweniger entbehrt der Vorwurf des Realismus, den Mallarmé an Wagners Adresse richtet, nicht jeder Grundlage: Wagners Dramentheorie weist teilweise realistische Züge auf, wie auch seine Kompositionstechnik, die entgegen all seinen Beteuerungen von den meisten Musikwissenschaftlern als musikalische Prosa und damit als Vorläufer des von Janácek und Mussorgski entwickelten musikalischen Realismus angesehen wird. Mallarmés Realismus-Urteil ging also keineswegs so weit an Wagners Werk vorbei, wie man oft glauben mag, und dies, obwohl er gerade in der Musik das Mittel sah, durch das Wagners Musikdramen noch über dem von ihm verhassten bürgerlichen Schauspiel standen.
Dem Theater der Zukunft sollten, so Mallarmé, nicht etwa antike Legenden, sondern Messen als Vorbilder dienen, da in ihnen der Zuschauer nicht mit der Figur eines Helden, sondern mit einem vorab nicht näher bestimmten »Typus« konfrontiert wird (Lacoue-Labarthe spricht in diesem Zusammenhang von »onto-typologie« [Musica Ficta – Figures de Wagner]). Durch die Erhabenheit des theatralischen Dienstes sondiert der Mensch den Abgrund zwischen sich und der Divinität, bevor die Menge der Zuschauer (»Foule«) mit heiligem Schauer feststellt, dass letztere aus ihr selbst hervorgegangen ist: »À quelque amphithéâtre, comme une aile d’infinité humaine, bifurque la multitude, effarouchée devant le brusque abîme fait par le dieu, l’homme – ou Type« (Mallarmé, Catholicisme). Der Typus idealer Menschlichkeit taucht dann unmittelbar vor der »Foule« auf, ohne dabei auf bekannte, präexistierende Figuren zu verweisen, und erlaubt es dem Menschen, sich seiner eigenen Göttlichkeit bewusst zu werden. Erneut befinden wir uns hier an einem Punkt eindeutiger, wenn auch wahrscheinlich unbeabsichtigter Konvergenz zwischen Mallarmé und Wagner. War die oben erwähnte Kritik an der historischen Operntradition austauschbar, so stimmen auch hier der deutsche und der französische Künstler zumindest unbewusst überein. Denn Mallarmés ideale Menschlichkeit, sieht man von ihrer engen Verknüpfung mit dem Publikum ab, erinnert stark an das Wesen des »Reinmenschlichen«, das Wagner durch mythische Kunst wieder zu befreien gedachte. Darüber hinaus ist bei Wagner, trotz aller Mäkeleien Mallarmés über seine Rückständigkeit, das Kunstprojekt ein revolutionäres, das aus Bayreuth eine menschheits-verändernde Weihestätte machen wollte und mit Parsifal wohl auch ein Werk geboren hat, das der Wirkung der Mallarméschen Kunstmesse mit ihrer der christlichen Religion entlehnten Progression ziemlich nahe kommt: »invitation directe à l’essence du type (ici le Christ), puis invisibilité de celui-là, enfin élargissement du lieu par vibrations jusqu’à l’infini« (Mallarmé, Catholicisme).
Für Mallarmé muss sich das Theater jedweder fiktiven und narrativen Dimension entledigen, da er hierin den Ballast sieht, der den Aufbruch zum Absoluten hindert. In diesem Zusammenhang lehnt er sowohl Sagen als auch Mythen auf der Bühne ab: erstere sind ihm lediglich Erzählungen, die ihren historischen und geographischen Ursprung zu verbergen suchen, letztere lediglich Erneuerungen einer längst vergangenen Begebenheit. Vom eigentlichen Ursprung aller Kunst sind jedenfalls diese beiden primitiven poetischen Formen gleich weit entfernt: »Voici à la rampe intronisée la Légende. […] Tout se retrempe au ruisseau primitif: pas jusqu’à la source« (Rêverie). Dass er von diesem Standpunkt aus Wagners Werken ihre historische Verankerung vorrechnet, erscheint nachvollziehbar, zumal Baudelaire in höchsten Tönen vom Einsatz der Sage beim deutschen Künstler gesprochen hatte: »le caractère sacré, mystérieux et pourtant universellement intelligible de la légende« (Baudelaire, Richard Wagner et Tannhäuser). Weder Baudelaire noch Mallarmé konnten jedoch – mangels adäquater Übersetzung – in Betracht ziehen, dass Wagner in seinem Aufsatz Die Wibelungen, Weltgeschichte aus der Sage, den Mythos gegenüber der Sage, die er lediglich als dessen historische Degradierung versteht, aufwertet und als wahrlich archetypisch (als eine Arché, um mit Kurt Hübner zu sprechen) betrachtet. Dem Bühnenwerk bleibt es dann überlassen, eine sinnliche Erscheinungsform dieses Archetypus zu liefern. Wagner wie Mallarmé geht es also darum, überzeitliche Substanz herauszukristallisieren. Beide Künstler unterscheiden sich lediglich darin, dass Wagner noch nicht bereit ist, auf den individualisierenden Mythos als Veranschaulichung seines Urgrunds zu verzichten und den Absolutheitsanspruch seiner Kunst noch nicht direkt auf die partikulare Form seiner Werke überträgt: »Die fränkische Stammsage zeigt uns in ihrer fernsten Erkennbarkeit den individualisierten Licht- und Sonnengott, wie er das Ungetüm der chaotischen Urnacht besiegt und erlegt: dies ist die ursprüngliche Bedeutung von Siegfrieds Drachenkampf, einem Kampfe, wie ihn Apollon gegen den Python stritt. […] Der uralte Kampf wird daher von uns fortgesetzt, und sein wechselvoller Erfolg ist gerade derselbe wie der beständig wiederkehrende Wechsel des Tages und der Nacht, des Sommers und des Winters« (Wagner, Die Wibelungen).
Mallarmé wirft Wagner vor, Mythologie und Mythos verwechselt zu haben. Letzteren versteht der Dichter jedoch nicht im Sinne der griechischen Mythologie, sondern vielmehr als Chiffre für das Göttliche an sich – in Les dieux antiques übersetzt er das englische Wort ›god‹ einfach mit ›mythe‹. Aufgabe der modernen Kunst kann es für Mallarmé nicht sein, absurde Geschichten aus der Antike auszugraben und zu aktualisieren – er geht sogar so weit, den »Dieu Wagner« des Betruges anzuklagen –, vielmehr schwebt ihm ein großes gemeinschaftliches Schauspiel, eine »Tragédie de la nature« vor, bei der die Individualität der Gottheiten zurückgenommen und die ursprünglich-unvergängliche Essenz der Naturphänomene zutagetreten könnte. Wenn er also vom echten kunstfähigen Mythos spricht, dann nur von einem um die verbrauchte Hülle der Mythen (i.e.: der Mythologie) entkleideten Mythos, der zu dem, was er »Type« nennt – oder »la Figure que Nul n’est« - vorzudringen vermag und dabei – den deutschen Komponisten hätte es gefreut – einzig und allein durch Musik beseelt werden kann. In diesem Typus, oder, um mit Wagner zu reden, mythischen Archetypus spiegelt sich dann nicht mehr die einfache Oberfläche des Menschen, sondern die heilige Tragödie der Natur: »Fable, vierge de tout, lieu, temps et personnes sus […] inscrite sur la page des cieux et dont l’Histoire même n’est que l’interprétation, vaine, c’est-à-dire un Poëme« (Rêverie). Wenn also ein fundamentaler Unterschied zwischen Mallarmé und Wagner geortet werden kann, so betrifft dieser weniger die metaphysische Beschaffenheit des Mythos, als vielmehr dessen ästhetische Umsetzung: für Wagner führt der Weg zum archetypischen Ursprung des Menschlichen über eine modifizierte Mythologie; und genau hier hätte ihm Mallarmé, auch wenn er alle Nuancen der Wagnerschen Mythentheorie wahrgenommen hätte, sicher die Gefolgschaft versagt. Damit wird die Auseinandersetzung Mallarmés mit Wagner zur Kontroverse zwischen einer produktionsästhetisch angelegten, auf Darstellung und Kommunikation beruhenden Kunst einerseits und einer hermetisch-elitären Kunst andererseits, für die der Zugang zum Absoluten nicht über die Inszenierung bekannter Örtlichkeiten und interagierender Personen, sondern lediglich über einen rein geistigen Vorgang vollzogen werden kann: »est-ce qu’un fait spirituel [...] nécessite endroit, pour s’y développer, autre que le fictif foyer de vision dardé par le regard d’une foule!« (Rêverie). Der allzu reale Festspielhügel mit seiner monumentalen Kunst wirkt auf Mallarmé deswegen wie eine populäre Sackgasse auf dem Weg zum heiligen Grund der Welt.
Dennoch ist die Lage auch im Hinblick auf die ästhetischen Differenzen keinesfalls eindeutig; denn gerade zur Abschaffung der materiellen Wirklichkeit, durch die ja das Absolute überhaupt erst freigelegt werden kann, bedarf es laut Mallarmé musikalischer Einwirkung: »les instruments détachent selon un sortilège, aisé à surprendre, la cime, pour ainsi voir, de naturels paysages; les évapore et les renoue flottants, dans un état supérieur. […] Une ligne, quelque vibration, sommaires, et tout s’indique« (Mallarmé, Théodore de Banville). Die Musik wird zur Quintessenz seiner »Tragédie de la nature« erhoben, und der Dichter sieht in ihr den in tönende Vibrationen aufgelösten menschlichen Urgrund, der vom Zufall, von der materiellen und historischen Bestimmung einer Legende konsequent gereinigt werden muss. Demnach habe Wagner mit seinem unglücklichen Versuch, Musik und Sage zu verbinden, widernatürlich gehandelt, und, was für Mallarmé einem noch schlimmeren Vergehen gleichkommt, gegen die Würde der Poesie verstoßen. Dass Wagners Projekt dennoch der Erfolg nicht versagt blieb, ist ihm, dem französischen Dichter, Ansporn genug, weiter zu suchen (»[chercher] cette cime menaçante d’absolu, devinée dans le départ des nuées là-haut, fulgurante, nue, seule: au-delà et que personne ne semble pouvoir atteindre« [Rêverie]), um dieses glücklicherweise nur auf den deutschen Raum und die jetzige Zeit beschränkte »Interregnum« einer simulierten Religiosität als unbefriedigende Zwischenlösung zu entlarven.
Erneut klaffen hier die Theorien Wagners und Mallarmés unversöhnlich auseinander. Wagner ordnet dem Drama die Musik unter: sie soll an die Gefühle, an die Sinne des Menschen – für Baudelaire sogar an die Nerven – appellieren, keinesfalls aber an die Einbildungskraft des Zuschauers, da diese von Wagner als arbiträr angesehen wurde. Lyrik, so wie sie von Mallarmé erträumt wird, ist jedoch eine Kunst der Suggestion, also das genaue Gegenteil der Ring-Musik, die in erster Linie eine Kunst des Ausdrucks und der Kommunikation ist, und damit jenes konkreten Bühnengeschehens bedarf, das vom Dichter strikt abgelehnt wird. Dieser geht dann auch auf das vermeintliche Scheitern der Bayreuther Kunstreligion ein, und spricht das Publikum vom Vorwurf frei, die tiefe religiöse Grundrichtung der Festspiele instrumentalisiert und zum mondänen Ereignis herabgewürdigt zu haben; Schuld hieran trage vielmehr der Gründer selbst, der statt einer wahren Kirche lediglich ihren trügerischen Vorhof zu bieten habe („parvis né pour leur simulacre«).
Doch sollten wir hier nicht den Fehler begehen, Mallarmé zum Vertreter absoluter Musik zu machen, also einer auf sich selbst rekurrierenden symphonischen Musik, die sich als reines Spiel »tönend bewegter Formen« (Eduard Hanslick) versteht. Dass er Wagner vorwirft, den Realismus im Theater fortzuschreiben und seine Musikdramen vor künstlerisch fragwürdigen Bühnenbildern aufgeführt und mit allerlei szenischem Brimborium wie nachgemachten Waffen oder grotesken Tierkostümen ausgestattet zu haben, entspricht vielmehr seiner Überzeugung, selbst über eine neue, radikale Lösung für das ewige Problem der Verbindung von Text und Musik zu verfügen. In La Musique et les Lettres legt er dar, dass für ihn Musik und Literatur die zwei Seiten ein und desselben Phänomens, der Idee, abgeben. Als Nachteil der Musik, die er als dunkle Seite dieses Phänomens ortet, macht er die Unfähigkeit zu sprechen und, damit einher gehend, ihre Nähe zum Unbewussten aus. Wagner hätte ihm hier sicher beigepflichtet, doch während der deutsche Komponist, um zu diesem Schluß zu kommen, seine Argumentation auf romantisches Gedankengut stellt (Unbestimmtheit der musikalischen Sprache ist Zeichen ihrer metaphysischen Würde), gibt sich der Dichter alle Mühe, seiner Position einen rein französischen Unterbau zu sichern: kein Geringerer als Descartes wird in den Zeugenstand gerufen, um aufzuzeigen, dass Heiliges, wenn überhaupt, nur aus der Sprache als Instrument des Fiktiven hervorgehen kann. Die einzig wahre Musik, die zum Absoluten vordringen kann, ist also jene Musik, die bereits der lyrischen Sprache eingeschrieben ist, »la Poésie, proche l’idée, est Musique, par excellence« (Mallarmé, Le Livre, instrument spirituel), und die keiner akustischen Instrumente mehr zu ihrer Ausführung bedarf, da diese Instrumente die ideale Musik, die der Lyrik allein innewohnt, lediglich vortäuschen. Die romantische Vorstellung der Instrumentalmusik als Botschaft des Höheren wird hierdurch entschlossen verabschiedet, und als versuchte Manipulation und Betrug entlarvt; wobei wir dann ebenfalls wieder bei Nietzsche wären.
Mallarmé wünscht also keine Musik, die lediglich eine Handlung – die ja auch nur simuliert ist – begleitet und erhöht, sondern eine Musik, aus der das Theater als heiliges Moment hervorbricht: als könnte das Drama aus der Musik selbst entstehen. Damit offenbart sich erneut jene paradoxe Linienführung der Auseinandersetzung Mallarmés mit dem deutschen Künstler, bei der sich, trotz aller Differenzen, immer wieder auch – meist unbeabsichtigte – Konvergenzpunkte ergeben. Tatsächlich nähert sich Mallarmé mit seiner Ablehnung Wagnerscher Musik jenem späten Wagner an, der seine eigene Theorie – und damit auch die Aussagen des Lettre sur la musique - noch einmal einer neuen Deutung unterzieht und von 1872 an in seinem Essay Über die Benennung »Musikdrama« seine Dramen als »ersichtlich gewordene Taten der Musik« bezeichnet. Gewiss, Mallarmé kannte diese späten Schriften nicht, doch seine Ästhetik des idealen Dramas weist mit ihrer Forderung, das Drama müsse aus der Musik hervorgehen und keinesfalls nur von ihr eingekleidet werden, eine frappierende Ähnlichkeit mit der gewandelten Kunsttheorie des Bayreuther Meisters auf: »sa présence, rien de plus! à la Musique est un triomphe, pour peu qu’elle ne s’applique pas à d’antiques conditions, mais éclate la génératrice de toute vitalité: un auditoire éprouvera cette impression que, si l’orchestre cessait de déverser son influence, le mime resterait, aussitôt, statue« (Rêverie). Wagner versteht seinerseits Musik als »Mutterschoß des Drama«, und führt dadurch eine Beziehung zwischen Orchester und Bühnengeschehen ein, die stark an die von Mallarmé postulierte Belebung des Mimen (i.e. des Schauspielers, oder eher des »Typus«) durch den musikalischen Fluss erinnert: »hier das unermesslich vermögende Orchester, dort der dramatische Mime; hier der Mutterschoß des idealen Dramas, dort seine von jeder Seite her tönend getragene Erscheinung«. Wagner hat also, zumindest teilweise, das Mallarmésche Denksystem gewissermaßen vorweggenommen und so auch dessen Kritik an seiner musikalischen Kunst antizipiert. Entscheidend ist hier, dass solche Betrachtungen auch das Konstrukt ›Richard Wagner‹, dessen sich schon Mallarmé bedient hat, das aber auch heute noch bei den meisten Kommentatoren in Umlauf ist, ad absurdum führen (so meint Bertrand Marchal in seiner epochemachenden Arbeit, La Religion de Mallarmé, behaupten zu müssen: »la musique […] chez Wagner, […] n’est pas la matrice idéale de l’action scénique«).
Mallarmés Wagner-Kritik muss also in erster Linie als Kritik des geläufigen französischen Wagner-Bildes aufgefasst werden. Sie ist als solche um so bezeichnender, als sie gewissermaßen gegen ihren erklärten Willen zahlreiche Affinitäten zu Wagners Werk durchschimmern lässt. So kann ihre Verurteilung des individualisierenden, historisierenden Dramas lediglich auf Opern wie Lohengrin oder Tannhäuser, die der Ästhetik der französischen Grand Opéra noch weitgehend verpflichtet sind, angewendet werden, während sie vom Tristan an unaufhaltsam ins Leere läuft oder – unbewusst – späten Veränderungen der Wagnerschen Musikdramaturgie das Wort redet. In neuerer Zeit haben etwa Wieland Wagner und Heiner Müller mit ihren Inszenierungen gezeigt, dass sich die idealisierende Auflösung szenischer Vorgänge auch an Wagners Werken demonstrieren lässt. Mallarmé jedoch, dem noch das Toben von 1861 in den Ohren klang, fühlte sich vor allem berufen, eigene und nationale Ansprüche zu verteidigen und den deutschen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Das Bild eines Komponisten, der sich anschickte, die Rolle des Dichters zu übernehmen, musste ihn fast zwangsläufig herausfordern: »Singulier défi qu’aux poètes dont il usurpe le devoir avec la plus candide et splendide bravoure inflige Richard Wagner!« Zumindest hier liegt zwischen beiden Künstlern sicherlich kein Missverständnis vor: auf dem Spiel stand weniger die ontologische Würde der Musik oder die Wahrung dichterischer Interessen als vielmehr die für beide so verlockende Utopie eines Gesamtkunstwerks.