Der frühere
Staatsminister für Kultur, Professor Dr. Julian Nida-Rümelin,
spricht sich in seinem Buch für eine Erneuerung kultur- und
bildungspolitischer Ideale im Sinne eines zeitgemäßen
Humanismus aus. Dieser neue Humanismus basiert für ihn auf einem
Menschenbild, das sich als Gegenstück zum Menschenbild des
homo oeconomicus
versteht. Sein angestrebtes Menschenbild eines neuen Humanismus stellt
sich bewusst dem heute vorherrschenden kurzfristigen Denken der
Wissenschaftspolitik entgegen. Es orientiert sich nicht am Primat der
Nutzenanwendung und ökonomischen Verwertbarkeit. Die Herausgeberin
Elif Özmen betont, dass »Zweckfreiheit statt
Instrumentalisierung, Respekt vor der Eigengesetzlichkeit von Forschung
und Lehre, von Kunst und Kultur« die konstituierenden
Leitsätze eines solchen dem Autor vorschwebenden »erneuerten
Humanismus« sind.
In der Vergangenheit waren Leistungen in
Wissenschaft, Bildung und Kultur prägend für das Selbstbild
und -verständnis Deutschlands als Nation. In den letzten Jahren
nahm diese gesellschaftspolitische Grundlage der deutschen
Identität und damit einhergehend ihre Integrationskraft für
das Gemeinwesen zunehmend ab, wie die Debatte um die deutsche
Leitkultur exemplarisch belegte. Julian Nida-Rümelin analysiert
die Ursachen dieser Entwicklung. Er zeigt nicht nur die Folgen der
Erosion bildungspolitischer Werte für das gegenwärtige
Gemeinwesen, sondern ebenso Wege zu einem erneuerten Humanismus in
Bildung, Kunst und Kultur auf. Dieser muss sich an den Werten und
Normen der Menschenbilder und des respektvollen Umgangs mit
Verschiedenheit orientieren. Um diesen Wandel in der gesamten
Gesellschaft zu erreichen, hält der Philosoph eine umfassende
Erneuerung der humanistischen Substanz von Bildung und Kultur für
zwingend nötig.
Der Kulturpolitiker und Wissenschaftler
Nida-Rümelin war in dem dem Buch zugrunde liegenden Zeitraum bis
1998 als Hochschullehrer an der Universität Göttingen
tätig, von 1998 bis 2000 als Kulturdezernent der Stadt
München und anschließend von 2001 bis 2002 als
Kulturstaatsminister der Bundesregierung. Der vorliegende Sammelband
wurde von der Philosophin Elif Özmen herausgegeben, die seine
persönliche Referentin im Amt des Staatsministers in Berlin war.
Er enthält Reden und Schriften der Jahre 1996 bis 2005 und ist vom
Genre her eher eine Anthologie als eine Monographie. Dies tut der
Bedeutung des Buches keinen Abbruch, es erlaubt auch Laien sich den
Problemfeldern der gegenwärtigen Bildungs-, Wissenschafts- und
Kulturpolitik zu nähern und einen ersten Überblick über
die Materie und ihre grundlegende gesellschaftliche Bedeutung zu
bekommen.
Der Band ist in drei Hauptthemenfelder unterteilt, die
sich der Gesamtthematik eines zeitgemäßen Humanismus
unterschiedlich annähern. Im ersten Teil unter dem Titel
Bildung und Kultur – Grundlagen
wird eine Bestandsaufnahme vorgenommen, die die derzeit noch vorhandene
Substanz in Bildung und Wissenschaft analysiert und zur
Rückbesinnung auf die Tradition des Humanismus für die
weitere Entwicklung der wissenschaftlichen Bildung aufruft. Neben einem
Nachzeichnen der einst historisch besonderen Rolle Deutschlands als
Kultur- und Bildungsnation sowie des besonderen genuin
europäischen Kerns des Humanismus wird auf den Zusammenhang von
Bildung und Persönlichkeitsbildung sowie auf die in der
Bildungslandschaft um sich greifende Ökonomisierung eingegangen.
Der Autor beschränkt sich nicht auf die Diagnose der Gegenwart
bzw. einen Appell, sondern gibt zudem gezielt Ratschläge für
die Zukunft der wissenschaftlichen Bildung, vor allem für die
Chancen und erwünschten Ziele der derzeit erfolgenden
Neuausrichtung der Geisteswissenschaften.
Das zweite Themenfeld
Kunst und Lebenswelt
behandelt das Wechselspiel dieser Bereiche. Neben der Aufarbeitung des
Verhältnisses dieser beiden Felder widmet sich der Teil ebenso der
Würdigung verschiedener Kulturbereiche. Von der Kultur der
Innovation in Wissenschaft und Kunst reicht die Perspektive über
die Architektur, Raum- und Stadtplanung zur Bildenden Kunst und
Buchkultur bis hin zur heutzutage allgegenwärtigen Popkultur. Wenn
überhaupt, mag man einen Beitrag zur Kultur des Films und
Fernsehens vermissen, was um so mehr erstaunt, da Nida-Rümelin
sich gerade auf diesem Gebiet ausgesprochen engagiert und zweifelsohne
eine Vielzahl von Meriten aufzuweisen hat. Das heutige
Filmförderungsgesetz ist beispielsweise sein Werk. Diese Thematik
ließ sich wohl nicht hinreichend mit der eingenommenen
Blickrichtung auf grundsätzliche Überlegungen zur
humanistischen Bildung und Kultur verbinden, so dass die
Herausgeberin Özmen auf Überlegungen zu diesem spezifischen
Kulturbereich verzichtete.
Der dritte Teil des Buches steht unter dem Titel
Perspektiven der Zivilgesellschaft.
Er stellt die Bedingungen einer werteorientierten und toleranten
Gesellschaft in den Vordergrund. Von Fragen der kulturellen Integration
ausländischer Bürger über die Idee der
Zivilgesellschaft, die Vorteile der Mehrsprachigkeit sowie die Probleme
und Chancen der Globalisierung reicht die Bandbreite der behandelten
Themen. Auch kritische Aspekte wie die Verteidigung der offenen
Gesellschaft gegen ihre Feinde werden nicht ausgeklammert. Toleranz
gegenüber anderen Kulturen, zu erbringende Integrationsleistungen
zugezogener Bürger, aber auch Fragen, wie der des Fundamentalismus
oder der gegenseitigen Anerkennung verschiedener Lebensformen geht
Nida-Rümelin nicht aus dem Weg. Alle in diesem Kontext
gesellschaftspolitisch hoch gehandelten Stichworte der vergangenen
Jahre finden sich wieder und der Autor bezieht Stellung.
Nida-Rümelin
stellt sich den kritischen Themen. Aufbauend auf der humanistischen
Tradition sieht er in einem erneuerten Humanismus den Humus für
einen Minimalbestand geteilter Normen, Werte und Einstellungen. Erst
diese Grundlage ermöglicht seines Erachtens Verständigung
sowie bürger- und gesellschaftliche Teilhabe. Die Idee der
Zivilgesellschaft bedarf zwingend einer Schnittmenge an Werten, die die
Grundlage einer auf Kooperation und Anerkennung gründenden, eine
soziale und politische Einheit formierenden Gesellschaft sein
müssen.
Der Autor hält nicht nur die humanistische
Werte wie Freiheit und Gleichheit, Würde, Autonomie,
Selbstachtung, Achtung anderer, Toleranz, Pluralismus oder
Gerechtigkeit hoch, sondern arbeitet heraus, wie wichtig unter diesen
Aspekten die Geisteswissenschaften sind, um den ›modernen
Kitt‹ herzustellen, der unsere multi-ethnischen, kulturell wie
religiös pluralistischen Gesellschaften zusammenhält.
Fortschritte in den Natur-, Ingenieurs- oder Bio-Wissenschaften
können keine Normen für das gesellschaftliche Zusammenleben
etablieren. Nida-Rümelins Plädoyer für die
Geisteswissenschaften entspringt dieser Erkenntnis. Sie sind nicht
Luxus, sondern – wie die weniger erfolgreiche jüngste
deutsche Vergangenheit ungewollt zeigt – zwingende Notwendigkeit,
um als Gesellschaft erfolgreich sein zu können. In gewisser
Hinsicht wird erfolgreicher Humanismus damit zu einem Standortfaktor
moderner Industriegesellschaften.
Der vierte und letzte Teil des
Buches umfasst eine Art Anhang in Form eines Interviews, das Ulf
Poschardt mit Nida-Rümelin geführt hat. Es ist sehr
persönlich gehalten und insofern aufschlussreich, da dieser hier
seine Herkunft, den akademischen und politischen Werdegang sowie seine
ethischen, politischen und ästhetischen Überzeugungen offen
darlegt. Zugleich zeigt das Gespräch auf, wie die verschiedenen
Tätigkeiten Nida-Rümelins in den letzten Jahrzehnten
ineinander griffen. Von seinen Fachgebieten in der Politischen
Philosophie und Ethik zur politischen Praxis als Kulturpolitiker
erhält man Einblick in eine Motivlage, die zu so vielfältigem
Engagement in Kultur, Politik und Wissenschaft geführt hat. Zudem
zeigt das Interview die persönliche Handlungsdimension im Sinne
des propagierten ›erneuerten Humanismus‹.
Interessant
ist die Beschreibung der Interaktion zwischen Politischer Theorie und
politischer Praxis. Einerseits sieht Nida-Rümelin die
Notwendigkeit der Praxisbewährung für die Wissenschaft,
andererseits müsse die Politik sich in Zukunft noch stärker
einer rationalen Überprüfung stellen. Ebenso ungeschminkt
stellt er den Alltag als Seiteneinsteiger dar, obwohl er bereits
reichliche Vorerfahrungen in der Politik mitbrachte. Von
Berufspolitikern ungern gesehen, gilt der Quereinsteiger eher als
unliebsamer Besucher im Politikbetrieb denn als Bereicherung. Der
ehemalige Staatsminister beim Bundeskanzler und Beauftragte der
Bundesregierung für Kultur und Medien, so die offiziellen
Amtsbezeichnungen, berichtet mit großer Offenheit von seinen
Erfahrungen in der Politik. Nicht Pessimismus oder Enttäuschung
herrschen vor, sondern – trotz aller Schwierigkeiten im
politischen Alltagsgeschäft – Freude am Gestalten und an der
Einmischung.
Insgesamt ist
Humanismus als Leitbild
ein starkes Plädoyer für Bildung und Kultur als eine der
wichtigsten Säulen einer erfolgreichen modernen, liberalen
Gesellschaft. Dies gilt auch unter ökonomischen Prämissen und
ist keineswegs ein naiver Idealismus, wie der Autor aufzuzeigen
versteht. Das Bildungsideal Nida-Rümelins orientiert sich auf
bildungspolitischer Ebene an einem »erneuerten Humanismus«,
der die normativen Grundlagen der Zivilgesellschaft erst
ermöglichen soll, indem er die zu begründenden Werte einer
kulturell pluralistischen Gesellschaft zu konstituieren hilft.
Julian
Nida-Rümelin gelingt es, sowohl Laien als auch Fachleser mit
seinen Interventionen anzuregen. Das Buch ist leserlich
geschrieben und tiefsinniger, als das Thema zunächst vermuten
lässt. Für Kulturpolitiker ist es ein Muss. Für
Wissenschaftler, insbesondere Geisteswissenschaftler, aber auch
für Künstler ist es zudem wohl Balsam für die Seele,
insbesondere wenn man den fast grenzenlosen Optimismus des Autors
bezüglich der Bedeutung dieser Bereiche für die Gesellschaft
berücksichtigt: »Ja, ich denke es gibt nur zwei große
Quellen der Innovation: Kunst und Wissenschaft. Wenn diese versiegen,
erstarrt die Gesellschaft.«
Ulrich Arnswald