Paul Mersmann
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Was bezeugt Literatur? Plädoyer für den Aberglauben


1.

Literatur bezeugt zunächst die Existenz eines gesonderten Schreibgebietes jenseits der sachlich-pragmatischen Handlungsschriften der tätigen Kollektive.

Wann die Sprache, vom einfachen Mitteilungshandwerk gelöst, zu ersten Andeutungen fand, dass man über sich selber hinaus ein Mensch sei, der den anderen etwas zu schreiben habe, ob bereits seit undenkbaren Zeiten literarisch mit magischen Bildern und Zeichen gespielt wurde, bleibt ungeachtet der spekulativen Ungewissheit nicht ohne Bedeutung. Metaphysische Spekulation und Aberglauben sind wesentliche Bestandteile der Freiheit der Literatur und ihrer Erfindungen. Aus der Wahrheit unseres Zuschnitts löst sich kein Stoff für literarische Bezeugungen.

Es mag auf Einbildungen beruhen oder nicht: Ob man sich für die göttliche oder tierische, die hochwohlgeborene oder verwaltungsbedingte Abkunft der literarischen Schreibkraft entscheidet, hat folgenschwere Auswirkungen auf die Produktion. Oberflächlich gesehen bleibt es Lesern wie Schreibern überlassen, mehr Vergnügen oder Nutzen aus der einen oder der anderen Vorstellung zu ziehen. Ihre tiefere Bedeutung erhalten derartige Fragen, so simpel sie erscheinen mögen, erst durch den Umstand, dass Literatur, wenn ihr die Belesenheit nicht voranginge, keinen Aberglauben, keine ästhetischen Überbilder von Himmel und Hölle, wahrscheinlich gar nichts bezeugen könnte. Die Frage, was eher gewesen sei, Bildung ohne Literatur oder Literatur ohne Bildung, ist vermutlich unauflösbar. Franz von Baader, der in Zeiten einer noch freier schweifenden Geisteswelt mit guten Gründen die deutsche Romantik so sehr beflügelt hat, spricht vom »Mysterium der Menschwerdung«. Ich wüsste im übrigen auch keine bessere Antwort. Wir sind nicht mit den Affen zusammen ans Lesen gekommen.

Unsere Zeit, abgestoßen von allen Formen göttlicher Wissensvermittlung, ist in die Gruben vermeintlicher Fakten gestürzt, die keineswegs gewisser sein dürften als die vorherigen Götter. Der Mensch ist ein Schöpfer, der da, wo er am besessensten Wirklichkeit sucht, am ehesten ihr Erfinder und Deuter wird. Wir kennen keine einzige real existierende Wahrheit, die nicht durch mühsame und spezielle Vorübungen glaubhaft gemacht werden muss. Unsere wechselvolle Lage sowie unser ganzes Wesen sind viel zu speziell, um einer fixierten Wahrheit lange Glauben schenken zu können. Napoleon hat sehr trocken gesagt: »Geschichte... das ist die Übereinkunft der Lügner.«

Es ist nicht zu leugnen: jede Wahrheit kollektiven Zuschnitts wird von Parteien verwaltet, die auf zahllosen Wegen ihren Nutzen daraus ziehen. Man siegt eine Weile mit dem einen, dann mit dem anderen Glauben. Wissen stützt sich auf Nutzen. Was nicht not-wendig ist, kann nicht sinnvoll sein. Davon lebt die Reklame. Gewiss, man deckt das Dach nicht mit Wasser, aber sicher ist auch, dass ein reißender Wasserfall über dem Haus den Regen abhalten könnte. Lao-tse hat gesagt, eine feste Kiste für die Schätze des Hauses sei den Räubern willkommen.
Was kann da, im Gegensatz zu den blanken Wahrheiten der vielfachen Vernunft, die Literatur bezeugen?

Aus den heutigen Bücherbergen, angefüllt mit den Facetten aller Gewissheitszustände, die man als zeitgenössisch begreifen kann, steigt zwar unablässig der alte Dunst von Eheproblemen, Betten, Neid und Gewaltsamkeit, aber mit einer entscheidenden Einschränkung: der völligen Abwetzung des älteren Schicksalsbegriffs. Es geht der Literatur über weite Strecken nicht anders als dem Film, der über Bild und Ton eine vergangene Wirklichkeit zu imaginieren unternimmt, aber von Deutern gelenkt die unendliche Menge der unlösbar miteinander verwobenen Augenblicke weder erfassen noch wiederholen kann. Keine Nachahmung von Tatsachen bezeugt die unwiederholbare Wahrheit der tausendfach verlorenen Augenblicke, sie bleiben verkürzt in den unterschiedlichsten Deutungen stecken. Fest steht, alles ist im Augenblick seines Erscheinens unmessbar voller, plastischer, anders, als jedes fotografische Gestern bezeugen kann.

In der Literatur das Gegenteil oder die Unabhängigkeit von solchen Unmöglichkeiten zu Wort kommen zu lassen, verlangt eine Auseinandersetzung mit den immer rascher sich verengenden Realitäten. Durch intuitives Erfassen der Eindrücke, die von den Schatten der Zwischengestalten stammen, in denen das Zufällige sich vom Erfahrenen trennt, entsteht die gestaltete Unwirklichkeit der Literatur, keinesfalls aber ein Wirklichkeitsersatz. An dieser zweiten Natur gehen die meisten Leser ahnungslos vorbei. Die Revolutionen des Realismus haben die einfachsten Grundkenntnisse der literarischen Bildung gründlich zerstört, indem sie das ganze Feld dem Aberglauben zuschlugen.

Wenn Breton sagt, er lese kein Buch, in dem jemand eine Treppe hinaufgeht, so trifft er nicht nur als Surrealist ins Schwarze. Es ist abstoßend, mit mehr oder weniger verbogenen Scheinwahrheiten überschüttet zu werden. Die Empfindsamkeit für die subtileren Einsichten in das, was Literatur bezeugen könnte, ist nahezu untergegangen. Ein unsinniger Naturalismus hat die schöpferische Bedeutung der Sprache aufgehoben und bedient sich, wie der Film, der Wahnidee der Spiegelungen.

So liefert der Realismus statt Offenbarungen unbekannter Schicksalserfindungen nur ein genussvoll getrübtes Vergnügen an der Verdoppelung des ohnehin schwer erträglichen Lebens. Unter den fortbestehenden Deckmäntelchen älterer, subventionssichernder Kunstbegriffe sind die zoologischen Motive der bewährten Antiästhetik zu Leitbildern aufgerückt. Dass gedruckte Literatur auch böse oder dumm machen könne, glaubt unterdessen kein Mensch mehr. Der Orient scheint dies noch deutlich zu fühlen und begründet daraus seine Verachtung gegen uns.

In literarischer Hinsicht erzeugt der selbstgewisse Wirklichkeitsglauben einen Schwall photographisch-zoologischer Szenen, die nichts weiter bezeugen als erfundene Realitäten –  was auf eine besondere Komödie der Lüge hinausläuft. Wozu übrigens Literatur, wenn die Wirklichkeit wahr ist und in dieser Hinsicht für alle glaubhaft? So gesehen wäre jeder Tagesablauf an sich bereits eine reine Wahrheit und keiner literarischen Zusatzdeutung bedürftig, so dass alle Bücherberge eine Art überflüssiger Mehrwertsteuer auf das in voller Wahrheit erlebte Leben darstellten. Vielleicht wird ja auch deshalb mit einigem Recht immer weniger gelesen. ›Leben statt Lesen‹ steht als Motto über dem modernen Analphabetentum.

Da man sich bis vor wenigen Jahrzehnten keiner materiellen Wahrheit so sicher war wie heute – inzwischen ist man in einzelnen Zonen der Literatur darüber hinweg und fast unbemerkt in neue Niemandsländer der Wahrnehmung vorgestoßen –, bezeugt die ältere Literatur noch lange Zeit Motive menschlicher Schicksale unter dem Einfluß unbekannter Mächte. Worin  bestünde auch sonst der Hintergrund frei gedachter und dennoch schilderungsfähiger Ereignisse? Nach dem zweiten Teil des Faust, der deutschen Romantik und den vielen Schicksalsmeistern dämonischer oder göttlicher Kulissen war es bekanntlich der Surrealismus, der erneut den Blick auf die freie Sprachgestaltung im Geiste des kunstvollsten Aberglaubens lenkte, das eigentliche Gebiet der Literatur.

Das Unberechenbare zu bezeugen gewährt eine große Freiheit der Themen. Eine Literatur, die sich seiner annimmt, darf sich im Hinblick auf den unentwegt beschworenen Zukunftsgedanken getrost für uneinholbar halten, weil die Unberechenbarkeit dem Leben immer vorausgehen wird. Die Zukunft ist das Unsterbliche und die menschliche Unvollkommenheit garantiert sie unausgesetzt.

Die Literatur bezeugt in ihren Zeilen die Anwesenheit eines unheimlichen Gastes. Mephistopheles ist nichts als ein fasslich gemachtes Beispiel der inspirativen Rätsel um diese Gestalt.

2.

Niemand braucht sich über die selbstgezogenen Grenzen des modernen Naturalismus zu wundern. Die Wirklichkeit des demokratischen Staates schafft Gehege, in denen Talente mit wirren Provokationen die vermeintliche Freizügigkeit der Zeit beweisen können, ohne wirklich etwas zu ändern oder gar zu riskieren – ihr Treiben ist völlig gefahrlos. Als Kunstbezweifler und schließlich Kunstvernichter bleiben sie subventionierter Bestandteil des  scheinwissenschaftlich fixierten und im Glauben an den Staat verankerten Kollektivismus. So erklärt es sich leicht, warum das Heer der Dilettanten an den Tischen der Wirklichkeit mit sinnlosen Dauerprotesten und Subventionen Platz nimmt, ohne je die Kultur zu vermehren.

Dass der wahre Gehalt der immer begierig begehrten Zukunft zwischen Fakten und Kriegen durch kulturelle Erfindungen vorgeprägt wird, ist in unserer kanonisierten Art von Wirklichkeit mit ihren historischen Vergleichs- und Wiederholungsmechanismen untergegangen. Die durch geschärfte Sensibilität erlebte Intuition ist etwas anderes als das von Erfahrung bewegte Erklügeln. Literatur im Sinne von Kunst verweist auf die Leere einer Unendlichkeit, deren kulturelle Deutungen dem Bank- und Geschäftswesen immer vorausgehen werden. Kultur ist tatsächlich ein zielloses Schweifen, ein Fass ohne Boden – aber die wechselnden Stile hinterlassen bedeutende Zeichen und Hinweise für den Gang in die Zukunft. Dagegen entstammt der Realismus des toten Gewissheitswahns dem untergegangenen Gestern, den Ruinen einer Vergangenheit, die in imitatione finis zwangsläufig bloß Trümmer der Zukunft beschwören. Das Leben kennt keine fixierten Gewissheiten. Selbst die Traditionen, die man ins Feld führen könnte, widersprechen diesem Gedanken nicht, denn was sie vorweisen, sind ausgesiebte Vorzüge und keineswegs altbackene Tatsachen. Tizian bestätigt im Grunde ebenso Picasso wie das Gilgamesch-Epos.

Die jetzigen Zustände suchen sich als Moderne und Postmoderne solchen Verbindungen zu entziehen. Doch bleiben auch sie auf ein insgeheim fortbestehendes, wenngleich nicht erkanntes, ja abgelehntes Schöpfertums angewiesen. Seltsam ist, dass sich niemand ernsthaft Gedanken über die Ursachen dieser Selbstverleugnung zu machen scheint. Es wäre ein Feld für kunsthistorische Untersuchungen,  weil es sich hier um antikulturelle Zeichen handelt, die es an den Objekten und dummen Sprüchen zu untersuchen gälte. Dass sich darin ein inniger Wunsch nach Barbarei und – vermeintlich wunderbar angepasster – tierischer Betätigung verbirgt, bringt das Nachdenken fast von selbst in die Nähe der Theologie. Das vermeintlich realistische Leben wimmelt von kalt übersehenen Erfindungen, die bloß durch die Einbildungskraft der Wirklichkeitsnarren erstarrt und verbogen werden. Solche Untersuchungen könnten bezeugen, wie ein sprachschwacher Wirklichkeitswahn ohne Kenntnis vom Sinn der Literatur im Raum der Vernunft das Überhandnehmen jenes Stotterns in Fakten erzeugt, das Politik und Kultur so erschreckend auszeichnet. Es bleibt eben allem Erdachten und Ausgesprochenen unabänderlich ein – gelegentlich trauriges, zu künstlichen Lügen neigendes und unbegriffenes – Schöpfertum eingeschrieben.

Im öffentlichen Bewusstsein hat die verschwommene Beliebigkeit abrufbarer scheinwissenschaftlicher Gewissheiten die Erkenntniskraft des geordneten Denkens verdrängt, als wäre ein freies und formendes Denken nie zur Gewinnung neuer Glaubwürdigkeiten für eine gewisse Dauer berufen gewesen. Die kleinen und großen Wahrheiten in allen Ereignissen und Dingen bezeugen wie ein Haufen Zwerge eine vermeintliche Zukunft, der sie zugleich den Rücken zuwenden. In aller Unschuld lügt eine schlecht gwordene Sprache ihre Zukunftsprogramme nach rückwärts. Es fehlt in der Literatur der inspirative Zukunftsbegriff aus den Zonen der durch Schreiben bewältigten Zufälle, in denen sich immer die Zukunft spiegelt. Nur das Eintreten dessen, was man nicht wusste, nicht wissen konnte, beglaubigt die Existenz dieser Zukunft. Der Zufall ist ihr Auftritt. Es bedeutet im Grunde nicht viel, ob man dabei den hohen Unterhaltungswert der Superstitionen, wie sie Schopenhauer begreift, beiseite lässt oder nicht. Die Bühne der freien Darstellung rätselhafter Hintergründe angesichts der gigantischen Zweideutigkeiten der Wirklichkeit kann alles gebrauchen, auch den Aberglauben. Man kann ohnehin unter den Prämissen einer zerrütteten Vernunft und der durch die Deutung unserer Geschichte nicht minder zerrütteten Aufklärung literarisch weder heilen noch hoffen, zumal die Barriere des Nichtvergessens im Frondienst einer fixierten Historie keine Zäsur und letzten Endes keinen neuen Aufbruch gestattet. Lieber häuft man unterirdischen Sprengstoff an und hofft auf die unverbrüchliche Übereinstimmung aller geförderten Dilettanten unter den Deutern und Realisten. Übrigens spielt an dieser Stelle der Wert der durch Photographien und Filme verschnittenen Wirklichkeit eine nie genau definierte Rolle. Nichts kann Wirklichkeit wiederholen, das ist eine außermenschliche Tatsache.

Was bezeugt Literatur weiterhin nach der Betrachtung solch betrüblicher Schatten?
Neben ihren Aussagen über neue Stoffe einer anderen Wirklichkeit würde sie wohl, ob gewollt oder nicht, durch die Nebelzonen ihrer bisherigen Existenz die versteckte Zensur bezeugen, die von den Institutionen des sakrosankten und hoch speziellen Wirklichkeitsglaubens verbreitet wird. Auch durch Gleichgültigkeit gegen die feinen grammatischen Brücken und Schleusen der Sprache, die der Leitung phantastischer Worte und Bilder bis in die Zonen der Sichtbarkeit neuer Realitäten dienen könnten, chaotisiert sich das Denken zu wütenden Sprüchen, mit denen man sich die Fakten wie Kästen an den Kopf wirft.

Weit entfernt von der Vermutung, es könnte auf Grund unserer Vorstellungskraft, die wir doch täglich zu allen möglichen Spekulationen benutzen, auch freie Gebiete der Sprachschöpfung geben, in denen eine formbare, wandelbare Erscheinungswelt auf uns wartet, hält man diese schwebenden Ahnungswelten für höchst gefährliche Abseitigkeiten, die sich in unterschiedlichen Graden des Wahnsinns dem gesunden Heil der profanen Wahrheit entziehen. Dabei sind gerade die Wahnideen in den meisten Fällen verstockt verdrehte Realitäten. Wo aber die gestaltende Gedankenfreiheit oder ein Wille dazu nur von Ferne bemerkt wird, findet die Druckfähigkeit ihr sofortiges Ende. Bloß keine Unwirklichkeit. »Wer Visionen hat, gehört in die Psychiatrie« – das hat ein deutscher Bundeskanzler auf den krummen Pfaden der ökonomischen Erlösung wandelnd gesagt. Allerdings kommt die verarmte reale Welt der irrealen auf einem peinlichen Umweg auch wieder entgegen. Was nicht zuvor im Geiste geschieht, dem verweigert die Gegenwart die Mittel. So versinkt die Anzahl der ›Realitäten‹ von Stufe zu Stufe, indessen um ihre Reste in erschöpfenden Dauerkriegen der Dummheit gegen die Einfalt gestritten wird.

So geht es der Gesellschaft, so geht es der Wissenschaft, auf die man sich stützt und die sich ihrerseits pausenlos in die Geschichte der Stoffe wirft. Von Zukunft im höchsten Sinne des Wortes auch hier keine Spur, denn es gibt keine Zukunft ohne die bemalten Masken auf den Bühnen der literarischen Metaphysik. Das ist es, was Literatur mit guten Gründen bezeugen kann, weil sie die Leere der ewigen Zukunft zutiefst begreift.