Tintenauge und Schattenmund. Victor Hugos Zeichnungen
Ausgewählt und kommentiert von Françoise Chomard
und Dietrich Harth
Ostfildern (Hatje Cantz) 2008, 195 S., 135 Farbabb.


1.

Es ist ein seltenes Vergnügen, etwas über ein Buch sagen zu können, das die Zeugnisse der spontanen Ausdruckskraft eines bedeutenden Künstlers mit einem tiefen Verständnis für die wesentlichen Bedingungen dieser noch immer wenig bekannten Seite seines Schaffens zusammenfügt. Im begleitenden Text des Kulturwissenschaftlers Dietrich Harth gibt es keinen Abstand, der aus dem vermeintlichen Wissen der heutigen Zeit heraus Hugo und die immerwährende Urtümlichkeit des echten Kunstwerks aus den Augen verlieren lässt. Der Zeitgeist, in den Hugo einem Laokoon gleich sein Leben hindurch verstrickt war, spielt in diesem Buch, das seinen zeichnerischen Fähigkeiten gewidmet ist, kaum eine nennenswerte Rolle, sieht man von den politischen Ursachen seines Exils, den Folgen seiner schöpferischen Einsamkeit und der bedeutenden Wirkung des von ihm immer wieder beschworenen Meeres einmal ab.

Er überlässt sich der Dämonie dieses mächtigen Elementes oft wie ein wild demonstrierender Partner.

Bemerkenswert ist, dass im Text eine Parallele zu Hugos eigener Bewertung entsteht, da der Autor mit feinem Empfinden zwischen der Weltläufigkeit des Schriftstellers und den absichtslos rein und offen zu Tage tretenden Fähigkeiten des Zeichners zu trennen weiß, gleichsam als zeige sich hier Hugo, der sonst als Einfluss nehmender Sprecher und Widersprecher einer ganzen Epoche französischer Politik betrachtet werden muss, als absichtsfrei schaffender, ungestümer Vertreter einer dunklen Naturbetrachtung, als gäbe es zwischen ihm und dem Meer oder den Geisterschlössern romantischer Schatten kein bedenkenswertes soziales Element, sondern ausschließlich nur das Papier und die Feder. Der Roman Die Arbeiter des Meeres, der in Guernsey entsteht, könnte dieser Ansicht vielleicht widersprechen, doch Hugo, der außer im Manuskript das Buch nicht illustriert hat, verweigert dem Stoff die soziologische Durchleuchtung. Er mochte die lichtlose Urtümlichkeit der Fischer als einen Stoff begreifen, dem jede moderne Sehnsucht fehlt. Wie die dunklen Bauernbilder des frühen van Gogh hat der uralte Kampf mit der Natur das Leben für die modernen Kritiken der Zeit auf undurchsichtige Weise geschwärzt, aber für den Künstler auch auf magische Weise anziehend gemacht. Diesen Stoff gab es nicht in Paris. Erst in Zolas Germinal taucht eine ähnlich in sich gedrängte Dunkelheit wieder auf, allerdings nicht mehr sich selbst überlassen und zwanzig Jahre später.

Was die seltsame Zurückgenommenheit des sonst kaum bescheidenen französischen Gottes gegenüber seinen spontanen Meisterwerken aus Tinte und schattenvoller Erfindungskraft betrifft, so mag sie auch einen geheimen Zug des Zweifels an der Keuschheit seines literarischen Erfolgs bezeugen. Schließlich hat er bei seinem Tod, den Miserablen gleichsam eine Nase drehend, elf Millionen Franc hinterlassen. Wer weiß, ob es in seinem Innern nicht eine heimliche Spannung zwischen den öffentlichen Triumphen und dieser alchimistischen Kunst gab. In diesen intuitiven Blättern, dem Geschenk der Dämonen, besaß er Beweise für die Anwesenheit inspirativer Kräfte frei von jedem persönlichen oder politischen Ehrgeiz. Vielleicht waren sie am Ende die Aktien seiner Seele.

Man sagt, der völlig verarmte, höchst geniale Radierer Bresdin – er starb im gleichen Jahr wie Hugo – habe auf eine entsprechende Frage Baudelaires geantwortet: »Wenn man eine Wiese fragen würde, wie hoch sie das Fuder Heu berechne, so würde sie sagen, ich habe dafür selber nicht einen Sou bezahlt.«

2.

Man könnte vermuten, dass aus den geheimen,wenn auch niemals wirklich vergessenen Werken großer Künstler manchmal, gegen den Willen der Zeit, ein Lichtschein in die Gegenwart bräche, um den Vernichtungswillen gegen die wahre, die absichtslose, die intuitive Kunst in ein erschreckendes Licht zu tauchen. Der Schöpfungsursprung aller vermeintlichen Wirklichkeit muss immer wieder erkannt und beleuchtet werden. Dieses Buch hat zweifellos seinen Anteil daran. Es scheint mir ebenso bestimmt für Künstler, die hier etwas über die Grundlagen ihrer Kunst erfahren können, wie für Sammler, die sich über den Wert von Zeit und Unzeit der geistigen Handelsware ihre Gedanken machen. Kein bewertender Schatten von Zeit und Unzeit fällt in ihm auf die Blätter Hugos.

Es ist sicher, daß die Kunst ihre tiefsten Motive aus dem Urstoff jedes schöpferischen Aufbruchs zieht: der ungelösten Wahrheit. Aus ihrer Unbestimmbarkeit stammt das künstliche Gegengift zum Wissen des materiellen Weltlaufs. Der eigentliche Kulturkampf geht um die Zulassung solcher Medikamente durch die Gelehrten. In Hugos Zeichnungen tritt das alchimistische Medikament aus brauner Tinte gemeinsam mit den rätselhaften Bemerkungen asiatischer Koane auf, die als Hinweise auf eine nächste, vielleicht europäisch-chinesische Denkverbindung gelten könnten.

Die in diesem Band gezeigten Blätter waren zu Lebzeiten Hugos niemals im Handel. Eine zeitlose Verborgenheit deutet sich darin an, die der Künstler ebenso ahnungshaft gewollt hat, wie sie immer wieder als fruchtbar empfunden werden kann. Vergangenheit bedeutet hier nichts, und so wenig der Gedanke eines linearen Ablaufs der Weltgeschichte samt Fortschritt im tieferen Wesen der Kunst je eine Rolle gespielt hat außer dort, wo die Halbkunst in den Dienst der Gegenwart gelobt wird, ist die beharrliche Verehrung der mechanischen Uhrzeit, die den Künstlern nur als Imitation der landwirtschaftlichen Jahreszeiten gelten kann, ein unausrottbarer Wahn des Naturmenschentums ohne den Stachel der Kunst. Besser wäre es, bemalte Götter zu imitieren, die uns näher sind als die formlosen Wahrheiten der Realität.

Der Text dieses Buches berichtet ohne Einschränkungen über den Künstler als homme des utopies, wie Hugo ihn nennt. Sein Geist geleitet über eine rationalisierende Kunstkritik hinaus in das Land der zweiten Natur und die virtuosen Augenblicke spontanen Erkennens. Leider ist die Stimme der Geisteswissenschaften in diesen Regionen schon lange sehr leise geworden. Man wagt es kaum, gegen den ständigen Tageseindruck der unglaublichsten Zufälle, die das Leben begleiten, von der unbekannten Wahrheit aller Dinge zu reden, deren Gestaltung der Kunst überlassen bleibt. Das Generalurteil über den Auftrag des Künstlers ist, nicht nur in dieser Hinsicht, scheinwissenschaftlich eingeschränkt. Wehe, das unendlich Unbekannte ließe einen Künstler öffentlich auf den Gedanken kommen, lieber vergebens einen Gott imitieren zu wollen, als kollektive Wahrheiten abzubilden. Er wäre ein Volksfeind. Man kann das Gehirn als bloße Maschine kunstfreier Gedanken mit Sport, Phrasen und Drogen stimulieren, bis die europäische Welt weder Rätsel noch Dinge besitzen und selbst im pysikalischen Sinn leer sein wird, denn alle Dinge wollen erfunden werden, ehe sie sichtbar erscheinen.

Paul Mersmann

Paul Mersmann: Victor Hugo (2008)