1.
Es
ist ein seltenes Vergnügen, etwas über ein Buch sagen
zu können, das die Zeugnisse der spontanen Ausdruckskraft
eines bedeutenden Künstlers mit einem tiefen
Verständnis für die wesentlichen Bedingungen dieser
noch immer wenig bekannten Seite seines Schaffens
zusammenfügt. Im begleitenden Text des Kulturwissenschaftlers
Dietrich Harth gibt es keinen Abstand, der aus dem vermeintlichen
Wissen der heutigen Zeit heraus Hugo und die immerwährende
Urtümlichkeit des echten Kunstwerks aus den Augen verlieren
lässt. Der Zeitgeist, in den Hugo einem Laokoon gleich sein
Leben hindurch verstrickt war, spielt in diesem Buch, das seinen
zeichnerischen Fähigkeiten gewidmet ist, kaum eine
nennenswerte Rolle, sieht man von den politischen Ursachen seines
Exils, den Folgen seiner schöpferischen Einsamkeit und der
bedeutenden Wirkung des von ihm immer wieder beschworenen Meeres einmal
ab.
Er überlässt sich der
Dämonie dieses mächtigen Elementes oft wie ein wild
demonstrierender Partner.
Bemerkenswert ist, dass im
Text eine Parallele zu Hugos eigener Bewertung entsteht, da der Autor
mit feinem Empfinden zwischen der Weltläufigkeit des
Schriftstellers und den absichtslos rein und offen zu Tage tretenden
Fähigkeiten des Zeichners zu trennen weiß, gleichsam
als zeige sich hier Hugo, der sonst als Einfluss nehmender Sprecher und
Widersprecher einer ganzen Epoche französischer Politik
betrachtet werden muss, als absichtsfrei schaffender,
ungestümer Vertreter einer dunklen Naturbetrachtung, als
gäbe es zwischen ihm und dem Meer oder den
Geisterschlössern romantischer Schatten kein bedenkenswertes
soziales Element, sondern ausschließlich nur das Papier und
die Feder. Der Roman
Die
Arbeiter des Meeres, der in Guernsey entsteht,
könnte dieser Ansicht vielleicht widersprechen, doch Hugo, der
außer im Manuskript das Buch nicht illustriert hat,
verweigert dem Stoff die soziologische Durchleuchtung. Er mochte die
lichtlose Urtümlichkeit der Fischer als einen Stoff begreifen,
dem jede moderne Sehnsucht fehlt. Wie die dunklen Bauernbilder des
frühen van Gogh hat der uralte Kampf mit der Natur das Leben
für die modernen Kritiken der Zeit auf undurchsichtige Weise
geschwärzt, aber für den Künstler auch auf
magische Weise anziehend gemacht. Diesen Stoff gab es nicht in Paris.
Erst in Zolas
Germinal
taucht eine ähnlich in sich gedrängte Dunkelheit
wieder auf, allerdings nicht mehr sich selbst überlassen und
zwanzig Jahre später.
Was die seltsame
Zurückgenommenheit des sonst kaum bescheidenen
französischen Gottes gegenüber seinen spontanen
Meisterwerken aus Tinte und schattenvoller Erfindungskraft betrifft, so
mag sie auch einen geheimen Zug des Zweifels an der Keuschheit seines
literarischen Erfolgs bezeugen. Schließlich hat er bei seinem
Tod, den
Miserablen gleichsam eine Nase drehend, elf Millionen Franc
hinterlassen. Wer weiß, ob es in seinem Innern nicht eine
heimliche Spannung zwischen den öffentlichen Triumphen und
dieser alchimistischen Kunst gab. In diesen intuitiven
Blättern, dem Geschenk der Dämonen, besaß
er Beweise für die Anwesenheit inspirativer Kräfte
frei von jedem persönlichen oder politischen Ehrgeiz.
Vielleicht waren sie am Ende die Aktien seiner Seele.
Man
sagt, der völlig verarmte, höchst geniale Radierer
Bresdin – er starb im gleichen Jahr wie Hugo – habe
auf eine entsprechende Frage Baudelaires geantwortet: »Wenn
man eine Wiese fragen würde, wie hoch sie das Fuder Heu
berechne, so würde sie sagen, ich habe dafür selber
nicht einen Sou bezahlt.«
2.
Man
könnte vermuten, dass aus den geheimen,wenn auch niemals
wirklich vergessenen Werken großer Künstler
manchmal, gegen den Willen der Zeit, ein Lichtschein in die Gegenwart
bräche, um den Vernichtungswillen gegen die wahre, die
absichtslose, die intuitive Kunst in ein erschreckendes Licht zu
tauchen. Der Schöpfungsursprung aller vermeintlichen
Wirklichkeit muss immer wieder erkannt und beleuchtet werden. Dieses
Buch hat zweifellos seinen Anteil daran. Es scheint mir ebenso bestimmt
für Künstler, die hier etwas über die
Grundlagen ihrer Kunst erfahren können, wie für
Sammler, die sich über den Wert von Zeit und Unzeit der
geistigen Handelsware ihre Gedanken machen. Kein bewertender Schatten
von Zeit und Unzeit fällt in ihm auf die Blätter
Hugos.
Es ist sicher, daß die Kunst ihre
tiefsten Motive aus dem Urstoff jedes schöpferischen Aufbruchs
zieht: der
ungelösten
Wahrheit. Aus ihrer Unbestimmbarkeit stammt das künstliche
Gegengift zum Wissen des materiellen Weltlaufs. Der eigentliche
Kulturkampf geht um die Zulassung solcher Medikamente durch die
Gelehrten. In Hugos Zeichnungen tritt das alchimistische Medikament aus
brauner Tinte gemeinsam mit den rätselhaften Bemerkungen
asiatischer Koane auf, die als Hinweise auf eine nächste,
vielleicht europäisch-chinesische Denkverbindung gelten
könnten.
Die in diesem Band gezeigten
Blätter waren zu Lebzeiten Hugos niemals im Handel. Eine
zeitlose Verborgenheit deutet sich darin an, die der Künstler
ebenso ahnungshaft gewollt hat, wie sie immer wieder als fruchtbar
empfunden werden kann. Vergangenheit bedeutet hier nichts, und so wenig
der Gedanke eines linearen Ablaufs der Weltgeschichte samt Fortschritt
im tieferen Wesen der Kunst je eine Rolle gespielt hat außer
dort, wo die Halbkunst in den Dienst der Gegenwart gelobt wird, ist die
beharrliche Verehrung der mechanischen Uhrzeit, die den
Künstlern nur als Imitation der landwirtschaftlichen
Jahreszeiten gelten kann, ein unausrottbarer Wahn des Naturmenschentums
ohne den Stachel der Kunst. Besser wäre es, bemalte
Götter zu imitieren, die uns näher sind als die
formlosen Wahrheiten der Realität.
Der
Text dieses Buches berichtet ohne Einschränkungen
über den Künstler als
homme des utopies,
wie Hugo ihn nennt. Sein Geist geleitet über eine
rationalisierende Kunstkritik hinaus in das Land der zweiten Natur und
die virtuosen Augenblicke spontanen Erkennens. Leider ist die Stimme
der Geisteswissenschaften in diesen Regionen schon lange sehr leise
geworden. Man wagt es kaum, gegen den ständigen Tageseindruck
der unglaublichsten Zufälle, die das Leben begleiten, von der
unbekannten Wahrheit aller Dinge
zu reden, deren Gestaltung der Kunst überlassen bleibt. Das
Generalurteil über den Auftrag des Künstlers ist,
nicht nur in dieser Hinsicht, scheinwissenschaftlich
eingeschränkt. Wehe, das unendlich Unbekannte ließe
einen Künstler öffentlich auf den Gedanken kommen,
lieber vergebens einen Gott imitieren zu wollen, als kollektive
Wahrheiten abzubilden. Er wäre ein Volksfeind. Man kann das
Gehirn als bloße Maschine kunstfreier Gedanken mit Sport,
Phrasen und Drogen stimulieren, bis die europäische Welt weder
Rätsel noch Dinge besitzen und selbst im pysikalischen Sinn
leer sein wird, denn alle Dinge wollen erfunden werden, ehe sie
sichtbar erscheinen.
Paul Mersmann