Monika Schmitz-Emans
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Inszeniertes Vergessen
Boltanski und die literarische Imagination


(1) Gespenster an der Wand, Gespenster im Album

In seinem Buch Campo Santo nimmt W. G. Sebald einen Reiseessay über Korsika zum Anlass der Reflexion über die Vergänglichkeit aller Dinge – ein Thema, das sein gesamtes Werk prägt. An den Bericht über korsische Rachemorde und Trauerrituale schließt sich eine Schilderung der Zimmer an, wo man die Leichname der Getöteten bis zur Beisetzung aufzubahren pflegte: »[...] Dort hingen an den Wänden seit der Einführung der Photographie, die ja im Grunde nichts anderes ist als die Materialisierung gespenstischer Erscheinungen vermittels einer sehr fragwürdigen Zauberkunst, die Bilder der Eltern und Großeltern und näherer und fernerer Verwandter, die, obwohl oder weil sie sich nicht mehr am Leben befanden, als die wahren Häupter des Stammes galten. Unter ihrem unbestechlichen Blick fand die Totenwache statt [...].« (Sebald, Campo Santo, 28) So sind die Toten unter den Lebenden, als streng blickende, die Achtung der Tradition einfordernde, den Familienverbund bekräftigende Gespenster – mitten unter ihnen, in der guten Stube, die den Toten mehr zu gehören scheint als den Lebenden.

Mehrere Werke Christian Boltanskis zitieren das Arrangement der Photowand mit den Bildern von Familienangehörigen. Ein Beispiel dafür ist die Installation Album de photos de la famille D. entre 1939 et 1964 (1971): Rund 180 Schwarzweiß-Familienaufnahmen aus dem Besitz von Boltanskis Freund Marcel Durand wurden abphotographiert, geordnet und ohne Kommentar aufgehängt. Doch wer diese Installation betrachtet, kennt – anders als die korsischen Trauernden in der Gesellschaft ihrer photographierten Ahnen-Gespenster – die dargestellten Personen nicht. Sie haben für uns keine Namen, keinen Status, keine Geschichten. Die Installation steht metaphorisch für ein beliebiges Familien-Gedächtnis, hat eben darum aber keine memoriale Kraft. In einem Selbstkommentar bekräftigt der Künstler, dass es ihm nicht darum ging, einer bestimmten Familie ein Denkmal zu errichten, die Gesichter bestimmter Personen aus der Vergangenheit in die Gegenwart ›blicken‹ zu lassen. Im Gegenteil stehe hier eine Familienphotosammlung für alle möglichen anderen, und Voraussetzung dafür sei die Unbestimmtheit der Abgebildeten: »Warum es gerade dieses Album sein musste? Durand ist ein echter Franzose, trägt den geläufigsten Namen Frankreichs und hat eine total normale Kindheit erlebt – anscheinend. Natürlich hätte ich auch mein eigenes Fotoalbum nehmen können. Aber das wäre viel zu speziell gewesen. Deshalb habe ich ein völlig austauschbares Album ausgewählt.« (Boltanski, in: Katalog: Zeit, 49f.)

Ein anderes überdimensioniertes ›Album‹ ist das Conversation Piece – Album de photo d’une famille de Berlin (1991), eine Photowand mit Familienbildern, die ohne Namen oder andere Inschriften bleiben. Indem er erkennbar alte Photos bearbeitet und installiert, weist der Künstler auf die Zeitspanne hin, die zwischen dem aufgenommenen Moment und der Gegenwart des Betrachters liegt. Unschärfen und andere visuelle Verfremdungen unterstreichen die Suggestion der Flüchtigkeit des Abgebildeten.

Die Photos Verstorbener dienen heute wie wohl kein anderes Medium im privaten wie im öffentlichen Bereich dazu, an diese zu erinnern. Auf Photos scheinen Verstorbene oft ein phantomatisches Leben nach dem Leben zu führen; die photographischen Bilder übernehmen insofern Eigenschaften, die der Volksglaube seit paganen Zeiten dem Wiedergänger, dem Totengeist oder Gespenst, zuschrieb. Und das Leben in der Gegenwart ist ein Leben mit den antizipierten Gespenstern der Zukunft. Vor allem zu hervorgehobenen Anlässen wird seit über hundert Jahren photographiert – für das Album oder, neuerdings, für die private Kollektion digitaler Bilder. In der relativen Frühzeit der Photographie war es sogar üblich, Verstorbene zu photographieren, um das Familien-Album zu komplettieren. Zwischen dem Tod, dem Erinnern und der Photographie besteht eine Fülle von metonymischen und metaphorischen Beziehungen, auf die u.a. Bernd Stiegler (in seinem Buch Bilder der Photographie) hingewiesen hat. Die Betrachtung von Photographien – wie sie in mediterranen Ländern auch gern auf Gräbern angebracht werden – gehört zu den Kulten des Erinnerns.

Boltanskis Installationen mit Photo-Sammlungen, seine Photowand-Arrangements, seine überdimensionierten Alben, zitieren eine konventionelle Umgangsform mit Photos – und rücken durch dieses Zitieren gleichzeitig auf reflexive Distanz zu ihr. Es ist diese reflexive Distanz, die sie mit kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zu Kulten des Gedenkens verbindet.

Diverse Arbeiten mit Photos sind explizit den Toten gewidmet, so etwa Réserve: Les Suisses morts. Für diese Installation aus gestapelten Blechdosen mit auf ihnen fixierten Photoporträts hat der Künstler die Bilder aus Traueranzeigen in der Zeitung Le Nouvelliste du Valais verwendet, die – meist lächelnde – Gesichter von mittlerweile Verstorbenen zeigen. Diese Photos wurden eminent vergrößert, bis sie Überlebensgröße annahmen. Man fühlt sich an die von Sebald thematisierten Ahnen an der Wand der guten Stube erinnert. Aber diese Toten sind nicht unsere Ahnen; wir kennen sie nicht, sie haben auch keine Namen, und nichts macht sie identifizierbar. Sie sind nur – tote Schweizer, und selbst ihr Schweizer-sein, diese reichlich unbestimmte Eigenschaft, ist gleichgültig, da sie nicht um ihrer selbst willen abgebildet sind, sondern als Repräsentanten für Tote überhaupt. In ihrer Anonymität und Austauschbarkeit haben sie für den Künstler dann aber eben doch einen Bezug zu uns. Denn sie sind auch unsere Stellvertreter. Boltanski kommentiert sein eigenes Projekt so: »Früher haben meine Arbeiten tote Juden gezeigt. Aber ›Jude‹ und ›tot‹, das passt einfach zu gut zusammen. Schweizer sehen doch ganz normal aus. Eigentlich gibt es ja keinen Grund dafür, weshalb ein Schweizer sterben sollte. Und deshalb sind alle diese Toten so viel schrecklicher. Sie sind wir.« (Boltanski, in: Katalog: Zeit, 28)

Mit Boltanskis Installationen werden typische, ja institutionalisierte Orte des Gedenkens zitiert: das Archiv als der Raum, in dem vergangenes Leben verwaltet wird, und der Sakralraum als Schauplatz kollektiven Gedenkens, aber auch die Grabstätte. Verdichtet wird die skizzierte Thematik durch die Plazierung von Photographien in Sakralräumen sowie Photoinstallationen, die an Friedhöfe und andere Stätten des Totenkultes erinnern.

(2) Kulte des Gedenkens im historischen Wandel

Dass der Tod selbst eine ›Geschichte‹ hat, die Einstellung des Menschen zum Sterben und die um den Tod sich rankenden Kulte also keineswegs ahistorische Konstanten darstellen, hat Philippe Ariès mit seinen Studien zur Geschichte des Todes im Abendland (1976) dargelegt. Wenn er sein Buch dem Andenken seines Bruders George sowie ›unseren dem Vergessen anheimgefallenen Toten‹ widmet, so deutet sich darin bereits an, dass aus der Sicht des Kulturanthropologen die Geschichte des Todes vor allem die Geschichte des Umgangs mit Erinnerung und Vergessen ist – und mit den kulturellen Praktiken, den Institutionen und Medien, welche dabei zum Einsatz kommen.

Prozesse individueller und kollektiver Erinnerung sind oft an Orte gebunden. Sakralräume spielen unter solchen Orten eine besonders herausragende Rolle. Das Aufsuchen solcher Orte stimuliert die Erinnerungen oder soll dies doch zumindest leisten, und dies verleiht jenen Orten den Charakter eines externalisierten Gedächtnisses. Boltanski setzt sich nachdrücklich mit der Funktion des Sakralraums als Gedächtnisort auseinander. So entstand unter dem Titel Leçons de ténèbres 1986 eine Installation in der Chapelle de l’hôpital Salpêtrière (Paris), bei der eine Vielzahl brennender Kerzen an den Wänden der Kapelle angebracht wurden, deren Flammen kleine, an den Kerzenhaltern befestigte Eisenfigürchen so beleuchteten, dass diese Figürchen vergrößerte Schatten an die Wand warfen. Die Formen der Figürchen und ihrer Schatten waren anthropomorph: Ganzkörperfigürchen, Gerippe, Schädel mit Flügelchen. Für die Installation Monuments (Biennale Venedig, 1986) schuf Boltanski Arrangements aus monochromen Papieren, die die Form von Monumenten zitierten, Porträtphotographien und Klemmlampen, welche diese beleuchteten. Freilich handelte es sich bei beiden (und anderen) Installationen zum Thema Gedenken wiederum um Zitate von Erinnerungskulten, ihren Requisiten und Örtlichkeiten, nicht um eine wirkliche kultische Praxis: Die Schatten in der Chapelle de l’hôpital Salpêtrière sind nicht die bestimmter Verstorbener, und die Photos in Monuments bleiben einmal mehr anonym. Boltanski erinnert nicht an Personen, sondern ans Erinnern und seine Kulte – und an die historisch wechselnden Einstellungen zum Tod, die in ihnen zum Ausdruck kommen.

Signifikant sind auch die einzelnen Elemente seiner Installationen, so die bildzitathaften Anspielungen auf volkstümliche Vorstellungen von Geistern oder Gespenstern. Die vorchristliche Zeit schreibt den Toten ein dämmerhaftes Fortexistieren als Schatten und Larven zu, und diese mit ihrem Tod nicht völlig verschwundenen Wesen kennt noch das frühe Christentum als Geister. Der Übergang vom Leben zum Tod ist kein völliger Bruch; die Schattenwesen haben jedoch keine Individualität im modernen Sinn. Die erwähnten Schattenfigürchen aus der Chapelle de l’hôpital Salpêtrière visualisieren diese Vorstellung schattenhafter Toter ohne individuelles Gesicht auf sinnfällige Weise. Von flackernden Kerzen beleuchtet, haben die Eisenfigürchen im Dämmer der Kapelle ein fragiles Dasein zwischen Helligkeit und Dunkel, und ihre Schatten sind ständig vom Verlöschen bedroht.

Mit der historischen Herausbildung des Bewusstseins für die Einzigartigkeit des Einzelnen wird dessen Tod zunehmend als Scheitern begriffen, als Verlust eben dieses individuellen Einzelnen. Eine Sensibilität für den eigenen, persönlichen Tod bildet sich heraus. Seitdem hat der Tod die verschiedensten Konturierungen erfahren. Wie Ariès vermutet, kaschiert der ausgiebige Trauerkult, wie er sich mit dem 19. Jahrhundert einbürgert, aber nur einen Verlust der Vertrautheit mit dem Tod. Diese eloquente Ausschmückung des Todes sei, so seine These, im übrigen mittlerweile in Unbenennbarkeit umgeschlagen; der Tod werde tendenziell ignoriert, die Sterblichkeit verdrängt.

Wiederum bietet das Œuvre Boltanskis illustrative Arrangements, mit denen zitathaft sowohl auf die aufwendige Gestaltung von Erinnerungsmonumenten als auch an die komplementäre Verdrängung des Todes angespielt wird. In Monument d'Odessa (1989, u.a. in der Église Saint-Martin du Méjean, Arles) werden, ähnlich wie in den erwähnten Monuments, Photos und Glühlampen zu ›monumentalen‹ Bildkompositionen gefügt, welche die dargestellten Figuren auratisieren, als handle es sich um Heilige oder um besonders geliebte Tote, vor deren Abbildern man Lichter aufstellt. Installationen aus uniformen, gestapelten Blechschachteln hingegen wie Les Suisses morts (1998) suggerieren hingegen, dass hier die Reste individueller Lebensläufe ohne weitere Unterscheidung und mutmaßlich endgültig in einem gleichgültigen Archiv verschwunden sind, gleichsam im Keller der Zeit.

Der historische Wandel in der Einstellung der Gesellschaften zum Tod spiegelt sich, wie Ariès darlegt, aussagekräftig in der Geschichte der Grabkulte wie der Gestaltung der Beisetzungsorte. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Praxis der Namensnennung. Tragen die antiken Gräber auch im Fall sozial niedrig gestellter Verstorbener Inschriften, die deren Namen nannte, so verschwinden in frühchristlicher Zeit (um das 5. Jahrhundert) die der Individual-Erinnerung gewidmeten Inschriften und tauchen erst im 12. Jahrhundert wieder auf. Sind aus dem 13. Jahrhundert neben Monumentalgräbern für hochgestellte Verstorbene auch kleine Grabtafeln überliefert, die lakonisch Namen und Ämter der Toten nennen  oder bildlich eine Szene aus deren Leben zeigen, so verbreiten sich solche Wandtafeln vom 16.- 18. Jahrhundert stark. Ariès charakterisiert sie als Ausdruck des Willens, den Beisetzungsort zu individualisieren und an diesem Ort die Erinnerung an den Toten zu verewigen. Seine Untersuchungen zur Geschichte der Grabinschrift lassen interessante Rückschlüsse auf einen Wandel des menschlichen Selbstbezugs zu: Beginnend mit dem 11. Jahrhundert verbindet sich zunehmend nachhaltiger das Bewusstsein des Einzelnen von seiner Individualität mit dem Gedanken an den Tod als den eines Einzelnen. Im Spiegel seines Todes, so Ariès, habe der Einzelne seine eigene Individualität entdeckt.

Boltanskis Arrangements mit Photos Verstorbener behandeln diese auf ostentative Weise gleich. Sei es, dass völlig gleichaussehende unbeschriftete und nur mit einem kleinen Photo versehene Blechdosen zu großen Stapeln und Wänden geschichtet werden (Les Suisses morts), sei es, dass zahlreiche vergrößerte Photos ohne Namen an städtischen Gebäuden, Plakatwänden und Museumswänden angebracht werden (Le regards, Paris 1998, Basel 1999, Warschau 2001; Menschlich, Wien 1995): Die Bilder werden in gleichartiger Weise arrangiert und durch keinen Namen, keine Erläuterung individualisiert – im Gegenteil führt die Ausschnittvergrößerung der Augenpartie im Fall von Les regards vielmehr zu einer Verähnlichung der Gesichter.

Ariès' Kultur-Geschichte des Todes sensibilisiert, über ihre einzelnen Befunde und Thesen hinaus, für die komplexen und historisch wandelbaren Semantiken von Orten, Praktiken, Requisiten der Toten- und Erinnerungskulte – und dafür, dass in der Haltung der Lebenden zu den Toten nicht zuletzt die Haltung zu den Lebenden selbst zum Ausdruck kommt – sei es unter dem Aspekt seiner Individualität und Einzigartigkeit, sei es unter dem der Zugehörigkeit zu einer Familie oder Nation, sei es im Zeichen des Aufbegehrens gegen Sterblichkeit und Vernichtung, sei es in dem des Bedürfnisses nach fortwährendem Gedenken, nach einem Weiterleben der Toten in der Erinnerung der Lebenden, nach einer Kommunikation über das Grab hinaus. Entscheidend kommt es unter anderem darauf an, ob die Toten Namen und ob sie Geschichten haben. Denn in der Art und Weise, wie die Erinnernden mit dieser Frage umgehen, spiegelt sich nicht zuletzt die Bedeutung ihrer eigenen Namen und Geschichten für ihr Selbstverständnis. Boltanskis Werke werfen – über ihre Beschäftigung mit Formen der Darstellung von Vergangenheit hinaus – die Frage nach dem Selbstverständnis des Einzelnen und der Kollektive auf.

(3) Kunst als Inszenierung scheiternder Erinnerung

Boltanski setzt auf die Suggestionskraft von Photos in ihrer angenommenen Zeugenschaft. Aus der Vergangenheit scheinen uns Gesichter anzublicken – doch der vordergründig verheißene Kontakt mit der Vergangenheit findet nicht statt. Die Abgebildeten gehören für den Betrachter jenem Abschnitt der Vergangenheit an, die Barthes die »Geschichte« nennt und von der selbsterlebten Vergangenheit unterscheidet: Es gibt zu ihnen keine reaktivierbare Verbindung. Gerade der Blick aus der (imaginären) Vergangenheit bleibt ohne den Hintergrund eines Namens, einer Geschichte, einer Person. Auch sind die Bilder oft nicht leicht zu betrachten. Manchmal sind den Photos, wie erwähnt, Lichter oder Lichterketten beigefügt – aber diese verdecken dabei zumindest teilweise das Bild und erinnern insgesamt an die Kontingenz jeder visuellen Wahrnehmung.

Thematisiert wird – nur vordergründig paradoxerweise mittels der Photographien – die Unmöglichkeit des Erinnerns respektive die Unausweichlichkeit des Erinnerungsverlusts. Es gibt kein Nicht-Vergessen. Boltanski bestätigt dies in einem Interview: »Wir können nichts vor dem Verfall retten. Genau davon handeln meine ersten Arbeiten: die Dinge zu bewahren im Wissen um ihre Vergänglichkeit.« (Boltanski, in Katalog: Zeit, 51) – »Man kann noch so viele Archive anlegen, es ist unmöglich, ein Leben festzuhalten.« (Zeit, 65) – »Was bleibt am Ende von einem Leben? Zwei Daten und ein kurzer schwarzer Strich. Schauen Sie mal, dahinten lehnt die Datentafel meines Vaters an der Wand. wenn Sie nicht wissen, dass dies die Tafel meines Vaters ist, bedeutet es Ihnen nichts jenseits der beiden Daten. So gehen die Dinge verloren.« (Über Mes morts, in: Zeit, 65)

Neben der Photographie dienen dem Künstler auch andere Materialien der Erzeugung von Entzugs-Effekten und Abwesenheitserfahrungen, insbesondere Installationen mit Kleidern und Schuhen, die als leere Hüllen und als Hinterlassenschaften von Abwesenden wahrgenommen werden. Schattenmotive finden sich in diversen Varianten. Boltanski betrachtet explizit auch die Elemente seiner Installationen als zum Untergang verurteilt. Das Kunstwerk entsagt der Dauerhaftigkeit. Damit sucht es seinem (ungreifbaren) Gegenstand gerecht zu werden. »Today between 60 and 70 per cent of the works I create are destroyed after the exhibition. [...] Even when, as in the case of the church at Bonaval, existing works belong to museums and collectors are used, this ›collage‹ of all these pieces set out in a particular space – the encounter between one of my reliquaries and a tomb, the light of a stained-glass window falling on one of my monuments – that will never happen again. What is shown is in the order of the ephemeral more than in that of the relic.« (Boltanski, Advent, 110)

(4) Das Totenreich der Photographie. Roland Barthes, La chambre claire

Boltanski will La chambre claire eines Tages lesen – so sagt er, nachdem man ihn auf die Affinität seines Werks zu Barthes’ Photo-Buch hingewiesen hat. Die thematischen Affinitäten zwischen Boltanskis meta-photographischem Œuvre und La chambre claire von Roland Barthes sind evident. Auch Barthes reflektiert über die Photographie unter dem Aspekt ihrer Beziehung zum Tod, zu Prozessen des Erinnerns und zur Erinnerung an den Tod; das Photo als solches ist ein ›memento mori‹. Photographiert werden heißt: eine Rolle spielen, eine Pose einnehmen, eine starre Poese, eine Toten-Haltung. Laut Barthes »[...] ist die Photographie [...] eine Art urtümlichen Theaters, eine Art von ›Lebendem Bild‹: die bildliche Darstellung des reglosen, geschminkten Gesichtes, in der wir die Toten sehen.« (Barthes, Die helle Kammer, 41). Barthes unterstreicht, dass zum einen das aus dem Leben herausgetretene Bild selbst Produkt einer Mortifikation sei, dass es zum anderen voraussichtlich aber dauerhafter sein werde als das photographierte Objekt, dieses also gleichsam ›überlebe‹ – der Blick auf ein Photo ist demnach der antizipatorische Blick in eine Zeit, da der Abgebildete nicht mehr leben wird. Photographierte sind Un-Tote – vielfach solche ohne Namen.

Das Buch La chambre claire ist eine Installation aus Text und Photos und verdient in dieser medialen Form Aufmerksamkeit. Wie Boltanski in begehbaren Räumen Photos arrangiert, so geschieht dies bei Barthes im Raum des Buchs. Sein Buch ist ein autoreflexives Spiegelkabinett der Photographie und ihrer historischen Funktionen, zumal unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für persönliche und kollektive Erinnerungen.

Auch Barthes' La chambre claire reflektiert vor allem über die Zeitgebundenheit des Erinnerns. Auch hier geht es erstens um Photos, mit denen sich eigene Erinnerungen verbinden, zweitens um solche, die stattdessen Surrogate persönlicher Erinnerungen (und Träger eines Nach-Gedächtnisses, einer ›post-mémoire‹) sind. Und schließlich geht es um den drohenden Verlust des Erinnerungsvermögens, wie er dann eintritt, wenn man entweder zu seinen flüchtigen Erinnerungen nicht das sie stimulierende oder stützende Bild findet oder aber mit Photos nichts verbinden kann. Die Revokation der toten Mutter gelingt dem Erzähler (angeblich) mittels eines Bildes. Der Leser allerdings sieht weder das Photo, noch wird ihm über das Wesen der erinnernd revozierten Person etwas mitgeteilt. Das Buch re-präsentert die zentrale Mutterfigur nicht, es erzeugt eine Leerstelle. Und diese kann mit jenem Vakuum verglichen werden, das Boltanskis Installationen erzeugen, wenn sie uns mit der Einsicht konfrontieren, dass wir hinter die Bilder nicht zurückgelangen zu dem ›Leben‹, das ihnen vorangegangen ist.

Barthes' Thema ist letztlich ebenfalls die Unausweichlichkeit des Vergessens, respektive des Vergessenwerdens. Gerade die (angebliche) Suggestion des ›So ist es gewesen‹ provoziert in einer Art dialektischem Umschlag die Einsicht darin, wie wenig der gegenwärtige Betrachter darüber weiß, ›wie‹ es gewesen ist. Unter den Photos, die der Erzähler in Barthes' Text zeigt und kommentiert, sind u.a. die eines Pärchens von behinderten Kindern, die einer afro-amerikanischen Familie, die zweier Nonnen, die eines Jungen in einer Schulklasse – und in keinem Fall werden die Abgebildeten in dem Sinn dem Vergessen entrissen, dass wir auch nur den geringsten Hinweis auf ihre individuelle Geschichte bekämen. Keine (oder allenfalls wenig aussagekräftige) Namen, keine Daten, kein Gedenken. Eine rudimentäre Geschichte fügt sich demgegenüber zwar zum Bild des Lewis Payne in der Todeszelle – aber gerade der (vom Text provozierte) Blick des Betrachters in die Augen dieses Todeskandidaten ist ja kein Blick in ein erinnernd vergegenwärtigtes Leben, sondern ein quasi-allegorischer Blick in die Augen des Todes.

(5) Melancholische Blicke in eine vergängliche Welt: W. G. Sebald

Kernthema in Sebalds melancholischen Büchern sind Zeitlichkeit und Vergänglichkeit. Im Zusammenhang damit geht es zum einen auf variantenreiche Weise um Prozesse der Verwandlung als Zerfallsprozesse, als Entstaltung, Dekonturierung und Vernichtung – zum anderen um das Erinnerungsvermögen als eine Kraft, welche sich gegen die Zeit auflehnt.

Dieser Thematik korrespondiert die häufige Reflexion über Darstellungsmedien (Bilder, Aufzeichnungen, technische Geräte zur Bilderzeugung etc.) sowie der Einsatz von reprographierten Photos und anderen Dokumenten in den Büchern selbst. In den Geschichten der Sebaldschen Figuren werden diese Medien, insbesondere die Bildmedien, eingesetzt bzw. konsultiert, um die Vergangenheit zu re-präsentieren – aber dieses Unternehmen erweist sich als fragwürdig und scheitert schließlich stets. Sebalds Geschichten sind Mediengeschichten – und als solche beschreibbar als Geschichten über scheiternde Wieder-Holungen der Vergangenheit, scheiternde Versuche der Auflehnung gegen die Zeit. Photographie, Film, Dia etc. bekommen selbst einen phantomatischen Charakter. Denn sie zeigen und zeigen doch auch wieder nicht, was gesucht wird; sie wecken die Erwartung, etwas zu re-präsentieren, und enttäuschen diese Erwartung dann; sie liefern Bilder, aber unscharfe, in Auflösung begriffene, vieldeutige und auf andere Weise sich dem Blick entziehende Bilder, Strategien der Inszenierung solchen Scheiterns der Wiederholung von Vergangenem durch Bilder und Bildmedien finden sich in erheblicher Variationsbreite. Gerade die Intensität und Genauigkeit, mit der Bilder betrachtet und beschrieben werden, führen mehrfach dazu, dass sich zwischen Beschreibung und Bild eine Diskrepanz bemerkbar macht. Die Bilder ›passen‹ nicht. Eine ganze Reihe von Bildern zeigen außerdem gerade nicht das, worum es geht: Bilder leerer Räume und verlassener Landschaften ohne die Figuren, Bilder verschlossener Türen und Fenster, Bilder von Schaufenstern, die einen Blick in die Vergangenheit zu versprechen scheinen (ein Beispiel ist das vom Erzähler beschriebene und zugleich abgebildete Antiquitätengeschäft in Austerlitz) und dabei doch viel zu unscharf sind (einmal abgesehen von der Rätselhaftigkeit der ausgestellten Objekte). Charakteristisch ist auch die häufige Darstellung von Friedhöfen und Grabstätten.

Wie Boltanski betrachtet Sebald das gefundene, fremde, geschichtslose Photo als symptomatisch. Von seiner Suche nach solchen Photos berichtet er in einem Interview mit dem Titel Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument: »Ich habe schon viele Jahre hindurch auf eine völlig unsystematische Art und Weise Bilder aufgefunden. Man entdeckt solche Dinge einliegend in alten Büchern, die man kauft. Man findet sie in Antiquitäten- oder Trödelläden. Das ist da für Photographen typisch, dass sie so eine nomadische Existenz führen und dann von irgend jemand ›gerettet‹ werden.«

Sebalds Bücher erzählen vom Scheitern aller Versuche, der Vergangenheit habhaft zu werden. Das Vergessen ist gleichsam das psychische Pendant zum ebenso unausweichlichen Verschwinden aller Dinge, das ebenfalls immer wieder Thema der Sebaldschen Bücher ist: der Untergang von Landstrichen, Ortschaften, herrschaftlichen Anwesen, Parks, Wäldern, städtischen Topographien, Zerstörungen durch die menschliche Zivilisation, durch Krieg, Brand oder Schädlinge, durch Naturkatastrophen, durch den schleichenden Verfall. Die Erzähler sind auf der Suche nach Relikten der Vergangenheit – und erfahren dabei immer wieder deren Ungreifbarkeit und Unbegreifbarkeit. Es gibt keine Wiederholung; geblieben sind allenfalls Schatten.

Sebalds Bücher sind wiederum Bild-Text-Installationen. Reproduzierte Photos begleiten den Text, sind dabei aber keineswegs bloße Illustrationen, auch wenn der Erzählerbericht auf sie Bezug nimmt, sondern stehen in einem Austausch mit der Erzählung, die man metaphorisch als Dialog bezeichnen könnte. Wie Boltanski unscharfe und schemenhafte Bilder arrangiert, um den Entzug des Vergangenen sinnfällig zu machen, so sind auch die Bilder Sebalds oft schemenhaft und verschwommen. Wie Boltanski vorzugsweise die Photos verstorbener Personen verwendet, so hält sich Sebald an Bilder von Ruinen, verlassenen Ortschaften, verschwundenen und toten Personen. Wie Boltanski thematisiert er Photos und Photoalben als Schauplätze der Phantome, aber auch Zeitungsausschnitte, Diasammlungen, Filme und andere Bildträger.

Die Thematisierung von (letztlich zum Scheitern verurteilten) Kulten des Gedenkens erfolgt vor allem anlässlich der zahlreichen narrativen und photographischen Darstellung von Gräbern, Friedhöfen und anderen Monumenten des Todes. Austerlitz suggeriert zudem, dass die Erde insgesamt ein Friedhof ist, auf dem die noch Lebenden sich über den Gräbern der Vergangenheit bewegen. Und seine Figuren entwickeln ihre eigenen melancholischen Kulte: Austerlitz erkundet Monumentalbauten unter dem Aspekt ihrer Zeitverfallenheit und insbesondere Bahnhöfe als Allegorien einer vom Flüchtigen durchrasten Gegenwart. In Die Ausgewanderten werden Photoalben (wirkliche und fingierte) konsultiert, um die Geschichten Verstorbener nachzuerzählen. Zu den obsessiven Beschäftigungen Sebaldscher Figuren, die allegorisch auf den unerbittlichen Wandel und Schwund aller Dinge verweisen, gehört u.a. das Malen von fast konturlosen Bildern (in Austerlitz) und die malerische Herstellung von Porträts, die immer wieder ausgewischt werden. (Der Malstil von Max Aurach, der in Die Ausgewanderten porträtiert wird, ist charakterisiert durch das immer wieder neue Auftragen und Abkratzen von Kohle und Farbe – bis sich die Pigmente auf dem Boden des Ateliers häufen.)

Die Vergänglichkeit aller Dinge kommt in den Sebaldschen Texten vor allem in der Zeitlichkeit, Vergänglichkeit und Hinfälligkeit der Erinnerungs-Medien, der vermeintlichen Gedächtnisspeicher, zum Ausdruck. Als alternder Mann begibt sich der Protagonist Austerlitz auf die Spur seiner dem Holocaust zum Opfer gefallenen Eltern, besucht Terezin (Theresienstadt) und beschafft sich zeitgenössische Filmaufnahmen des Ghettos. Von einem deutschen Propagandafilm, der sich in einem Archiv erhalten haben soll und der eine gänzlich verzerrende Verharmlosung der Theresienstädter Zustände betreibt, verspricht er sich Bildaufnahmen, die ihm die verlorene Mutter Agáta zeigen. Als Austerlitz endlich eine Kopie des Films aus Theresienstadt findet, enteilen die Bilder, bevor der Betrachter etwas identifizieren kann. So wie die beleuchteten Photos bei Boltanski vergehen sie immer schon im »Aufscheinen«. Eine Zeitlupenkopie des Films zeigt dann das zunächst übersehene Gesicht einer jungen Frau, »fast ununterschieden von dem schwarzen Schatten, der es umgibt«. Signifikanterweise verdecken die Sekundenanzeige-Ziffern einen Teil des Gesichts – so wie bei Boltanski oft die vor Photos angebrachten Glühlampen. »Gerade so wie ich nach meinen schwachen Erinnerungen und den wenigen übrigen  Anhaltspunktem, die ich heute habe, die Schauspielerin Agáta mir vorstellte, gerade so, denke ich, sieht sie aus, und ich schaue wieder und wieder in dieses mir gleichermaßen fremde und vertraute Gesicht, sagte Austerlitz, lasse das Band zurücklaufen, Mal für Mal, und sehe den Zeitanzeiger in der oberen linken Ecke des Bildschirms, die Zahlen, die einen Teil ihrer Stirn verdecken, die Minuten und die Sekunden, von 10:53 bis 10:57, und die Hundertstelsekunden, die sich davondrehen, so geschwind, dass man sie nicht entziffern und festhalten kann.« (Sebald, Austerlitz, 358f.)

Im übrigen erweist sich das vergrößerte Bild nicht als das gesuchte Bild Agátas. Erst im Prager Theaterarchiv entdeckt Austerlitz »die unbeschriftete Photographie einer Schauspielerin [...], die mit meiner verdunkelten Erinnerung an die Mutter übereinzustimmen schien«, und die Freundin der Mutter erkennt darin, die Gesuchte, »so wie sie damals gewesen war«. Eine lebendige Erinnerung weckt das Bild in dem Sohn, der rund ein halbes Jahrhundert zuvor von seiner Mutter getrennt worden war, nicht. An die Suche nach dem Mutterbild schließt sich in Austerlitz dann die Suche nach der Spur des Vaters an. Diese Suche wird wiederum bebildert – aber nicht mit Darstellungen des Vaters, sondern mit Photos, die auf verschiedene Weisen auf dessen Entzug hindeuten. Jede Spur verliert sich, keine Erinnerung wird evoziert.

In Theresienstadt betrachtet der Erzähler lange die Fassade eines längst geschlossenen Trödelladens, die einzelnen Objekte, deren jedes eine Geschichte zu haben scheint, die sich doch endgültig jeder Rekonstruktion entzieht. Der Antiquitäten-Laden ist ein für Sebalds Konzept des Nicht-Erinnerns typischer Ort. Hier steht alles zusammenhanglos herum, abgeschnitten von den Lebens-Geschichten, aus denen es einst hervorging. Boltanski hegt eine ähnliche Vorliebe für Ansammlungen von Lebensrelikten, von Kleidern und anderen Besitztümern Verstorbener. In der abphotographierten Scheibe des Ladens spiegelt sich übrigens schemenhaft, verschwommen die Gestalt des Photographen selbst – eines Phantoms unter Phantomen.

(6) Epiphanien des Vergänglichen: Wilhelm Genazinos tote Winkel

Wie Boltanski thematisiert Genazino Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen und der Dinge anlässlich der Auseinandersetzung mit Photographien. Er beschreibt Photos unter Akzentuierung ihrer Memento-mori-Effekte. So erzählt er vom Auffinden des Passphotos einer Frau, das ihn spontan zu der Hypothese veranlasst habe, es handle sich um eine Tote. Sein Erzählerbericht liest sich wie das narrative Pendant zu einer Boltanski-Installation. »Ich hob den Geldbeutel auf und öffnete ihn. Plötzlich schaute mich hinter einer Klarsichtfolie, aus der längst eine Schattenfolie geworden war, das Foto einer Frau an. Sie war nicht mehr jung, sie war nicht mehr schön, sie war nicht mehr verheißungsvoll. Ich hatte sofort das Gefühl: Die Frau ist tot, und ich bin der letzte, der ihr Bild anschaut. Ich legte den geöffneten Geldbeutel auf meine flache Hand und sah, dass er mir das Zittern kurz vor seiner Vernichtung zeigte. Man kann das Poetische einen gemeinsamen Blitzschlag von Zeitempfindung und Dingempfindung nennen. Ich begann, in aller Unschuld und in aller Stummheit, mit dem Foto einen Dialog. Auch das Bild spielte vor meinen Augen mit seiner Zerstörung. Ich konnte nicht klar unterscheiden: Orientierte sich meine Empfindung am Tod der Frau oder am Zerfall des Geldbeutels? Ich nahm teil am Versinken der Dinge, das in zwei Fällen gerade endgültig wurde. Die verrottenden Gegenstände unterhalten, indem sie untergehen, ein Verhältnis zum Tod. Indem ich sie dabei betrachte, nehme ich Teil am Tod der Dinge und damit auch an meinem eigenen vorgestellten Verschwinden.« (Genazino, Die Belebung der toten Winkel, 11)

Die Konfrontation mit eigenen Passphotos erzeugt ein vertieftes und verstörendes Endlichkeitsbewusstsein, sind sie doch die ersten »Altersbilder«, und Genazino betrachtet das dort sichtbare Alltagsgesicht mit dem antizipatorischen Gedanken an die eigene Sterblichkeit (Genazino, Die Belebung der toten Winkel, 14f.). Eine dritte Photoepisode, die Genazino erzählt, handelt von einem kleinen Mädchen, das seiner Mutter mit einem Photo seine Langeweile oder Einsamkeit signalisiert. Es handelt sich um ein etwas angeschmutztes Kommunionsphoto, mit dessen Hilfe das Kind die Mutter zu rufen scheint. Wieder verweist Genazino auf Boltanski. »Der französische Künstler Christian Boltanski, der [...] mit Fotos arbeitet, hat darauf hingewiesen, dass Kindheit etwas sei, was von einem Menschen zuerst stirbt. Folglich sind Kinderfotos, so Boltanski, Fotos von Toten. Dazu passen die erdigen Finger des Mädchens [...]. Einfach übersetzt richtet sich die Botschaft des Fotos an die Mutter und lautet etwa: Komm bald, sonst sterbe ich.« (Genazino, Die Belebung der toten Winkel, 18f.)

Zeitlichkeits- und Sterblichkeitsbewusstsein sind auf bedrückende Weise verknüpft. Aber das Bedürfnis nach Bildern des Vergangenen ist groß, und es bringt sich vor allem im kultischen Gebrauch von Photos zum Ausdruck. »Ich erinnere mich an den Besuch von diversen italienischen Friedhöfen. Es ist dort üblich, auf den Grabsteinen ein Bild des Verstorbenen zu verewigen. Es handelt sich um rührende Versuche, den Anblick von Toten als Lebende künstlich zu verstetigen. Je älter die Bilder auf den Grabsteinen werden, desto offenkundiger wird, dass die Abbilder diese Aufgabe nicht leisten können. Es ist vielmehr so, dass der langsame Zerfall, das heißt die Verwitterung der Bilder den wirklichen Zerfall der Toten begleitet und diesen vielleicht erträglicher macht. es ist zweifelhaft, ob den Hinterbliebenen diese Funktion der Totenbilder bewusst ist. Man darf annehmen, dass sie sich lieber an der oberflächlichen, aber tröstlichen Wirkung der Fotos festhalten, am Schein des Fortlebens der Toten.« (Genazino, Die Belebung der toten Winkel, 12f.)

Genazino hat sich explizit auf Boltanski berufen, um eine aus seiner Sicht spezifisch poetische Einstellung zu den Gegenständen der Welt zu erläutern. Sein Kommentar suggeriert, dass die ästhetische Aufbereitung der in die Installationen eingegangenen Photos und Objekte eine kompensatorische Funktion besitze: Obwohl die Personen, deren Bilder oder Besitztümer wir sehen, vergessen wurden, werden sie – so Genazino – bei Boltanski indirekt auratisiert; nicht mehr beim Namen nennbar, werden sie doch zumindest als Namenlose zum Gegenstand der Aufmerksamkeit. Diese pointierende Beschreibung des Œuvres von Boltanski ist keineswegs selbstevident, und eben darum lässt sie Rückschlüsse auf Genazinos  eigenes Verständnis von Kunst und Literatur zu. Sie rücken in die Nähe religiös-sakraler Kulte, übernehmen deren Funktionen, ohne Ironie. »Boltanski arbeitet mit wiederkehrenden Themen. Es sind die Stoffbereiche Erinnerung, Gedächtnis, Tod. Materialisiert werden diese Themen mit Übrigbleibseln und Rückständen, in denen sich menschliches Leben zum letzten Mal bricht oder auch zum ersten Mal zeigt. Man kann sagen: Boltanski wertet die Nichtigkeit des menschlichen Lebens auf, indem er dessen letzte Habseligkeiten, die für eine Aufbewahrung nicht vorgesehen waren, künstlerisch bearbeitet. Durch die Verwendung von inszeniertem Licht blitzt in seinen Installationen häufig ein sakrales Moment auf. Viele seiner Arrangements ähneln weltlichen Altären oder Denkmalen. Das Sakrale verweist auf ein tiefes menschliches Verlangen. Auch der nichtreligiöse Mensch hofft auf Erlösung. In Boltanskis Werk treffen aufeinander Zeit und Zitat, Kontinuum und Abbruch, Versenkung und Flüchtigkeit, Fragment und Variation, Andacht und Vergeblichkeit. Obwohl jedes Werk für sich steht und in sich abgeschlossen ist, sind doch alle ineinander verwoben und verweisen untereinander auf den Zusammenhang einer Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit. Auch in der Arbeit selber drückt sich etwas wiederkehrend Zeremonielles aus. Boltanski hat seine Arbeitsweise einmal charakterisiert als ein ›ständiges Wiederaufnehmen, Wiederlesen, Nocheinmalsagen, Vonvorneanfangen‹. Diese prozesshafte Wiederaufbereitung der Themen ist deswegen nötig, weil sich nicht sagen lässt, jedenfalls nicht von einem Menschen, worin die Bedeutung letzter Dinge liegt.« (Genazino, Die Belebung der toten Winkel, 49)

Dieses Porträt des Künstlers Boltanski ist ein indirektes Selbstporträt des Schriftstellers Genazino. Prägend für dessen Erzähltexte ist seine Aufmerksamkeit auf das Banal-Alltägliche und das Unscheinbare (wie Kleider, Gebrauchsgegenstände, triviale Situationen); in seinen poetologischen Reflexionen proklamiert er den präzisen, durch seine Genauigkeit tendenziell verfremdenden Blick aufs Einzelne, Unauffällige. Phänomenologisch grundiert, thematisieren Genazinos Texte zur Poetik oft Prozesse visueller Wahrnehmung als Metaphern des Wahrnehmungs- und Darstellungsprozesses schlechthin, wie der Titel der Frankfurter Poetik-Vorlesung Die Belebung der toten Winkel bereits andeutet. Der poetische Blick verwandelt das Gesehene durch Imagination; der aus ihm hervorgehende Satz bildet eine ›neue‹ Wirklichkeit ab; Schreibprozesse sind Prozesse der Vergewisserung – und zugleich (aus Genazinos Sicht) des Aufscheinen-Lassens, der »Erlösung« aus der Zeitlichkeit und Nichtigkeit.

Die Entdeckung des latent Poetischen an trivial-alltäglichen Dingen konzentriert sich vor allem auf deren Kraft zur Stimulation von Erinnerungen, auf die Wahrnehmung einer in den Dingen gestauten, geschichteten, nichtlinearen Zeit. Den objektsammelnden Künstler Joseph Cornell und den Photographen Christian Boltanski, auf dessen Bildern für Genazino gleichzeitig mit gegenwärtigen Motiven Vergangenes und Unsichtbares sichtbar wird, nimmt er als verwandt wahr. »Offenkundig ist [...], dass Boltanskis Objekte ein Andenken in Gang setzen, das an Tiefe gewinnt, weil es anonymisiert arbeitet. Boltanskis Erfindungen bewegen sich in Zwischenbereichen. Die Menschen sind, wie er sich in einem Interview einmal ausdrückte, ›mit der Geschichte unseres Grabsteins beschäftigt‹; oder: Wir sind beunruhigt davon, ›was man nach unserem Tod von uns sagen wird.‹ Mit anderen Worten: Wenn wir tot sind und nicht mehr sprechen, fangen unsere Übrigbleibsel erst richtig mit Reden an.« (Genazino, Die Belebung der toten Winkel, 49f.)

Boltanskis Installationen werden bei Genazino zu poetologischen Metaphern ästhetischer Revokation. In Die Belebung der toten Winkel spricht Genazino, explizit mit Bezug auf Boltanski, vom »Zeitstau« in Photos und anderen Gegenständen und charakterisiert deren Wirkung auf den Betrachter unter Verwendung eines zunächst religiös, seit Joyce dann auch ästhetisch konnotierten Begriffs als »poetische Epiphanien«.

(7) Ein vergleichend-bilanzierender Rückblick

(a) Bildmedien, insbesondere Photographien, in ihrer Funktion als Medien des Erinnerns werden bei Boltanski, Barthes, Sebald und Genazino zum Anlass der Reflexion über die Zeitlichkeit nicht allein der Dinge, sondern auch des Erinnerns selbst. Damit verbinden sich Anspielungen auf vielfältige Kulte des individuellen und des kollektiven Gedenkens samt ihren Schauplätzen,  Praktiken, Requisiten und Ritualen – Kulte, welche ihrerseits wiederum (explizit oder implizit) in ihrer historischen und kulturellen Bedingtheit reflektiert werden, als Praktiken also, welche an einen kulturarchäologischen Blick appellieren.

(b) Boltanski inszeniert das Vergessensein als den zweiten Tod. Das Zitieren von Kulten des Gedenkens macht sinnfällig, dass diese unwiderruflich Abwesendem gelten. Kunst kann die Vergangenheit, kann die Toten nicht zurückrufen; in dieser Hinsicht inszeniert sie sich selbst als Geste des Scheiterns. Aber sie kann ans Erinnern erinnern.

(c) Barthes erzählt eine dazu komplementäre Geschichte von der durch ein Photo gestützten Erinnerung an die Mutter, rahmt diese Geschichte jedoch mit Photos von allerlei mittlerweile Verstorbenen, die sich gleichsam auf unterschiedlichen Stufen des Vergessenseins befinden. dass dieses unausweichlich eintritt, sobald die Lebenszeugen nicht mehr da sind, um die Photos der Verstorbenen zu betrachten, ist evident.

(d) Sebalds Bücher vermitteln eine analog melancholische Botschaft wie die Installationen Boltanskis. Seine Bilder zitieren wie die Werke Boltanskis Medien und Orte eines versuchten, doch auf lange Sicht notwendig scheiternden Gedenkens: Friedhöfe mit Namen, die niemandem mehr etwas sagen, Bilder von Personen, die niemand mehr zu nennen weiß. Und er bedient sich der Verdunkelung und Unschärfe von Bildern ähnlich wie Boltanski: Das Medium des Erinnerns – die Photographie, der Film – erscheinen so selbst im Licht ihrer Zeitverfallenheit.

Das Erzählen von Geschichten zu gefundenen Objekten und Photos erscheint nicht als Rekonstruktion der Vergangenheit, denn diese ist unmöglich, sondern als ein Anlass, erzählend Ersatz für die verlorenen Geschichten zu schaffen. Antiquitäten- und Trödelgeschäfte, Flohmärkte und in Privathäusern gestapelte Relikte der Vergangenheit provozieren zu solch kompensatorischem Erzählen. »[I]n den toten Stunden des Tages habe ich in so einer Kiste herumgewühlt. Immer ist mir dabei aufgefallen, dass von diesen Bildern ein ungeheurer Appell ausgeht; eine Forderung an den Beschauer, zu erzählen oder sich vorzustellen, was man, von diesen Bildern ausgehend, erzählen könnte. [...] Man hat einen sehr realen Nukleus und um diesen Nukleus herum einen riesigen Hof von Nichts. Man selbst weiß nicht, in welchem Kontext eine dargestellte Person stand, um was für eine Landschaft es sich handelt. Und man muss anfangen, hypothetisch zu denken. Auf dieser Schiene kommt man dann unweigerlich in die Fiktion und ins Geschichtenerzählen. Beim Schreiben erkennt man Möglichkeiten, von den Bildern erzählend auszugehen, diesen Bilder statt einer Textpassage zu subplantieren und so fort.« (Sebald, Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument)

Sebald beschreibt Literatur als Widerstand gegen die Zeit und das Vergessen – und dies im vollen Bewusstsein der Zeitlichkeit solchen Widerstandes: »Wozu also Literatur? [...] Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution.« (Sebald, Ein Versuch der Restitution, in: Campo Santo, 248)

(e) Genazino kommentiert Boltanskis Installationen des Vergessens im Zeichen der Frage nach ihren poetologischen Implikationen. Und er nimmt das Vergessen, die Erinnerungslücke, die scheiternden Revokationsversuche des Vergangenen als Impuls zum Erzählen hypothetischer Geschichten wahr. Wo kein Erinnern ist, da muss erzählt werden – in der Hoffnung auf eine ästhetische Epiphanie.

Genazino hat zwar nicht wie Sebald mit Photos gearbeitet, aber er hat einen Text verfasst, der in gewissem Sinn die Struktur eines Photoalbums imitiert – so wie auch Boltanski auf die Form des Familienalbums anspielt. Der Erzähler in Das Licht brennt ein Loch in den Tag fürchtet, seine Erinnerungen könnten ihm als Folge seiner Gedächtnisschwäche entschwinden. Darum bittet er Freunde und Bekannte, ihnen abschnitt- und episodenweise seine Erinnerungen anvertrauen zu dürfen. Er tut dies in einer Sequenz von Episodenschilderungen, die an wechselnde Personen adressiert sind. So entsteht in Form der Erinnerungssequenz das narrative Pendant eines Photoalbums aus Momentaufnahmen. Und dieses ist, Textbaustein für Textbaustein, eine Etüde über das Vergessen. In einer dieser Etüden bringt der Ich-Erzähler, des Sprachverlusts durch allmähliches Vergessen schon gewiss, seine Hoffnung zum Ausdruck, dennoch einst durch fremde Hilfe einst vergessene Lieblings-Wörter wiederfinden und wiederbenutzen zu können. »Liebe Anna, / für den Fall, dass ich eines Tages nicht mehr sprechen will, erinnere mich an meine fünf Lieblingswörter. [...] Für die Schätzung aller fünf Wörter gab es einzelne Gründe, die ich leider vergessen habe. Aber ich hoffe, die Wiedererinnerung der Wörter, um die ich Dich bitte, wird wie ein Treibstoff wirken und mit die Gründe (vielleicht, hoffentlich) wieder eingeben. Mit Dank, W.« (Genazino, Das Licht brennt ein Loch in den Tag, S. 106f.)

Literatur

PHILIPPE ARIÈS: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München und Wien 1976 (2. Auflage 1981)
ROLAND BARTHES: La Chambre claire, Note sur la photographie, Paris 1980. – Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Aus dem Französischen von Dietrich Leube. Frankfurt/M. 1989
CHRISTIAN BOLTANSKI / RALF BEIL (HGG.): Zeit. Buch zur Ausstellung im Institut Mathildenhöhe, Darmstadt 2006. Hier insbes.: Ralf Beil: »Das Leben ist ein kurzer schwarzer Strich«. Ein Gespräch mit Christian Boltanski. S. 47-80.
CHRISTIAN BOLTANSKI: Advent and Other Times. Beiträge von: Gloria Moure, Christian Boltanski, Jose Jimenez, Jean Clair. Santiago de Compostela, 1996
WILHELM GENAZINO: Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen, München 2006
WILHELM GENAZINO: Das Licht brennt ein Loch in den Tag, Reinbek 1996
W. G. SEBALD: Austerlitz. München/Wien 2001 (2. Aufl. 2003)
W. G. SEBALD: Campo Santo, hg. v. Sven Meyer, Frankfurt/M. 2006
[W. G. SEBALD:] Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Über W.G. Sebald. Ein Gespräch über Literatur und Photographie (mit Christian Scholz). <http://www.deutscheautoren.de/textzu.asp?TZID=16&ID=65> (Abruf: 2. 4. 2007)
BERND STIEGLER: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt/M. 2006