Omar Akbar
im Gespräch mit Renate Solbach
Glanz und Elend der modernen Stadt

I. Bauhaus und Aktualität

Solbach: ›90 Jahre Bauhaus‹. Welche Empfindungen weckt die Parole in Ihnen?

Akbar: Die Parole weckt bei mir Folgendes: eigentlich zwanzig Jahre Einheit. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte wurde es möglich, die drei großen Sammlungen, die in Deutschland existieren, zusammenzubringen und gemeinsam auszustellen.  Das ergibt für mich nicht neunzig, sondern siebzig plus zwanzig Jahre. Erst in den letzten zwanzig Jahren hatten wir die Möglichkeit, uns als eine Institution wiederzufinden und auch zu definieren. Was bedeuten die einzelnen Institutionen in Weimar, in Dessau und in Berlin? Vor etwa sieben Jahren saßen wir zusammen und fragten uns, ob wir nicht in irgendeiner Weise einmal eine große Veranstaltung gemeinsam organisieren könnten. Natürlich hat die von Weimar Anfang des Jahres ganz gerne gefeierte Zahl 90 eine bestimmte Bedeutung, denn hier wurde es ja 1919 gegründet. Sicher kann man sich fragen, ob das überhaupt eine Jubiläumszahl ist. Bislang war man ja eher gewöhnt, 50, 75 und 100 zu feiern. Ich denke, dass hinter den Jubiläen Vermarktungsstrategien stehen. Insofern besitzen sie eine andere Signifikanz und haben selten eine kritisch reflexive Potenz in Bezug auf Fragen, die man  einer Institution oder einer Bewegung nach fünfzig oder nach hundert Jahren stellen könnte.

Solbach: Die Reaktion auf das Bauhaus war – abgesehen von der Phase unbedingter Ablehnung in Deutschland – von Anfang an zwiespältig. Einerseits galt es als konsequenter Ausdruck der legitimen Gestaltungsmöglichkeiten unter Bedingungen der technisch-ökonomischen Moderne, andererseits wurde es als Ausdruck der damit einher gehenden Verhältnisse geschmäht. Das Schicksal des Bauhauses zu  DDR-Zeiten kann als lebendiger Ausdruck dieses Zwiespalts angesehen werden. Wie beurteilen Sie die historische Stellung des Bauhauses angesichts solcher Wahrnehmungen?

Akbar: Ich habe das Gefühl, dass die Moderne und die Entwicklung der Moderne auch im institutionellen Sinn oder als Schule in Deutschland immer wieder ein Problem hatte. Sie wurde nie als ein Teil der eigenen Entwicklung verstanden und integriert, vielleicht auch kritisch diskutiert, sondern immer massiv in Frage gestellt - letztendlich bis zur Zerstörung oder Auflösung. Was das Bauhaus angeht, wissen wir ja, was innerhalb von vierzehn Jahren passiert ist. Ich glaube kaum, dass eine Schule in der Welt eine solche Entwicklung erfahren hat: dreimal eröffnet und geschlossen zu werden. Und dann geht es in der DDR-Zeit weiter. Während der stalinistischen Phase, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, wird das Bauhaus abgelehnt, obwohl es schon 1945 Strömungen gab, die gerne die linke Hannes Meyersche Tradition in der DDR wieder aufgenommen hätten. Das wurde abgelehnt. Mit welchen Parolen hat man damals gearbeitet? Ganz banal: Die Nazis hatten gesagt, das Bauhaus sei eine bolschewistisch-jüdische Institution. In der DDR sprach man verächtlich von einer bourgeois-avantgardistischen Bewegung. In den Fünfziger Jahren  – die Geschichte geht ja weiter – gründeten wir im Westen Ulm.  Also: Im Westen wird eine Hochschule für Gestaltung gegründet und Walter Gropius eröffnet diese Institution 1956. Während wir eröffnen, herrscht in der DDR Ablehnung. Und dann, Mitte der Sechziger Jahre, schließt Filbinger Ulm aus den vertrauten Gründen (es gibt kein Geld und natürlich Konflikte unter den Künstlern, Architekten usw.) während man in der DDR seit Anfang der Sechziger Jahre begonnen hat, sich mit der Moderne auseinanderzusetzen, nachdem in der Sowjetunion ein Artikel über die serielle Fertigung als Errungenschaft des Bauhauses veröffentlicht wurde. Ich finde es ganz spannend, dass immer, wenn es um diese Institution geht, also um die radikale Auseinandersetzung der Gesellschaft mit Fragen der Gestaltung, eine gewisse Ambivalenz existiert. Manchmal frage ich mich, ob das nicht ein bisschen ein deutsches Phänomen ist.

Solbach: Ist es nicht ein bisschen so, dass das Bauhaus als Moderneausweis in der Bundesrepublik fast ein Muss war?

Akbar: Vor allem in der Architektur. Aber im Grunde handelt es sich um die ganze Produktpalette.

Solbach: Das hatte ausgewiesenermaßen mit den Nazis nichts zu tun. Spielte da auch der Gedanke an Wiedergutmachung mit?

Akbar: Absolut. Das Bauhaus steht ja für die so genannte gute oder schönere Seite der Geschichte Deutschlands. Wieso konnten wir nicht auf der institutionellen Ebene bestimmte Prinzipien der Ausbildung, die das Bauhaus entwickelt hatte, wieder aufgreifen und für die Hochschulen fruchtbar machen. Das war ja eine Schule, keine Produktionsstätte von Designprodukten. Auf der institutionellen Ebene hat man Ulm wieder geschlossen, man hat diese Versuche nicht richtig zugelassen. Auf der Produktdesign-Ebene hingegen und auch auf der Ebene der Architektur hat man versucht, diese Linie weiter zu verfolgen.

Solbach: Mit dem Stichwort von der ›Aktualisierung der Moderne‹ haben Sie als Direktor der Bauhaus-Stiftung Ihr damaliges Aufgabenfeld in den größeren Rahmen der Diskussion um ›Postmoderne‹, ›Zweite Moderne‹, ›Historisierung der Moderne‹ etc. gestellt. Wie würden Sie die Haupttendenzen einer solchen ›Aktualisierung‹ charakterisieren?

Akbar: Erst einmal: Als ich vor einigen Jahren von Aktualisierung gesprochen habe, da ging es um  das Direktorenhaus. Das Direktorenhaus wurde während des Zweiten Weltkriegs halb zerstört. In den fünfziger Jahren hat man ein typisches Gebäude, ein Einfamilienhaus im Stil der DDR, an seiner Stelle  gebaut.  Jetzt ging es um die Frage der Rekonstruktion. Und unsere Position war: Eigentlich kann es gar nicht um diese Rekonstruktion gehen - wenn überhaupt, geht es um die Aktualisierung der Moderne. Wie würde so ein Gebäude, wenn man es überhaupt rekonstruiert, heute denn eigentlich aussehen? Gilt für uns immer noch die traditionelle Vorstellung der Moderne? In diesem Kontext habe ich das Thema damals diskutiert. Eine Zeit lang hatte ich schon die Vorstellung: Gelingt es uns, die Stiftung Bauhaus Dessau zum Ort eines Diskurses über die Moderne zu machen? Wo steht die Moderne, wie hat sich die Moderne entfaltet auf der künstlerischen, auf der architektonischen aber auch auf der philosophischen Ebene, gesamtgesellschaftlich, wie immer man es auch bezeichnen mag? Könnte es nicht gelingen, dieses Haus zu einem Zentrum der Auseinandersetzung mit den Fragestellungen zur Moderne in Europa zu entwickeln? In diesem Kontext wurde immer wieder über die Aktualisierung der Moderne gesprochen, also über Postmoderne und Zweite Moderne. Wir leben ja in einer modernen Gesellschaft, die letztendlich vor der klassischen Moderne beginnt und sich bis heute fortsetzt. Die Fragen haben sich gewandelt. Zugleich hat sich ja eine Art ›Multimodernität‹ entwickelt. Ganz neue Erfahrungen kommen  inzwischen auch aus anderen, aus außereuropäischen Traditionen, die eindeutig, etwa durch Kolonialismus, von der Moderne geprägt wurden. Dort hat man eigene Wege gefunden, und wenn man jetzt von der sogenannten Aktualisierung redet, dann haben sich die Kriterien und Aspekte, die wir im Kontext der Moderne immer wieder benennen,  verändert und sogar die Aneignung und das Wesen der Moderne selbst. Steckt nicht im Wesen der Moderne ein Stück Aneignung anderer kultureller Erfahrungen? Wir wollten diese und ähnliche Themen erforschen und diskutieren. Das ist nicht ganz gelungen.

Solbach: Das heißt, dass Sie Moderne gar nicht so sehr als Epoche oder als historischen Begriff sehen, sondern mehr als Kategorie?

Akbar: Absolut richtig, ja. Genau das taucht eindeutig in diesem Zusammenhang auf, ja.

Solbach: Warum gerade das Bauhaus? Um die Frage auf die Architektur zu fokussieren: Welche Prinzipien aktuellen Städtebaus lassen sich eindeutig auf das Bauhaus zurückführen? Anders und provokanter gesprochen: Ist die moderne Stadt funktionaler als die europäische Stadt um 1900 oder das antike Rom oder das mittelalterliche Kairo?

Akbar: Die Anlage einer Stadt basiert immer auf rationalen Prinzipien. Ich brauche eine Straße, um irgendwo anzukommen, ich brauche eine Marktanlage, ich brauche Institutionen für meine sakralen oder klerikalen oder Verwaltungswünsche usw. Ich glaube, dass jede Stadt eine gewisse Rationalität in sich birgt. Wenn man Funktionalität einmal sehr breit begreift, dann sind alle Städte funktional angelegt. Das ist die eine Geschichte. Die andere Sache ist, dass die funktionale Stadt, wie wir wissen, nicht nur im Rahmen der Bauhaus-Idee und -Tradition thematisiert wurde, sondern auch durch Le Corbusier und andere im Zusammenhang mit der Charta von Athen in den Zwanziger, Dreißiger Jahren. Diskutiert wurde sie auch in Bezug auf andere Fragestellungen. Wir haben auf der einen Seite die Fordistische Entwicklung, die serielle Fertigung, Automobil, Flugzeug usw. Wo bleibt die Architektur in diesem Zusammenhang? In dieser Zeit entstehen ganz neue Technologien, Möglichkeiten, Formen etc. Dass Architekten und Planer visionär gedacht haben, halte ich wirklich für eine unglaubliche Größe der europäischen Haltung im Sinne von wagen, experimentell zu sein, über die Grenzen des Gegebenen hinaus denken. In diesem Kontext entstehen die radikalen Ideen, letztendlich bis zur Zerstörung von Paris - eine Idee, die von Le Corbusier kommt. Für ihn basiert die Altstadtkonzeption auf der Vorstellung eines Esels: Ein Esel bewegt sich labyrinthartig in Kurven, in den Straßen der Altstadt, hält dort an, wo es gerade ein bisschen Schatten gibt. Aber der Mensch geht immer von A nach B usw. Also Zeitgeist, technische Entwicklung usw.
Diese Vision hatte eine legitime Seite, doch natürlich konnte man die Stadt nicht zerstören. Die Frage war also wie man sie ergänzen konnte. Sie ist aber älter als die Diskussion in den Zwanziger Jahren, denken Sie an Haussmann, der die Achse durch Paris legt und letztendlich die Altstadt teilweise auch zerstört. Um wieder auf das Bauhaus zu kommen: Hier hat man mit Architektur und Städtebau überhaupt viel später angefangen, erst 1927, als Hannes Meyer als erster im Bauhaus in Dessau Unterricht zur Architektur gibt. Nach ihm kommt Hildesheimer und es entstehen Themen und Visionen zur Stadtentwicklung. Gropius und andere haben sich viel mehr mit Siedlungsbau beschäftigt, und der kommt in Deutschland natürlich aus einer anderen Tradition, auch aus der Problematik der Mietskasernen usw. Wenn man dann die Stadtplanung aus der Perspektive der Moderne sieht, so hat sie interessante Bauten, die immer auch Solitäre sind und eigentlich eine Rundum-Fassade besitzen, eine Signifikanz im Kontext einer städtischen Konstellation erzeugen wollen. Aber sie haben, was historisch wichtig war, etwas anders gemacht, die Zeilenbauweise mit Licht, Luft, Sonne usw., und die traditionelle städtebauliche Idee der europäischen Stadt damit auch zerstört. Das sind meiner Ansicht nach die Aspekte, bei denen das Bauhaus nur rudimentär in Erscheinung tritt. Das heißt für mich, dass es in diesem Sinne keine Bauhaus-Architektur gibt.

Solbach: Die Luhmann-Schule unterscheidet einen stratifikatorischen und einen funktionalen Gesellschaftstyp. Aber dass stratifikatorische Gesellschaften auch Funktionalität hervorbringen,  haben Sie selbst gesagt. So ist auch die Funktionalität im Sinne des Bauhauses interessanterweise gepaart mit sozialen und politischen Ideen.

Akbar: Ja, absolut. Genau.

II Die Selbstbehauptung der Städte

Solbach: Es gehört zu den fundamentalen Sachverhalten von Kultur, dass Selbstbehauptung immer mit Verlusten erkauft wird. Anders ausgedrückt: Differenzierung ist ohne Entdifferenzierung nicht zu haben. Auf den modernen Städtebau bezogen bedeutet das, dass infrastrukturelle Maßnahmen, Ökonomisierung, Devaluation des Gegebenen stets den aggressiven Part spielen, während die Bewahrung von Diversität, historisch gewachsener Alterität sowie der weite Bereich des Pittoresken nachgeordnete, aber keineswegs nachrangige Bedeutung haben. Gibt es in dieser Hinsicht signifikante Unterschiede zwischen Europa und anderen, teils dynamischeren, teils traditionaleren Regionen?

Akbar: Ja, ich glaube, es gibt da einen deutlichen Unterschied, zumindest soweit ich das beobachten konnte. Denken Sie an etwas, was Victor Hugo in seinem Buch Der Glöckner von Notre Dame schreibt: ›Paris aus der Vogelschau‹, wie er darüber redet, dass eine Stadt kein Machwerk eines großen Genies ist, sondern das Machwerk eines kollektiven Geistes. Eine Stadt besteht aus Schichten, die widersprüchlich sind usw. Es gibt einen wunderbaren Satz von Umberto Eco, der die Stadt als ein offenes, bebautes Geschichtsbuch versteht. Das heißt also, die Stadt und ihre einzelnen Quartiere erzählen uns etwas, sie haben ihre Geschichte, aber auch Schichten. Sie wurden teilweise zerstört, teilweise neu entwickelt usw. Ein solches Geschichtsbuch, als Gesamtkunstwerk, als ein Kunstwerk unserer eigenen Tradition zu bewahren, diese Aufgabe wird von Kulturkreis zu Kulturkreis unterschiedlich verstanden. Nicht überall sieht man im Bebauten die Geschichtserzählung. In manchen Gesellschaften wird die Geschichte vollkommen anders her- und abgeleitet. Zum Beispiel in der islamischen Gesellschaft: Dort betont man viel stärker das ›Woher stamme ich?‹, den genealogischen Bezug. Nicht selten landet man dann bei Mohammed.

Solbach: Das hat es hier ja früher auch gegeben. Da wurde vor der Erfindung der säkularen Universalgeschichte alles auf Adam und Eva, das heißt, auf die biblischen Anfänge zurückgeführt. Die Art der Geschichtsschreibung hat sich einfach geändert.

Akbar: Vollkommen richtig, aber das hat in Europa auch mit der Aufklärung zu tun.

Solbach: Ja natürlich.

Akbar: Weshalb es immer wieder zu beobachten ist, dass die materielle Kultur dort nicht dieselbe Signifikanz hat. Man kann also eine Altstadt ohne weiteres einfach beiseite schieben und neu bauen, anders bauen, ohne überhaupt eine Frage zu stellen. Jene, die sich damit teilweise auseinander setzen, sind oft Architekten und Planer, Künstler etc. vor allem aus der Fremde, etwa aus der europäischen Tradition, die sagen »Leute, ihr habt da etwas«. Oder es kommen andere und sagen: Schützt eure Altstadt, denn Altstadt kann für den Tourismus eine Bedeutung haben. – Hier tauchen also ganz andere Fragestellungen auf oder Wünsche, die in den außereuropäischen Traditionen zum Schutz bestimmter Orte führen. Ich glaube schon, dass man in der europäischen Tradition – Gott-sei-dank, kann man nur sagen – über die Möglichkeit verfügt, die Stadt als Gesamtheit zu verstehen, als ein Produkt der eigenen Geschichte und der eigenen Entwicklung mit der man behutsam umzugehen wünscht, sofern man es wirklich will.  Meiner Ansicht nach hat sich das nach dem Zweiten Weltkrieg geändert, also in den Sechziger Jahren. Natürlich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg moderne Strömungen. Siedlungen wurden außerhalb der Stadt gebaut, Modifikationen folgten, die Entwicklungen wurden später kritisch in Frage gestellt. Das ging immer so: Es gab die emanzipatorische Seite, denn diese Orte und Bauten sind ja nicht irgendwie irrational entstanden, sondern auf der Basis neuer Wünsche und dann die kritische Infragestellung. Das ist meiner Ansicht nach eine hervorragende Geschichte, die sich fast nur in Europa beobachten lässt. Insofern halte ich diesen Begriff aus den Achtziger Jahren für wichtig: behutsamer Umgang. Und zwar immer dann, wenn es um die Stadt, die Stadtentwicklung, die Stadtplanung und die Architekturentwicklung geht.

Solbach: Könnte man, so betrachtet, die Pflege des UNESCO-Weltkulturerbes als Versuch werten, die Verhältnisse umzukehren und Bestandserhaltung zum primären Ziel planerischen Verhaltens zu machen? Anders ausgedrückt: Bewahrung als aggressiver Akt gegen die sogenannten ›legitimen‹ Bedürfnisse der Gegenwart gekehrt? Welchen Sinn verbinden Sie mit dem Begriff des Kulturerbes?

Akbar: Ich glaube, der UNESCO-Begriff des Weltkulturerbes geht auf einen Satz von Levi-Strauss zurück. Es bezieht sich auf die Diversität von Kulturen und ihre unterschiedlichen Interpretationen. Man sollte sich von der eurozentrischen Betrachtungsweise befreien. Das war die eine Seite. Die andere, die ich spannend finde, bedeutet, dass durch die UNESCO die auf der regionalen europäischen Ebene diskutierten Vorstellungen, von dem, was Kulturgut ist, internationalisiert wurden. In der UNESCO unterschrieben ja sehr bald viele Staaten eine Art Vertrag oder décrét Kulturerbe. Kulturerbe wurde zu einem Thema der gesamten Welt.  Das bedeutet: sobald man die Pyramiden als Kulturerbe sieht, gehören sie nicht nur den Ägyptern, sondern der Menschheit. Und wenn sie der Menschheit gehören, dann heißt das, diese Orte müssen der Menschheit auch zugänglich sein. Sie gehören nicht mehr den Lokalen. Wenn man sich das einmal rein theoretisch vorstellt, dann beginnt hier eine Art der Demokratisierung dieses Erbes. Die Gesellschaften werden offener. Die Objekte dürfen erforscht, weiter diskutiert werden usw. Das ist ein ganz subtiler Aspekt der Weltkulturerbe-Thematik. Man konnte das nicht überall umsetzen, es funktioniert auch nicht überall. Die Nationalstaaten reagieren sehr unterschiedlich auf diese Idee. Aber ich glaube, wenn es um Kulturerbe geht, haben wir eine Verpflichtung, jene Werte, die historisch entstanden sind und eine Signifikanz haben zu bewahren. Darüber kann man natürlich diskutieren: Haben sie eine Signifikanz? Wer bestimmt das? Wann wird es inflationär? – Ich habe das Gefühl, dass inzwischen wirklich fast alles zu Weltkulturerbe erklärt wird.  Letztendlich wird diese inflationäre Entwicklung aus meiner Sicht dessen Wert schwächen.  Interessant ist trotzdem, dass man sich nicht nur auf ganz alte Geschichten wie zum Beispiel die Pyramiden, die chinesische Mauer usw. eingestellt hat. Man ist am Ende weiter gegangen, aber dieser Diskurs fand leider zu stark unter Bürokraten statt. Er hätte stärker geöffnet werden sollen. Zum Beispiel mit der Frage: ›Ist das Bauhaus ein Teil des Weltkulturerbes oder reden wir über die Frage der Moderne als eines Aspekts des Weltkulturerbes und wo ist dann das Weltkulturerbe zu finden? In vielen Orten der Welt. Weimar, Dessau, Wien, Tel Aviv usw. Stattdessen spielen nationale Bemühungen eine entscheidende Roll. Nicht ein Programm wird gefördert, auch über die Grenzen hinaus, sondern partikulare Intereressen.

Solbach: Sie gelten als entschiedener Gegner aller baulichen ›Rekonstruktion‹. Ein wenig haben Sie das ja eben schon unter dem Begriff der Aktualisierung erläutert. Ich stelle meine Frage dennoch und möchte Ihnen etwas gestehen: Ich habe Mühe, mir unter einer Position, die mit der völligen Disjunktion von Wiederherstellung und Neuplanung rechnet, etwas Sinnfälliges vorzustellen. Enthält nicht jeder Neuentwurf die Rekonstruktion von Bedürfnislagen, und damit eine gewisse wenngleich modifizierte Wiederauferstehung des Älteren? Geht nicht auch von der Topographie einer Stadt eine gewisse Nötigung aus?

Akbar: Ja. Ich glaube schon, dass die Topographie auf der einen Seite, aber auch die angelegte Struktur der Stadt eine Rolle spielt. Interessant ist, dass beim Städtebau, wenn es auch um Modifikation, Veränderung geht, es sich um ganz alte Strukturen handelt. Eigentum ist eine ganz alte Struktur, Parzellierung ist eine alte Struktur, die bis zu den Römern zurückgeht. Die Anlage der Straßen, die Straßenverläufe, haben, wie soll ich sagen, eine Beständigkeit, die sehr spannend ist. Damit wird letztendlich auch die Anlage der Stadt sehr früh festgelegt. Die Anlage hat nicht nur eine historische, sondern auch eine funktional interessante Bedeutung, weshalb man sich auf sie einlassen muss. Insofern rekonstruiert man: Man baut, verändert, bettet ein. Letztendlich läuft es auf diesen Begriff des behutsamen Einbettens hinaus. Als ich mich zur Rekonstruktion äußerte, bezweckte ich eigentlich etwas anderes. Ich habe große Probleme, wenn erst ein Schloss abgerissen wird, an seiner Stelle ein Palast der Republik gebaut und dann wieder der Palast der Republik abgerissen wird und darauf wieder ein Schloss rekonstruiert werden soll. Ich halte diese Entwicklung für eine geradezu problematische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

Solbach: Sie meinen also, man müsse etwas ganz Neues machen?

Akbar: Entweder ganz neu oder aber: Ich hätte den Palast der Republik gelassen, ja. Mir geht es da nicht um die Frage der Hässlichkeit einer Architektur. Ich könnte tausend Architekturen, die gestern gebaut worden sind, für hässlich erklären. Ich fand, der Palast hatte eine Aussage, das ist eine deutsche Geschichte, er  hat eine unglaubliche Bedeutung und man durfte ihn nicht einfach abreißen. Das war meine Position und ist es nach wie vor. Das gleiche gilt für das Direktorenhaus im Meisterhaus-Ensemble in Dessau. Was ist denn da geschehen? Da ist eine Bombe neben diese Häuser gefallen, fast am Ende des Krieges. Soweit ich von der ersten Besitzerin weiß, hat das Direktorenhaus Risse bekommen. Die Frage lautet: Wie dramatisch waren die Risse? Waren sie so dramatisch, dass man abreißen musste? Oder hätte man es reparieren können? Die Familie, die die Möglichkeit hatte, dieses Haus zu bekommen, gehörte zu den guten Technokraten, die die DDR in den Fünfzigern auf keinen Fall weglassen wollte und denen sie sogar Privateigentum zugestand. Die Verwaltung wollte um diese Zeit eben diese Häuser los werden, weil man gegen die Moderne eingestellt war. Das Gebäude wurde abgerissen, aber der Sockelbereich blieb. Darauf durfte diese Familie dann das neue Modell des DDR-Einfamilienhauses bauen. Außen sieht dieses Gebäude sehr bieder aus: Satteldach. Im Inneren gibt es eine hochinteressante moderne Teilung, weil man sich nicht nur an den Kellerwänden orientierte, sondern Küche und Esszimmer  miteinander verflochten hat.

Das war eine Familie, die eher die Moderne wollte. Dieses Gebäude selbst erzählt so viel Geschichte: Geschichte der Zerstörung, Geschichte der Verachtung, die Geschichte des Kampfes einer Familie für die Moderne und die Geschichte eines Verwaltungsbeamten, der den Kellerbereich zulässt. Das ist für mich hoch spannend und wer dieses Gebäude jetzt abreißen will, reißt einen Teil unserer Erfahrung ab. Meiner Ansicht nach ist das eine Art Verletzung - Verletzung der eigenen Geschichte, Korrektur der eigenen Geschichte. Das gilt genauso für den Palast der Republik. Ich bin gegen diese Art der Rekonstruktion, wo schon etwas anderes da ist und selbst etwas erzählt. Dieses kleine hässliche Haus, das verschwindet - wer erzählt seine Geschichte? Das ist -  zurückkommend auf Victor Hugo oder Umberto Eco - nicht mehr das aufgeschlagene Buch oder die Schichten der Geschichte der Stadt. Das ist für mich auch keine philosophische, historische, wissenschaftliche oder ethische Haltung einer europäischen Tradition, wenn man so mit der eigenen Geschichte umgeht.

Solbach: Die Frage bleibt natürlich, ob das auch auf eine Extremsituation wie die nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der großen Zerstörungen zutrifft. Ist es notwendig, historische Stadtbilder zu bewahren (eventuell über kriegsbedingte oder durch Naturkatastrophen bedingte Zerstörungen hinweg)? Was entgeht den Menschen in Städten, die das Signum des ›Wiederaufbaus‹ oder, wie oft geschrieben wurde, der zweiten, konstruktiven Zerstörung tragen?

Akbar: Bei Ihrer Frage fällt mir Bogdan Bogdanovich ein, ein Architekturtheoretiker aus Zagreb, der ein Buch geschrieben hat mit dem Titel Die Stadt und der Tod. Er beschäftigt sich darin mit dem Krieg in den Neunziger Jahren. Dort lese ich: Was sind das eigentlich für militärische Strategen, die nichts anderes tun, als zuerst das größte Kunstwerk der Zivilisation, nämlich die Stadt, in der sich Kunst, Architektur, Geschichte, Politik, Zivilität usw. sammeln, zu zerstören? Jedesmal, wenn ich diesen Text lese, denke ich: Mein Gott, wieviel aggressive Kraft muss sich entladen haben  nachdem die Sowjets Afghanistan verließen und die Mujahedin Kabul im Griff hatten. Die, nicht die Taliban, haben Kabul zerstört. Die Taliban haben Kabul, so wird behauptet, sogar teilweise vor weiterer Zerstörung gerettet. Was geht in den Köpfen dieser Banden oder der Bomberpiloten vor? Der Pilot da oben weiß nur, ich drücke auf einen Knopf. Er stellt sich nicht vor, dass dadurch eine Zerstörung in Gang gesetzt wird, die  nicht nur Menschen trifft, die gerade kochen oder irgend etwas anderes machen nicht nur ein Haus zerstört, sondern viel mehr. Was ist vor kurzem im Gazastreifen passiert? Warum diese Zerstörungswut immer gegen das höchste Symbol unserer zivilen Gesellschaft? Warum also immer die Stadt? Warum wird sie zur Zielscheibe der Zerstörung gemacht?  

Nehmen wir das Beispiel Deutschland, das im zweiten Weltkrieg selbst so viel zerstört hat: Was hat Deutschland, was hat dieser Zweite Weltkrieg, was hat diese ganze Nazizeit den Deutschen angetan! Davon reden wir hier in Deutschland eher selten. Wie viele Millionen Deutsche sind umgekommen? Wie viel eigene Kultur haben wir zerstört? Dass es dann durch die Bombardements der Alliierten geschah, ist ja die Folge einer extremen Selbstzerstörung. Das sind die Fakten. Und heute stehen wir da und wollen rekonstruieren im Sinne einer Identitätsfindung. Da frage ich mich: Was rekonstruieren wir denn eigentlich? Sollen wir alles so darstellen, als wäre nichts gewesen? Siehe das Direktorenhaus in Dessau.

Dass die verantwortlichen Politiker und Planer nach dem Zweiten Weltkrieg zusätzlich noch zerstört haben, scheint mir dem Motto geschuldet zu sein: Jetzt haben wir die Chance die Stadt umzugestalten. Das ist ein Verbrechen, das man eigentlich noch viel deutlicher diskutieren müsste. Was geschieht eigentlich in diesen Köpfen? Warum glaubt so jemand, warum glaubt ein Politiker immer, der halbe Gott zu sein?
Es gab ja auch für Berlin solche Pläne. Unter Willy Brandts Modernisierungsvorstellungen für Berlin gab es eine, danach wäre durch die Fasanenstraße eine Autobahn angelegt worden. Das heißt, die Fasanenstraße dort am Ku'damm mitsamt ihrer Gründerzeitarchitektur wäre einfach verschwunden. Dieser Wahn der Planer hat letztendlich etwas fast Militärisches, etwas sehr Arrogantes und auch Ignorantes. Ich glaube, dann setzt die Sehnsucht ein: Welche Identität suchen wir? Suchen wir alte Merkmale unserer Stadt? Versuchen wir die Topologie zu rekonstruieren und behutsam wieder aufzubauen usw. Diese Sehnsucht ist da, weil sie in den Bürgern einer Stadt existiert – als Wunsch zu bewahren, zu erhalten, aber auch zu ergänzen. Ich glaube, sie sind die Träger der Gesellschaft. Wie es damals in den einzelnen Städten zuging, weiß ich nicht, aber hätte man die Frage der Rekonstruktion oder des behutsamen Wiederaufbaus breiter diskutiert, wozu man vermutlich gar nicht die Zeit hatte, da Wohnungen und was weiß ich alles notwendig waren, dann wäre vermutlich vieles anders abgelaufen.

Solbach: Es gibt auch die von den Bürgern geschaffenen Fakten wie das Beispiel der Trümmerfrauen zeigt. Ich nehme an, die haben einfach angefangen und dadurch die Planungen teilweise konterkariert. Man hat versucht, das wieder herzustellen, was man einmal hatte.

Akbar: Das ist sicher ein Aspekt. In der Ex-DDR gab es noch viel dramatischere Geschichten. Die haben wirklich ganze Quartiere, manchmal die ganze Altstadt auf der Basis ideologischer Vorstellungen abgerissen und ihre Plattenbauten darauf gesetzt. Es gibt zum Beispiel einen Dom, in Zerbst, der relativ zerstört war, er sollte gesprengt werden. Ein russischer General/Offizier soll in einem Brief geschrieben haben, der Dom kann aus Sicherheitsgründen nicht gesprengt werden. Teil des Doms steht heute noch in Zerbst. Da haben wir eine individuelle Entscheidung, auf Grund deren einmal etwas stehen gelassen wurde. Aber es gab in anderen Teilen der Stadt massive Zerstörung. Nicht die historische Topographie und Typologie der Stadt wurde aufgegriffen, sondern Plattenbausiedlungen wurden gebaut. Dadurch wurde die nicht gemochte Vergangenheit beseitigt und entsprechend der verordneten Ideologie die andere Stadtanlage geschaffen. Naiver Weise glaube man dadurch eine neue Identität hergestellt zu haben.

Solbach: Urbane Selbstbehauptung ist nicht nur in kulturellen, sondern auch in sozialen und ökonomischen Kategorien definiert. Kann in diesen Zusammenhängen überhaupt von Identität gesprochen werden? Oder zerfällt der urbane Raum per se in heterogene Ensembles und ›Entwicklungszonen‹? Diese ›wandernden‹ Gebiete, die entweder schick sind oder sozial abfallen oder was auch immer. Kann es in einer funktional ausdifferenzierten Stadt so etwas wie ›Bürgerstolz‹ geben?

Akbar: Ich glaube, dass wir heute die Frage des ›Bürgerstolzes‹, der zivilen Gesellschaft neu diskutieren müssen. Zunächst, wir leben in Europa in einer urbanen Gesellschaft. Wir leben nach Vereinbarungen, die für alle, wo auch immer, Geltung besitzen.  Dementsprechend verhalten wir uns: Wir begegnen uns als Fremde und verfügen dennoch gleichzeitig über einen gemeinsamen Verhaltenscode. In einer Zeit, in der Lebensstile eine hohe Signifikanz bekommen haben, in der sich die traditionellen Bindungen im Sinne von sozialer Bindung aufgelöst, in der sich Klassenstrukturen modifiziert haben, sind auch neue Formen von Bürgersinn entstanden. Das sieht mit Sicherheit nicht in allen Gesellschaften gleich aus. Auch in Deutschland gibt es natürlich Differenzierungen. Berlin zum Beispiel ist vollkommen anders zusammengesetzt als Stuttgart oder München oder Köln oder Hamburg, also Städte, in denen die Bürgerschaft vermutlich noch viel stärker mitbestimmt und -gestaltet. In der ehemaligen Frontstadt Berlin kokettiert man eher mit der Diversität oder besser Differenziertheit der kulturellen Konstellationen, die sich hier ergeben. Trotzdem besitzen wir auch hier nach wie vor einen Code. Wir sind Bürger einer Gesellschaft. Aber ob wir auch Bürger einer besonderen Stadt sind, das ist eine ungleich schwerer zu beantwortende Frage. Mitten in Berlin, das sich als Weltmetropole versteht, existieren provinzielle Strukturen, die wirklich zum Heulen sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Prenzlauer Berg. Ein Quartier, cool, es gibt dort, glaube ich, prozentual die meisten Familien mit Kindern und so weiter, alles sehr schön. Ich habe vor kurzem eine Geschichte erfahren: Ein Investor wollte auf einem Grundstück Stadtvillen bauen. Gegen diesen Investor gab es eine Riesenaktion im Kiez mit der Begründung, er würde mit seinen Bauten, für die Schickeria, die Mieten hochtreiben. Das ist schon sehr provinziell gedacht. Und es geht noch viel weiter. Nehmen wir einen Wochenmarkt. Der macht den Leuten morgens um fünf oder sechs schon zu viel Krach. Da frage ich: Wollt ihr eigentlich in der Stadt wohnen? In der Stadt gibt es immer Krach, ein Wochenmarkt ist doch eigentlich ganz angenehm und Teil der Stadt. – Dieses Kiez-Verhalten hat die Tendenz zur Segregation und zwar auf eine ideologische Weise, die auch gefährlich sein kann. Ich kenne brutale Fälle, in denen Leute wirklich aus dem Quartier weggejagt wurden. Die sind gegangen, weil sie Angst hatten. Eine solche Atmosphäre ist meiner Ansicht nach für eine Stadt unerträglich. Wir reden hier nicht von Slumgebieten in New York oder wo auch immer.

Solbach: Sie sprechen von funktionierenden Stadtvierteln.

Akbar: Ich rede über funktionierende Mischstrukturen, die aber inzwischen total ideologisiert sind. Das ist eine gefährliche Entwicklung, das ist Provinzialität und hat für mein Empfinden nichts mit der Großstadt zu tun. Gleichzeitig haben wir die Tendenz zu einer eigenartigen Form von gated communities, wenn man zum Beispiel an den Tiergarten denkt, wo neue Quartiere entstanden sind, wo die Botschaften stehen, wo die CDU ihre Parteizentrale hat, wo sich die Landesvertretungen befinden, wo die Adenauerstiftung residiert usw. Dort sollen nun Wohnkomplexe für Diplomaten entstehen, also gated communities. Auch das macht meiner Meinung nach eine Stadt kaputt. Gewünscht haben wir uns Mischstrukturen, in denen der Andere, der Fremde, auch der Bettler da sein dürfen, wo bei Regen, wenn der schicke Mann mit seinem neuen Hut aus dem Laden herauskommt und auf einmal auf dem Trottoir ausrutscht, der Bettler ihn anschaut und sagt: Nun liegen wir beide auf derselben Ebene. Das sind natürlich Klischeebilder einer funktionierenden europäischen Stadt. Diese Dinge verändern sich stark, finde ich, und weltweit im gleichen Sinn. Das meine ich, wenn ich sage, der Ort, die Identität in diesem Sinne, diese besondere Geographie, die besondere Situation vieler Orte, das alles verschwindet mehr und mehr.

III Kultur und Diversität

Solbach: Sie haben das Thema schon angeschnitten: Massen-Migration, moderne Kommunikationsmittel und zeit- und raumunabhängige mediale Repräsentationen haben eine Lage geschaffen, in der die Beschreibung urbaner Kulturlandschaften eher Vorstellungen von Diversität, Segregation und Exklusivität von Teilräumen bevorzugt als Konstruktionen übergreifender Identitäten. Aber müssen solche Beschreibungen nicht, wenn man die Sache etwas grundsätzlicher angeht, notwendig defizitär bleiben? Setzt nicht gerade Diversität lokale, regionale und nationale Primärverhältnisse voraus? Kann man in Berlin oder Kabul wirklich vergessen, an welchem Ort auf der Erde man sich befindet? Sollte man es?

Akbar: Möglicherweise bewegen wir uns in eine Richtung, in der die lokalen Identitäten verdrängt werden, um eine globale Gleichwertigkeit der Standorte zu erreichen. Momentan sieht es danach aus. Ich glaube aber, dass im Laufe der Zeit Begriffe wieder an Bedeutung gewinnen werden, die wir in den siebziger und mehr noch in den achtziger Jahren benutzt haben: genius loci zum Beispiel. Diese Begriffe, deren Bedeutung weit über das Geographische hinausgeht, werden wieder kommen. Das ist so eine Hypothese von mir. Der Grund liegt darin, dass Differenz auch verbinden kann und wir uns über sie viel besser erklären können. Differenz ist hier nicht negativ gemeint, sondern im Sinne anderer Traditionen, anderer Vorstellungen von den Dingen usw. Wichtiger als sie zum Verschwinden zu bringen wäre, sie zu verstehen und sich mit ihnen auseinander zu setzen. Das wird mit Sicherheit kommen. An manchen Orten wird das schwerer fallen als anderswo. Ich glaube schon, dass Berlin es als Stadt schwer haben wird, mit dieser Thematik gut umzugehen, weil es einfach zu sehr zerstört worden ist, weil es Erfahrungen gemacht hat, die Paris eben nicht gemacht hat, die auch Köln nicht gemacht hat, die Stuttgart nicht gemacht hat oder Hamburg usw. Auch Kabul zum Beispiel wird ein Problem haben, Kairo vermutlich nicht. Kabul deswegen, weil die alten Kabuler, nennen wir sie einmal so, die diese Stadt geprägt haben, alle weg sind. Es sind ganz neue Menschen nach Kabul gekommen, nicht nur aus den Dörfern. In Kabul, vielleicht auch an anderen Orten in Afghanistan, passiert Folgendes: Nach 2001/02 sind viele zurückgekehrt, darunter Leute, die nicht in Afghanistan zur Welt gekommen sind, aber sich immer als Afghanen verstanden haben – zum Beispiel aus Dubai, Saudi-Arabien, dem Iran, der Türkei oder aus Pakistan. Sie kommen als Afghanen wieder, aber sie bringen ganz neue Traditionen mit, die den ehemaligen Kabulern vollkommen fremd sind. Das beginnt bei banalen Dingen, zum Beispiel der Frage: Wie wird ein Tier geschlachtet? Es geht um Schmutz, um tausenderlei Dinge. Deswegen wird Kabul lange brauchen, um sich als Stadt mit einer gewissen Identität wieder zu finden. Vermutlich wird sie viel differenzierter sein. Viele denken natürlich (und die Radikal-Urbanisten glauben sowieso, dass die Welt nur in diese Richtung geht), dass wir ganz neue Formen von Städten haben werden mit tausend unterschiedlichen Identitäten und irgendein Kodex verbindet uns alle irgendwie. Ich vermute, an manchen Orten wird es so sein, an anderen nicht. Ich glaube nicht, dass Shanghai in diese Richtung gehen wird. Shanghai hat eine andere Tradition, hat eine andere Stabilität als Tokio, als Peking, vermutlich sogar als Bombay, trotz seiner Vielvölkerschaft, die aber Tradition besitzt. Deswegen glaube ich eher an den Erfolg dieser Sehnsucht, andere Stabilitäten im Sinne von lokalen Identitäten und Werten zu schaffen – das kann beim Kochen beginnen, das Kulinarische wird sich vermutlich auch ein bisschen zu anderen Traditionen hin modifizieren. Die Bedeutung des Ortes wird wieder eine stärkere Rolle spielen.

Solbach: Die Alternative, die Sie beschreiben, wirkt auch nicht sonderlich menschenfreundlich.

Akbar: Es wird eine ungemeine Langeweile entstehen. Sie brauchen nur nach Istanbul zu fahren und sich den Betrieb auf die Istiklal Straße anzusehen, da können Sie auch gleich auf den Potsdamer Platz gehen. In Barcelona gibt es ähnliche Straßen, da haben Sie alles, die großen Ketten, die Architektur ›riecht‹ schon ähnlich, das Angebot auch, alles und jeder kaut. Ich finde das hoch interessant. An diesen Orten sind Dinge zusammen gekommen, die einander vollkommen fremd waren. Zum Beispiel auf der Straße gehen und kauen. Das ist ein neues Phänomen der letzten dreißig Jahre. Nicht in allen Kulturen gab es so etwas. Es gab die Regel, beim Essen nicht zu gehen, es gab Essrituale. Ich hoffe, dass sich da etwas ändert.

Solbach: Wovon sprechen wir, wenn wir von ›bedeutenden‹ Metropolen sprechen? Geht es hier nur um Wirtschaftskraft und Masse? In welcher Weise ist die symbolische Qualität einer Stadt wie New York für ihre Bewohner erfahrbar? Was macht bestimmte Städte und Regionen zu Migrationsmagneten? Was erwarten sich die Menschen von ihnen? Worauf gründet sich die Wahrnehmung der Identität eines Ortes? Das, was Sie genius loci genannt haben, wie erfährt man das in New York und erfährt man das als New Yorker oder nur als Tourist?

Akbar: Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich mich nur dann als Berliner bezeichne, wenn ich nicht in Berlin bin. Ich glaube, man bezeichnet sich oft als etwas, wenn man, wie gesagt, nicht vor Ort ist. Zur Zeit lese ich einen Roman mit dem Titel Lazarus von Alexander Hemon, einem Bosnier, der schreibt: »Zuhause ist dort, wo jemand merkt, dass du nicht mehr da bist.« Ich finde diesen Satz unheimlich schön. Er beantwortet die Frage nach der Identität und Symbolik einer Stadt. Sätze vom Typus »Ich bin ein New Yorker« entstehen dann, wenn man diesen Ort verlässt. Man ist eher draußen und reklamiert etwas für sich, weil man damit etwas klärt im Sinn von: »Ich gehöre nicht zu euch. Mein Auto hat dieses Kennzeichen. Meine Wohnung ist dort, meine Freunde sind dort.« Ich lebe seit 1968 in Berlin und werde Berlin nie verlassen, das habe ich mir irgendwann geschworen. Auch wenn ich immer wieder weg gehe, komme ich doch zurück. Es gibt Quartiere, es gibt Orte, von denen ich weiß, man kennt mich und ich bekomme sofort meinen Espresso oder meinen Bordeaux. Alle wissen Bescheid, dort wo ich verkehre. Und man selbst kennt seine Stadt. Aber dass ich stolz darauf wäre, ein Berliner zu sein... das beschäftigt mich im Alltag viel weniger. Trotzdem weiß ich, dass ich stärker auf die eigene Stadt hinschaue und sie manchmal auch verfluche, wenn ich andernorts bin. Ich wünsche mir, dass meine Stadt sich selbstbewusster darstellt und sich nicht von einem billigen Slogan zum anderen durchwurstelt. Natürlich gibt es Klischees, international und auch national. Wenn jemand sagt: »Ich bin aus Berlin«, dann hat das einen besonderen Klang und konnotiert einiges. Das gilt wohl für alle Städte, die besondere Bedeutung haben wie etwa New York, Paris, Rom, London usw. Wenn einer sagt: »Ich bin aus New York«, dann fragt keiner, aus welchem Teil von New York er kommt. Es scheint per se großartig zu sein in dieser Stadt zu wohnen. Die Umstände scheinen in den Hintergrund zu treten.

Solbach: In einem Zimmer für 900 Dollar im Monat in Manhattan.

Akbar: Ja, ich bin in der Stadt der Städte, aber ich erlebe gar nichts davon. Das sind die Klischees, das kommt an in irgendeiner Weise und ist zugleich meiner Ansicht nach auch traurig. Aber das geht ja heute viel weiter. Es gibt so viele junge Kollegen um 40/45, alle haben bei Rem Koolhaas gearbeitet. Inzwischen würde ich gerne nachfragen: »Was haben sie da gemacht? Die Zahl derer, die bei Herrn Rem Koolhaas gearbeitet haben, geht inzwischen in die Tausende. Haben Sie da kopiert oder haben Sie etwas anderes getan? Was haben Sie denn wirklich dort gemacht? Erzählen sie mal davon. »Ich war bei Zaha Hadid.« Gut, und was heißt das? Und genauso ist es auch, wenn es um diese Städte geht. Ich lebe in London. Wie lebt man in London? Was will ich damit sagen? Worauf bezieht man sich? Die Städte besitzen inzwischen international eine symbolische Signifikanz, man identifiziert sich mit ihnen wie mit einer Marke. Was trage ich? Armani oder Joop? Und das zeige ich auch. Ich weiß nicht, ob es neu ist, aber es hat eine neue Kraft bekommen. Die Städte sind nicht nur durch die Marken überfüllt, sondern suchen sich auch die Marke Architektur. Das ist meiner Ansicht nach eine neue, eine sehr inflationäre Geschichte. Es birgt auch eine Ebene der Infantilität, genauso wie Lifestyle oder dieser coole Typus von Businessman, der zur Zeit ein bisschen schweigt, weil die Geschäfte nicht mehr so richtig laufen.

Solbach: Das finde ich gar nicht so schlimm.

Akbar: Ich finde das überhaupt nicht schlimm.

Solbach: Ich habe zum Beispiel nichts gegen BMW oder ähnliche Marken. Aber ich finde Leute lächerlich, die in einem BMW sitzen und genau die Gefühle produzieren, die man der Werbung zufolge in einem BMW haben muss. Davon muss es nicht unbedingt mehr geben.

Akbar: Ja, absolut nicht. Weil Sie gerade BMW erwähnen: man braucht sich nur Aldi- und andere Supermarktparkplätze anzuschauen, da stehen wirklich dicke Brummer ohne Ende. Ich weiß nicht, wie man Leute bezeichnen soll, die nur für das Auto leben, das sie natürlich auf Kredit gekauft haben. Der muss an anderer Stelle wieder eingespart werden. Das Essen bekommt dann einen anderen Stellenwert, stattdessen hat man so einen Apparat und meint, damit einen Lebensstil oder was weiß ich erleben zu können, wie es die Reklame suggeriert.

Solbach: Die westliche Kultur beansprucht für sich, für universelle Werte zu stehen. Man kann diesen Anspruch gutheißen oder verwerfen. Das Paradoxe daran ist, dass universelle Werte nicht verhandelbar sind, dass sie aber nur in Verhandlungen durchzusetzen sind, wenn man die gewaltsame Unterwerfung der anderen als Alternative ausschließt. Wie verhält sich diese Asymmetrie zur Anerkennung der Diversität der Kulturen? Gründet Diversität nicht in wesentlichen Teilen auf Nicht-Anerkennung? Ist damit nicht auch Universalität Diversität?

Akbar: Zunächst zum Begriff ›Kultur‹. Ich frage mich immer, was man damit meint. Im Briefwechsel zwischen Marx und Engels richtet Engels an Marx die Frage, was Marx davon halte, wenn in der Kultur und Tradition der Inder ein Kind oder eine Frau einmal im Jahr oder wann auch immer geopfert werde, damit das Wasser im Ganges oder um welchen Fluss es sich auch immer handelt, fließt. Die Antwort von Marx ist ganz deutlich: Es geht um die Zivilisationsfrage, nicht um die Kulturfrage. Heute, in dieser sehr entwickelten Gesellschaft, der Weltgesellschaft, heißt das: Wer Flugzeuge benutzt, wer die vorhandenen technischen Equipments in Anspruch nimmt, der hat, bitte schön, sich auch auf andere Dinge einzulassen. Das sind meiner Ansicht nach die zivilisatorischen Fragestellungen. Nehmen wir das Thema Beschneidung der Frau: das ist absolut zu verachten und abzulehnen. Da mögen die Traditionen, die großen kulturellen  Errungenschaften dieser Länder sein, wie sie wollen, aber das ist eine Verletzung von Menschenrechten. Und das bezieht sich auf alle Frauen, auf jeden einzelnen Fall. Das geht für mich soweit, dass ich sage, wenn jemand in Berlin auf der Basis der eigenen religösen oder kulturellen Traditionen seine Kinder, vor allem Mädchen, vom Sexualunterricht, vom Sport, von Ausflügen usw. fernhalten möchte, dann ist das hier nicht zu haben. Weder hier noch in Kabul. Insofern denke ich schon, dass wir über die Zivilisationsfrage diskutieren müssen. Es gibt Werte, die entwickelt worden sind, die existieren und die zu beachten sind. Wenn manche Kulturen sich darauf nicht einlassen und meinen, die Unterdrückung der Frau sei Teil ihrer kulturellen Praxis, dann ist das für mich eine absolut klare Sache: Menschenrechtsverletzung. Es ist ja alles viel schlimmer, viel brutaler, es geht bis hin zu der Blödheit, Entschuldigung, da werde ich richtig wütend, der Blödheit, dass es wirklich nationale oder regionale Gesetze gibt, nach denen man die eigene Frau schlagen darf. Nehmen Sie den Richterspruch, den Herr Karsai vor kurzem offiziell unterschrieben hat, dass die schiitischen Frauen alle vier Tage einmal mit ihrem Mann schlafen müssen und die Männer mit ihnen alle vier Monate. Das ist schon absurd. Insofern glaube ich, dass die zivilisatorischen Aspekte viel deutlicher diskutiert und angewendet werden müssen. Ursprünglich war das auch die Wertvorstellung der UNESCO. Inzwischen halte ich die UN für vollkommen fragwürdig – wenn Diktaturen mit am Tisch sitzen und alle versuchen, den Minimal-Konsens zu finden. Aber den Versuch, eine solche Verständigung nicht auf der Basis eines imperialen, eines kolonialen Aktes durchzuführen, sondern diskursiv anzugehen, finde ich sehr wichtig. Da hätten wir auch eine gute Möglichkeit, über Differenzen zu reden. Aber die Basis dafür können nur die Menschenrechte sein, die schon in der Französischen Revolution formuliert wurden.

Solbach: Wer immer sich mit Gegenwart und Zukunft unseres Planeten beschäftigt, muss sich mit Massenelend und möglichen Strategien zu seiner Behebung oder zumindest Kontrolle befassen. Wir wissen von aufgegebenen Stadtvierteln, Regionen und Staatswesen, in denen eigentümliche Gewaltverhältnisse herrschen, das heißt eine Art von chaotischer Ordnung existiert. Menschen leben unter sogenannten menschenunwürdigen Verhältnissen. Sind diese Menschen durch Planung (durch homöopathische Entwicklung oder ›behutsame Behandlung‹ wie sie es zuvor genannt haben) erreichbar? Oder schließen sich Chaos und Planung aus?

Akbar: Zunächst einmal glaube ich, dass überall, wo Menschen leben, auch immer eine Art Organisationswille vorhanden ist. Man plant immer. Der Arme, der morgens aufsteht, hat ganz klare Strategien, wo oder wann er am besten betteln kann oder eine Arbeit findet. So gesehen gibt es Planung seit Tausenden von Jahren. Man hat die Stadt immer organisiert. Aber wenn wir erfahren, dass gegenwärtig etwa 900 Millionen Menschen oder mehr in Slums leben, dass Städte, wie zum Beispiel Lagos, teilweise aufgegeben worden sind, bekommt das eine andere Dimension. Denken Sie an die coole neue Mittelschicht aus Technokraten, die Bombay verlässt und außerhalb der Stadt ihre eigenen Siedlungen für 20 000 Menschen errichten, Plattenhochhäuser mit Krankenhaus, private Schulen, Kindergärten, Parkanlagen etc. Das sind Steuerflüchtlinge, die die Stadt ausgesaugt haben und weggegangen sind. Und in unmittelbarer Nähe haben sie ihren Luxus aufgebaut. Korruption, Ausbeutung, Steuerflucht, Spekulation, Drogen, Kriminalität usw., das ist brutalste Verantwortungslosigkeit gegenüber den Städten in der dritten Welt. Wenn man sich ›The City of God‹ ansieht, ein Film über Rio de Janeiros Favelas. In diesem Film wird leider nicht gezeigt, dass die eigentlichen Kriminellen an der Copacabana zu finden sind. Da sitzen die Bosse. Jetzt zur Frage: »Bekommt man diese Orte in den Griff?« Ich komme da auf Rem Koolhaas zurück, der im Zusammenhang mit Lagos von einer neuen Urbanität redet, der mit seinen Studenten in einem Helikopter über Lagos fliegt und anschließend erzählt, Stau bedeute eine neue Ökonomie, wegen der Wasserverkäufer, die den Leuten, die zwei Stunden im Auto sitzen, Erleichterung bringen. Diese von manchen gelegentlich geteilte und fast schon als cool geltende  Behauptung, ein Stück Slum mache erst die Stadt aus, ist extrem zynisch. Wenn es von Lagos heißt, es sei eine 24-Stunden-Stadt, in der alles vorhanden sei, Subversivität, Kriminalität, Armut usw., aber gerade darin komme eine ganz neue Urbanität zum Ausdruck, dann verwirft man damit alles, was wir einmal gedacht haben: dass eine Stadt funktionieren muss, dass Sie den Menschen die Möglichkeit zur Entfaltung geben, dass sie ein Ort der Emanzipation sein soll. Man verwirft die urbane Lebensweise. Da beginnt für mich Verantwortung. Alle Geberländer sollten diese Orte verlassen. Die Länder und die Verwaltungen dort sollen sich endlich um ihre eigenen Städte kümmern. Geld haben sie. Es ist nie eine Frage des Geldes. Es gibt die These, man könne die Armut innerhalb von etwa zehn bis fünfzehn Jahren besiegen. Aber wer will das? Die Armen vor Ort haben keine Lobby. Denken Sie an die arabische Welt, denken Sie an die Petrodollars. Hat sich dort irgendjemand dieser Frage gestellt? Siebzig Prozent Analphabeten – Armut, wohin man sieht. Ich frage mich die ganze Zeit: Warum sind  in den Golfstaaten Luxushochhäuser so wichtig? Was passiert da?

Mein Gefühl sagt mir, dass der Wille zur Bekämpfung der Armut fehlt. Die Ressourcen sind da, kluge Leute sind da, ich bin der festen Überzeugung, dass man das Chaos bestehen lässt, so wie man Konflikte zulässt. Man ignoriert das Elend vollkommen, nicht, weil man sich daran gewöhnt hat, sondern weil es nie ein Thema gewesen ist. Wenn es ernsthaft gewollt wird, dann kann man die Armut bekämpfen.

IV Zwischen den Kulturen

Solbach: Denken Sie an Afghanistan in der Nacht? Was denken Sie, wenn Sie an Afghanistan denken?

Akbar:  Die Wahrheit ist, dass ich nicht ernsthaft an Afghanistan denke. Meine zwei Brüder und ich sind als kleine Kinder nach Deutschland gekommen. Ich war zwölf. Unsere leibliche Mutter ist sehr früh gestorben. Nach ihrem Tod zog mein Vater nach Stuttgart, um zu promovieren. Unsere zweite Mutter, die leider vor ein paar Jahren gestorben ist, war eine Schwäbin. Sie hat uns sehr stark geprägt. Mein Vater ist bald wieder gegangen. Fast könnte man sagen, er hat uns an sie übergeben. Er hat, glaube ich, seinen eigenen Weg gefunden und wir hatten uns zu dritt hier mit unserer Mutter und sehr stark auch mit der deutschen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Allerdings kamen wir aus einer sehr modern eingestellten Familie. Mein Großvater war ein radikaler Modernist, desgleichen unsere Onkel usw. Natürlich frage ich mich manchmal, warum ich emotional so weit von Afghanistan weg bin. Nach 2002 gab es schon zwei- oder dreimal die Überlegung, ob ich nicht mal hingehen und mir alles anschauen könnte. Ich habe es dann gelassen.

Ich habe zwei, drei Sitzungen mit Afghanen erlebt und mir gesagt, ich könnte das nicht ertragen. Ich habe in Ägypten gearbeitet, ich kann ein bisschen Ägyptisch-Arabisch. Ich verstehe die ägyptische-arabische Sprache nicht ganz. Die Kabuler würde ich verstehen – Dari ist eine Variante der persischen Sprache –, aber ich könnte es nicht ertragen. Ich kann ihre Logik nicht ertragen. Ich kann diese permanente Projektion, diese permanente Schuldübertragung auf den Westen nicht mehr ertragen, in Kairo, in Ländern, die ich immer wieder besuche, und, wie gesagt, in Afghanistan, das ich nicht besuche. An allem, was man tut, ist der Westen schuld. Ich habe einmal einen iranischen Philosophen gefragt: Angenommen, Amerika wäre nicht da, in welche Richtung würde die Projektion der islamischen Welt dann eigentlich gehen? Wen würde man dann verfluchen? Auf wen würde man die Schuld übertragen wollen oder was auch immer? Eigentlich will man damit doch nie erwachsen werden. Ich beobachte diesen Mechanismus sehr oft und es ist der Grund, aus dem ich ein indifferentes Verhältnis zu diesen Ländern habe. Wenn ich dann von Bombardierungen lese und sehe, was mit einem Kind passiert ist, dann ist das natürlich anders. Aber ich muss gestehen, ich bin genauso tief traurig, wenn das in Israel passiert, oder wo auch immer.

Solbach: Es ist schon eigenartig, was Sie beschreiben: Wenn der Westen an allem schuld sein soll, dann erkennt man damit doch die Suprematie des Westens an.

Akbar: Ja unausgesprochen schon. Mal wird ganz offen die eigene Gesellschaft kritisiert z.B. wie grauenhaft alles in Afghanistan abläuft, wie korrupt alles ist usw. Aber sobald es um ganz banale Sachen geht, heißt es: Der Westen hat es getan, der Krieg war vom Westen organisiert, die Taliban, sind ein Produkt des Westens. Hinter allem steht der Westen. Auch, wenn es um die Frage der Islamisten geht, verdrängt man historische Fakten und Ereignisse. Schon seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind die Moslembrüder aktiv und haben eine lange Strategie. Das ist das eine. In Afrika vollzieht sich die Islamisierung in einer Weise, die nehmen wir gar nicht so richtig wahr. In Sarajewo, in Bosnien gibt es mehr Moscheen als Moslems, finanziert durch Wahabiten.  Hier in Europa werden wir in einigen Jahren mehr Muslime haben als Christen. Der Islam ist ja missionarisch. Und gleichzeitig gibt es eine brutale Aggression, es gibt den Terrorismus, kommend aus der islamischen Welt. Das sind doch wichtige Fragen und Probleme, die vor allem durch die Moslems offen diskutiert werden müssten.

Ein Diplomat aus einem arabischen Land sagte, die Selbstzerstörung hat eine Geschwindigkeit, dass für Klärung und Erläuterung kaum Zeit bleibt. Nach dem Attentat in Bombay 2007 gibt es wieder ein Rückfall zur Islamdebatte, denn so meinte er: »Wissen Sie, ich kann Ihnen folgendes sagen: Einen Stein in einen Fluss werfen – das kann eine Person. Aber um denselben Stein wieder aus dem Fluss herauszuholen, braucht man viele.« Leider nehmen die reaktionären Kräfte überall zu.

Ich war 1998 in Kairo und dann wieder 2006.  Ich habe Kairo punktuell nicht wieder erkannt. Der Islamisierungsprozess läuft massiv ab, nicht im Rahmen eines aufgeklärten Diskurses, in dem bestimmte Fragen neu gestellt werden. Es handelt sich um eine reaktionäre Bewegung, die meiner Ansicht nach noch mehr Unterentwicklung erzeugt.

Solbach: Im Grunde haben Sie die Frage nach den Aussichten des Landes, in dem Sie Ihre Kindheit verbrachten, auf Verwirklichung eines – nach westlichen Maßstäben – modernen Gemeinwesens fast schon beantwortet.

Akbar:  Ja. Ich weiß überhaupt nicht, was der Westen da will. Die ganze Region ist ein Problem. Pakistan ist eindeutig ein Riesenproblem und ich bezweifle, dass man Pakistan in den Griff bekommt. Viel stärker glaube ich an eine andere Sache. Das ist fast wie ein Wunsch und Traum: Iran. Iraner sind sehr sehr radikal und stark. Würde es im Iran kippen, würde im Iran eine Art Demokratie entstehen, dann veränderte sich vieles in der gesamten Region. Davon bin ich überzeugt. Erst einmal würden die ganzen Terrornetzwerke, die von dort teilweise finanziert werden, mit Sicherheit verschwinden. Im Lande gäbe es eine Modernisierung und die im Ausland lebenden Iraner, die so potent sind im Bereich der Technologie wie fast in allem, in der Kunst, im Film und so weiter, würden zurückkehren oder mithelfen. Es gibt auch sehr viele Gebildete im Iran selbst. Ja, ich glaube, dass ein Wandel im Iran die Region sehr verändern würde. Das wäre meine große Hoffnung. Ähnliches gilt für Pakistan, mit dem man eher konsequenter umgehen müsste. Es ist ein ganz gefährliches  Land, man braucht nur zu denken, dass die Fundamentalisten einmal an die Atombombe herankommen könnten. Würden sich da die Dinge verändern, dann könnte ich mir vorstellen, dass sich auch Afghanistan wieder beruhigt oder die Verhältnisse sich, etwas langsamer zwar, aber in irgendeiner Weise positiv bewegen. Zur Zeit halte ich es für sehr problematisch. Ich halte es auch für sehr problematisch, wie jetzt die Wahlen vorbereitet werden. Ob sie wirklich demokratisch ablaufen, das bezweifle ich.* Entweder verändert sich die Lage in den nächsten Jahren in eine stabile Richtung oder man sollte, falls nicht, aufpassen und wirklich alles daran setzen, sich militärisch zurückzuziehen, um nicht in einen Schlamassel zu geraten.

Solbach: Wie behauptet man sich als Individuum zwischen zwei Kulturen? Gibt es eine solche Lage überhaupt oder ist die Frage von vornherein durch Identitäten entschieden?

Akbar: Ich glaube, die Frage ist möglicherweise durch Identitäten entschieden. Ich bin hier aufgewachsen und hatte eine gute Zeit. Unsere Mutter in Fellbach war die Tochter eines Lehrers und halb Fellbach hatte Respekt vor ihrem Vater, viele haben sie sehr geschätzt und zwar auch deswegen, weil sie eine sehr weltoffene Frau war. Sie war, eine von den Frauen, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ganz Südamerika kennengelernt hatte. Wir sind sehr schnell in Kreise hinein gekommen, ein bisschen High Society der Fellbacher. Und sind auch dementsprechend aufgenommen worden. Eine Situation werde ich nie vergessen: Ich bin einmal an einem Laden vorbeigekommen, habe mein Spiegelbild im Schaufenster gesehen und dachte: O Gott, du siehst anders aus. Ich habe nicht mehr gefühlt, dass ich ein Fremder bin, obwohl wir relativ schlecht Deutsch sprachen. Sicherlich war es nicht einfach mit so viel Neuem klar zu kommen: ein neues Land, eine neue Mutter, eine neue Sprache. Damit klarzukommen war kein so einfaches Unterfangen. Aber die Mutter, die auch protestantisch hart war, begleitete uns durch die unterschiedlichen Hürden und Hindernisse. Wir identifizierten uns dann viel stärker mit dieser Gesellschaft, die Heimat werden soll oder nicht, das bleibt immer noch ein bisschen unklar. Zugleich muss ich sagen, dass wir Ressentiments kaum erfuhren. Meine Erfahrung ist sowieso, dass Rassismus in Deutschland nicht einmal in der subtilsten Form, es gibt den knallharten, das ist etwas anderes...

Solbach: Den es überall gibt?

Akbar: Das wollte ich nicht sagen. Im Gegenteil: andernorts gibt es viel mehr. Das wollte ich sagen. Hier viel weniger. Zugleich glaube ich, dass Minoritäten/Migranten in der Regel empfindlich sind und jegliches als Ressentiment deuten. Das kann zum Selbstläufer werden.

Und wenn ich etwas Persönliches sagen darf, man kann auch sagen: o.k., du bist etwas fremd, du kennst dich aber relativ gut aus – das kann eine Chance sein. Und diese Möglichkeit benutze bitte für deine eigene Karriere, für deine eigene Entwicklung. Es also positiv drehen. Insofern, zurück zur Frage der Identität: Es gibt ganz klar Elemente bei mir, die aus einer anderen Kultur kommen. Die schätze ich auch. Zum Beispiel: gastfreundlicher zu sein. Ein ehemaliger Ministerpräsident aus Schleswig-Holstein, ein SPD-Mann, hat seinerzeit geschrieben: Es ist einfach unerträglich, wenn man nach Jugoslawien als Tourist geht und am Nebentisch deutsche Linke sich streiten und sagen, gib nicht so viel Trinkgeld, du verdirbst die Preise. Ich musste so lachen, als ich den Artikel las. Ein ähnliches Beispiel: Ein Türke und ein Deutscher sitzen in Kreuzberg in einem Restaurant am selben Tisch und der Deutsche fragt, ob er eine Zigarette haben könnte. Der Türke gibt ihm die Zigarette. Worauf ihm der andere zehn Pfennig gibt. Irgendwie merke ich, dass das Verhältnis zum Geld, der Umgang mit bestimmten Sachen, der Wunsch, eine  Atmosphäre zu kreieren, anders sind. Als ich in der Stiftung Bauhaus Dessau arbeitete, war es für mich wichtig, gemeinsam mit den Mitarbeitern eine Atmosphäre der Gastlichkeit zu schaffen. Das sind Elemente, die meiner Ansicht nach bei mir aus einer anderen Tradition kommen. Gleichzeitig habe ich sehr viel aus der deutschen Tradition. Es gab einmal in Assuan eine schöne Situation mit dem Gouverneur. Wir saßen da, seine Department-Chefs und vorne er, und er hat mich so angeschaut und gesagt: Lieber Dr. Omar, ein Problem gibt es bei Ihnen. Das eine Mal taucht die afghanische Seele auf und wenn sie ausflippen, verdammt noch mal, dann sitzt fast ein potentieller Taliban da, und anschließend kippt es und ihre deutsche Seele wird sichtbar. Da werden sie so etwas von rational, das wir keinen Schritt mehr weiter kommen. Mit beiden Seiten von Ihnen haben wir ein Problem. Und trotzdem lieben wir sie. - Das war so nett, wie er das gesagt hat. Es stimmt, manchmal gibt es bei mir exklusive Explosionen, dann denke ich, O Gott, die kommt aus einer anderen Mentalität. Wir reden ja auch viel mehr mit der Hand.

Solbach: Aber Sie haben kein Problem damit?

Akbar: Überhaupt nicht. Keiner hat ein Problem, das ist das Interessante an der Gesellschaft, in der ich lebe. Ich habe noch nie, das ist wirklich wahr, so etwas hier empfunden. Dass ich zum Beispiel in Sachsen-Anhalt mit meinem Namen Bauhaus-Direktor wurde, das habe ich gleich bei der ersten Begrüßung auch öffentlich ausgesprochen, das ist eine Art der Integration in dieser Gesellschaft, so etwas spürt man. Aber es hat vielleicht auch etwas mit meinen Kindheitserinnerungen zu tun. Ich würde so weit gehen zu sagen, das hat auch mit Kabul zu tun, mit dem Großvater und seinem Garten und seiner Villa, mit den Fremden, die dort ein- und ausgingen, darunter viele Deutsche und Österreicher, weil man deutsch orientiert war. Es hat damit zu tun, wie respektvoll man die andere, die europäische Kultur aufgenommen hat, sie positiv zitiert und zu ihr stand. Das hat sich geändert. Europa wurde geliebt. Man war offen, aber man liebte auch die eigenen Traditionen. Das war eine andere Form des Annehmens zweier, dreier Identitäten. Heute herrscht überall eine Art antiimperialistischer Haltung. Von einem großen afrikanischen Staatsmann, ich weiß nicht, wer es war, stammt die Bemerkung: Entschuldigt, liebe Leute, meine Generation hat immer wieder gesagt, wie schrecklich diese Kolonialisten waren. Aber ihr, die Generation unserer Kinder, warum sagt ihr dasselbe?

Solbach: Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Iablis © 2009/12