Omar
Akbar
im
Gespräch mit Renate Solbach
Glanz und
Elend der modernen Stadt
I.
Bauhaus und Aktualität
Solbach:
›90 Jahre Bauhaus‹. Welche Empfindungen weckt die Parole in Ihnen?
Akbar:
Die Parole weckt bei mir Folgendes: eigentlich zwanzig Jahre Einheit.
Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte wurde es möglich, die drei
großen Sammlungen, die in Deutschland existieren, zusammenzubringen und
gemeinsam auszustellen. Das ergibt für mich nicht neunzig,
sondern siebzig plus zwanzig Jahre. Erst in den letzten zwanzig Jahren
hatten wir die Möglichkeit, uns als eine Institution wiederzufinden und
auch zu definieren. Was bedeuten die einzelnen Institutionen in Weimar,
in Dessau und in Berlin? Vor etwa sieben Jahren saßen wir zusammen und
fragten uns, ob wir nicht in irgendeiner Weise einmal eine große
Veranstaltung gemeinsam organisieren könnten. Natürlich hat die von
Weimar Anfang des Jahres ganz gerne gefeierte Zahl 90 eine bestimmte
Bedeutung, denn hier wurde es ja 1919 gegründet. Sicher kann man sich
fragen, ob das überhaupt eine Jubiläumszahl ist. Bislang war man ja
eher gewöhnt, 50, 75 und 100 zu feiern. Ich denke, dass hinter den
Jubiläen Vermarktungsstrategien stehen. Insofern besitzen sie eine
andere Signifikanz und haben selten eine kritisch reflexive Potenz in
Bezug auf Fragen, die man einer Institution oder einer
Bewegung
nach fünfzig oder nach hundert Jahren stellen könnte.
Solbach:
Die Reaktion auf das Bauhaus war – abgesehen von der Phase unbedingter
Ablehnung in Deutschland – von Anfang an zwiespältig. Einerseits galt
es als konsequenter Ausdruck der legitimen
Gestaltungsmöglichkeiten unter Bedingungen der technisch-ökonomischen
Moderne, andererseits
wurde es als Ausdruck der damit einher gehenden Verhältnisse geschmäht.
Das Schicksal des
Bauhauses zu DDR-Zeiten kann als lebendiger Ausdruck dieses
Zwiespalts angesehen
werden. Wie beurteilen Sie die historische Stellung des Bauhauses
angesichts solcher Wahrnehmungen?
Akbar:
Ich habe das Gefühl, dass die Moderne und die Entwicklung der Moderne
auch im institutionellen Sinn oder als Schule in Deutschland immer
wieder ein Problem hatte. Sie wurde nie als ein Teil der eigenen
Entwicklung verstanden und integriert, vielleicht auch kritisch
diskutiert, sondern immer massiv in Frage gestellt - letztendlich bis
zur Zerstörung oder Auflösung. Was das Bauhaus angeht, wissen wir ja,
was innerhalb von vierzehn Jahren passiert ist. Ich glaube kaum, dass
eine Schule in der Welt eine solche Entwicklung erfahren hat: dreimal
eröffnet und geschlossen zu werden. Und dann geht es in der DDR-Zeit
weiter. Während der stalinistischen Phase, kurz nach dem Zweiten
Weltkrieg, wird das Bauhaus abgelehnt, obwohl es schon 1945 Strömungen
gab, die gerne die linke Hannes Meyersche Tradition in der DDR wieder
aufgenommen hätten. Das wurde abgelehnt. Mit welchen Parolen hat man
damals gearbeitet? Ganz banal: Die Nazis hatten gesagt, das Bauhaus sei
eine bolschewistisch-jüdische Institution. In der DDR sprach man
verächtlich von einer bourgeois-avantgardistischen Bewegung. In den
Fünfziger Jahren – die Geschichte geht ja weiter – gründeten
wir
im Westen Ulm. Also: Im Westen wird eine Hochschule für
Gestaltung gegründet und Walter Gropius eröffnet diese Institution
1956. Während wir eröffnen, herrscht in der DDR Ablehnung. Und dann,
Mitte der Sechziger Jahre, schließt Filbinger Ulm aus den vertrauten
Gründen (es gibt kein Geld und natürlich Konflikte unter den Künstlern,
Architekten usw.) während man in der DDR seit Anfang der Sechziger
Jahre begonnen hat, sich mit der Moderne auseinanderzusetzen, nachdem
in der Sowjetunion ein Artikel über die serielle Fertigung als
Errungenschaft des Bauhauses veröffentlicht wurde. Ich finde es ganz
spannend, dass immer, wenn es um diese Institution geht, also um die
radikale Auseinandersetzung der Gesellschaft mit Fragen der Gestaltung,
eine gewisse Ambivalenz existiert. Manchmal frage ich mich, ob das
nicht ein bisschen ein deutsches Phänomen ist.
Solbach:
Ist es nicht ein bisschen so, dass das Bauhaus als Moderneausweis in
der Bundesrepublik fast ein Muss war?
Akbar:
Vor allem in der Architektur. Aber im Grunde handelt es sich um die
ganze Produktpalette.
Solbach:
Das hatte ausgewiesenermaßen mit den Nazis nichts zu tun. Spielte da
auch der Gedanke an Wiedergutmachung mit?
Akbar:
Absolut. Das Bauhaus steht ja für die so genannte gute oder schönere
Seite der Geschichte Deutschlands. Wieso konnten wir nicht auf der
institutionellen Ebene bestimmte Prinzipien der Ausbildung, die das
Bauhaus entwickelt hatte, wieder aufgreifen und für die Hochschulen
fruchtbar machen. Das war ja eine Schule, keine Produktionsstätte von
Designprodukten. Auf der institutionellen Ebene hat man Ulm wieder
geschlossen, man hat diese Versuche nicht richtig zugelassen. Auf der
Produktdesign-Ebene hingegen und auch auf der Ebene der Architektur hat
man versucht, diese Linie weiter zu verfolgen.
Solbach:
Mit dem Stichwort von der ›Aktualisierung der Moderne‹ haben Sie als
Direktor der Bauhaus-Stiftung Ihr damaliges Aufgabenfeld in den
größeren Rahmen der Diskussion um ›Postmoderne‹, ›Zweite Moderne‹,
›Historisierung der Moderne‹ etc. gestellt. Wie würden Sie die
Haupttendenzen einer solchen ›Aktualisierung‹ charakterisieren?
Akbar:
Erst einmal: Als ich vor einigen Jahren von Aktualisierung gesprochen
habe, da ging es um das Direktorenhaus. Das Direktorenhaus
wurde
während des Zweiten Weltkriegs halb zerstört. In den fünfziger Jahren
hat man ein typisches Gebäude, ein Einfamilienhaus im Stil der DDR, an
seiner Stelle gebaut. Jetzt ging es um die Frage
der
Rekonstruktion. Und unsere Position war: Eigentlich kann es gar nicht
um diese
Rekonstruktion gehen - wenn überhaupt, geht es um die
Aktualisierung der Moderne. Wie würde so ein Gebäude, wenn man es
überhaupt rekonstruiert, heute denn eigentlich aussehen? Gilt für uns
immer noch die traditionelle Vorstellung der Moderne? In diesem Kontext
habe ich das Thema damals diskutiert. Eine Zeit lang hatte ich schon
die Vorstellung: Gelingt es uns, die Stiftung Bauhaus Dessau zum Ort
eines Diskurses über die Moderne zu machen? Wo steht die Moderne, wie
hat sich die Moderne entfaltet auf der künstlerischen, auf der
architektonischen aber auch auf der philosophischen Ebene,
gesamtgesellschaftlich, wie immer man es auch bezeichnen mag? Könnte es
nicht gelingen, dieses Haus zu einem Zentrum der Auseinandersetzung mit
den Fragestellungen zur Moderne in Europa zu entwickeln? In diesem
Kontext wurde immer wieder über die Aktualisierung der Moderne
gesprochen, also über Postmoderne und Zweite Moderne. Wir leben ja in
einer modernen Gesellschaft, die letztendlich vor der klassischen
Moderne beginnt und sich bis heute fortsetzt. Die Fragen haben sich
gewandelt. Zugleich hat sich ja eine Art ›Multimodernität‹ entwickelt.
Ganz neue Erfahrungen kommen inzwischen auch aus anderen, aus
außereuropäischen Traditionen, die eindeutig, etwa durch Kolonialismus,
von der Moderne geprägt wurden. Dort hat man eigene Wege gefunden, und
wenn man jetzt von der sogenannten Aktualisierung redet, dann haben
sich die Kriterien und Aspekte, die wir im Kontext der Moderne immer
wieder benennen, verändert und sogar die Aneignung und das
Wesen
der Moderne selbst. Steckt nicht im Wesen der Moderne ein Stück
Aneignung anderer kultureller Erfahrungen? Wir wollten diese und
ähnliche Themen erforschen und diskutieren. Das ist nicht ganz gelungen.
Solbach:
Das heißt, dass Sie Moderne gar nicht so sehr als Epoche oder als
historischen Begriff sehen, sondern mehr als Kategorie?
Akbar:
Absolut richtig, ja. Genau das taucht eindeutig in diesem Zusammenhang
auf, ja.
Solbach:
Warum gerade das Bauhaus? Um die Frage auf die Architektur zu
fokussieren: Welche Prinzipien aktuellen Städtebaus lassen sich
eindeutig auf das Bauhaus zurückführen? Anders und provokanter
gesprochen: Ist die moderne Stadt funktionaler als die europäische
Stadt um 1900 oder das antike Rom oder das mittelalterliche Kairo?
Akbar:
Die Anlage einer Stadt basiert immer auf rationalen Prinzipien. Ich
brauche eine Straße, um irgendwo anzukommen, ich brauche eine
Marktanlage, ich brauche Institutionen für meine sakralen oder
klerikalen oder Verwaltungswünsche usw. Ich glaube, dass jede Stadt
eine gewisse Rationalität in sich birgt. Wenn man Funktionalität einmal
sehr breit begreift, dann sind alle Städte funktional angelegt. Das ist
die eine Geschichte. Die andere Sache ist, dass die funktionale Stadt,
wie wir wissen, nicht nur im Rahmen der Bauhaus-Idee und -Tradition
thematisiert wurde, sondern auch durch Le Corbusier und andere im
Zusammenhang mit der Charta von Athen in den Zwanziger, Dreißiger
Jahren. Diskutiert wurde sie auch in Bezug auf andere Fragestellungen.
Wir haben auf der einen Seite die Fordistische Entwicklung, die
serielle Fertigung, Automobil, Flugzeug usw. Wo bleibt die Architektur
in diesem Zusammenhang? In dieser Zeit entstehen ganz neue
Technologien, Möglichkeiten, Formen etc. Dass Architekten und Planer
visionär gedacht haben, halte ich wirklich für eine unglaubliche Größe
der europäischen Haltung im Sinne von wagen, experimentell zu sein,
über die Grenzen des Gegebenen hinaus denken. In diesem Kontext
entstehen die radikalen Ideen, letztendlich bis zur Zerstörung von
Paris - eine Idee, die von Le Corbusier kommt. Für ihn basiert die
Altstadtkonzeption auf der Vorstellung eines Esels: Ein Esel bewegt
sich labyrinthartig in Kurven, in den Straßen der Altstadt, hält dort
an, wo es gerade ein bisschen Schatten gibt. Aber der Mensch geht immer
von A nach B usw. Also Zeitgeist, technische Entwicklung usw.
Diese
Vision hatte eine legitime Seite, doch natürlich konnte man die Stadt
nicht zerstören. Die Frage war also wie man sie ergänzen konnte. Sie
ist aber älter als die Diskussion in den Zwanziger Jahren, denken Sie
an Haussmann, der die Achse durch Paris legt und letztendlich die
Altstadt teilweise auch zerstört. Um wieder auf das Bauhaus zu kommen:
Hier hat man mit Architektur und Städtebau überhaupt viel später
angefangen, erst 1927, als Hannes Meyer als erster im Bauhaus in Dessau
Unterricht zur Architektur gibt. Nach ihm kommt Hildesheimer und es
entstehen Themen und Visionen zur Stadtentwicklung. Gropius und andere
haben sich viel mehr mit Siedlungsbau beschäftigt, und der kommt in
Deutschland natürlich aus einer anderen Tradition, auch aus der
Problematik der Mietskasernen usw. Wenn man dann die Stadtplanung aus
der Perspektive der Moderne sieht, so hat sie interessante Bauten, die
immer auch Solitäre sind und eigentlich eine Rundum-Fassade besitzen,
eine Signifikanz im Kontext einer städtischen Konstellation erzeugen
wollen. Aber sie haben, was historisch wichtig war, etwas anders
gemacht, die Zeilenbauweise mit Licht, Luft, Sonne usw., und die
traditionelle städtebauliche Idee der europäischen Stadt damit auch
zerstört. Das sind meiner Ansicht nach die Aspekte, bei denen das
Bauhaus nur rudimentär in Erscheinung tritt. Das heißt für mich, dass
es in diesem Sinne keine Bauhaus-Architektur gibt.
Solbach:
Die Luhmann-Schule unterscheidet einen stratifikatorischen und einen
funktionalen Gesellschaftstyp. Aber dass stratifikatorische
Gesellschaften auch Funktionalität hervorbringen, haben Sie
selbst gesagt. So ist auch die Funktionalität im Sinne des Bauhauses
interessanterweise gepaart mit sozialen und politischen Ideen.
Akbar:
Ja, absolut. Genau.
II
Die Selbstbehauptung der Städte
Solbach:
Es gehört zu den fundamentalen Sachverhalten von Kultur, dass
Selbstbehauptung immer mit Verlusten erkauft wird. Anders ausgedrückt:
Differenzierung ist ohne Entdifferenzierung nicht zu haben. Auf den
modernen Städtebau bezogen bedeutet das, dass infrastrukturelle
Maßnahmen, Ökonomisierung, Devaluation des Gegebenen stets den
aggressiven Part spielen, während die Bewahrung von Diversität,
historisch gewachsener Alterität sowie der weite Bereich des
Pittoresken nachgeordnete, aber keineswegs nachrangige Bedeutung haben.
Gibt es in dieser Hinsicht signifikante Unterschiede zwischen Europa
und anderen, teils dynamischeren, teils traditionaleren Regionen?
Akbar:
Ja, ich glaube, es gibt da einen deutlichen Unterschied, zumindest
soweit ich das beobachten konnte. Denken Sie an etwas, was Victor Hugo
in seinem Buch Der
Glöckner von Notre Dame schreibt: ›Paris aus der
Vogelschau‹, wie er darüber redet, dass eine Stadt kein Machwerk eines
großen Genies ist, sondern das Machwerk eines kollektiven Geistes. Eine
Stadt besteht aus Schichten, die widersprüchlich sind usw. Es gibt
einen wunderbaren Satz von Umberto Eco, der die Stadt als ein offenes,
bebautes Geschichtsbuch versteht. Das heißt also, die Stadt und ihre
einzelnen Quartiere erzählen uns etwas, sie haben ihre Geschichte, aber
auch Schichten. Sie wurden teilweise zerstört, teilweise neu entwickelt
usw. Ein solches Geschichtsbuch, als Gesamtkunstwerk, als ein Kunstwerk
unserer eigenen Tradition zu bewahren, diese Aufgabe wird von
Kulturkreis zu Kulturkreis unterschiedlich verstanden. Nicht überall
sieht man im Bebauten die Geschichtserzählung. In manchen
Gesellschaften wird die Geschichte vollkommen anders her- und
abgeleitet. Zum Beispiel in der islamischen Gesellschaft: Dort betont
man viel stärker das ›Woher stamme ich?‹, den genealogischen Bezug.
Nicht selten landet man dann bei Mohammed.
Solbach:
Das hat es hier ja früher auch gegeben. Da wurde vor der Erfindung der
säkularen Universalgeschichte alles auf Adam und Eva, das heißt, auf
die biblischen Anfänge zurückgeführt. Die Art der Geschichtsschreibung
hat sich einfach geändert.
Akbar:
Vollkommen richtig, aber das hat in Europa auch mit der Aufklärung zu
tun.
Solbach:
Ja natürlich.
Akbar:
Weshalb es immer wieder zu beobachten ist, dass die materielle Kultur
dort nicht dieselbe Signifikanz hat. Man kann also eine Altstadt ohne
weiteres einfach beiseite schieben und neu bauen, anders bauen, ohne
überhaupt eine Frage zu stellen. Jene, die sich damit teilweise
auseinander setzen, sind oft Architekten und Planer, Künstler etc. vor
allem aus der Fremde, etwa aus der europäischen Tradition, die sagen
»Leute, ihr habt da etwas«. Oder es kommen andere und sagen: Schützt
eure Altstadt, denn Altstadt kann für den Tourismus eine Bedeutung
haben. – Hier tauchen also ganz andere Fragestellungen auf oder
Wünsche, die in den außereuropäischen Traditionen zum Schutz bestimmter
Orte führen. Ich glaube schon, dass man in der europäischen Tradition –
Gott-sei-dank, kann man nur sagen – über die Möglichkeit verfügt, die
Stadt als Gesamtheit zu verstehen, als ein Produkt der eigenen
Geschichte und der eigenen Entwicklung mit der man behutsam umzugehen
wünscht, sofern man es wirklich will. Meiner Ansicht nach hat
sich das nach dem Zweiten Weltkrieg geändert, also in den Sechziger
Jahren. Natürlich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg moderne Strömungen.
Siedlungen wurden außerhalb der Stadt gebaut, Modifikationen folgten,
die Entwicklungen wurden später kritisch in Frage gestellt. Das ging
immer so: Es gab die emanzipatorische Seite, denn diese Orte und Bauten
sind ja nicht irgendwie irrational entstanden, sondern auf der Basis
neuer Wünsche und dann die kritische Infragestellung. Das ist meiner
Ansicht nach eine hervorragende Geschichte, die sich fast nur in Europa
beobachten lässt. Insofern halte ich diesen Begriff aus den Achtziger
Jahren für wichtig: behutsamer Umgang. Und zwar immer dann, wenn es um
die Stadt, die Stadtentwicklung, die Stadtplanung und die
Architekturentwicklung geht.
Solbach:
Könnte man, so betrachtet, die Pflege des UNESCO-Weltkulturerbes als
Versuch werten, die Verhältnisse umzukehren und Bestandserhaltung zum
primären Ziel planerischen Verhaltens zu machen? Anders ausgedrückt:
Bewahrung als aggressiver Akt gegen die sogenannten ›legitimen‹
Bedürfnisse der Gegenwart gekehrt? Welchen Sinn verbinden Sie mit dem
Begriff des Kulturerbes?
Akbar:
Ich glaube, der UNESCO-Begriff des Weltkulturerbes geht auf einen Satz
von Levi-Strauss zurück. Es bezieht sich auf die Diversität von
Kulturen und ihre unterschiedlichen Interpretationen. Man sollte sich
von der eurozentrischen Betrachtungsweise befreien. Das war die eine
Seite. Die andere, die ich spannend finde, bedeutet, dass durch die
UNESCO die auf der regionalen europäischen Ebene diskutierten
Vorstellungen, von dem, was Kulturgut ist, internationalisiert wurden.
In der UNESCO unterschrieben ja sehr bald viele Staaten eine Art
Vertrag oder décrét Kulturerbe. Kulturerbe wurde zu einem Thema der
gesamten Welt. Das bedeutet: sobald man die Pyramiden als
Kulturerbe sieht, gehören sie nicht nur den Ägyptern, sondern der
Menschheit. Und wenn sie der Menschheit gehören, dann heißt das, diese
Orte müssen der Menschheit auch zugänglich sein. Sie gehören nicht mehr
den Lokalen. Wenn man sich das einmal rein theoretisch vorstellt, dann
beginnt hier eine Art der Demokratisierung dieses Erbes. Die
Gesellschaften werden offener. Die Objekte dürfen erforscht, weiter
diskutiert werden usw. Das ist ein ganz subtiler Aspekt der
Weltkulturerbe-Thematik. Man konnte das nicht überall umsetzen, es
funktioniert auch nicht überall. Die Nationalstaaten reagieren sehr
unterschiedlich auf diese Idee. Aber ich glaube, wenn es um Kulturerbe
geht, haben wir eine Verpflichtung, jene Werte, die historisch
entstanden sind und eine Signifikanz haben zu bewahren. Darüber kann
man natürlich diskutieren: Haben sie eine Signifikanz? Wer bestimmt
das? Wann wird es inflationär? – Ich habe das Gefühl, dass inzwischen
wirklich fast alles zu Weltkulturerbe erklärt wird.
Letztendlich
wird diese inflationäre Entwicklung aus meiner Sicht dessen Wert
schwächen. Interessant ist trotzdem, dass man sich nicht nur
auf
ganz alte Geschichten wie zum Beispiel die Pyramiden, die chinesische
Mauer usw. eingestellt hat. Man ist am Ende weiter gegangen, aber
dieser Diskurs fand leider zu stark unter Bürokraten statt. Er hätte
stärker geöffnet werden sollen. Zum Beispiel mit der Frage: ›Ist das
Bauhaus ein Teil des Weltkulturerbes oder reden wir über die Frage der
Moderne als eines Aspekts des Weltkulturerbes und wo ist dann das
Weltkulturerbe zu finden? In vielen Orten der Welt. Weimar, Dessau,
Wien, Tel Aviv usw. Stattdessen spielen nationale Bemühungen eine
entscheidende Roll. Nicht ein Programm wird gefördert, auch über die
Grenzen hinaus, sondern partikulare Intereressen.
Solbach:
Sie gelten als entschiedener Gegner aller baulichen ›Rekonstruktion‹.
Ein wenig haben Sie das ja eben schon unter dem Begriff der
Aktualisierung erläutert. Ich stelle meine Frage dennoch und möchte
Ihnen etwas gestehen: Ich habe Mühe, mir unter einer Position, die mit
der völligen Disjunktion von Wiederherstellung und Neuplanung rechnet,
etwas Sinnfälliges vorzustellen. Enthält nicht jeder Neuentwurf die
Rekonstruktion von Bedürfnislagen, und damit eine gewisse wenngleich
modifizierte Wiederauferstehung des Älteren? Geht nicht auch von der
Topographie einer Stadt eine gewisse Nötigung aus?
Akbar:
Ja. Ich glaube schon, dass die Topographie auf der einen Seite, aber
auch die angelegte Struktur der Stadt eine Rolle spielt. Interessant
ist, dass beim Städtebau, wenn es auch um Modifikation, Veränderung
geht, es sich um ganz alte Strukturen handelt. Eigentum ist eine ganz
alte Struktur, Parzellierung ist eine alte Struktur, die bis zu den
Römern zurückgeht. Die Anlage der Straßen, die Straßenverläufe, haben,
wie soll ich sagen, eine Beständigkeit, die sehr spannend ist. Damit
wird letztendlich auch die Anlage der Stadt sehr früh festgelegt. Die
Anlage hat nicht nur eine historische, sondern auch eine funktional
interessante Bedeutung, weshalb man sich auf sie einlassen muss.
Insofern rekonstruiert man: Man baut, verändert, bettet ein.
Letztendlich läuft es auf diesen Begriff des behutsamen Einbettens
hinaus. Als ich mich zur Rekonstruktion äußerte, bezweckte ich
eigentlich etwas anderes. Ich habe große Probleme, wenn erst ein
Schloss abgerissen wird, an seiner Stelle ein Palast der Republik
gebaut und dann wieder der Palast der Republik abgerissen wird und
darauf wieder ein Schloss rekonstruiert werden soll. Ich halte diese
Entwicklung für eine geradezu problematische Auseinandersetzung mit der
eigenen Geschichte.
Solbach:
Sie meinen also, man müsse etwas ganz Neues machen?
Akbar:
Entweder ganz neu oder aber: Ich hätte den Palast der Republik
gelassen, ja. Mir geht es da nicht um die Frage der Hässlichkeit einer
Architektur. Ich könnte tausend Architekturen, die gestern gebaut
worden sind, für hässlich erklären. Ich fand, der Palast hatte eine
Aussage, das ist eine deutsche Geschichte, er hat eine
unglaubliche Bedeutung und man durfte ihn nicht einfach abreißen. Das
war meine Position und ist es nach wie vor. Das gleiche gilt für das
Direktorenhaus im Meisterhaus-Ensemble in Dessau. Was ist denn da
geschehen? Da ist eine Bombe neben diese Häuser gefallen, fast am Ende
des Krieges. Soweit ich von der ersten Besitzerin weiß, hat das
Direktorenhaus Risse bekommen. Die Frage lautet: Wie dramatisch waren
die Risse? Waren sie so dramatisch, dass man abreißen musste? Oder
hätte man es reparieren können? Die Familie, die die Möglichkeit hatte,
dieses Haus zu bekommen, gehörte zu den guten Technokraten, die die DDR
in den Fünfzigern auf keinen Fall weglassen wollte und denen sie sogar
Privateigentum zugestand. Die Verwaltung wollte um diese Zeit eben
diese Häuser los werden, weil man gegen die Moderne eingestellt war.
Das Gebäude wurde abgerissen, aber der Sockelbereich blieb. Darauf
durfte diese Familie dann das neue Modell des DDR-Einfamilienhauses
bauen. Außen sieht dieses Gebäude sehr bieder aus: Satteldach. Im
Inneren gibt es eine hochinteressante moderne Teilung, weil man sich
nicht nur an den Kellerwänden orientierte, sondern Küche und
Esszimmer miteinander verflochten hat.
Das
war eine Familie, die eher die Moderne wollte. Dieses Gebäude selbst
erzählt so viel Geschichte: Geschichte der Zerstörung, Geschichte der
Verachtung, die Geschichte des Kampfes einer Familie für die Moderne
und die Geschichte eines Verwaltungsbeamten, der den Kellerbereich
zulässt. Das ist für mich hoch spannend und wer dieses Gebäude jetzt
abreißen will, reißt einen Teil unserer Erfahrung ab. Meiner Ansicht
nach ist das eine Art Verletzung - Verletzung der eigenen Geschichte,
Korrektur der eigenen Geschichte. Das gilt genauso für den Palast der
Republik. Ich bin gegen diese Art der Rekonstruktion, wo schon etwas
anderes da ist und selbst etwas erzählt. Dieses kleine hässliche Haus,
das verschwindet - wer erzählt seine Geschichte? Das ist -
zurückkommend auf Victor Hugo oder Umberto Eco - nicht mehr das
aufgeschlagene Buch oder die Schichten der Geschichte der Stadt. Das
ist für mich auch keine philosophische, historische, wissenschaftliche
oder ethische Haltung einer europäischen Tradition, wenn man so mit der
eigenen Geschichte umgeht.
Solbach:
Die Frage bleibt natürlich, ob das auch auf eine Extremsituation wie
die nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der großen Zerstörungen
zutrifft. Ist es notwendig, historische Stadtbilder zu bewahren
(eventuell über kriegsbedingte oder durch Naturkatastrophen bedingte
Zerstörungen hinweg)? Was entgeht den Menschen in Städten, die das
Signum des ›Wiederaufbaus‹ oder, wie oft geschrieben wurde, der
zweiten, konstruktiven Zerstörung tragen?
Akbar:
Bei Ihrer Frage fällt mir Bogdan Bogdanovich ein, ein
Architekturtheoretiker aus Zagreb, der ein Buch geschrieben hat mit dem
Titel Die Stadt und der
Tod. Er beschäftigt sich darin mit dem Krieg in
den Neunziger Jahren. Dort lese ich: Was sind das eigentlich für
militärische Strategen, die nichts anderes tun, als zuerst das größte
Kunstwerk der Zivilisation, nämlich die Stadt, in der sich Kunst,
Architektur, Geschichte, Politik, Zivilität usw. sammeln, zu zerstören?
Jedesmal, wenn ich diesen Text lese, denke ich: Mein Gott, wieviel
aggressive Kraft muss sich entladen haben nachdem die Sowjets
Afghanistan verließen und die Mujahedin Kabul im Griff hatten. Die,
nicht die Taliban, haben Kabul zerstört. Die Taliban haben Kabul, so
wird behauptet, sogar teilweise vor weiterer Zerstörung gerettet. Was
geht in den Köpfen dieser Banden oder der Bomberpiloten vor? Der Pilot
da oben weiß nur, ich drücke auf einen Knopf. Er stellt sich nicht vor,
dass dadurch eine Zerstörung in Gang gesetzt wird, die nicht
nur
Menschen trifft, die gerade kochen oder irgend etwas anderes machen
nicht nur ein Haus zerstört, sondern viel mehr. Was ist vor kurzem im
Gazastreifen passiert? Warum diese Zerstörungswut immer gegen das
höchste Symbol unserer zivilen Gesellschaft? Warum also immer die
Stadt? Warum wird sie zur Zielscheibe der Zerstörung gemacht?
Nehmen
wir das Beispiel Deutschland, das im zweiten Weltkrieg selbst so viel
zerstört hat: Was hat Deutschland, was hat dieser Zweite Weltkrieg, was
hat diese ganze Nazizeit den Deutschen angetan! Davon reden wir hier in
Deutschland eher selten. Wie viele Millionen Deutsche sind umgekommen?
Wie viel eigene Kultur haben wir zerstört? Dass es dann durch die
Bombardements der Alliierten geschah, ist ja die Folge einer extremen
Selbstzerstörung. Das sind die Fakten. Und heute stehen wir da und
wollen rekonstruieren im Sinne einer Identitätsfindung. Da frage ich
mich: Was rekonstruieren wir denn eigentlich? Sollen wir alles so
darstellen, als wäre nichts gewesen? Siehe das Direktorenhaus in Dessau.
Dass
die verantwortlichen Politiker und Planer nach dem Zweiten Weltkrieg
zusätzlich noch zerstört haben, scheint mir dem Motto geschuldet zu
sein: Jetzt haben wir die Chance die Stadt umzugestalten. Das ist ein
Verbrechen, das man eigentlich noch viel deutlicher diskutieren müsste.
Was geschieht eigentlich in diesen Köpfen? Warum glaubt so jemand,
warum glaubt ein Politiker immer, der halbe Gott zu sein?
Es
gab ja auch für Berlin solche Pläne. Unter Willy Brandts
Modernisierungsvorstellungen für Berlin gab es eine, danach wäre durch
die Fasanenstraße eine Autobahn angelegt worden. Das heißt, die
Fasanenstraße dort am Ku'damm mitsamt ihrer Gründerzeitarchitektur wäre
einfach verschwunden. Dieser Wahn der Planer hat letztendlich etwas
fast Militärisches, etwas sehr Arrogantes und auch Ignorantes. Ich
glaube, dann setzt die Sehnsucht ein: Welche Identität suchen wir?
Suchen wir alte Merkmale unserer Stadt? Versuchen wir die Topologie zu
rekonstruieren und behutsam wieder aufzubauen usw. Diese Sehnsucht ist
da, weil sie in den Bürgern einer Stadt existiert – als Wunsch zu
bewahren, zu erhalten, aber auch zu ergänzen. Ich glaube, sie sind die
Träger der Gesellschaft. Wie es damals in den einzelnen Städten zuging,
weiß ich nicht, aber hätte man die Frage der Rekonstruktion oder des
behutsamen Wiederaufbaus breiter diskutiert, wozu man vermutlich gar
nicht die Zeit hatte, da Wohnungen und was weiß ich alles notwendig
waren, dann wäre vermutlich vieles anders abgelaufen.
Solbach:
Es gibt auch die von den Bürgern geschaffenen Fakten wie das Beispiel
der Trümmerfrauen zeigt. Ich nehme an, die haben einfach angefangen und
dadurch die Planungen teilweise konterkariert. Man hat versucht, das
wieder herzustellen, was man einmal hatte.
Akbar:
Das ist sicher ein Aspekt. In der Ex-DDR gab es noch viel dramatischere
Geschichten. Die haben wirklich ganze Quartiere, manchmal die ganze
Altstadt auf der Basis ideologischer Vorstellungen abgerissen und ihre
Plattenbauten darauf gesetzt. Es gibt zum Beispiel einen Dom, in
Zerbst, der relativ zerstört war, er sollte gesprengt werden. Ein
russischer General/Offizier soll in einem Brief geschrieben haben, der
Dom kann aus Sicherheitsgründen nicht gesprengt werden. Teil des Doms
steht heute noch in Zerbst. Da haben wir eine individuelle
Entscheidung, auf Grund deren einmal etwas stehen gelassen wurde. Aber
es gab in anderen Teilen der Stadt massive Zerstörung. Nicht die
historische Topographie und Typologie der Stadt wurde aufgegriffen,
sondern Plattenbausiedlungen wurden gebaut. Dadurch wurde die nicht
gemochte Vergangenheit beseitigt und entsprechend der verordneten
Ideologie die andere Stadtanlage geschaffen. Naiver Weise glaube man
dadurch eine neue Identität hergestellt zu haben.
Solbach:
Urbane Selbstbehauptung ist nicht nur in kulturellen, sondern auch in
sozialen und ökonomischen Kategorien definiert. Kann in diesen
Zusammenhängen überhaupt von Identität gesprochen werden? Oder zerfällt
der urbane Raum per se in heterogene Ensembles und ›Entwicklungszonen‹?
Diese ›wandernden‹ Gebiete, die entweder schick sind oder sozial
abfallen oder was auch immer. Kann es in einer funktional
ausdifferenzierten Stadt so etwas wie ›Bürgerstolz‹ geben?
Akbar:
Ich glaube, dass wir heute die Frage des ›Bürgerstolzes‹, der zivilen
Gesellschaft neu diskutieren müssen. Zunächst, wir leben in Europa in
einer urbanen Gesellschaft. Wir leben nach Vereinbarungen, die für
alle, wo auch immer, Geltung besitzen. Dementsprechend
verhalten
wir uns: Wir begegnen uns als Fremde und verfügen dennoch gleichzeitig
über einen gemeinsamen Verhaltenscode. In einer Zeit, in der
Lebensstile eine hohe Signifikanz bekommen haben, in der sich die
traditionellen Bindungen im Sinne von sozialer Bindung aufgelöst, in
der sich Klassenstrukturen modifiziert haben, sind auch neue Formen von
Bürgersinn entstanden. Das sieht mit Sicherheit nicht in allen
Gesellschaften gleich aus. Auch in Deutschland gibt es natürlich
Differenzierungen. Berlin zum Beispiel ist vollkommen anders
zusammengesetzt als Stuttgart oder München oder Köln oder Hamburg, also
Städte, in denen die Bürgerschaft vermutlich noch viel stärker
mitbestimmt und -gestaltet. In der ehemaligen Frontstadt Berlin
kokettiert man eher mit der Diversität oder besser Differenziertheit
der kulturellen Konstellationen, die sich hier ergeben. Trotzdem
besitzen wir auch hier nach wie vor einen Code. Wir
sind Bürger einer
Gesellschaft. Aber ob wir auch Bürger einer besonderen Stadt sind, das
ist eine ungleich schwerer zu beantwortende Frage. Mitten in Berlin,
das sich als Weltmetropole versteht, existieren provinzielle
Strukturen, die wirklich zum Heulen sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel:
Prenzlauer Berg. Ein Quartier, cool, es gibt dort, glaube ich,
prozentual die meisten Familien mit Kindern und so weiter, alles sehr
schön. Ich habe vor kurzem eine Geschichte erfahren: Ein Investor
wollte auf einem Grundstück Stadtvillen bauen. Gegen diesen Investor
gab es eine Riesenaktion im Kiez mit der Begründung, er würde mit
seinen Bauten, für die Schickeria, die Mieten hochtreiben. Das ist
schon sehr provinziell gedacht. Und es geht noch viel weiter. Nehmen
wir einen Wochenmarkt. Der macht den Leuten morgens um fünf oder sechs
schon zu viel Krach. Da frage ich: Wollt ihr eigentlich in der Stadt
wohnen? In der Stadt gibt es immer Krach, ein Wochenmarkt ist doch
eigentlich ganz angenehm und Teil der Stadt. – Dieses Kiez-Verhalten
hat die Tendenz zur Segregation und zwar auf eine ideologische Weise,
die auch gefährlich sein kann. Ich kenne brutale Fälle, in denen Leute
wirklich aus dem Quartier weggejagt wurden. Die sind gegangen, weil sie
Angst hatten. Eine solche Atmosphäre ist meiner Ansicht nach für eine
Stadt unerträglich. Wir reden hier nicht von Slumgebieten in New York
oder wo auch immer.
Solbach:
Sie sprechen von funktionierenden Stadtvierteln.
Akbar:
Ich rede über funktionierende Mischstrukturen, die aber inzwischen
total ideologisiert sind. Das ist eine gefährliche Entwicklung, das ist
Provinzialität und hat für mein Empfinden nichts mit der Großstadt zu
tun. Gleichzeitig haben wir die Tendenz zu einer eigenartigen Form von
gated communities,
wenn man zum Beispiel an den Tiergarten denkt, wo
neue Quartiere entstanden sind, wo die Botschaften stehen, wo die CDU
ihre Parteizentrale hat, wo sich die Landesvertretungen befinden, wo
die Adenauerstiftung residiert usw. Dort sollen nun Wohnkomplexe für
Diplomaten entstehen, also gated
communities. Auch das macht meiner
Meinung nach eine Stadt kaputt. Gewünscht haben wir uns
Mischstrukturen, in denen der Andere, der Fremde, auch der Bettler da
sein dürfen, wo bei Regen, wenn der schicke Mann mit seinem neuen Hut
aus dem Laden herauskommt und auf einmal auf dem Trottoir ausrutscht,
der Bettler ihn anschaut und sagt: Nun liegen wir beide auf derselben
Ebene. Das sind natürlich Klischeebilder einer funktionierenden
europäischen Stadt. Diese Dinge verändern sich stark, finde ich, und
weltweit im gleichen Sinn. Das meine ich, wenn ich sage, der Ort, die
Identität in diesem Sinne, diese besondere Geographie, die besondere
Situation vieler Orte, das alles verschwindet mehr und mehr.
III
Kultur und Diversität
Solbach:
Sie haben das Thema schon angeschnitten: Massen-Migration, moderne
Kommunikationsmittel und zeit- und raumunabhängige mediale
Repräsentationen haben eine Lage geschaffen, in der die Beschreibung
urbaner Kulturlandschaften eher Vorstellungen von Diversität,
Segregation und Exklusivität von Teilräumen bevorzugt als
Konstruktionen übergreifender Identitäten. Aber müssen solche
Beschreibungen nicht, wenn man die Sache etwas grundsätzlicher angeht,
notwendig defizitär bleiben? Setzt nicht gerade Diversität lokale,
regionale und nationale Primärverhältnisse voraus? Kann man in Berlin
oder Kabul wirklich vergessen, an welchem Ort auf der Erde man sich
befindet? Sollte man es?
Akbar:
Möglicherweise bewegen wir uns in eine Richtung, in der die lokalen
Identitäten verdrängt werden, um eine globale Gleichwertigkeit der
Standorte zu erreichen. Momentan sieht es danach aus. Ich glaube aber,
dass im Laufe der Zeit Begriffe wieder an Bedeutung gewinnen werden,
die wir in den siebziger und mehr noch in den achtziger Jahren benutzt
haben: genius loci
zum Beispiel. Diese Begriffe, deren Bedeutung weit
über das Geographische hinausgeht, werden wieder kommen. Das ist so
eine Hypothese von mir. Der Grund liegt darin, dass Differenz auch
verbinden kann und wir uns über sie viel besser erklären können.
Differenz ist hier nicht negativ gemeint, sondern im Sinne anderer
Traditionen, anderer Vorstellungen von den Dingen usw. Wichtiger als
sie zum Verschwinden zu bringen wäre, sie zu verstehen und sich mit
ihnen auseinander zu setzen. Das wird mit Sicherheit kommen. An manchen
Orten wird das schwerer fallen als anderswo. Ich glaube schon, dass
Berlin es als Stadt schwer haben wird, mit dieser Thematik gut
umzugehen, weil es einfach zu sehr zerstört worden ist, weil es
Erfahrungen gemacht hat, die Paris eben nicht gemacht hat, die auch
Köln nicht gemacht hat, die Stuttgart nicht gemacht hat oder Hamburg
usw. Auch Kabul zum Beispiel wird ein Problem haben, Kairo vermutlich
nicht. Kabul deswegen, weil die alten Kabuler, nennen wir sie einmal
so, die diese Stadt geprägt haben, alle weg sind. Es sind ganz neue
Menschen nach Kabul gekommen, nicht nur aus den Dörfern. In Kabul,
vielleicht auch an anderen Orten in Afghanistan, passiert Folgendes:
Nach 2001/02 sind viele zurückgekehrt, darunter Leute, die nicht in
Afghanistan zur Welt gekommen sind, aber sich immer als Afghanen
verstanden haben – zum Beispiel aus Dubai, Saudi-Arabien, dem Iran, der
Türkei oder aus Pakistan. Sie kommen als Afghanen wieder, aber sie
bringen ganz neue Traditionen mit, die den ehemaligen Kabulern
vollkommen fremd sind. Das beginnt bei banalen Dingen, zum Beispiel der
Frage: Wie wird ein Tier geschlachtet? Es geht um Schmutz, um
tausenderlei Dinge. Deswegen wird Kabul lange brauchen, um sich als
Stadt mit einer gewissen Identität wieder zu finden. Vermutlich wird
sie viel differenzierter sein. Viele denken natürlich (und die
Radikal-Urbanisten glauben sowieso, dass die Welt nur in diese Richtung
geht), dass wir ganz neue Formen von Städten haben werden mit tausend
unterschiedlichen Identitäten und irgendein Kodex verbindet uns alle
irgendwie. Ich vermute, an manchen Orten wird es so sein, an anderen
nicht. Ich glaube nicht, dass Shanghai in diese Richtung gehen wird.
Shanghai hat eine andere Tradition, hat eine andere Stabilität als
Tokio, als Peking, vermutlich sogar als Bombay, trotz seiner
Vielvölkerschaft, die aber Tradition besitzt. Deswegen glaube ich eher
an den Erfolg dieser Sehnsucht, andere Stabilitäten im Sinne von
lokalen Identitäten und Werten zu schaffen – das kann beim Kochen
beginnen, das Kulinarische wird sich vermutlich auch ein bisschen zu
anderen Traditionen hin modifizieren. Die Bedeutung des Ortes wird
wieder eine stärkere Rolle spielen.
Solbach:
Die Alternative, die Sie beschreiben, wirkt auch nicht sonderlich
menschenfreundlich.
Akbar:
Es wird eine ungemeine Langeweile entstehen. Sie brauchen nur nach
Istanbul zu fahren und sich den Betrieb auf die Istiklal Straße
anzusehen, da können Sie auch gleich auf den Potsdamer Platz gehen. In
Barcelona gibt es ähnliche Straßen, da haben Sie alles, die großen
Ketten, die Architektur ›riecht‹ schon ähnlich, das Angebot auch, alles
und jeder kaut. Ich finde das hoch interessant. An diesen Orten sind
Dinge zusammen gekommen, die einander vollkommen fremd waren. Zum
Beispiel auf der Straße gehen und kauen. Das ist ein neues Phänomen der
letzten dreißig Jahre. Nicht in allen Kulturen gab es so etwas. Es gab
die Regel, beim Essen nicht zu gehen, es gab Essrituale. Ich hoffe,
dass sich da etwas ändert.
Solbach:
Wovon sprechen wir, wenn wir von ›bedeutenden‹ Metropolen sprechen?
Geht es hier nur um Wirtschaftskraft und Masse? In welcher Weise ist
die symbolische Qualität einer Stadt wie New York für ihre Bewohner
erfahrbar? Was macht bestimmte Städte und Regionen zu Migrationsmagneten? Was erwarten sich die
Menschen von ihnen? Worauf gründet sich die Wahrnehmung
der Identität eines Ortes? Das, was Sie genius loci genannt
haben, wie
erfährt man das in New York und erfährt man das als New Yorker oder nur
als Tourist?
Akbar:
Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich mich nur dann als Berliner
bezeichne, wenn ich nicht in Berlin bin. Ich glaube, man bezeichnet
sich oft als etwas, wenn man, wie gesagt, nicht vor Ort ist. Zur Zeit
lese ich einen Roman mit dem Titel Lazarus
von Alexander Hemon, einem
Bosnier, der schreibt: »Zuhause ist dort, wo jemand merkt, dass du
nicht mehr da bist.« Ich finde diesen Satz unheimlich schön. Er
beantwortet die Frage nach der Identität und Symbolik einer Stadt.
Sätze vom Typus »Ich bin ein New Yorker« entstehen dann, wenn man
diesen Ort verlässt. Man ist eher draußen und reklamiert etwas für
sich, weil man damit etwas klärt im Sinn von: »Ich gehöre nicht zu
euch. Mein Auto hat dieses Kennzeichen. Meine Wohnung ist dort, meine
Freunde sind dort.« Ich lebe seit 1968 in Berlin und werde Berlin nie
verlassen, das habe ich mir irgendwann geschworen. Auch wenn ich immer
wieder weg gehe, komme ich doch zurück. Es gibt Quartiere, es gibt
Orte, von denen ich weiß, man kennt mich und ich bekomme sofort meinen
Espresso oder meinen Bordeaux. Alle wissen Bescheid, dort wo ich
verkehre. Und man selbst kennt seine Stadt. Aber dass ich stolz darauf
wäre, ein Berliner zu sein... das beschäftigt mich im Alltag viel
weniger. Trotzdem weiß ich, dass ich stärker auf die eigene Stadt
hinschaue und sie manchmal auch verfluche, wenn ich andernorts bin. Ich
wünsche mir, dass meine Stadt sich selbstbewusster darstellt und sich
nicht von einem billigen Slogan zum anderen durchwurstelt. Natürlich
gibt es Klischees, international und auch national. Wenn jemand sagt:
»Ich bin aus Berlin«, dann hat das einen besonderen Klang und
konnotiert einiges. Das gilt wohl für alle Städte, die besondere
Bedeutung haben wie etwa New York, Paris, Rom, London usw. Wenn einer
sagt: »Ich bin aus New York«, dann fragt keiner, aus welchem Teil von
New York er kommt. Es scheint per se großartig zu sein in dieser Stadt
zu wohnen. Die Umstände scheinen in den Hintergrund zu treten.
Solbach:
In einem Zimmer für 900 Dollar im Monat in Manhattan.
Akbar:
Ja, ich bin in der Stadt der Städte, aber ich erlebe gar nichts davon.
Das sind die Klischees, das kommt an in irgendeiner Weise und ist
zugleich meiner Ansicht nach auch traurig. Aber das geht ja heute viel
weiter. Es gibt so viele junge Kollegen um 40/45, alle haben bei Rem
Koolhaas gearbeitet. Inzwischen würde ich gerne nachfragen: »Was haben
sie da gemacht? Die Zahl derer, die bei Herrn Rem Koolhaas gearbeitet
haben, geht inzwischen in die Tausende. Haben Sie da kopiert oder haben
Sie etwas anderes getan? Was haben Sie denn wirklich dort gemacht?
Erzählen sie mal davon. »Ich war bei Zaha Hadid.« Gut, und was heißt
das? Und genauso ist es auch, wenn es um diese Städte geht. Ich lebe in
London. Wie lebt man in London? Was will ich damit sagen? Worauf
bezieht man sich? Die Städte besitzen inzwischen international eine
symbolische Signifikanz, man identifiziert sich mit ihnen wie mit einer
Marke. Was trage ich? Armani oder Joop? Und das zeige ich auch. Ich
weiß nicht, ob es neu ist, aber es hat eine neue Kraft bekommen. Die
Städte sind nicht nur durch die Marken überfüllt, sondern suchen sich
auch die Marke Architektur. Das ist meiner Ansicht nach eine neue, eine
sehr inflationäre Geschichte. Es birgt auch eine Ebene der
Infantilität, genauso wie Lifestyle oder dieser coole Typus von
Businessman, der zur Zeit ein bisschen schweigt, weil die Geschäfte
nicht mehr so richtig laufen.
Solbach:
Das finde ich gar nicht so schlimm.
Akbar:
Ich finde das überhaupt nicht schlimm.
Solbach:
Ich habe zum Beispiel nichts gegen BMW oder ähnliche Marken. Aber ich
finde Leute lächerlich, die in einem BMW sitzen und genau die Gefühle
produzieren, die man der Werbung zufolge in einem BMW haben muss. Davon
muss es nicht unbedingt mehr geben.
Akbar:
Ja, absolut nicht. Weil Sie gerade BMW erwähnen: man braucht sich nur
Aldi- und andere Supermarktparkplätze anzuschauen, da stehen wirklich
dicke Brummer ohne Ende. Ich weiß nicht, wie man Leute bezeichnen soll,
die nur für das Auto leben, das sie natürlich auf Kredit gekauft haben.
Der muss an anderer Stelle wieder eingespart werden. Das Essen bekommt
dann einen anderen Stellenwert, stattdessen hat man so einen Apparat
und meint, damit einen Lebensstil oder was weiß ich erleben zu können,
wie es die Reklame suggeriert.
Solbach:
Die westliche Kultur beansprucht für sich, für universelle Werte zu
stehen. Man kann diesen Anspruch gutheißen oder verwerfen. Das Paradoxe
daran ist, dass universelle Werte nicht verhandelbar sind, dass sie aber nur in
Verhandlungen durchzusetzen sind, wenn man die gewaltsame Unterwerfung der anderen als
Alternative ausschließt. Wie verhält sich diese Asymmetrie
zur Anerkennung der Diversität der Kulturen? Gründet Diversität nicht
in wesentlichen Teilen auf Nicht-Anerkennung? Ist damit nicht auch
Universalität Diversität?
Akbar:
Zunächst zum Begriff ›Kultur‹. Ich frage mich immer, was man damit
meint. Im Briefwechsel zwischen Marx und Engels richtet Engels an Marx
die Frage, was Marx davon halte, wenn in der Kultur und Tradition der
Inder ein Kind oder eine Frau einmal im Jahr oder wann auch immer
geopfert werde, damit das Wasser im Ganges oder um welchen Fluss es
sich auch immer handelt, fließt. Die Antwort von Marx ist ganz
deutlich: Es geht um die Zivilisationsfrage, nicht um die Kulturfrage.
Heute, in dieser sehr entwickelten Gesellschaft, der Weltgesellschaft,
heißt das: Wer Flugzeuge benutzt, wer die vorhandenen technischen
Equipments in Anspruch nimmt, der hat, bitte schön, sich auch auf
andere Dinge einzulassen. Das sind meiner Ansicht nach die
zivilisatorischen Fragestellungen. Nehmen wir das Thema Beschneidung
der Frau: das ist absolut zu verachten und abzulehnen. Da mögen die
Traditionen, die großen kulturellen Errungenschaften dieser
Länder sein, wie sie wollen, aber das ist eine Verletzung von
Menschenrechten. Und das bezieht sich auf alle Frauen, auf jeden
einzelnen Fall. Das geht für mich soweit, dass ich sage, wenn jemand in
Berlin auf der Basis der eigenen religösen oder kulturellen Traditionen
seine Kinder, vor allem Mädchen, vom Sexualunterricht, vom Sport, von
Ausflügen usw. fernhalten möchte, dann ist das hier nicht zu haben.
Weder hier noch in Kabul. Insofern denke ich schon, dass wir über die
Zivilisationsfrage diskutieren müssen. Es gibt Werte, die entwickelt
worden sind, die existieren und die zu beachten sind. Wenn manche
Kulturen sich darauf nicht einlassen und meinen, die Unterdrückung der
Frau sei Teil ihrer kulturellen Praxis, dann ist das für mich eine
absolut klare Sache: Menschenrechtsverletzung. Es ist ja alles viel
schlimmer, viel brutaler, es geht bis hin zu der Blödheit,
Entschuldigung, da werde ich richtig wütend, der Blödheit, dass es
wirklich nationale oder regionale Gesetze gibt, nach denen man die
eigene Frau schlagen darf. Nehmen Sie den Richterspruch, den Herr
Karsai vor kurzem offiziell unterschrieben hat, dass die schiitischen
Frauen alle vier Tage einmal mit ihrem Mann schlafen müssen und die
Männer mit ihnen alle vier Monate. Das ist schon absurd. Insofern
glaube ich, dass die zivilisatorischen Aspekte viel deutlicher
diskutiert und angewendet werden müssen. Ursprünglich war das auch die
Wertvorstellung der UNESCO. Inzwischen halte ich die UN für vollkommen
fragwürdig – wenn Diktaturen mit am Tisch sitzen und alle versuchen,
den Minimal-Konsens zu finden. Aber den Versuch, eine solche
Verständigung nicht auf der Basis eines imperialen, eines kolonialen
Aktes durchzuführen, sondern diskursiv anzugehen, finde ich sehr
wichtig. Da hätten wir auch eine gute Möglichkeit, über Differenzen zu
reden. Aber die Basis dafür können nur die Menschenrechte sein, die
schon in der Französischen Revolution formuliert wurden.
Solbach:
Wer immer sich mit Gegenwart und Zukunft unseres Planeten beschäftigt,
muss sich mit Massenelend und möglichen Strategien zu seiner Behebung
oder zumindest Kontrolle befassen. Wir wissen von aufgegebenen
Stadtvierteln, Regionen und Staatswesen, in denen eigentümliche
Gewaltverhältnisse herrschen, das heißt eine Art von chaotischer
Ordnung existiert. Menschen leben unter sogenannten menschenunwürdigen
Verhältnissen. Sind diese Menschen durch Planung (durch homöopathische
Entwicklung oder ›behutsame Behandlung‹ wie sie es zuvor genannt haben)
erreichbar? Oder schließen sich Chaos und Planung aus?
Akbar:
Zunächst einmal glaube ich, dass überall, wo Menschen leben, auch immer
eine Art Organisationswille vorhanden ist. Man plant immer. Der Arme,
der morgens aufsteht, hat ganz klare Strategien, wo oder wann er am
besten betteln kann oder eine Arbeit findet. So gesehen gibt es Planung
seit Tausenden von Jahren. Man hat die Stadt immer organisiert. Aber
wenn wir erfahren, dass gegenwärtig etwa 900 Millionen Menschen oder
mehr in Slums leben, dass Städte, wie zum Beispiel Lagos, teilweise
aufgegeben worden sind, bekommt das eine andere Dimension. Denken Sie
an die coole neue Mittelschicht aus Technokraten, die Bombay verlässt
und außerhalb der Stadt ihre eigenen Siedlungen für 20 000 Menschen
errichten, Plattenhochhäuser mit Krankenhaus, private Schulen,
Kindergärten, Parkanlagen etc. Das sind Steuerflüchtlinge, die die
Stadt ausgesaugt haben und weggegangen sind. Und in unmittelbarer Nähe
haben sie ihren Luxus aufgebaut. Korruption, Ausbeutung, Steuerflucht,
Spekulation, Drogen, Kriminalität usw., das ist brutalste
Verantwortungslosigkeit gegenüber den Städten in der dritten Welt. Wenn
man sich ›The City of God‹ ansieht, ein Film über Rio de Janeiros
Favelas. In diesem Film wird leider nicht gezeigt, dass die
eigentlichen Kriminellen an der Copacabana zu finden sind. Da sitzen
die Bosse. Jetzt zur Frage: »Bekommt man diese Orte in den Griff?« Ich
komme da auf Rem Koolhaas zurück, der im Zusammenhang mit Lagos von
einer neuen Urbanität redet, der mit seinen Studenten in einem
Helikopter über Lagos fliegt und anschließend erzählt, Stau bedeute
eine neue Ökonomie, wegen der Wasserverkäufer, die den Leuten, die zwei
Stunden im Auto sitzen, Erleichterung bringen. Diese von manchen
gelegentlich geteilte und fast schon als cool geltende
Behauptung, ein Stück Slum mache erst die Stadt aus, ist extrem
zynisch. Wenn es von Lagos heißt, es sei eine 24-Stunden-Stadt, in der
alles vorhanden sei, Subversivität, Kriminalität, Armut usw., aber
gerade darin komme eine ganz neue Urbanität zum Ausdruck, dann verwirft
man damit alles, was wir einmal gedacht haben: dass eine Stadt
funktionieren muss, dass Sie den Menschen die Möglichkeit zur
Entfaltung geben, dass sie ein Ort der Emanzipation sein soll. Man
verwirft die urbane Lebensweise. Da beginnt für mich Verantwortung.
Alle Geberländer sollten diese Orte verlassen. Die Länder und die
Verwaltungen dort sollen sich endlich um ihre eigenen Städte kümmern.
Geld haben sie. Es ist nie eine Frage des Geldes. Es gibt die These,
man könne die Armut innerhalb von etwa zehn bis fünfzehn Jahren
besiegen. Aber wer will das? Die Armen vor Ort haben keine Lobby.
Denken Sie an die arabische Welt, denken Sie an die Petrodollars. Hat
sich dort irgendjemand dieser Frage gestellt? Siebzig Prozent
Analphabeten – Armut, wohin man sieht. Ich frage mich die ganze Zeit:
Warum sind in den Golfstaaten Luxushochhäuser so wichtig? Was
passiert da?
Mein
Gefühl sagt mir, dass der Wille zur Bekämpfung der Armut fehlt. Die
Ressourcen sind da, kluge Leute sind da, ich bin der festen
Überzeugung, dass man das Chaos bestehen lässt, so wie man Konflikte
zulässt. Man ignoriert das Elend vollkommen, nicht, weil man sich daran
gewöhnt hat, sondern weil es nie ein Thema gewesen ist. Wenn es
ernsthaft gewollt wird, dann kann man die Armut bekämpfen.
IV
Zwischen den Kulturen
Solbach:
Denken Sie an Afghanistan in der Nacht? Was denken Sie, wenn Sie an Afghanistan denken?
Akbar:
Die Wahrheit ist, dass ich nicht ernsthaft an Afghanistan denke. Meine
zwei Brüder und ich sind als kleine Kinder nach Deutschland gekommen.
Ich war zwölf. Unsere leibliche Mutter ist sehr früh gestorben. Nach
ihrem Tod zog mein Vater nach Stuttgart, um zu promovieren. Unsere
zweite Mutter, die leider vor ein paar Jahren gestorben ist, war eine
Schwäbin. Sie hat uns sehr stark geprägt. Mein Vater ist bald wieder
gegangen. Fast könnte man sagen, er hat uns an sie übergeben. Er hat,
glaube ich, seinen eigenen Weg gefunden und wir hatten uns zu dritt
hier mit unserer Mutter und sehr stark auch mit der deutschen
Gesellschaft auseinanderzusetzen. Allerdings kamen wir aus einer sehr
modern eingestellten Familie. Mein Großvater war ein radikaler
Modernist, desgleichen unsere Onkel usw. Natürlich frage ich mich
manchmal, warum ich emotional so weit von Afghanistan weg bin. Nach
2002 gab es schon zwei- oder dreimal die Überlegung, ob ich nicht mal
hingehen und mir alles anschauen könnte. Ich habe es dann gelassen.
Ich
habe zwei, drei Sitzungen mit Afghanen erlebt und mir gesagt, ich
könnte das nicht ertragen. Ich habe in Ägypten gearbeitet, ich kann ein
bisschen Ägyptisch-Arabisch. Ich verstehe die ägyptische-arabische
Sprache nicht ganz. Die Kabuler würde ich verstehen – Dari ist eine
Variante der persischen Sprache –, aber ich könnte es nicht ertragen.
Ich kann ihre Logik nicht ertragen. Ich kann diese permanente
Projektion, diese permanente Schuldübertragung auf den Westen nicht
mehr ertragen, in Kairo, in Ländern, die ich immer wieder besuche, und,
wie gesagt, in Afghanistan, das ich nicht besuche. An allem, was man
tut, ist der Westen schuld. Ich habe einmal einen iranischen
Philosophen gefragt: Angenommen, Amerika wäre nicht da, in welche
Richtung würde die Projektion der islamischen Welt dann eigentlich
gehen? Wen würde man dann verfluchen? Auf wen würde man die Schuld
übertragen wollen oder was auch immer? Eigentlich will man damit doch
nie erwachsen werden. Ich beobachte diesen Mechanismus sehr oft und es
ist der Grund, aus dem ich ein indifferentes Verhältnis zu diesen
Ländern habe. Wenn ich dann von Bombardierungen lese und sehe, was mit
einem Kind passiert ist, dann ist das natürlich anders. Aber ich muss
gestehen, ich bin genauso tief traurig, wenn das in Israel passiert,
oder wo auch immer.
Solbach:
Es ist schon eigenartig, was Sie beschreiben: Wenn der Westen an allem
schuld sein soll, dann erkennt man damit doch die Suprematie des
Westens an.
Akbar:
Ja unausgesprochen schon. Mal wird ganz offen die eigene Gesellschaft
kritisiert z.B. wie grauenhaft alles in Afghanistan abläuft, wie
korrupt alles ist usw. Aber sobald es um ganz banale Sachen geht, heißt
es: Der Westen hat es getan, der Krieg war vom Westen organisiert, die
Taliban, sind ein Produkt des Westens. Hinter allem steht der Westen.
Auch, wenn es um die Frage der Islamisten geht, verdrängt man
historische Fakten und Ereignisse. Schon seit den zwanziger Jahren des
letzten Jahrhunderts sind die Moslembrüder aktiv und haben eine lange
Strategie. Das ist das eine. In Afrika vollzieht sich die Islamisierung
in einer Weise, die nehmen wir gar nicht so richtig wahr. In Sarajewo,
in Bosnien gibt es mehr Moscheen als Moslems, finanziert durch
Wahabiten. Hier in Europa werden wir in einigen Jahren mehr
Muslime haben als Christen. Der Islam ist ja missionarisch. Und
gleichzeitig gibt es eine brutale Aggression, es gibt den Terrorismus,
kommend aus der islamischen Welt. Das sind doch wichtige Fragen und
Probleme, die vor allem durch die Moslems offen diskutiert werden
müssten.
Ein Diplomat
aus einem arabischen Land sagte, die Selbstzerstörung hat eine
Geschwindigkeit, dass für Klärung und Erläuterung kaum Zeit bleibt.
Nach dem Attentat in Bombay 2007 gibt es wieder ein Rückfall zur
Islamdebatte, denn so meinte er: »Wissen Sie, ich kann Ihnen folgendes
sagen: Einen Stein in einen Fluss werfen – das kann eine Person. Aber
um denselben Stein wieder aus dem Fluss herauszuholen, braucht man viele.«
Leider nehmen die reaktionären Kräfte überall zu.
Ich
war 1998 in Kairo und dann wieder 2006. Ich habe Kairo
punktuell
nicht wieder erkannt. Der Islamisierungsprozess läuft massiv ab, nicht
im Rahmen eines aufgeklärten Diskurses, in dem bestimmte Fragen neu
gestellt werden. Es handelt sich um eine reaktionäre Bewegung, die
meiner Ansicht nach noch mehr Unterentwicklung erzeugt.
Solbach:
Im Grunde haben Sie die Frage nach den Aussichten des Landes, in dem
Sie Ihre Kindheit verbrachten, auf Verwirklichung eines – nach
westlichen Maßstäben – modernen Gemeinwesens fast schon beantwortet.
Akbar:
Ja. Ich weiß überhaupt nicht, was der Westen da will. Die ganze Region
ist ein Problem. Pakistan ist eindeutig ein Riesenproblem und ich
bezweifle, dass man Pakistan in den Griff bekommt. Viel stärker glaube
ich an eine andere Sache. Das ist fast wie ein Wunsch und Traum: Iran.
Iraner sind sehr sehr radikal und stark. Würde es im Iran kippen, würde
im Iran eine Art Demokratie entstehen, dann veränderte sich vieles in
der gesamten Region. Davon bin ich überzeugt. Erst einmal würden die
ganzen Terrornetzwerke, die von dort teilweise finanziert werden, mit
Sicherheit verschwinden. Im Lande gäbe es eine Modernisierung und die
im Ausland lebenden Iraner, die so potent sind im Bereich der
Technologie wie fast in allem, in der Kunst, im Film und so weiter,
würden zurückkehren oder mithelfen. Es gibt auch sehr viele Gebildete
im Iran selbst. Ja, ich glaube, dass ein Wandel im Iran die Region sehr
verändern würde. Das wäre meine große Hoffnung. Ähnliches gilt für
Pakistan, mit dem man eher konsequenter umgehen müsste. Es ist ein ganz
gefährliches Land, man braucht nur zu denken, dass die
Fundamentalisten einmal an die Atombombe herankommen könnten. Würden
sich da die Dinge verändern, dann könnte ich mir vorstellen, dass sich
auch Afghanistan wieder beruhigt oder die Verhältnisse sich, etwas
langsamer zwar, aber in irgendeiner Weise positiv bewegen. Zur Zeit
halte ich es für sehr problematisch. Ich halte es auch für sehr
problematisch, wie jetzt die Wahlen vorbereitet werden. Ob sie wirklich
demokratisch ablaufen, das bezweifle ich.* Entweder verändert sich die
Lage in den nächsten Jahren in eine stabile Richtung oder man sollte,
falls nicht, aufpassen und wirklich alles daran setzen, sich
militärisch zurückzuziehen, um nicht in einen Schlamassel zu geraten.
Solbach:
Wie behauptet man sich als Individuum zwischen zwei Kulturen? Gibt es
eine solche Lage überhaupt oder ist die Frage von vornherein durch
Identitäten entschieden?
Akbar:
Ich glaube, die Frage ist möglicherweise durch Identitäten entschieden.
Ich bin hier aufgewachsen und hatte eine gute Zeit. Unsere Mutter in
Fellbach war die Tochter eines Lehrers und halb Fellbach hatte Respekt
vor ihrem Vater, viele haben sie sehr geschätzt und zwar auch deswegen,
weil sie eine sehr weltoffene Frau war. Sie war, eine von den Frauen,
die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ganz Südamerika kennengelernt
hatte. Wir sind sehr schnell in Kreise hinein gekommen, ein bisschen
High Society der Fellbacher. Und sind auch dementsprechend aufgenommen
worden. Eine Situation werde ich nie vergessen: Ich bin einmal an einem
Laden vorbeigekommen, habe mein Spiegelbild im Schaufenster gesehen und
dachte: O Gott, du siehst anders aus. Ich habe nicht mehr gefühlt, dass
ich ein Fremder bin, obwohl wir relativ schlecht Deutsch sprachen.
Sicherlich war es nicht einfach mit so viel Neuem klar zu kommen: ein
neues Land, eine neue Mutter, eine neue Sprache. Damit klarzukommen war
kein so einfaches Unterfangen. Aber die Mutter, die auch protestantisch
hart war, begleitete uns durch die unterschiedlichen Hürden und
Hindernisse. Wir identifizierten uns dann viel stärker mit dieser
Gesellschaft, die Heimat werden soll oder nicht, das bleibt immer noch
ein bisschen unklar. Zugleich muss ich sagen, dass wir Ressentiments
kaum erfuhren. Meine Erfahrung ist sowieso, dass Rassismus in
Deutschland nicht einmal in der subtilsten Form, es gibt den
knallharten, das ist etwas anderes...
Solbach:
Den es überall gibt?
Akbar:
Das wollte ich nicht sagen. Im Gegenteil: andernorts gibt es viel mehr.
Das wollte ich sagen. Hier viel weniger. Zugleich glaube ich, dass
Minoritäten/Migranten in der Regel empfindlich sind und jegliches als
Ressentiment deuten. Das kann zum Selbstläufer werden.
Und
wenn ich etwas Persönliches sagen darf, man kann auch sagen: o.k., du
bist etwas fremd, du kennst dich aber relativ gut aus – das kann eine
Chance sein. Und diese Möglichkeit benutze bitte für deine eigene
Karriere, für deine eigene Entwicklung. Es also positiv drehen.
Insofern, zurück zur Frage der Identität: Es gibt ganz klar Elemente
bei mir, die aus einer anderen Kultur kommen. Die schätze ich auch. Zum
Beispiel: gastfreundlicher zu sein. Ein ehemaliger Ministerpräsident
aus Schleswig-Holstein, ein SPD-Mann, hat seinerzeit geschrieben: Es
ist einfach unerträglich, wenn man nach Jugoslawien als Tourist geht
und am Nebentisch deutsche Linke sich streiten und sagen, gib nicht so
viel Trinkgeld, du verdirbst die Preise. Ich musste so lachen, als ich
den Artikel las. Ein ähnliches Beispiel: Ein Türke und ein Deutscher
sitzen in Kreuzberg in einem Restaurant am selben Tisch und der
Deutsche fragt, ob er eine Zigarette haben könnte. Der Türke gibt ihm
die Zigarette. Worauf ihm der andere zehn Pfennig gibt. Irgendwie merke
ich, dass das Verhältnis zum Geld, der Umgang mit bestimmten Sachen,
der Wunsch, eine Atmosphäre zu kreieren, anders sind. Als ich
in
der Stiftung Bauhaus Dessau arbeitete, war es für mich wichtig,
gemeinsam mit den Mitarbeitern eine Atmosphäre der Gastlichkeit zu
schaffen. Das sind Elemente, die meiner Ansicht nach bei mir aus einer
anderen Tradition kommen. Gleichzeitig habe ich sehr viel aus der
deutschen Tradition. Es gab einmal in Assuan eine schöne Situation mit
dem Gouverneur. Wir saßen da, seine Department-Chefs und vorne er, und
er hat mich so angeschaut und gesagt: Lieber Dr. Omar, ein Problem gibt
es bei Ihnen. Das eine Mal taucht die afghanische Seele auf und wenn
sie ausflippen, verdammt noch mal, dann sitzt fast ein potentieller
Taliban da, und anschließend kippt es und ihre deutsche Seele wird
sichtbar. Da werden sie so etwas von rational, das wir keinen Schritt
mehr weiter kommen. Mit beiden Seiten von Ihnen haben wir ein Problem.
Und trotzdem lieben wir sie. - Das war so nett, wie er das gesagt hat.
Es stimmt, manchmal gibt es bei mir exklusive Explosionen, dann denke
ich, O Gott, die kommt aus einer anderen Mentalität. Wir reden ja auch
viel mehr mit der Hand.
Solbach:
Aber Sie haben kein Problem damit?
Akbar:
Überhaupt nicht. Keiner hat ein Problem, das ist das Interessante an
der Gesellschaft, in der ich lebe. Ich habe noch nie, das ist wirklich
wahr, so etwas hier empfunden. Dass ich zum Beispiel in Sachsen-Anhalt
mit meinem Namen Bauhaus-Direktor wurde, das habe ich gleich bei der
ersten Begrüßung auch öffentlich ausgesprochen, das ist eine Art der
Integration in dieser Gesellschaft, so etwas spürt man. Aber es hat
vielleicht auch etwas mit meinen Kindheitserinnerungen zu tun. Ich
würde so weit gehen zu sagen, das hat auch mit Kabul zu tun, mit dem
Großvater und seinem Garten und seiner Villa, mit den Fremden, die dort
ein- und ausgingen, darunter viele Deutsche und Österreicher, weil man
deutsch orientiert war. Es hat damit zu tun, wie respektvoll man die
andere, die europäische Kultur aufgenommen hat, sie positiv zitiert und
zu ihr stand. Das hat sich geändert. Europa wurde geliebt. Man war
offen, aber man liebte auch die eigenen Traditionen. Das war eine
andere Form des Annehmens zweier, dreier Identitäten. Heute herrscht
überall eine Art antiimperialistischer Haltung. Von einem großen
afrikanischen Staatsmann, ich weiß nicht, wer es war, stammt die
Bemerkung: Entschuldigt, liebe Leute, meine Generation hat immer wieder
gesagt, wie schrecklich diese Kolonialisten waren. Aber ihr, die
Generation unserer Kinder, warum sagt ihr dasselbe?
Solbach:
Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.