Herbert
Ammon
Geopolitik – Zur Wiederkehr
eines verloren geglaubten Begriffs im 21. Jahrhundert
Mein Vater hat das Siegel aufgebrochen.
Den Hauch des Bösen hat er nicht gesehen.
Den Dämon ließ er in die Welt entwehn.
Albrecht Haushofer
Aus
universalgeschichtlicher Sicht hat Geopolitik – die Dialektik von
Macht, Raum und Zeit – eine bis in die Zeit der alten Hochkulturen
zurückreichende Vorgeschichte. Die Schwäche des Begriffs liegt in
seinem Determinismus, sein heuristischer Wert in der Wahrnehmung der
geographischen und geographisch-historischen Bedingungen politischen
Handelns. Er wird sinnfällig in dem Diktum des finnischen Diplomaten
und Staatspräsidenten Juho Kusti Paasikivi (1946-1956) im Hinblick auf
die prekäre Lage Finnlands im Schatten des (sowjet-)russischen
Imperiums: »Man kann nicht gegen die Geographie seines Landes Politik
machen.«
Unbeschadet der ideologischen Formel ›Eurozentrismus‹ und allfälliger
›Nationalismus‹ -Attacken soll die Thematik im Blick auf die Zukunft
Europas aus europäischer und spezifisch mitteleuropäisch-deutscher Sicht diskutiert werden. Ist vom Begriff ›Geopolitik‹ her die
Einnahme einer Perspektive geboten, so ergibt sich der Blickwinkel aus
dem Ort unserer historischen Existenz. Den thematischen Zugang öffnet
ein Zitat des
amerikanische Historikers David P. Calleo, der anno 1980 in kritischer
Zuspitzung gegen die vorherrschende, die deutsche Teilung
befestigende These vom ›deutschen Sonderweg‹
schrieb:
»Sogar die Nazi-Episode kann man weniger als Folge eines angeborenen
Fehlers der deutschen Kultur interpretieren oder als ein gewissermaßen
eigengesetzlich zum Ausbruch kommendes nationales Geschwür, das sich
nach einem eigenen inneren Rhythmus entwickelt, sondern als Folge des
intensiven Drucks, der von außen auf Deutschland lastete. Geographie
und Geschichte hatten sich verschworen, Deutschland zu einem
späten, raschen, anfechtbaren und umkämpften Aufstieg zu verhelfen. Die
übrige Welt reagierte darauf, indem sie den Emporkömmling zermalmte.
Wenn im Verlauf dieses Prozesses dem deutschen Staat die guten Manieren
abhanden kamen und er von einem bösen Dämon besessen wurde, lautet die
richtige Schlussfolgerung nicht so sehr, dass die Kultur in Deutschland
auf extrem schwachen Füßen stand, sondern dass sie überall zerbrechlich
ist.« (Calleo, S. 23).
Im Unterschied zur US-amerikanischen Vertragsgesellschaft, geprägt von
zukunftsorientiertem, ›geschichtslosem‹ Bewusstsein, von
universalistisch-ethischen Impulsen und kapitalistischer
Zweckrationalität, repräsentiert die Kultur des ›alten‹ Europa, der
westlichen Halbinsel des Kontinents Eurasien, den Begriff okzidentaler
Rationalität in seinen historisch bedingten Widersprüchen. In den
historisch geprägten Gesellschaften Europas entfaltete sich der
kulturell prägende bürgerliche Freiheitsbegriff, verwurzelt im
Personenbegriff des Christentums und vermittelt durch Humanismus,
Reformation und Aufklärung, seit dem 18. Jahrhundert in sichtbarem
Widerspruch von christlich-religiöser Tradition und Aufklärung. Der
Aufklärungsprozess mündete – anders als in dem naturrechtlich
gestützten »Wertesystem« (Talcott S. Parsons) der Weltmacht USA – in
einen umfassenden Transzendenzverlust (›Tod Gottes‹), welcher in
Deutschland – sub specie Auschwitz – das zeitgenössische Bewusstsein
eines moralisierenden Nihilismus konstituiert. Zusehends fungiert das
Holocaust-Gedenken als zivilreligiöser Überbau im ›zusammenwachsenden‹
EU-Europa.
Für die nicht zufällig mit dem epochalen Mauerfall neu einsetzende
Debatte um ›Geopolitik‹ sind die genannten kulturellen oder
kulturpsychologischen Momente von erheblicher Bedeutung. Sie
überschatten die historische Reflexion über die Kausalität der
deutschen und europäischen Katastrophe und trüben den Blick für die
weithin von geopolitischer Faktizität bestimmte Zukunft. Im folgenden
werden Thesen zu den machtgeschichtlichen Dimensionen der Thematik
sowie zur aktuellen Wirkkraft geopolitischer Faktoren im globalen
Kontext des 21. Jahrhunderts vorgestellt:
I
Geopolitische Faktoren sind in der gesamten, für die Ortsbestimmung der
Gegenwart maßgeblichen Geschichte der Neuzeit wirksam. Sie sind
angelegt im Scheitern der abendländisch-mittelalterlichen Kreuzzüge, im
dekretierten Verzicht Chinas auf maritime Vorstöße nach Westen (1436),
im Untergang von Byzanz (1453) und in der Blockade des östlichen
Mittelmeers durch die Osmanen. Sie wurden seit der Epochenwende
manifest in der überseeischen Expansion Europas. Im Westen lösten
Portugal, Spanien, die Niederlande und England einander als führende
Seemächte ab. Nach dem ›teutschen Krieg‹ schufen die Mächte durch den
Westfälischen Frieden 1648 ein auf ein schwaches Zentrum gegründetes,
relativ dauerhaftes Friedenssystem, gesichert durch das »Jus Publicum
Europaeum« (Carl Schmitt). Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg wurde im
Frieden von Utrecht (1713) die ›balance of power‹ als Friedensprinzip
festgeschrieben. Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) mündete die
Rivalität der fünf großen Mächte (1+4 = Großbritannien,
Frankreich, Österreich, Preußen, Russland)) in den ersten europäischen
›Weltkrieg‹.
Denker der Aufklärung stellten im 18. Jahrhundert wirkungsmächtige
geopolitische Konzepte bereit. David Hume definierte 1741 die britische
Hebelposition als Garantie der Ausbreitung der Freiheit auf dem
Kontinent (On the Balance of Power). Montesquieu deutete den »Geist der
Gesetze« (De l'ésprit des lois, 1748) eines Landes als Ausdruck von
Geographie und Geschichte. Er gab den freiheitlichen Seemächten den
Vorzug und prägte das bis heute – etwa im Hinblick auf Russland –
wirksame Bild der »orientalischen Despotie«. Diderot (Contributions à
l´histoire des deux Indies, 1780) propagierte die französische
koloniale Expansion in Konkurrenz zu England als mission civilisatrice.
II
Mit der Entstehung der USA (Amerikanische Revolution 1776-1783;
Verfassung 1787-1789) erwuchs den alten europäischen Mächten ein
transatlantisches Gegengewicht mit enormem Potential und universalem
Sendungsbewusstsein. Die in der Monroe-Doktrin 1823 begründete
de-facto-Allianz der abgefallenen Tochternation USA und des Britischen
Empire garantierte die britische Weltmacht zur See bis ins
Entscheidungsjahr 1941. Die Monroe-Doktrin proklamierte zugleich den
US-amerikanischen Anspruch auf Hegemonie in der westlichen Hemisphäre.
Im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 trat die bereits unter Präsident
Thomas Jefferson (Louisiana Purchase 1803; Expedition von Lewis und
Clark 1803-1807) auf zwei Ozeane und Gegenküsten ausgerichtete junge
Nation offen in den Kreis der Weltmächte ein. In beiden Weltkriegen
fungierten die USA als kriegsentscheidende Macht.
Im II. Weltkrieg bezahlte England das Bündnis mit den USA mit dem
Verlust des Empire. Im Zeichen der UNO und der Vision der »One World«
traten die USA in Afrika und Asien als Vorkämpfer der
Entkolonialisierung auf, im Nahen Osten beerbten die USA England als
dominante Macht. Offenkundig endete die »besondere Beziehung« (special relationship) 1956 bei
dem von der US-Regierung unter Eisenhower erzwungenen Rückzug der
Briten und Franzosen vom Suez-Kanal. Sie kam einseitig erneut in der im
zweiten Irak-Krieg 2003 erwiesenen britischen Gefolgschaft zum
Vorschein.
III
Im Gefolge der Französischen Revolution erfuhr das europäische
Mächtespiel um Hegemonie und Gleichgewicht eine revolutionär
gesteigerte Qualität. Die Kriegserklärung der
Nationalversammlung (20.4.1792) an die Fürstenstaaten des Heiligen
Römischen Reiches Deutscher Nation (an »den König von Ungarn und
Böhmen«)
mündete in den seit Ludwig XIV. bekannten Ruf nach den ›natürlichen
Grenzen‹. Nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. erfolgte die
Kriegserklärung an England. Alsbald entfaltete sich Napoleons
revolutionär befeuerter Machtwille im
Dienste der Westmacht Frankreich in alten und neuen
geopolitischen Dimensionen. Napoleon scheiterte an der britischen
Seemacht sowie an den Fakten der Geographie. In Stichworten:
Seeschlacht bei Abukir (1798) und ›Flucht aus Ägypten‹ (1799),
Trafalgar (1805), Kontinentalsperre (1806), Rückzug aus dem brennenden
Moskau (1812).
Nach der Niederwerfung Napoleons kehrte Europa
auf dem Wiener Kongress 1814/15 zum Gleichgewichtsprinzip zurück. Die
deutschen Staatsmänner, mit Metternich und Hardenberg an der Spitze,
beschränkten sich auf die Errichtung des Deutschen Bundes, eines
(ausbaufähigen?) Staatenbundes im Zentrum Europas. Im System des Wiener
Kongresses 1814/15 fiel den
Flügelmächten – der Seemacht England und der Landmacht Russland – das
Hauptgewicht zu.
IV
Die auf einen deutschen
Nationalstaat zielende Märzrevolution 1848 warf unverzüglich die alten
Machtfragen wieder auf. Mangels eigener militärischer Kräfte sah sich
die Frankfurter Paulskirche zur Abwehr der dänischen Annexion
Schleswigs auf die noch vom Bundestag entsandten preußischen Truppen
angewiesen. Auf den Vorstoß der Preußen am ›Bosporus an der Ostsee‹
fanden sich rasch die konkurrierenden Mächte England und Russland sowie
Frankreich zur konzertierten Aktion zusammen, die in den
Waffenstillstand von Malmö (26.8.1848) mündete. Das Fiasko von 1848
inspirierte das liberale deutsche Bürgertum zur patriotischen Idee des
Flottenbaus, der gewöhnlich allein imperialistischen Zielsetzungen des
1898 gegründeten Deutschen Flottenvereins zugeschrieben wird.
Die
national-demokratische Lösung der ›deutschen Frage‹ scheiterte an der
Schwäche und revolutionären Halbherzigkeit des deutschen Bürgertums.
Inwieweit ein großdeutscher oder selbst nur ein kleindeutscher
demokratischer Nationalstaat für das europäische Staaten- und
Machtsystem verträglich gewesen wäre, mag als Gegenstand historischer
Spekulation dienen. Nicht anders hätte das vom österreichischen
Ministerpräsidenten Fürst Felix von Schwarzenberg (1848-1852) als ›reaktionärer‹
Gegenentwurf ins Spiel gebrachte Projekt eines mitteleuropäischen
70-Millionen-Reiches das Gleichgewicht tangiert. Die
Schwarzenberg-Lösung hätte eben den Hegemonialblock geschaffen, der
1914 in den Weltkrieg (als Zweifrontenkrieg) eintrat.
V
Der Krieg gegen Frankreich 1870/71 »bedeutet[e] die deutsche
Revolution, ein größeres politisches Ereignis als die Französische
Revolution des vergangenen Jahrhunderts«. Durch die Reichsgründung
(18.1.1871), so Benjamin Disraeli als Führer der Konservativen im
Unterhaus am 9. Februar 1871, »[ist] das Gleichgewicht der Macht völlig
zerstört worden.«
Der Aufstieg des Deutschen Reiches zur europäischen Zentralmacht setzte
alsbald (im französisch-russischen Militärbündnis 1892/94) die
vermeintliche Antithese von Revolution in Gestalt der liberalen Dritten
Republik in Frankreich und Reaktion, verkörpert im autokratischen
Russland, sowie im Bündnissystem von vor 1914 die klassische
geopolitische Konstellation von Seemacht vs. Landmacht außer Kraft.
Zugleich potenzierte sich die Rivalität der europäischen Mächte im
Zeichen des Industriekapitalismus. Sie kam im Übergang vom
Freihandelsimperialismus zum Hochimperialismus, im System von
Schutzzöllen (›Neomerkantilismus‹) und in einer neuen Phase kolonialer
Expansion erneut in geopolitischen Dimensionen zur Entfaltung.
VI
In den Krisenzyklen des Industrie- und Finanzkapitalismus, in der
Dynamik von Überproduktion und Unterkonsumtion, von Spekulation und
Kapitalexport, in der nationalstaatlichen Konkurrenz um Rohstoffquellen
und Absatzmärkte fanden Imperialismus-Theorien den Schlüssel für die
Kolonialkonflikte in Übersee und für den heraufziehenden europäischen
Krieg. Die maßgeblich vor dem Hintergrund des Burenkriegs
(1899-1902) entwickelten imperialismuskritischen Theorien (John A.
Hobson 1902, Rudolf Hilferding 1910, Rosa Luxemburg 1913, Wladimir I.
Lenin 1916) fielen zeitlich zusammen mit den auf globale Räume
ausgerichteten geopolitischen Doktrinen (Friedrich Ratzel 1897, Alfred
Thayer Mahan 1890/1900, Halford Mackinder 1904, Rudolf Kjellén
1899/1916,
Karl Haushofer 1924).
Die geopolitischen Raumtheorien verstanden sich als ›realistische‹
Konzepte zur Analyse globaler Machtfaktoren, zugleich als politische
Handlungskonzepte. Es handelte sich je nach Perspektive um
gegensätzliche und/oder komplementäre Denkschulen. Alfred Thayer Mahan
(1840-1914) setzte in The
Influence of Sea Power in History 1660-1783
(erstmals 1890) unter den Bedingungen für Seemacht neben Faktoren wie
Bevölkerungsgröße, Nationalcharakter und Regierungsform die physische
Geographie eines Landes obenan. Die insulare Position der alten
Seemacht England diente ihm als Vorbild für das globale Ausgreifen der
USA.
Aus britischer Perspektive, in der neben Russland auch die auf eine
halbkontinentale Landmasse gestützten USA als Konkurrenzmacht des
Empire fungierte, verflocht Halford Mackinder (1861-1947) historische
Reflektion mit geographischer Deskription zu geopolitischer Doktrin. In
seinem epochalen Vortrag vor der Royal Geographic Society 1904 lenkte
er den Blick auf Eurasien (»Euro-Asia«). Eine fernöstliche Gefahr einer
Welthegemonie sah er in einem nach Russland ausgreifenden
chinesisch-japanischen Reich. Mackinders besondere Warnung galt indes
einem – de facto seit 1890 erledigten – Bündnis des Deutschen Reiches
mit dem »Heartland« Russland und dessen »pivotal area« Zentralasien. Es
handelt sich um eine bis heute bestehende, realpolitisch bedeutsame
Befürchtung (Zbigniew Brzezinski 1997). Darüberhinaus erweist ein Axiom
des Geographen Mackinder bis heute seine Relevanz: »The actual balance
of political power at any given time is, of course, the product, on the
one hand, of geographical conditions, both economic and strategic, and,
on the other hand, of the relative number, virility, equipment, and
organization of the competing peoples.« (In: The Geographical Pivot of
History, S. 437).
An Friedrich Ratzels (1844-1904) Raumbegriff anknüpfend definierte der
schwedische Geograph und Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén
(1864-1922), der Erfinder des Begriffs ›Geopolitik‹, den
›Lebensraum‹
als die der Bevölkerung eines Staates angemessene materielle Basis.
Karl Haushofer (1869-1946) zog die für Deutschland vermeintlich
eindeutigen Lehren aus dem verlorenen Weltkrieg und entwickelte in
Fortsetzung der Ideen Ratzels und Kjelléns seine folgenreichen – von
Hitler teils applizierten, teils missachteten – geopolitischen Konzepte
eines eurasischen Kontinentalblocks, gegründet auf ein Bündnis aus
Deutschland, Japan und Russland (in der Zeitschrift für Geopolitik,
1924 ff. sowie in: Wehr-Geopolitik, 1933).
VII
Im I. und II. Weltkrieg erwiesen die ›klassischen‹ geopolitischen
Doktrinen – ungeachtet der dezisionistischen Momente im Kriegsverlauf
des Ersten sowie der spezifisch irrationalen Fixierungen der NS-Akteure
im Zweiten Weltkrieg – ihre realpolitische Relevanz. Der
»Selbstmord Europas« (Paul Ricoeur) entsprang wesentlich der fatalen
Logik des Schlieffen-Plans, somit einerseits der im Bündnissystem von
vor 1914 verfestigten macht- und geopolitischen Faktizität,
andererseits vermeintlicher strategischer Notwendigkeit.
Ausschlaggebend
für die Niederlage der Mittelmächte 1918 waren die knappen
kontinentalen Ressourcen, die britische Seeblockade, nicht zuletzt das
materielle Interesse und die Potenz der USA. Das auf Missachtung der
Überseemacht USA, auf ›Siegfrieden‹ im Westen sowie auf Machtausdehnung
im Osten (bis hinein in den Kaukasus) und gerichtete Konzept der OHL
scheiterte an Raum (Vormarsch im Osten nach dem Frieden von
Brest-Litowsk [3.3.1918]) und Zeit (Wiederaufnahme des unbeschränkten
U-Boot-Krieges, Spekulation auf Kriegsentscheidung vor Entfaltung des
amerikanischen Militärpotentials, militärischer Zusammenbruch im
August/September 1918).
Im Jahr 1919 schrieb Mackinder sein als Handreichung für die britischen
Vertreter in Versailles gedachtes »geopolitisches Meisterstück« (Sempa
II) Democratic Ideals
and Reality. Als Vorkehrung gegen ungebrochene deutsche
Machtambitionen empfahl er einen cordon
sanitaire
zwischen Deutschland und Russland. Dazu die klassische Formel: »Who
rules East Europe commands the Heartland, Who rules the Heartland
commands the World-Island, Who rules the World-Island commands the
World.« (zit. in Sempa I)
Das Buch wurde 1942 neu gedruckt. Mackinders Aufsatz The Round World
and the Winning of the Peace erschien im Juli 1943 in »Foreign
Affairs«. Gleichsam komplementär zu Nicholas Spykmans »Rimland«-Theorie
fanden Mackinders geopolitische Konzepte ihren Niederschlag in der
»containment«-Politik der Nachkriegszeit sowie in der geopolitisch
angeordneten Blockstruktur, namentlich der NATO. (Vgl. Sempa I, Sempa
II)
VIII
Aus spezifisch britischer Sicht sprach Winston Churchill nach dem
Finale des II. Weltkriegs 1945 von dem zweiten Dreißigjährigen Krieg.
Der fernöstliche Kriegsschauplatz blieb in dieser Perspektive
ausgeblendet. Tatsächlich ging dem II. Weltkrieg 1937-1939 ein
zweijähriges Vorspiel in Fernost voraus. Es begann mit dem Angriff
Japans auf China (7.7.1937). Die imperialistische Aggressionspolitik
brachte das nach der ›Öffnung‹ des Inselreiches durch US-Commodore
Matthew Perry (1853/54) in wenigen Jahrzehnten zur Großmacht
aufgestiegene Japan in
unauflöslichen Konflikt mit der Pazifikmacht USA. Im August
1939 erlebten die Japaner ihre erste Niederlage gegen sowjetische
Panzertruppen unter General Schukow am Grenzfluss Kwan-long in der
Mandschurei. Der Krieg in
Fernost endete mit dem von den USA ersehnten Kriegseintritt Stalins
gegen Japan und dem Zusammenbruch der
japanischen Kwantung-Armee im August 1945.
In Europa steckte Hitler – ungeachtet des Ribbentrop-Molotow-Akommens
(Hitler-Stalin-Pakt) vom 23. August 1939 – von Anbeginn des von ihm
entfesselten Krieges
(1. September 1939), genauer seit der Einlösung der
britisch-französischen Garantie und Bündnisverpflichtung für Polen (3.
9.1939), spätestens
seit Churchills Übernahme des Kriegskabinetts (10.Mai 1940) in der
Napoleon-Falle. Nach der verlorenen »Luftschlacht um England« (»Battle
of Britain«) im Sommer 1940 war der Krieg an einem ersten Wendepunkt
angelangt. Bereits 1940/41 avancierte die USA erneut zur
kriegsentscheidenden Weltmacht. Als – hierzulande gedanklich
unerlaubte, kontrafaktische – Hypothese sei dahingestellt, ob Hitler
vermittels des von ihm in dieser Phase ins Auge gefassten
›Viermächtepakts‹ (›Kontinentalblock‹ nach dem Modell Haushofers) den
globalen Konflikt hätte ›neutralisieren‹ können. Die Basis dafür hätte
in der Hinnahme der von Stalins Außenminister Molotow beim
Berlin-Besuch
12./13. November 1940 präsentierten Konditionen, orientiert an alten
russisch-imperialen, geopolitisch definierten Zielen, bestanden.
Mit dem Entschluss (»Weisung Barbarossa« vom 18.12.1940) zum seit Juli
1940 ventilierten Angriff auf die Sowjetunion, gepaart mit der
rassenideologischen Missachtung der einzig anderen Chance eines
Befreiungskrieges war das Scheitern von Hitlers Macht- und
Lebensraumprojektionen unausweichlich. Die schwache Möglichkeit eines
neuerlichen Arrangements mit Stalin (unter der Hypothek einer
sowjetischen Vormacht in Europa) ließ Hitler aus ideologischen und
psychologischen Motiven unversucht.
Hitlers
und Mussolinis Kriegserklärungen an die USA (11.12.1941)
komplettierten das Mächtedrama des II. Weltkriegs. Die USA mochten seit
Februar bis November 1941 (lend-and-lease-Gesetz, Besetzung
Islands, Hilfslieferungen an England und die Sowjetunion) de
facto bereits die Rolle einer Kriegspartei eingenommen haben.
Dessen ungeachtet erscheinen die nach dem japanischen
Angriff auf Pearl Harbor (7.12.1941) erfolgten Kriegserklärungen
der Achsenmächte weder von der Bündnislogik noch vom
Wortlaut des Dreimächtepakts zwingend geboten. Vielmehr entzieht
sich unter dem Aspekt des japanisch-sowjetischen
Nichtangriffspaktes (13.4.1941) sowie insbesondere vor dem
Hintergrund des vor Moskau gescheiterten deutschen Angriffs
(5.12.1941) das Vorgehen der faschistischen Diktatoren der
realpolitischen, die Kriegschancen abwägenden Logik.
IX
Vor und während des II. Weltkrieges entwickelte der aus den
Niederlanden stammende Theoretiker Nicholas Spykman (1893-1943), ein
Kenner der Geopolitik Karl Haushofers, ein zukunftsweisendes
geopolitisches Modell. 1938/39 trat er als Gegner des amerikanischen
Isolationismus hervor. Für Spykman, Gründer des Institute of
International Studies in Yale und Vertreter der realistischen Schule
unter den amerikanischen Politiktheoretikern, war die Geographie »die
dauerhafteste« (»the most permanent«, zit. in: Zambori)
historisch-politische Wirkungskraft, die geographische Lage eines
Staates war »the most fundamental factor in its foreign policy« (zit.
in: Sempa II). Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, zur Zeit des
japanisch-chinesischen Krieges in Fernost, des italienischen
Abessinien-Krieges und des Spanischen Bürgerkrieges in Europa, erkannte
Spykman die Vorboten eines neuen großen Krieges. Vor diesem Hintergrund
spitzte er seine Doktrin in dem Satz zu: »The geographic area of the
state is the territorial base from which it operates in time of war and
the strategic position which it occupies during the temporary armistice
called peace.« (zit. in: Sempa II)
Internationale Politik unterliegt nach Spykman allein der allen Staaten
inhärenten Machtdynamik. Aus diesem Faktum ergibt sich das Bild eines
sich permanent wandelnden Magnetfeldes. Der geläufige Begriff der
Machtpole (etwa in dem 1989/91 untergegangenen ›bipolaren System‹)
entspringt dieser Machtmetaphorik. »A shift in the relative strength of
the poles or the emergence of new poles will change the field and shift
the lines of force.« (zit. in: Sempa II) Staatsräson war für Spykman
Machträson, in unverblümt darwinistischer Begrifflichkeit »identical
with the struggle for survival« (zit. in: Sempa II).
Unter dem dominanten Aspekt der Geographie subsumierte Spykman, ein
Berater (so Wolfgang Baumann) des gemeinhin vornehmlich als
idealistischer ›Moralpolitiker‹
betrachteten Präsidenten Franklin D. Roosevelt , 1942 in dem Buch America's Strategy in World
Politics: The United States and the Balance of Power
zehn Machtfaktoren eines Staates: Fläche, Grenzen, Bevölkerung,
Rohstoffe, ökonomisch-technischer Entwicklungsstand, Kapitalkraft,
ethnische Homogenität, soziale Integration, politische Stabilität,
Moral (»national spirit«), Stärke seiner Feinde. (Sempa II, Zambori).
In klassischer Denktradition seit Machiavell – dem amerikanischen
moralischen Selbstbild klar entgegengesetzt – ordnete er Moral der
Macht unter: »The search for power is not made for the achievement of
moral values; moral values are used to facilitate the attainment of
power.« (in: Sempa II).
Selbst das für Friedensperioden unerlässliche Machtgleichgewicht
unterlag dem Vorbehalt des Machtvorteils, des Gewinns eines »großzügig
bemessenen Vorsprungs« der jeweiligen Staaten (»Not an equilibrium, but
a generous margin is their objective.« In: Sempa II). In der Konsequenz
der ewigen Realität von Macht liegen Allianzen und Rüstungskonkurrenz,
zuweilen Krieg. Moralische Abscheu gegen Krieg entspringt nach Spykman
verwirrten Emotionen und unklarem Denken. Krieg im 20. Jahrhundert
wurde militärisch, politisch, wirtschaftlich und ideologisch geführt,
bedeutete somit »totalen Krieg«, so die Schlussfolgerung von Francis P.
Sempa (Sempa
II).
Für die USA definierte Spykman anno 1942 die bis heute gültige
Perspektive auf Europa: »We have an interest in the European balance,
as the British have an interest in the continental balance.« (zit. in:
Sempa
II). Den Globus teilte er in Anlehnung an Mahan und Mackinder in
geopolitische Regionen ein. Schlüsselregionen waren Mackinders
»Heartland«, die Meeresregionen um Eurasien als »the great
circumferential maritime highway of the world«, die »große
konzentrische Pufferzone«, bestehend aus Europa, Persien, dem Nahen
Osten, Südwestasien, China, Indochina und Ostsibirien. Von besonderer
strategischer Bedeutung erkannte er den Bogen vom Nahen Osten über den
Golf hin zum »südwestlichen Asien« wegen der dortigen Ölregionen.
Mitten im Krieg, als das militärische Hauptgewicht der USA
noch
gegen den Aggressor Japan gerichtet war, prognostizierte Spykman den
Aufstieg Chinas und folgerte daraus die Notwendigkeit einer Allianz
USA-Japan zur Erhaltung des asiatischen Machtgleichgewichts. Spykman
starb am 26. Juni 1943. Aus seinem Nachlass erschien 1944 ein Buch mit
dem progammatischen Titel The
Geography of Peace.
Aus amerikanischer Perspektive, von der kontinentalen ›Insel‹ in der
westlichen Hemisphäre aus, revidierte Spykman Mackinders Begriff des
›Heartland‹ zugunsten des ›Rimland‹, der materiell und machtpolitisch
zentralen Pufferzone zwischen dem ›Heartland‹ und den angrenzenden
Meeren. Die Gefahr für eine Seemacht (USA) liege im Zugriff einer
eurasischen Landmacht auf die Randzonen. Mackinders Formel war daher
abzuändern. Spykmans auf das ›Rimland‹ gerichtete geopolitische Doktrin
lautete: »Who controls the Rimland rules Eurasia, who rules Eurasia
controls the destiny of the world.« (zit. in: Sempa II; Zambori).
Die ›Rimland‹-Theorie fand ihren faktischen Niederschlag in dem noch im
II. Weltkrieg von den USA ausgehandelten Verträgen mit Saudi-Arabien.
Im geostrategischen Rahmen kam sie (als geographisch exakte
Entsprechung zu Mackinders ›Heartland‹) in den Paktsystemen der 50er
Jahre zum Vorschein.
X
In den amerikanischen Konzepten für eine Nachkriegsordnung und den
daraus hervorgegangenen Institutionen (Bretton-Woods-System mit IWF und
Weltbank, UNO) treten geopolitische Aspekte kaum hervor.
Sie werden allenfalls erkennbar in der Doktrin weltweiten Freihandels
sowie in dem antikolonialen Selbstverständnis der amerikanischen
Außenpolitik. In den Jahren des Kalten Krieges trat diese
›idealistische‹ Dimension amerikanischer Außenpolitik hinter
vermeintlicher geostrategischer Zweckmäßigkeit zurück, insbesondere in
der Unterstützung und Fortsetzung des französischen Kolonialkriegs in
Indochina.
In der Phase der Entkolonialisierung (zeitlich markierbar mit der
Unabhängigkeit Ghanas 1957) traten die USA mit einem vor allem auf
Afrika gemünzten Konzept des ›nation-building‹ (innerhalb der als
unveränderlich dekretierten Kolonialgrenzen) auf den Plan. Das
politologisch fundierte Konzept einer sich auf liberaler
Wirtschaftsordnung erhebenden demokratischen Staatsordnung diente nicht
nur als Gegenentwurf zu den kommunistisch inspirierten, von
sowjetrussischer Seite instrumentalisierten Befreiungsbewegungen. Es
sollte zugleich die nach Unabhängigkeit strebenden Territorien in einen
vom amerikanischen Interesse her definierten liberalen Weltmarkt
einordnen.
XI
Nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht des ›Großdeutschen
Reiches‹
zerbrach die Anti-Hitler-Koalition in den Jahren 1947/48 an den
machtpolitischen, ideologisch zugespitzten Konflikten über die
Kontrolle des Kontinents, insbesondere über das Potential des besiegten
Deutschland. Der neue Globalkonflikt mündete in den mit teils
herkömmlichen, teils ›modernen‹ geopolitischen Instrumenten (komplexe
konventionelle und nukleare Waffensysteme, Militärbündnisse) und
geopolitischen Zielen (Besetzung von politisch-militärischen
Operationsbasen, Sicherung von Energiequellen, Besetzung von
geostrategischen Positionen) ausgetragenen Kalten Krieg.
Im Zeichen des atomaren Patt eskalierte der Ost-West-Konflikt dank der
durch die europäische Teilung fixierten Hegemonialbereiche nur in
Stellvertreterkriegen in der ›Dritten Welt‹ zu kriegerischen
Auseinandersetzungen. Oberhalb dieser Konfliktebene stabilisierte die
Rivalität der beiden Weltmächte den Weltfrieden im Zeichen des
›bipolaren Systems‹. War die Hegemonie der östlichen Weltmacht
in
ganz Osteuropa auf reinen Zwang gegründet und somit stets labil, blieb
die ›sanfte‹ Führungsrolle der USA ungeachtet des
Vietnam-Protestes im
wesentlichen unangefochten. Nur der in tradierten europäischen
Machtkategorien denkende General de Gaulle wagte mit dem Austritt
Frankreichs aus der NATO-Militärorganisation eine Herausforderung der
Führungsmacht. Die von der amerikanischen Kulturrevolution inspirierte
›68er‹-Bewegung trug langfristig zur Festigung der amerikanischen
Kulturhegemonie – und Machtposition – bei.
Geopolitische und geostrategische Faktoren bedingten maßgeblich den
Zusammenbruch der Sowjetunion (Einmarsch in Afghanistan 29.12 1979,
ökonomisch-technische Herausforderung durch die »Strategic Defense
Initiative« [SDI] des US-Präsidenten Ronald Reagan ab 1983). Mit dem
Fall der Mauer, dem Auseinanderbrechen des sowjetischen Imperiums sowie
mit der aufgrund der deutschen Wiedervereinigung forcierten Gründung
der EU trat die Weltgeschichte in eine neue Epoche ein.
Nicht zufällig setzte um das Epochenjahr 1989 herum geradezu
schlagartig die Aufwertung der Geopolitik ein, bezeichnenderweise noch
vor dem Mauerfall zuerst in Polen, zuletzt auch, in deutlicher
Zurückhaltung, in dem in seine neue Mittellage gerückten Deutschland.
Geopolitik gehörte seit je neben der International Political Economy
in den USA, Großbritannien, Israel und Frankreich zum Curriculum der
Politikwissenschaft (Baumann). Seit 1976 existiert in Frankreich die
von dem Geographen Yves Lacoste gegründete Zeitschrift Hérodote. Revue de géographie et
de géopolitique.
XII
Für geopolitische Analysen gilt das – von Spykman einst in 51 Karten
fixierte – Axiom, dass alle Staatsmänner die Position ihres Landes als
das Zentrum der Welt betrachten. Ob für Vertreter der classe politica
der Berliner Republik eine solche Annahme zwingend ist, sei
dahingestellt. Das Ziel eines Großteils der deutschen politischen
Klasse ist die der Verfassung widersprechende, vollständige Aufhebung
deutscher Staatlichkeit in einem postnationalen, europäischen
Bundesstaat. Inwiefern ein solches Gebilde bereits existiert und sich
als global handlungsfähiges Subjekt erweist, muss noch offenbleiben.
Mancherlei widersprüchliche Tendenzen (wie die Entstaatlichung im
Kontext der Globalisierung) und Fakten (unterschwellige, historisch
überkommene Rivalitäten; Rückgriff auf den Staat in der derzeitigen
globalen Finanzkrise) stehen diesem Ziel entgegen.
XIII
In einer als historisch offen begriffenen Situation erscheinen aus
deutscher Perspektive für das 21. Jahrhundert – in der Konfiguration
von machtpolitischen, geographischen, demographischen, kulturellen,
ökonomisch-technischen und kulturell-sozialen Faktoren – folgende
Bedingungen und Tendenzen (samt Imponderabilien) maßgeblich:
1) Machtpolitisch: Ungeachtet seiner Integration in EU und NATO
bestimmt die geographische Mittellage die
historisch-politische
Realität Deutschlands. Als große Mittelmacht ist Deutschland
eingebunden in ein doppeltes Machtgeflecht, einerseits in das in das
durch militärische Präsenz befestigte Hegemonialsystem der USA,
andererseits in das im Gefolge des Vertrags von Maastricht (1992) zum
zentralistischen Bundesstaat tendierende Staatengebilde EU. Die
Behauptung der amerikanischen Position im »euroatlantischen Raum« (bis
zum Bug, nicht bis Wladiwostok), so Zbigniew Brzezinski 1997, war das
Ziel
hinter der Osterweiterung der NATO in der Ära Clinton, wodurch die 1990
zwischen Präsident Bush Sr. und Präsident Gorbatschow getroffene
Übereinkunft negiert wurde. Frankreich, für
eine eigenständige Rolle gegenüber den USA zu schwach, wies Brzezinski
die Kontrolle Deutschlands zu. Im Kontext der bestehenden »Einbindung«
agiert und reagiert die deutsche Außenpolitik mit wachsendem, teils
verdecktem, teils offenem militärischen Einsatz in den Konfliktfeldern
des Balkan, des Nahen Ostens, im Kaukasus, in Afghanistan und am Horn
von Afrika. Das Verhältnis zu der geschwächten östlichen Großmacht
Russland scheint ungeklärt.
Wie jeder Status quo unterliegt eine solche Definition der europäischen
und weltpolitischen Rolle Deutschlands der historischen Dynamik. Vor
dem Hintergrund der ›Globalisierung‹ und der aktuellen Zuspitzung im
Zeichen der globalen Finanzkrise prognostiziert das oberste Gremium der
US-Geheimdienste National
Intelligence Council:
»Das internationale System, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg entstand,
wird 2025 fast nicht mehr wiederzuerkennen sein.« (Bericht »Global
Trends 2025«). Die Geheimdienst-Auguren prophezeien – zwanzig Jahre
nach der skeptisch-relativierenden Prognose Paul Kennedys 1987 – einen
ökonomischen, finanziellen, technischen und militärischen Machtverlust
der USA.
Eine solche Prognose ist nicht unfehlbar. Immerhin werden im Nahen
Osten (Irak, Iran, Israel-Palästina), im Kaukasus (russisches Vorgehen
gegen den jüngsten US-Klientelstaat Georgien), in Mittelasien
(Verlust der Militärbasen in Usbekistan und – derzeit dank russischer
Demarche anscheinend wieder offen – in Kirgistan), am schärfsten
in Afghanistan, der uralten Schlüsselregion am Hindukusch und im
Pandschab, die Grenzen der amerikanischen Macht erkennbar. An der
Bewältigung dieses Krisenensembles wird sich das Schicksal des neuen
Präsidenten Barack Obama entscheiden.
Die künftige weltpolitische Rolle Russlands erscheint manchen Beobachtern
als unkalkulierbar. Dem seit Putin erneut erhobenen alten Machtanspruch
stehen Negativfaktoren (Einbruch der Rohstoffpreise, fehlende
Reinvestitionen zur Modernisierung von Infrastruktur und Industrie,
dramatischer Bevölkerungsrückgang, brain-drain)
entgegen. Dafür sprechen Phänomene wie der ungebrochene
national-russische Patriotismus und die in der wiederbelebten
Orthodoxie gegründete Identität.
Das »russische Problem« scheint
derzeit ein doppeltes zu sein: Einerseits verfolgt Russland seit Putin
und Medwedew nationalrussische Machtpolitik (ohne auf die ideologischen
Konzepte der ›Eurasier‹ eingeschworen zu sein). Zugleich fehlt es der
russischen Außenpolitik an politischer Flexibilität gegenüber der EU.
Umgekehrt schließt die EU von ihrem Selbstverständnis her, nicht
zuletzt nach der Osterweiterung, eine auf einen umfassenden
›Europa‹-Begriff gegründete, enge Kooperation mit der östlichen
Kontinentalmacht aus.
Die ökonomisch-technischen Daten weisen die ›Schwellenländer‹ China,
Indien (?) und Brasilien als kommende Weltmächte aus. Die Rolle der
demographisch geschwächten, ökonomisch noch nicht rekonsolidierten
Randmacht Japan ist schwer abzuschätzen. Japans Interesse an offenen
Märkten deckt sich derzeit mit dem amerikanischen und chinesischen.
Rohstoffknappheit sowie Exportabhängigkeit könnte es aber auch wieder
in Konflikt zu China und Korea bringen.
Das in den Strukturen der EU geeinte Europa stellt entgegen den
Intentionen seiner Protagonisten und der Euro-Bürokratie noch keinen
einheitlichen Machtkomplex dar. Zum einen liegt ein politisch umfassend
geeintes,
eigenständig agierendes Europa entgegen aller Rhetorik
nicht im Interesse der USA. Die Vereinigten Staaten stützen ihre
Position in Europa innerhalb der NATO-Struktur über ein weit
gefächertes System von Militärbasen. Außer ihrer Sonderbeziehung zu
Großbritannien verfügen sie über starke Einflussmöglichkeiten in Polen
sowie in den baltischen Staaten.
Zum anderen zeichnen sich im Raum der EU-Staaten aufgrund
gegensätzlicher Geschichtserfahrungen und Selbstdefinitionen der Eliten
der EU-Staaten historisch begründete, stets schwankende
Konstellationen und machtpolitische Achsen ab:
Skandinavien-Niederlande-England; Polen-Ungarn-Italien;
Deutschland-Österreich-Kroatien-Bulgarien; Frankreich-Polen-Rumänien;
Deutschland-Spanien. Großbritannien beansprucht eine Sonderrolle.
Zugleich hat die deutsch-französische Allianz das Machtdreieck
England-Frankreich-Deutschland nicht gänzlich außer Kraft gesetzt. Als
Joker kommen Staaten wie Irland, Tschechien, Belgien ins Spiel.
Unsicherheitsfaktoren ergeben sich aus der Instabilität der alten und
neuen Balkanstaaten sowie dem maßgeblich von Polen betriebenen
Anschluss der Ukraine.
Als ständiges Gefährdungsmoment steht im Falle schrumpfenden
Wirtschaftswachstums die Frage der Umverteilung im EU-Raum (Panajotis
Kondylis). Die von Brüssel betriebene Entmündigung der
nationalstaatlich orientierten Staatsvölker könnte unerwarteten
Widerspruch auslösen. All das könnte die auf Westeuropa ausgerichtete,
für die Gründerväter Schumann-Adenauer-Monnet grundlegende
französisch-deutsche Gemeinsamkeit (›Motor der Integration‹) immer
wieder in Frage stellen.
Nur kurzzeitig bewährte sich die deutsch-französische Allianz gegen den
Widerstand fast aller anderen europäischen Staaten und der USA in der
Achse Chirac-Schröder-Putin während des 2003 eröffneten zweiten
Irak-Krieges. Das damals erweckte Misstrauen durchzieht die anno 2004
auf 25 sowie 2007 auf 27 Staaten erweiterte EU. Sollte die Türkei (mit
einem Bevölkerungspotential von derzeit bereits über 75 Millionen)
um 2015 der EU als Vollmitglied beitreten, ergeben sich völlig neue
geopolitische Gewichtungen.
2) Ökonomisch-technisch: Noch behauptet das rohstoffarme Deutschland
seine auf hoch entwickelter Wissenschaft, Technik und Bildung beruhende
Position als ›Exportweltmeister‹. Faktisch ist die ökonomische Basis
des deutschen Wohlstands aufgrund der globalen Konkurrenz sowie der
Verlagerung der industriellen Produktion in Billiglohnländer im
Schwinden begriffen. Damit schwindet die Rolle und der potenzielle
Einfluss Deutschlands in der EU. Als gesamtgesellschaftlich
schwächende, destabilisierende Faktoren wirken die demographische
Entwicklung durch das Anwachsen der Alterspyramide und den
Einwanderungsdruck (›Migration‹) aus dem islamisch-nahöstlichen Raum.
3) Kulturell-sozial: Die ökonomischen Unsicherheitsfaktoren sind
zunehmend verwoben mit kulturell-sozialen Desintegrationsmomenten.
Offensichtlich sind die bestehenden Sozial- und Gesundheitssysteme
schon in den nächsten Jahren nicht mehr zu finanzieren. Die in
Jahrzehnten gewachsenen Wohlstandserwartungen sind in einer
Massendemokratie frei von Konflikten vermittels besserer Einsicht
schwerlich zu reduzieren. Die Investitionen in ein durch Verlängerung
der nichtberufsbildenden Schulzeit, Verwohlfeilerung von
Schulabschlüssen, Masseneinwanderung und soziale Desintegration
(›Prekariat‹) verschlechtertes Bildungssystem erfordern rasches
ökonomisches Wachstum zur Finanzierung. Umverteilung stößt alsbald an
politische Systemgrenzen, keynesianisch vermittelte Neuverschuldung
setzt den Erfolg der erhofften Wachstumsimpulse voraus.
Die anhaltende Einwanderung, verquickt mit dem rapiden Anwachsen einer
Bevölkerung mit ›Migrationshintergund‹, d.h. einer jungen Generation
ohne historisch-kulturelle, selbst sprachliche Bindung an das
Einwanderungsland, resultiert in absehbarer Zeit in die Herausbildung
eines »externen Proletariats«. (Arnold Toynbee) auf deutschem,
europäischem Boden. Unter den bereits auf 35% der schulpflichtigen
Jugend bezifferten Einwanderern stellen die aus der Türkei (Türken,
Kurden, Lasen / Nationalisten, Islamisten, ›Linke‹/ Sunniten, Alewiten,
Yeziden usw.), aus dem nahöstlichen Krisenraum (Palästinenser) sowie
aus dem Maghreb, allgemein aus dem islamischen Kulturkreis stammenden
Jugendlichen einen hochpolitischen Risikofaktor dar. Höhere
Kriminalitätsraten, Diskriminierungsklagen sowie
Umverteilungsforderungen gehören zu den sozialen Kosten der
unverminderten ›Migration‹. Die Tabuisierung der Thematik seitens der
politischen Klasse und der etablierten öffentlichen Meinung könnte in
absehbarer Zeit zur realen Zuspitzung ethnisch-sozialer Probleme
beitragen.
Angesichts eines fehlenden integrationspolitischen Assimilationsdrucks
seitens der deutschen Eliten, welche umgekehrt die deutsche Bevölkerung
kontinuierlich unter Faschismusverdacht (›rechts‹) stellen, dürften –
abgesehen von ihrer ideologischen Qualität – die einerseits
universal-menschenrechtlich begründeten, andererseits auf die deutsche
NS-Vergangenheit orientierten ethischen Maximen ihre
gesamtgesellschaftliche Funktion (›Integration‹) alsbald einbüßen.
Realistischer und längst erkennbar ist die Herausbildung eigener Eliten
unter den Einwanderern, die, begleitet von ›Rassismus‹-Vorwürfen an die
Einheimischen, Eigeninteressen verfolgen, gepaart mit der Orientierung
an Kultur und Interessen ihrer Heimatländer. Im Falle von Konflikten
bis hin zu ›asymmetrischen Kriegen‹ ist die Parteinahme ›für die eigene
Sache‹ vorauszusehen.
Die angedeuteten Gefahren einer umfassenden Desintegration,
verquickt und verschärft durch globalpolitische Konflikte, sind konstitutiv
für das von Émile Durkheim benannte Phänomen sozialer Anomie. Am Horizont eines
hier bewusst düster gezeichneten Szenarios erscheint der Zerfall der
liberalen Demokratie, das bellum
omnium contra omnes und die diktatorisch gebändigte
Anarchie. »Das Lager ist der Nomos der Moderne« (Giorgio Agamben).
XIV
Gilt es den skizzierten schlimmsten Fall (›worst-case scenario‹)
abzuwehren oder auszuschließen, so bedarf es eines klaren
Selbstbewusstseins und eines situationsgerechten Instrumentariums. Man
mag dieses in der an der europäischen Realität des anbrechenden
Industriezeitalters entwickelten marxistischen Gesellschaftsanalyse
suchen. Die marxistische Analyse der stets neu hervorbrechenden
Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise vermag deren
krisenhaften Momente zu benennen, nicht jedoch zu lösen. Die Auflösung
aller Widersprüche in einer friedlichen Utopie gehört ins Reich
politischer Theologie.
Die von der traditionellen ›Linken‹ angestrebte humane Machbarkeit der
Geschichte zielt angesichts der skizzierten
geopolitisch-machtpolitischen und historisch-kulturellen
(›ideologischen‹) Gegebenheiten in mancherlei Hinsicht an der
Wirklichkeit vorbei. Zur Klarstellung: Diese Feststellung ist nicht mit
der Bejahung von blindem, amoralischem Dezisionismus gleichzusetzen.
Als historisches Faktum gilt indes festzuhalten: Von den Französischen
Revolutionskriegen bis in die Gegenwart (Kosovo-Krieg, Afghanistan)
haben sich ›linke‹ Akteure derselben militärischen Machtinstrumente
bedient wie ›rechte‹. Dem Credo der universalistischen ›Linken‹ – heute
gewöhnlich im Gewand des westlichen menschenrechtlichen Universalismus
– steht die Einsicht entgegen: »Das einzige, wofür der Universalismus
bürgen kann, ist die Verwandlung aller Kriege in Bürgerkriege.«
(Panajotis Kondylis).
Zur historisch-politischen Wirklichkeit von heute, in der nicht
aufhebbare Widersprüche zum Vorschein kommen, einige Beispiele:
– Gänzlich unberechenbar erscheint die Rolle der Atommacht Pakistan.
– Im Hinblick auf die neue Weltmacht China mag man das Land mit
geschätzten 1,3 Milliarden Menschen im Rahmen seiner derzeitigen
Grenzen für territorial selbstgenügsam oder für expansiv, für
friedfertig oder für kriegslüstern halten, am Selbstverständnis der
Han-Chinesen als ›Reich der Mitte‹, an ihrem machtpolitischen,
ökonomisch-technischen Potential (einschließlich des Löwenanteils
amerikanischer Staatsanleihen) und ihren zwangsläufig globalen (und
außerglobalen) Ambitionen ändert eine solche Einschätzung nicht das
mindeste.
– Eine Lösung des für den Frieden in Nahost zentralen
Israel-Palästina-Konfliktes mag man für überfällig und wünschenswert
halten, eine friedliche Lösung rückt dadurch nicht näher. Der Gedanke
sei erlaubt, dass es sich im Falle einer ›Lösung‹ innerhalb des
islamischen Spannungsbogens allenfalls um eine temporäre Stornierung
des Konflikts handeln dürfte.
– Das Elend im postkolonialen Afrika mag man den alten Kolonialmächten
anlasten und die Jagd nach Mineralien für westliche Hochtechnologie der
kapitalistischen Raubgier – derartige Analyen ändern nichts an
chinesischen (›kommunistisch-kapitalistischen‹) Interessen an den
Ölvorkommen im Sudan und Angola noch an der Barbarei der
schwarzafrikanischen warlords
und ihrer Kindersoldaten.
XV
In summa: Geopolitische Fakten und Momente erweisen ungeachtet der
immensen Steigerung der militärischen Vernichtungspotentiale seit 1945,
des veränderten Zeitfaktors im digitalen Zeitalter sowie des
Ausgreifens der großen Mächte in den Weltraum ihre historische
Wirkungsmacht. (Als aktueller Beleg sei das soeben eröffnete Rennen um
die Rohstoffressourcen in den Polarregionen erwähnt.) Der ›ewige
Friede‹ (Immanuel Kant) mag im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit
erstrebenswert und geboten sein, er bleibt angesichts der
antagonistischen Momente in einer multipolaren, pluralen Welt
ungesichert. Vor dem skizzierten Hintergrund ergeben sich für eine an
existenziell deutschen Interessen ausgerichtete deutsche Politik
folgende Fragen:
1) Besteht für das historisch belastete Deutschland angesichts der
demographischen Krise noch eine auf historische Selbstbehauptung
gerichtete Zukunftsperspektive? Ist die sich in nahezu allen
Industrieregionen des Landes abzeichnende Orientalisierung noch
aufzuhalten? Welche geopolitischen Perspektiven ergeben sich in einer
Generation für multiethnische bundesrepublikanische Eliten?
2) Gibt es in Deutschland noch Eliten, die ihr Denken auf das eigene
Land ausrichten? Wenn ja, wie lässt sich das in deutscher Wissenschaft,
Technik und Bildung vorhandene Potential politisch in humanem Sinne
mobilisieren? Wie kommt ein von neoliberaler Wirtschaftspolitik in
nationalen Besitzständen geschwächtes Land zu neuer ökonomisch
gestützter Handlungsfähigkeit?
3) Wie entkommt das heutige Deutschland, »umzingelt von Freunden« dixit
Volker Rühe, CDU-Verteidigungsminister unter Bundeskanzler Kohl, der
transatlantischen Abhängigkeit und dem unter Nicolas Sarkozy
erneut
evidenten europäischen Dreiecksverhältnis
England-Frankreich-Deutschland? Wie könnte eine Führungsliaison von
Deutschland und Frankreich die stets präsente innereuropäische
Achsenbildung zugunsten einer gesamtkontinentalen Ausrichtung
neutralisieren?
4) Kann ein politisch handlungsfähiges Europa auf einer umfassend
vertieften deutsch-französischen Allianz gegründet werden? Wie kommen
Deutschland und Frankreich zu einer – fraglos aus französischer Sicht
unverzichtbaren – nuklear gestützten, gemeinsamen Sicherheitspolitik
und Militärstrategie? Wie vertragen sich unsichere französische
Präpotenz und unsichere deutsche Machtvergessenheit? Wie sichern die
beiden europäischen Mächte technisch sinnvoll und politisch
verantwortungsvoll die Versorgung mit Energie und Rohstoffen?
5) Könnte und sollte eine deutsch-französische Führungsallianz aus
gesamteuropäischem Interesse eine Interessengemeinschaft mit Russland
herstellen? Russland verfügt über mehrere geopolitische Optionen, zum
einen über die Achse Moskau-Teheran, zum anderen über das Bündnis mit
Japan und/oder China. Ist die von Russland über die Schanghai-Gruppe
verfolgte Option tragfähig? Wenn ja, welche Konsequenzen ergeben sich
daraus für die rohstoffarme westliche Halbinsel Europa? Wenn nein, wäre
eine Allianz mit dem von imperialem Selbstverständnis geprägten
Russland zukunftsreich? Wie könnte die Achse Paris-Berlin im Falle
einer Verbindung mit Russland eine simple Unterwerfung unter die
zentralistisch-imperiale Dynamik des russischen Großreiches abwehren?
6) Vorstellbar ist der umgekehrte Fall eines fortschreitenden
Niedergangs Russlands aufgrund seiner prekären Lage
(Bevölkerungsschwund, brain-drain,
offene Grenzen im Fernen Osten, Dauerkonflikte in der Schlüsselregion
Kaukasus, labile Diktaturen in den aus dem Imperium herausgelösten
asiatisch-islamischen Staaten). Wie könnte und müsste ein
›deutsch-französisches‹ Europa auf den möglichen – und von einigen
US-Thinktanks angestrebten – Zerfall der eurasischen Macht Russland
reagieren? Wäre eine deutsch-französische oder französisch-deutsche
Entente in der Lage, die in der EU widersprüchlich vereinten Staaten
und Völker, insbesondere die ›gebrannten Kinder‹ in Ostmitteleuropa,
vom europäischen Interesse und Nutzen einer Allianz mit dem europäisch
geprägten Russland zu überzeugen?
7) Wie könnte eine deutsch-französisch dirigierte EU das vorhandene
ökonomisch-technische und kulturelle Potential (in Form geschärfter
historischer Sensibilität auf deutscher Seite) fruchtbringend in eine
kontinentale Allianz einbringen? Wäre es ratsam – etwa im Rahmen einer
umfassenden Reorganisation der Nato –, die derzeit noch »einzige
Weltmacht« (Brzezinski) USA zum Verzicht auf ihre europäischen
Stützpunkte zu bewegen? Wäre Europa ohne den atomaren Schutz- und
Erpressungsschirm der USA machtpolitisch überhaupt handlungsfähig? Nach
der soeben von dem Atlantiker Sarkozy vollzogenen Rückkehr Frankreichs
in die Militärorganisation der NATO scheint die hier anvisierte
europäische Option wenig aussichtsreich.
8) Unsere Überlegungen münden in skeptische Fragen: Ist entgegen allen
bürokratisch verfolgten Bestrebungen in Richtung ›Vereinigte Staaten
von Europa‹ ein politisch handlungsfähiges Subjekt ›Europa‹ eine
realistische Zielvorstellung? Was bedeutet der von den Eliten
angestrebte EU-Beitritt der Türkei für das historisch-kulturelle und
geopolitische Selbstverständnis des alten Kontinents? Ist ein solches
Europa unweigerlich den global-politischen Ambitionen der USA (sowie
ihrer geostrategischen und geopolitischen Interessenallianz mit der
Türkei und Israel) ausgesetzt? Wie könnte sich ein solches Europa den –
panturanisch motiviert und ideologisiert – nach Zentralasien
ausgreifenden Machtprojektionen der Türkei widersetzen?
9) Im Falle des Misslingens einer Integration unter
deutsch-französischer und/oder französisch-deutscher Führung: Welche
Achsenbildungen sind innerhalb EU-Europas abzusehen, was bedeutete die
›Balkanisierung‹ des Kontinents für ein Land wie Deutschland?
10) Ist ein Europa, in dem sich dank dem geschichtlichen Reduktionismus
der (west-)deutschen Deutungseliten die Funktionseliten des Landes in
der Mitte ihrer Geschichtsverantwortung entledigt haben, im Mächtefeld
des 21. Jahrhundert noch handlungsfähig? Welches Interesse für die
historisch-kulturellen Grundlagen und die geopolitischen Koordinaten
Europas ist bei den multiethnisch geprägten Eliten der nächsten
Generation zu erwarten? Was sollte ihnen an einem – trotz oder wegen
des epochalen Umbruchs 1989 – anscheinend historisch widerlegten Land
gelegen sein? Wieviel Zeit bleibt dem Land, einst »reich an Gedanken«
(Hölderlin), zur Bestimmung seiner Zukunft im mutmaßlich
konfliktreichen Pluriversum des 21. Jahrhunderts?
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