Die Begriffe Strategem wie
auch Selbstbehauptung bedürfen einer Erklärung. Oft benutzt führen sie
in verschiedenen Kontexten dennoch zu unterschiedlichen Verwendungen
und damit zu Verwirrung. Als Strategem bzw. Strategema wird eine List,
ein Trick oder eine manipulative Aktion im politischen, militärischen
und privaten Leben bezeichnet; im Kontext dieses Aufsatzes ist der
Begriff politisch zu verstehen. Hingegen ist Selbstbehauptung die
Fähigkeit, sich in grenzüberschreitenden Situationen der eigenen
Grenzen bewusst zu sein und diese deutlich machen zu können. Die
Herausgeber des Bandes haben in ihrem Vorwort Selbstbehauptung als
Ich-Beteiligung und Ich-Bezug bezeichnet, die als bewusste oder
unbewusste Bezugnahme eines Individuums zu situativen, personellen oder
anderen Stimuli meist von zentraler Bedeutung für sein soziales
Verhalten ist. In diesem Sinne soll der Begriff in diesem Aufsatz
Verwendung finden. Selbstbehauptung konzentriert sich hier also auf
private Strategien der vom eigenen Ich abhängigen Handlungsoptionen.
Sich
zu behaupten ist nicht gleichzusetzen mit sich erfolgreich zu behaupten
wissen. Selbstbehauptung findet auch dann statt, wenn diese sich als
nicht erfolgreich erweist. Der Vorgang ist Ausdruck einer
Geisteshaltung, eine Aussage an die Umwelt, die zum Ausdruck bringen
soll, dass jemand sich seiner gesellschaftlichen Rolle voll bewusst in
einer Sache klar positioniert – ungeachtet möglicher negativer
Konsequenzen oder positiver Erfolgsaussichten. Es ist ein Akt höchster
individueller Identität. Lutheranisch gedacht: ›Hier stehe ich, ich
kann nicht anders.‹ Das in Kauf-Nehmen möglicher ungewisser
Konsequenzen ist geradezu Teil des Aktes der Selbstbehauptung an sich.
Strategeme
der Selbstbehauptung basieren somit immer auf einer Reflexion des
eigenen Selbst. Wenn mehrere Individuen die gleiche
Selbstbehauptungsstrategie verfolgen, so wird aus der Selbstbehauptung
des Einzelnen die Selbstbehauptung einer Gruppe. Man kann hier kaum von
einem ›Selbst‹ der Gruppe sprechen, denn eine gemeinsame Reflexion auf
das eigene Selbst kann zwangsläufig immer nur individuell stattfinden.
Aber politisch betrachtet, kann aus dem Selbstbehauptungswillen eines
Einzelnen der Selbstbehauptungsversuch einer Masse an Menschen werden,
wenn die Schnittmenge der Individuen hinreichend ist und sich politisch
einsetzen lässt. In der Sache stimme ich hier mit Norberto Bobbio
überein, der schreibt: »Jede soziale Gruppe muß zum Zwecke ihres
eigenen Überlebens (nach innen wie nach außen) Entscheidungen treffen,
die für alle Gruppenmitglieder bindend sind. Aber auch die
Gruppenentscheidungen werden immer nur von Individuen getroffen (die
Gruppe als solche entscheidet nicht).« (Norberto Bobbio, Die Zukunft
der Demokratie 1988, 8)
Der Kapitalismus hat die westlichen
Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten in egoistische
»Raff-Gesellschaften« (Marion Gräfin Dönhoff) verwandelt, die das
eigene Wohl deutlich über das Gemeinwohl stellen. Höhere geistige und
metaphysische Ansprüche in Form von Wissenschaft, Kunst und anderen
kulturellen Errungenschaften oder der religiöse Glaube sind in den
Hintergrund getreten. Die Marktideologie, die eine andere Art von
Glauben darstellt, ist fast allbeherrschend. Sie beansprucht die
Menschen zur Gänze. Manche erheben sie bereits zum einzigen Lebenssinn,
der alles andere ausblendet. Dies entspringt insofern dem Geist des
Kapitalismus, als dieser ausschließlich auf Wettstreit und Egoismus
basiert. Ein jeder Marktteilnehmer muss permanent besser werden, muss
mehr erwirtschaften, mehr verdienen etc., um im Wettstreit die Nase
vorne zu haben. Letztlich gilt alles Interesse des Marktes nur drei
Aspekten: Dem Produzieren, der Kapitalakkumulation sowie dem Konsum.
Um
die Effizienz von Unternehmen zu steigern und somit ihren Gewinn, haben
in den letzten Jahrzehnten erhebliche Konzentrationsprozesse auf den
diversen Märkten stattgefunden, die selbstredend nicht am Markt der
Medien vorbeigegangen sind. Diese Konzentration der Medienmacht in
wenigen Händen ist aber kein Marktprozess wie jeder andere. Die Medien
sind Teil eines demokratischen Prozesses der
checks and balances:
Einerseits sollen sie die Mächtigen kontrollieren, sei es durch
investigativen Journalismus, sei es indem sie den zwar nicht-mächtigen,
aber deshalb nicht gänzlich ohnmächtigen Gruppen und Gruppierungen mit
ihren Anliegen im Land Gehör verschaffen. Andererseits sollen sie
objektiv von den politischen Vorgängen berichten, und dabei Nachricht
und Kommentar auseinanderhalten, so dass der Leser zwischen Fakten und
Meinungen differenzieren und sich eine eigene Meinung bilden kann. Die
Unterscheidung zwischen Nachricht und Kommentar gelingt heute
durchgängig kaum noch einem Medium, nicht einmal den Angesehensten.
Zudem wird neuerdings noch eine Prise Unterhaltung beigemischt, eine
Sparte, die sich weder mit einer Nachricht noch einem Kommentar
verträgt. Zu guter Letzt sollen die Medien eine Art Marktplatz der
Ideen darstellen, einen öffentlichen Raum, in dem jeder sich frei und
unter eigenem Namen einbringen, mit Gleichgesinnten wie Andersgesinnten
austauschen oder die Mächtigen in ihrer Machtausübung kritisieren kann.
Gerade
der letzte Aspekt war in der Vergangenheit von besonderer Wichtigkeit.
Die Medien ermöglichten durch diesen Marktplatz der Ideen nicht nur
bessere, neuartige, bis dahin nicht bedachte politische
Entscheidungsoptionen, sondern vor allem heizten sie mit einer Vielfalt
an Ideen und Politikentwürfen den politischen Wettbewerb der Parteien
massiv an und zwangen diese mit Verweis auf diese Vielzahl an Optionen
zu einer Entscheidungsfindung gemäß rationalen Argumenten, die wiederum
in die Arena des öffentlichen Raumes kommuniziert wurden und dort
erfolgreich auf Akzeptanz treffen mussten. Dieser ganze Prozess
verlangte sowohl den Medien als auch der Politik einiges ab, so dass
diese Sphären ständig die Wählerschaft im Auge behalten mussten,
letztere in Form von gut informierten und interessierten Bürgern, die
zugleich die Arbeit der Politik wie der Medien durch ihre Beiträge
beeinflussen und hinterfragen konnte. Al Gore benennt dieses Prinzip:
»Wenn
die Bürger alle Handlungen einer Regierung eingehend prüfen und
erörtern können, dann ist der Missbrauch demokratisch legitimierter
Macht für den persönlichen Vorteil kaum zu verbergen. Ist aber das
Vernunftprinzip die Messlatte, an der jede Ausübung von
Regierungsgewalt gemessen wird, dann können von einer wohlinformierten
Bürgerschaft auch die raffiniertesten Pläne zum Missbrauch des
Vertrauens der Öffentlichkeit aufgedeckt und geahndet werden. Wenn die
Bedeutung von Vorschlägen nach ihrem sachlichen Gehalt bemessen wird,
dann führt die Vernunft zu Entscheidungen, die dem maximalen
Kenntnisstand der ganzen Gruppe entsprechen.« (Al Gore, Angriff auf die
Vernunft 2007, 101)
Besonders stark war dieses Prinzip von
Anfang an mit der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika
verbunden, denn bereits die Gründerväter setzten auf die Entstehung von
politischer Vernunft mittels Öffentlichkeit. Bei den Gründervätern
findet sich geschrieben, die amerikanische Demokratie sei eine
Herrschaft der Vernunft und nicht einzelner Menschen. Dieses
öffentliche Vernunftprinzip hat die moderne Demokratie, die einst von
den Vereinigten Staaten ihren Siegeszug um die Welt antrat, ermöglicht.
Der der Demokratie zugrunde liegende Rechtsstaat wurde durch dieses
Prinzip ebenso gestärkt wie der einzelne Bürger, der durch den
öffentlichen Austausch von Informationen und Meinungen erst in die Lage
kam, selbst Macht und Einfluss durch Wissen und Bildung im öffentlichen
Raum zu erlangen und diese anschließend mittels erfolgreicher Wahlen in
Staatsämter gemünzt auszuüben. Ein riesiger zivilisatorischer
Fortschritt, der ganz auf das Zeitalter der Printmedien zugeschnitten
und trotz aller Unzulänglichkeiten im Großen und Ganzen äußerst
erfolgreich war. Bis heute ist diese Zeit und dieses Prinzip in den
Geschichtsbüchern als sogenannte
Republic of Letters, als amerikanische Gelehrtenrepublik ein stehender Begriff.
Bestand
zu Zeiten der Gründungsväter, also in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts, der öffentliche Marktplatz der Ideen noch überwiegend aus
Druckerzeugnissen, ist diese Medienform mittlerweile mit
schwerwiegenden Verwerfungen durch das Medium Fernsehen abgelöst
worden. In den Vereinigten Staaten sind es schon gut fünfzig Jahre, in
denen die Mehrheit der Bürger Nachrichten und andere Informationen
überwiegend nicht mehr in gedruckter Form beziehen. Die heutige
Medienwelt ist eine andere, es gilt das berühmte, vielfach kolportierte
Diktum: »Was nicht im Fernsehen ist, existiert nicht.« Genau dieses
Medium, das Fernsehen, bereitet nun den modernen Demokratien zunehmend
Probleme, denn »[m]it der wachsenden Dominanz des Fernsehens wurden
lebenswichtige Elemente der amerikanischen Demokratie ins Abseits
gedrängt. Am schwersten wiegt jedoch der Verlust des Spielfelds
selbst.« (Al Gore, Angriff auf die Vernunft 2007, 22) Mit Spielfeld ist
hier der Marktplatz der Ideen oder der öffentliche Raum gemeint, der
unabdingbar für die Lebendigkeit der Demokratie im Sinne der
amerikanischen Gründungsväter ist.
Statt dass der Staat
unter dem Primat der Vernunft steht, der wiederum unter dem Primat des
freien gedruckten Austausches rationaler Argumente steht, befindet er
sich heute mehr oder weniger unter dem Primat von Interessengruppen,
die ihre Organisationsmacht aufbieten, um für ihre Organisationsziele
Zustimmung und Loyalität in der Öffentlichkeit zu erzeugen. Dies ist
ein ebenso schwerwiegender Einschnitt wie Rückschritt. Es gefährdet die
uns bekannte liberale, offene Demokratie, die immer mehr in ihren
vernunftbezogenen Ansprüchen als auch in ihrer integrativen Offenheit
ausgehöhlt wird. Mit anderen Worten:
»Offen sind freilich
auch die politischen Systeme, solange sie den Boden der modernen Kultur
nicht mutwillig preisgeben. Die unbedingte Geltung von Menschenrechten
und Demokratie garantiert diese Offenheit und macht sie für alle
handhabbar. Jede mögliche Politik, ihrem Sinn nach die verbindliche
Gestaltung sozialer Ordnung, ist in der Moderne immer nur eine unter
vielen Möglichkeiten. Ihre Anerkennung kann in nichts anderem mehr
gründen als dem Einverständnis der von ihr Betroffenen. Daher sind
Menschenrechte und Demokratie die einzigen festen Planken in der Flut
immer neuer Deutungen, Vorschläge, Kritiken, Gegenkritiken und
Orientierungsangebote des öffentlichen Lebens. Sie ermöglichen
Vertrauen und Verläßlichkeit, da sie dem einzelnen die Chance des
Einflusses und der Berechenbarkeit, also das für sein Leben notwendige
Maß an Sicherheit in den für ihn wichtigsten Grundbezügen bieten.«
(Thomas Meyer, Die humane Revolution 2001, 39)
Schon heute
nimmt die Vielfalt der Meinungen in den Medien ständig ab. Der Prozess
der Konzentration schreitet voran, wenige Medienkonzerne gewinnen immer
größeren Einfluss. Bevor die problematischen Folgen für die Demokratie
noch detaillierter erörtert werden, darf an die eigentliche Aufgabe
einer Demokratie erinnert werden:
Was macht eigentlich
Demokratie aus? Was ist ihre Idee? Wie ist ihre Funktionsweise? Was
setzt sie voraus? Wenn es das Ziel der Demokratie ist, die Herrschaft
des Volkes sicherzustellen, kann dies in den heutigen Nationen
zwangsläufig organisatorisch nur mittels Repräsentation durch die vom
Volk gewählten Abgeordneten erfolgen. Der Wille des Volkes muss also
politisch immer organisiert und zusammengefasst werden. Politikkonzepte
müssen formuliert und gestaltet werden, was in den Parteien und im
Parlament geschieht. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass alle
Staatgewalt vom Volke ausgeht, denn ihre Ausübung ist demokratisch in
Wahlen legitimiert. Politik kommt in modernen Demokratien insofern
überwiegend durch das Medium der Repräsentation sowie der Parteien
zustande. Dennoch handelt es sich um deliberative Demokratien, also um
Demokratien die auf Diskussions- wie auch Entscheidungsprozessen des
Souveräns, sprich des Staatsbürgers basieren.
Zu diesem
Zweck sollen die Staatsbürger sowohl miteinander als auch mit den
Politikern debattieren. Dafür muss ein hinreichender Zeitrahmen zur
Verfügung stehen, wie es in den sich immer länger hinziehenden
Wahlkämpfen der Fall ist, ehe am Ende in freien und geheimen Wahlen die
Entscheidung fällt. Selbstredend müssen alle wahlberechtigten Bürger
insofern einbezogen werden, als sie an diesem öffentlichen Diskurs
teilnehmen können und ihre Stimme gehört wird. Weiterhin muss jede
demokratische Entscheidung auf der Basis von Regeln erfolgen, damit die
in Wahlen gefällte Entscheidung überhaupt als kollektive Entscheidung
Akzeptanz findet. Diese Regeln sind meistens in Verfassungen
niedergeschrieben und sozusagen dem demokratischen Prozess
verfahrenstechnisch vorgelagert, was bedeutet, dass der liberale
Rechtsstaat sowohl die historische als auch juristische Voraussetzung
der Demokratie darstellt.
Weiterhin zeichnet Demokratie sich
dadurch aus, dass eine große Anzahl von Staatsbürgern mit
Entscheidungsmacht ausgestattet ist. Entscheidungsverfahren finden
daher in der Regel nach dem Prinzip der Mehrheitsregel statt, d.h.
grundsätzlich ist die Entscheidung für die Gesamtgruppe bindend, die
die Zustimmung der Mehrheit der Entscheidungsbefugten erhält. Eine
Demokratie bedarf einer Reihe weiterer Voraussetzungen, die hier nur
stichwortartig benannt sind: Gewaltenteilung, Pluralismus,
Parlamentarismus, Herrschaft des Rechts, Gleichheit vor dem Gesetz,
Toleranz sowie die in der Verfassung geschützten sogenannten
Freiheitsrechte der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit und der
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Diese Voraussetzungen sind
sicherlich unabdingbar, hinreichend sind sie aber noch keineswegs.
Neben diesen Voraussetzungen bedarf es gleichfalls einer gewissen
Gesinnung der Bürger, die einst mit dem heute wenig modernen Begriff
des staatsbürgerlichen Anstandes umschrieben wurde. Diese Gesinnung
beinhaltet eine gewisse Rücksichtnahme aufeinander, aber auch die
Akzeptanz für politische Konsensfindung mittels rationaler Argumente in
vernunftbestimmter und korrekter Weise. Wird das Prinzip der Vernunft
in der Demokratie außer Kraft gesetzt oder manipuliert, kann diese
scheitern, und zwar immer dann, wenn ein großer Teil der Bürgerschaft
das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des demokratischen
Verfahrensprozesses verliert. Was dabei zur Disposition steht, sollte
man sich immer wieder bewusst vor Augen führen:
»Die
Demokratie ist ihrer begründenden Idee nach eine Versicherung für die
Bürger, daß niemand befugt ist, gegen ihre Interessen bindende
Entscheidungen zu fällen, die sie gegebenenfalls auch wieder verwerfen
können. In Verbindung mit ihrer rechtsstaatlichen Begrenzung erscheint
sie auf dem Boden der modernen Kultur darum als die beste Gewähr der
Selbstversicherung der Bürger für die Wahrung ihrer Interessen und
Rechte sowie für die Kalkulierbarkeit ihrer Lebensverhältnisse. Zwar
besteht in ihr, wie täglich zu erfahren ist, keine Gewähr, daß Vernunft
und Verantwortlichkeit sich durchsetzen, aber sie bietet, so scheint
es, für beide immer noch die relativ besten Chancen.« (Thomas Meyer,
Die humane Revolution 2001, 92f.)
Gerade aber wenn das Wesen
der Demokratie auf diesem deliberativen Moment des einzelnen
Staatsbürgers beruht, muss die Gleichheit der Staatsbürger die
Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie sein. Waren
Freiheit und Gleichheit die Errungenschaften der Aufklärung und
zugleich die Grundpfeiler der europäischen Demokratie, sind diese dem
Kapitalismus bzw. dem Markt weitgehend wesensfremd. Anders ausgedrückt:
»Die Demokratie hat ihren Ursprung in der Annahme, dass alle gleich
geschaffen sind. Der Kapitalismus dagegen hat seinen Ursprung in der
Annahme, dass der Wettbewerb Ungleichheit schafft, je nach Talent,
Fleiß und Glück. Beide Wertesysteme haben ihre Gültigkeit, und zwar im
jeweiligen Lebensbereich.« (Al Gore, Angriff auf die Vernunft 2007,
112) Während also der Markt Ungleichheit der Staatsbürger legitimiert,
ja geradezu als essentiell betrachtet, benötigt die Demokratie die
relative Gleichheit der Bürger als Legitimationsgrundlage für ihr
Funktionieren. Was passiert aber, wenn die ungleiche Verteilung der
Mittel im Markt zu einer Ungleichheit der Mittel der Staatsbürger in
einer Demokratie führt?
Abgesehen von den ungleichen
Möglichkeiten der Lebensgestaltung ändern sich vor allem die Mittel,
die den Bürgern zur Einflussnahme auf öffentliche Entscheidungen zur
Verfügung stehen. Selbst wenn sie auf dem Papier über die gleichen
politischen Rechte verfügen, gerät die Demokratie durch enorme
wirtschaftliche Ungleichgewichte in Gefahr, denn es entstehen extreme
Unterschiede in der Fähigkeit Wahlen zu beeinflussen. Sowohl die hohen
Kosten des Lobbyismus als auch die immer aufwendigere Finanzierung von
Wahlkämpfen öffnen dem Tür und Tor, was man
crony capitalism nennt, den Paul Ginsborg trefflich so umschreibt:
»Angesichts
enormer privater Zuwendungen gerät der demokratische Prozess in die
große Gefahr, vom
crony capitalism vereinnahmt zu werden, einem
Kapitalismus, der sich auf instrumentalisierte Freundschaften stützt.
Man gewinnt Wahlen, um denen, die die Wahl finanziert haben, lukrative
Aufträge zu verschaffen, Freunde in wichtigen Funktionen zu platzieren
und in vielen Demokratien um Familienmitglieder mit Macht- und
Prestigepositionen zu versorgen. Dem Parteiensystem fällt es sehr
schwer, sich von diesen Entwicklungen nicht anstecken zu lassen, und in
vielen Ländern reichen die Antikörper nicht aus, um das Abgleiten in
die Korruption zu verhindern. Angesichts dieser Tatsachen üben die
einfachen Bürger heftige Kritik an der politischen Klasse, im Geheimen
(oder auch ganz offen) aber streben sie danach, selbst in das
Klientelwesen aufgenommen zu werden, das den verborgenen Mechanismus
zahlreicher zeitgenössischer Demokratien bildet.« (Paul Ginsborg, Wie
Demokratie leben 2008, 33)
Auch hier muss vor einem
Fehlschluss gewarnt werden: Die Forderung nach Gleichheit in der
Demokratie bedeutet keine Forderung nach absoluter, sondern nur nach
relativer Gleichheit. Eine relative Gleichheit, die ein qualitativ
hochwertiges Funktionieren der Demokratie erlaubt. Vollständige
Gleichheit ist schon aufgrund ungleicher Voraussetzungen der
menschlichen und gesellschaftlichen Natur unmöglich. Der Mensch hat von
Natur aus immer unterschiedliche Veranlagungen, gleichfalls lassen sich
beispielsweise Präferenzen und Ressentiments im sozialen Miteinander
nicht gänzlich vermeiden. Besorgniserregend sind vielmehr sowohl der
Grad der vorhandenen Ungleichheit als auch die Tatsache, dass diese
weiter anwächst.
Die Grundrechte, die die gleichen Rechte
und Pflichten der Bürger garantieren, sind somit nicht hinreichend, um
die Möglichkeit der politischen Einflussnahme als gleich anzusehen. Die
politischen Mittel bleiben in allen demokratischen Systemen ungleich
verteilt, so dass die Privilegierten mehr politische Mittel in Form von
Geld, Informationen, Zeit, Wissen etc. zur Verfügung haben, um das
Verhalten anderer zu beeinflussen. Verstärkt wird diese Ungleichheit
der politischen Mittel noch durch die Ungleichheit der Kenntnisse, der
Fähigkeiten und der Anreize. Das Wissen der Durchschnittsbürger über
politische Fragen ist äußerst bescheiden, so dass eine kleine Elite die
großen politischen Fragen für eine mehr oder weniger schweigende,
oftmals politikverdrossene Mehrheit entscheidet.
Die große
Ungleichheit der Bürger führt schon heute dazu, dass Menschen mit mehr
politischen Mitteln und bzw. oder überlegenen politischen Fähigkeiten
diese nicht nur für das ›Gemeinwohl‹ nutzen, sondern ebenso für eigene
Zwecke. Die Tatsache, dass heutzutage eine kleine Minderheit in
demokratischen Ländern ihre Zeit überwiegend damit verbringt,
politischen Einfluss zu suchen und auszuüben, verstärkt diesen Effekt
weiter. Letzterer Aspekt ist geschichtlich neu, denn in der
Vergangenheit haben die Menschen zwar ebenfalls einen signifikanten
Teil ihrer Zeit dem Versuch gewidmet, die Entscheidungen anderer in
Gemeinschaften zu beeinflussen, aber nicht in dem heute zu
manifestierenden Ausmaß.
Wenn Robert A. Dahls Beobachtung
richtig ist, dass heute die Internationalisierung der
Entscheidungsprozesse den Menschen die Chance nimmt, in ihren eigenen
Demokratien hinreichend Widerstand zu mobilisieren und Veränderungen
herbeizuführen (vgl. Robert A. Dahl, Politische Gleichheit – ein Ideal?
2006, 82ff.), stellt sich die Frage möglicher Strategeme der
Selbstbehauptung für Demokraten in einer zunehmend ›geschlossenen
Gesellschaft‹ aus zwei Stoßrichtungen. Einerseits von unten, durch die
zunehmende Ungleichheit der Bürger, andererseits von oben, durch die
zunehmende Konzentration der Medien in den Händen einiger weniger
Konzerne bzw. Medienmogule.
Zur Erläuterung: Mit zunehmend
›geschlossener Gesellschaft‹ sei hierbei der Umstand gemeint, dass
nicht jedem gebildeten und gut informierten Bürger in der heutigen
Demokratie die Möglichkeit gegeben ist, ein Medium zur freien
Artikulation zu nutzen. Weiterhin sei darauf verwiesen, dass Dahls
These, die Bürger hätten immer weniger Einfluss auf internationale
Entscheidungsprozesse, hier nicht als Rechtfertigung für die angebliche
Handlungsunfähigkeit der Politik herhalten soll. Dies würde den
vielfach artikulierten Mythos des wirtschaftlichen Handlungszwangs
begünstigen, den der Autor ebenso wie auch Thomas Meyer als Ausrede für
ein Abdanken der Politik ansieht (vgl. Thomas Meyer, Die humane
Revolution 2001, 76).
Um das eigentliche Kernproblem
nochmals deutlich herauszuarbeiten: In Zeiten der Vorherrschaft der
Printmedien bedurfte es einer guten, innovativen Idee oder eines
ausgereiften Konzeptes, um in der Lage zu sein, sich mit einem
geschriebenen Beitrag in die öffentliche Diskussion einzumischen. In
diesem Zeitalter galt der Primat der Vernunft. Das geschriebene Wort
generierte
qua Diskussion
diese Vernunft, die wiederum Voraussetzung für eine recht
zufriedenstellend funktionierende Demokratie war. Diese Demokratie war
eine offene, denn wer immer eine gute Idee hatte, gut informiert und
hinreichend gebildet war, konnte sich – soweit er diese noch auf Papier
bannen konnte – jederzeit in die Demokratie erfolgreich einbringen. Die
Qualität der Idee oder des vorgeschlagenen Konzeptes entschied darüber,
was sich am Markt durchsetzte, so dass unabhängig von Vermögen oder
Herkunft die Idee eines jeden Bürgers Gehör finden konnte.
Dieses
Zeitalter ist seit einigen Jahren endgültig vorbei. Das gedruckte Wort
verliert an Bedeutung. Auch in Deutschland herrschen die elektronischen
Medien – allen voran das Fernsehen. Letzteres stellt primär eine
Einbahnstraße der Kommunikation dar. Während die gedruckten Medien noch
den Meinungsaustausch der Bürger durch Beiträge, Leserbriefe etc.
kannten, die das Ziel der Vernunft als Maßstab der Politik verfolgten,
ist das Fernsehen eine ›geschlossene Veranstaltung‹ weniger für wenige.
Das Fernsehen hat keinen Platz für den einzelnen Bürger, der sich
einzubringen gedenkt. Es sendet an den Zuschauer, dieser empfängt, kann
aber nicht zurücksenden. Nicht von ungefähr wird von einer
›Dauerberieselung‹ der Zuschauer gesprochen. Das Fernsehen ist ein für
die Demokratie weitgehend ungeeignetes Medium, nicht nur weil es nur in
eine Richtung sendet, sondern auch weil es anstatt auf die Qualität der
Vernunft zu setzen, überwiegend Emotionen zu evozieren sucht.
Marshall
McLuhan hat schon früh auf die besonderen Merkmale des Mediums
verwiesen, eines Mediums, das sein Wesen dem Benutzer nicht zeigt und
das per se kein neutrales ist (vgl. McLuhan, Das Medium ist die
Botschaft 2001, 110; 173-176; 190f.). Das Besondere am Fernsehen ist
sein Charakteristikum als Bühne. Was auf dieser passiert, entscheidet
der Regisseur, und einer Bühne ähnlich funktioniert das Fernsehen, das
nach eigenen Gesetzen die Auswahl von Personen und Themen, aber auch
die Art der Darstellung bestimmt. Letztere ist meist stark
emotionalisiert, denn Emotionen, Skandale und Sensationen führen zu
höheren Einschaltquoten, diese wiederum zu mehr Marktmacht für den
jeweiligen Medienkonzern, und wer den Markt beherrschen will, muss
diesen immer weiter kommerzialisieren, so dass es für ein
anspruchsvolles Programm unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten
keinen nennenswerten Platz mehr geben kann. Obwohl mehr Menschen das
Medium Fernsehen beziehen als die Printmedien jemals bezogen haben,
haben immer weniger Menschen inhaltlichen Zugang zu diesem Medium. Es
ist alles andere als interaktiv. Beiträge von Bürgern finden sich im
Fernsehen so gut wie gar nicht, nicht nur, weil der Bürger keinen
Zugang hat, sondern weil der unter Quotendruck stehende Fernsehsender
kein Interesse an dessen Ideen hat. Die wenigen Kanäle, die hier als
andersartiges Fernsehen in Erscheinung treten, sind Nischenkanäle, die
mehr einem demokratischen Feigenblatt entsprechen als echten Einfluss
auf die Demokratie auszuüben.
Wenig überraschend wirkt daher
der Vernunftprimat der Politik seit einiger Zeit schal. Dies lässt sich
schon daran erkennen, dass die Bürger seit Jahren klagen, zwischen den
beiden großen deutschen politischen Parteien seien kaum noch
Unterschiede feststellbar. Dies verwundert nicht, denn der Wettbewerb
der Ideen hat abgenommen. Die geistige Auszehrung der Politik schreitet
unablässig voran. Wenn die gebildeten und gut informierten Bürger keine
Möglichkeit mehr haben, sich mit ihren Gedanken in der Demokratie
einzubringen, dann gerät die Demokratie in Gefahr. Gelebte Demokratie
braucht staatsbürgerliches Engagement. Wenn sich nicht mehr eine
kritische Masse mit unterschiedlichen Meinungen im öffentlichen Raum
austauscht, entstehen Misstrauen bzw. oder Resignation. Misstrauen gegen die
angeblichen Experten und Politiker, die den Bürger paternalistisch
bevormunden, sich seiner Kontrolle entziehen und nur noch
par ordre de mufti mit
ihm kommunizieren. Resignation insoweit, als die weniger Privilegierten
nicht mehr in der Lage und vielleicht auch nicht mehr Willens sind, die
notwendige Anstrengung auf sich zu nehmen, um gegen die Ungleichheit zu
mobilisieren. Viele Bürger befürchten, dass sich jegliche Regierung nur
noch um ihre eigenen Interessen bemüht und nicht mehr um das
Gemeinwohl. Es scheint den Mächtigen oftmals egal, was »die Menschen im
Land« (Willy Brandt) denken. Als Folge gehen seit Jahren immer weniger
Menschen in Deutschland wählen, sie halten ihre Wählerstimme für
bedeutungslos. Ebenso treten immer weniger Menschen Parteien bei, denn
sie glauben nicht länger an die Möglichkeit, Demokratie gestalten zu
können.
Die Zeichen sind eindeutig. Die Demokratie verliert
an Akzeptanz. Dies ist vor allem die Schuld von Parteien, die lange
Zeit fälschlicherweise glaubten, mittels Werbegurus und
Meinungsforschern könne man mit viel Geld massive Werbekampagnen zur
Beeinflussung der Wähler kaufen und somit Zustimmung für die eigene
Politik generieren. Selbst wenn dies ein- oder zweimal erfolgreich ist,
kann es nicht von Dauer sein. Wer nicht in einen offenen Dialog mit den
Wählern und den eigenen Anhängern tritt, wer nicht erfolgreich
Auseinandersetzungen mit Meinungen und Ansichten der Wähler, Anhänger,
Parteimitglieder in die eigene Politik kanalisieren kann, wer nicht
wirklich offen für neue gestaltungswillige Mitglieder in den eigenen
Reihen ist, wird irgendwann nicht nur politisch unglaubwürdig, sondern
verpasst sich selbst das Image eines manipulativen Geschäftemachers,
dem es nicht wirklich auf die Inhalte ankommt. Der Absturz ist dann jäh
und schmerzlich. Die angeblich leicht zu manipulierenden Zielgruppen
werden störrisch und politikmüde. Die Demokratie nimmt Schaden.
Zurück
zur Ebene des nationalen demokratischen Diskurses. Während die
Heilungskräfte bei Parteien, die ihre Wähler, Anhänger und Mitglieder
täuschen, manipulieren oder nicht hinreichend ernst nehmen, ihnen weder
Gehör noch Mitsprache verschaffen, immer noch mittels Wahlen zu
funktionieren scheinen, sieht dies auf der Ebene des überparteilichen
Diskurses anders aus. Selbst wenn die Parteien darauf verzichten, ihre
Aufgabe in der Inszenierung von Politik und der Manipulation
öffentlicher Meinung zu sehen, und integrativ mittels Mitgliedern und
programmatischen Diskussionen die Meinungsvielfalt und Ideen zu
kanalisieren versuchen, heißt dies im Umkehrschluss noch nicht, dass
dies auch in der allgemeinen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Die
Medienkonzerne sind hier in doppelter Hinsicht die Torwächter.
Wie
bereits erörtert ist der Zugang zum Medium nicht für jedermann offen.
Die Medien bestimmen selbst, wem sie Zutritt gewähren. Wohlhabende
haben bessere Chancen, denn sie können sich mittels Geld den Zugang
erkaufen. Dies kann direkt, aber auch indirekt erfolgen. Direkt
beispielsweise durch Schaltung von Spots, um die öffentliche Meinung zu
beeinflussen. Diese Einflussnahme findet in amerikanischen Wahlkämpfen
oft namentlich durch Privatpersonen wie Unternehmen statt, in
Deutschland wird dies meistens noch versteckt hinter Vereinen wie
Initiative Soziale Marktwirtschaft oder Deutsches Aktieninstitut als
Lobbyorganisationen mit dem Schein des Gemeinwohls betrieben. Indirekt,
beispielsweise durch Organisation von
Charity-Veranstaltungen,
Kongressen etc., durch gesellschaftliche, kulturelle oder sportliche
Events, mit denen dann die Medien angefüttert werden und über die sie
meistens auch dankbar berichten, denn das Event füllt kostenlos ihr
Fernsehprogramm und hilft den Medienkonzernen Kosten zu sparen.
Prominenten wie Schauspielern oder Sportlern wird mittlerweile von den
Medienkonzernen Expertise in Sachen Mode, Musik, Kunst, Politik bis hin
zur Geschichte zugewiesen. Die wenigen auserwählten Fernsehexperten für
›dies und das‹ werden immer einflussreicher, ihre Ansichten bekommen
weit über ihre eigentliche Expertise hinweg Gewicht, das Niveau des
Mediums sinkt invers zu diesem Vorgang. Der Wettbewerb der Ideen
leidet, mit ihm die Meritokratie und letztlich auch die Demokratie, die
sich bereits heute kaum noch auf das Vernunftprinzip stützen kann, was
Entscheidungen wie der Irak-Krieg, die Ausweitung der
Tätigkeitsbereiche der hochspekulativen
hedge fonds oder die unsolide finanzierten Steuersenkungen der Regierungen der westlichen Welt exemplarisch zeigen.
Neben der bereits stattfindenden Manipulation der Öffentlichkeit durch die
happy few, die zu allem und nichts etwas zu sagen haben, neben der Zugangskontrolle durch die
gatekeeper-Funktion
der Medienkonglomerate, kommt weiter hinzu, dass die wenigen
Medienkonzerne ihre eigene Ziele und Interessen mit Hilfe der ihnen
gehörenden Medien verfolgen. Heute puscht das Medium die
Fernsehinhalte, die es anschließend in einer langen Vermarktungskette
mit Produkten zur Sendung verkauft. Der sendende Fernsehkanal ist
ebenso Vermarkter des Ereignisses wie objektiver Berichterstatter. Wer
hier einen Widerspruch zwischen journalistischem Ethos und Vermarktung
sehen will, ist nicht in der Realität unserer Demokratie angekommen.
Was die Bevölkerung vorgesetzt bekommt, bestimmen einige wenige
Medienkonzerne. Sie entscheiden, welche Meinungsäußerung die
Bevölkerung sich zu Gemüte führen soll. Maßgeblich ist nicht Vernunft,
sondern sind primär Gier und Profit. Über die Macht im Staat
entscheidet letztlich ein immer kleiner werdender Kreis, für den
besondere Regeln gelten:
»Das Kriterium von Öffentlichkeit,
um das Rechte vom Unrechten, das Erlaubte vom Unerlaubten zu
unterscheiden, gilt nicht für den, bei dem, wie beim Tyrannen,
Öffentliches und Privates zusammenfallen, insofern die Affären des
Staates seine persönlichen sind und umgekehrt.« (Norberto Bobbio, Die
Zukunft der Demokratie 1988, 95)
Dieser Kreis entscheidet,
wer dazugehört, wer mediale Macht erhält, wer vermutlich die Wahlen
gewinnt, und wer überhaupt Einfluss nehmen darf. Seine Interessen
stehen dabei konträr zu den Zielen der Demokratie. Die mittel- bis
langfristigen Folgen ihres Tuns für das Gemeinwohl beachten die
Medienkonzerne ebenso wenig, wie es die Banker im Vorfeld der Finanz-
und Wirtschaftskrise getan haben. Auch hier gilt: Augen zu und durch.
Die
interessierte Öffentlichkeit, die die gut funktionierende Demokratie
der Vergangenheit zu wahren gedenkt, ist in einer schwierigen Lage.
Aufgrund der
hidden agenda der elitären Entscheider kann sie immer
seltener Vorschläge prüfen, Programme ergründen, politische
Entscheidungen hinterfragen. Ein wichtiger Pfeiler der Demokratie
verliert seine Funktion, denn „[d]ie Demokratie beruht auf der
Hypothese, daß alle über alles entscheiden können.“ (Norberto Bobbio,
Die Zukunft der Demokratie 1988, 27) Die Gefahr steigt, dass die
Öffentlichkeit schweigend oder auch nicht Entscheidungen mit trägt, die
sich als kontraproduktiv für die eigenen Interessen und das Gemeinwohl
herausstellen. Im Kern liegt der Widerspruch zwischen dem Interesse der
Demokratie an einer relativen Gleichheit der einzelnen Staatsbürger und
dem Interesse des Kapitalismus an einer maximalen Ungleichheit der
wirtschaftlichen Subjekte. Quasi naturgesetzlich wird dabei den
betriebswirtschaftlichen Interessen nachgegangen, unabhängig von ihren
möglichen sozialen Folgen für die Gesamtgesellschaft. Man mag mit Sorge
um die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – wie recht
frühzeitig Gräfin Dönhoff – die Zivilisierung des enthemmten
Kapitalismus fordern (vgl. Marion Gräfin Dönhoff, Zivilisiert den
Kapitalismus 1997). Ebenso gut kann man darüber sinnieren, ob es
Strategeme der Selbstbehauptung für Demokraten in einer zunehmend
›geschlossenen Gesellschaft‹ gibt. Im Kern läuft all dies nach
Ausschluss des Vernunftprinzips der Demokratie mit Brachialität auf
eine Reihe von Fragen hin: Wer hat die Macht? Wer hat mehr Macht?
Welchen Einsatz ist man letztlich bereit für die Macht zu zahlen?
Hier seien einige mögliche Optionen in aller Kürze durchgespielt:
1.
Gewalt in Form von Unruhen und Ausschreitungen: Diese Überlegung ist
keine Begrüßung von Gewalt, gleichwohl als erste Option zu benennen.
Man darf sich nichts vormachen, Gewalt als Fanal ist nie
auszuschließen. Flächendeckend über einen längeren Zeitraum ist dies
derzeit nur in Griechenland zu beobachten. In Deutschland und anderen
westlichen Demokratien findet es nur temporär statt, wie z.B. bei den
regelmäßigen Mai-Ausschreitungen in Berlin. Ob ein Weg zurück zur
Demokratie auf der Basis des Vernunftprinzips nach einer
Gewalteskalation möglich ist, bleibt fraglich. Eine manipulative Aktion
stellt diese Option insofern dar, als sie die Kosten für den Schutz der
Gesellschaft erhöht und mit Verbreitung von Angst und Terror die eine
oder andere Machtkonzentration eventuell nicht mehr lohnenswert macht.
Ein Strategem für Demokraten stellt sie jedoch nicht dar, denn
Demokratie basiert auf einem Gewaltverbot.
2. Gezielte
Erosion der Demokratie durch eine Protestbewegung: Wenn zu wenige
Bürger am deliberativen Prozess teilnehmen, verkümmert die Demokratie.
Dieses Strategem verfolgt tendenziell das Konzept einer List. Die
Mächtigen wissen nicht länger, ob sie die Legitimation des Volkes
genießen. Unsicherheit macht sich breit. Zur Wahrung ihrer Privilegien
wollen die Mächtigen nun plötzlich Sicherheiten, gar Zustimmung der
Bevölkerung. Die Sicherheit der partizipativen Demokratie
zurückwünschend sind die Mächtigen zu Zugeständnissen bereit. Dieses
Strategem erscheint eher unwahrscheinlich, es ist zu spekulativ
anzunehmen, dass Demokraten gezielt gegen ihre unmittelbaren Interessen
gehen und den bewussten Niedergang der Demokratie in die Wege leiten.
Ansatzweise gibt es aber Belege für solch ein denkbares Strategem. Bei
der letzten Bundestagswahl gab es erstmals gezielt Aufrufe zum
Nichtwählen aus Protest, für die Argumente der Ausgrenzung aus der
partizipativen Demokratie ins Feld geführt wurden. Ebenso macht das
politische Kabarett verstärkt die Ohnmacht der Bürger zu seinem Thema.
3.
Terrorismus: Gewaltbereite Gruppen greifen die Mächtigen an. Eine
Handlungsoption für Demokraten stellt dieses bereits existente Szenario
aufgrund des Primats der Gewaltfreiheit in der Demokratie nicht dar.
Zudem bräuchten die Terroristen die schweigende Unterstützung einer
Mehrheit in der Gesellschaft, um sich Chancen auf eine
gesellschaftliche Veränderung ausrechnen zu können. Letzteres ist kaum
zu erwarten, auch wenn es dem Terrorismus gelingen würde, die Mächtigen
temporär zurückzudrängen. Eine gewaltorientierte Lösung kommt für
Demokraten wohl nur im äußersten Notfall in Betracht, also dann, wenn
die Demokratie
in toto in
Gefahr ist. In Ansätzen ist die Verfolgung dieses Strategems dennoch in
der gegenwärtigen Entwicklung der autonomen Szene erkennbar. Die Zahl
der gewalttätigen Anschläge nimmt zu, die Szene führt u. a.
undemokratische Prozesse zur Begründung an.
4. Gewaltfreier,
aber breiter öffentlicher Widerstand: Dieser erscheint äußerst
unwahrscheinlich, denn durch die Kontrolle des Zugangs zu den Medien
ist auch gut informierten und gebildeten Bürgern die Möglichkeit
genommen, sich breit und effektiv zu organisieren. Es bedürfte eines
inhaltlichen Auslösers, um die Massen auf die Straße zu bekommen, aber
auch dann wäre es fast unmöglich, diese über einen längeren Zeitraum zu
organisieren. Dies bedeutet nicht, dass sich nicht hin und wieder
gewaltfreie Protestbewegungen dieses Themas annehmen.
5.
Hineintragen des Anliegens in eine Partei bzw. Gründung einer Partei
mit dem Ziel, eine Partei erfolgreich im demokratischen Spektrum zu
platzieren, die sich als Protestpartei für die Belange der
Meinungsfreiheit und des öffentlichen Diskurses stark macht. Letztlich
handelt es sich dabei immer um eine kräftige Ohrfeige für alle
etablierten Parteien. Diese werden bei hinreichender Masse an Wählern
eventuell gezwungen zu reagieren und die Mediengesetzgebung so zu
ändern, dass gewisse Konzentrationsprozesse beschränkt und
Zugangshürden reeduziert werden. Das Aufkommen einer Partei wie
Die Piraten
in Europa scheint in diese Richtung zu weisen, auch wenn das
Profil der Partei sich noch nicht hinreichend erkennen lässt. Dieses
Strategem besitzt durchaus Erfolgspotential, was sich nicht zuletzt am
Aufstieg der einstigen Ein-Themen-Parteien der Ökologie- und
Friedensbewegung zeigt.
6. Mehr Bildung als langfristiger
Ausweg, damit die dann größere Masse an besser Gebildeten eine Debatte
anstößt, um einen neuen demokratischen Diskurs zu ermöglichen. Ziel ist
es, einen Austausch entstehen zu lassen, der Gedanken und Meinungen des
Einzelnen einen öffentlichen Raum schafft. Es ist der Weg zurück zu
einem neuen Marktplatz der Ideen. Dieser Weg ist schwierig, da
machtvolle Interessen ihm entgegenstehen. Dennoch könnte er vor allem
in Verbindung mit dem Einbruch des Demokratieanliegens in das
Parteienspektrum ein interessantes Strategem der Selbstbehauptung
darstellen.
7. Nutzung eines neuen Mediums. Geradezu
messianisch wurde das Medium Internet als eine solche ur-demokratische
Technik gefeiert, bevor sich herausstellte, dass es tendenziell die
Machtkonzentration der großen Medienkonzerne weiter vergrößert. Daher
ist diese Option mit Vorsicht zu genießen, auch wenn eine trickreiche
Technik als Strategem durchaus denkbar wäre, so ist doch
wahrscheinlich, dass jede neue Technik mittelfristig wieder von
Großkonzernen mit hoher Kapitalisierung kontrolliert wird.
Fest
steht, dass eine Gesellschaft, wenn sie offen und demokratisch sein
bzw. bleiben will, eine gut gebildete und informierte Bürgerschaft
braucht, die sich jederzeit und aus eigenem Antrieb in die Debatte zu
wichtigen Entscheidungen der Gesellschaft einbringen kann. Wenn der
Zugang zu diesen Informationen beschränkt, wenn die Teilnahme an dieser
Debatte auf einen ausgewählten Personenkreis eingeschränkt wird, dann
verlieren die Bürger das Interesse an der Demokratie, gehen nicht mehr
wählen und geben sich allgemeiner Politikverdrossenheit hin. Zugleich
muss man davon ausgehen, dass ein nicht geringer Verlust an Zivilität
zu beklagen sein wird, wenn große Teile der Gesellschaft von den
Informationen über die Vorgänge abgeschnitten sind und nicht teilhaben
an den Entscheidungen.
Zivilitätsverlust ist ein hoher
Preis, den die Gesellschaft zahlt, wobei der zu entrichtende Preis
derzeit noch nicht ermittelt werden kann. Thomas Meyer setzt diesen
Preis sehr hoch an, wenn er schreibt:
»Daß in unseren durch
Individualismus und Massenmedien, aber auch durch Ausgrenzung,
Arbeitslosigkeit und neue Armut geprägten Gesellschaften Zivilität
geschwächt wird, Intoleranz, Gewaltbereitschaft und Isolation,
Individual- und Gruppenegoismus, Rücksichtslosigkeit und
Verantwortungsverweigerung zunehmen, ist das Produkt einer alles andere
als zufälligen Entwicklung, die für lange Zeit irreversible Folgen
haben kann. Zivilität entsteht und erhält sich in empfindlichen
sozialen Biotopen der Nahwelt, die schnell zu lädieren sind. Vertrauen
entsteht in öffentlichen Welten, die den zivilisierenden
Gemeinschaftserfahrungen von Verständigung, Solidarität und Kooperation
den sozialen Raum schafft und Zeit gibt. Eine Gesellschaft, in der
Zivilität im Umgang der Individuen und Gruppen miteinander, die
Aufgeschlossenheit für die Angelegenheiten des Gemeinwesens geschwächt
werden oder gar verlorengehen, blockiert sich selbst und untergräbt die
Bedingungen funktionsfähiger Demokratie. Auf die Dauer treten
rücksichtslose Kämpfe, bloßer staatlicher Zwang und private Gewalt an
die Stelle von Verantwortung und Überzeugung, Verständigung und
Rücksichtnahme. Am Ende kennt eine solche Entwicklung fast nur noch
Verlierer. In der Atmosphäre, die dann entsteht, wird es sogar für
Wohlmeinende schwer, zivile Umgangsformen bei der Bewältigung
gemeinsamer Angelegenheiten zu praktizieren, denn Mißtrauen und
Isolation, Aggression und rücksichtsloser Durchsetzungswillen treten an
die Stelle von Verständigungsbereitschaft und Bürgergeist.« (Thomas
Meyer, Die humane Revolution 2001, 121)
Der dramatische
Niedergang der partizipatorischen Demokratie fordert seinen Preis. Es
war der Zivilisationsprozess selbst, der die kulturellen Grundwerte der
Gleichheit der Bürger, ihrer unabdingbaren Menschenrechte, der
Demokratie als solcher sowie eine Vielzahl von hochgradig
spezialisierten und differenzierten Institutionen ermöglicht hat.
Gerade die liberale, offene Demokratie war der Nährboden auf dem
Zivilität gedeihen konnte. Wird die partizipative Demokratie nun immer
mehr eingeschränkt, darf niemand sich wundern, wenn die Zeiten
unziviler, ja sprichwörtlich ›rauer‹ werden.
Literatur
BOBBIO,
NORBERTO, Die Zukunft der Demokratie. Aus dem Italienischen von Sophie
G. Alf, Friederike Hausmann, Gabriele Huber und Otto Kallscheuer,
Berlin 1988.
DAHL, ROBERT A., Politische Gleichheit – ein Ideal? Aus dem Englischen von Barbara
Steckhan, Thomas Wollermann und Gabriele Gockel, Hamburg 2006.
DÖNHOFF, MARION GRÄFIN, Zivilisiert den Kapitalismus. Grenzen der Freiheit, Stuttgart 1997.
GINSBORG, PAUL, Wie Demokratie leben. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann, Berlin 2008.
GORE, AL, Angriff auf die Vernunft. Aus dem Englischen von Enrico Heinemann und Friedrich Pflüger, München 2007.
MCLUHAN, MARSHALL, Das Medium ist die Botschaft = The medium is the message.
Herausgegeben und übersetzt von Martin Baltes, Dresden 2001.
MEYER, THOMAS, Die humane Revolution. Plädoyer für eine zivile Lebenskultur, Berlin
2001.