Ulrich Arnswald
Strategeme der Selbstbehauptung für Demokraten
in einer zunehmend ›geschlossenen Gesellschaft‹

Die Begriffe Strategem wie auch Selbstbehauptung bedürfen einer Erklärung. Oft benutzt führen sie in verschiedenen Kontexten dennoch zu unterschiedlichen Verwendungen und damit zu Verwirrung. Als Strategem bzw. Strategema wird eine List, ein Trick oder eine manipulative Aktion im politischen, militärischen und privaten Leben bezeichnet; im Kontext dieses Aufsatzes ist der Begriff politisch zu verstehen. Hingegen ist Selbstbehauptung die Fähigkeit, sich in grenzüberschreitenden Situationen der eigenen Grenzen bewusst zu sein und diese deutlich machen zu können. Die Herausgeber des Bandes haben in ihrem Vorwort Selbstbehauptung als Ich-Beteiligung und Ich-Bezug bezeichnet, die als bewusste oder unbewusste Bezugnahme eines Individuums zu situativen, personellen oder anderen Stimuli meist von zentraler Bedeutung für sein soziales Verhalten ist. In diesem Sinne soll der Begriff in diesem Aufsatz Verwendung finden. Selbstbehauptung konzentriert sich hier also auf private Strategien der vom eigenen Ich abhängigen Handlungsoptionen.

Sich zu behaupten ist nicht gleichzusetzen mit sich erfolgreich zu behaupten wissen. Selbstbehauptung findet auch dann statt, wenn diese sich als nicht erfolgreich erweist. Der Vorgang ist Ausdruck einer Geisteshaltung, eine Aussage an die Umwelt, die zum Ausdruck bringen soll, dass jemand sich seiner gesellschaftlichen Rolle voll bewusst in einer Sache klar positioniert – ungeachtet möglicher negativer Konsequenzen oder positiver Erfolgsaussichten. Es ist ein Akt höchster individueller Identität. Lutheranisch gedacht: ›Hier stehe ich, ich kann nicht anders.‹ Das in Kauf-Nehmen möglicher ungewisser Konsequenzen ist geradezu Teil des Aktes der Selbstbehauptung an sich.

Strategeme der Selbstbehauptung basieren somit immer auf einer Reflexion des eigenen Selbst. Wenn mehrere Individuen die gleiche Selbstbehauptungsstrategie verfolgen, so wird aus der Selbstbehauptung des Einzelnen die Selbstbehauptung einer Gruppe. Man kann hier kaum von einem ›Selbst‹ der Gruppe sprechen, denn eine gemeinsame Reflexion auf das eigene Selbst kann zwangsläufig immer nur individuell stattfinden. Aber politisch betrachtet, kann aus dem Selbstbehauptungswillen eines Einzelnen der Selbstbehauptungsversuch einer Masse an Menschen werden, wenn die Schnittmenge der Individuen hinreichend ist und sich politisch einsetzen lässt. In der Sache stimme ich hier mit Norberto Bobbio überein, der schreibt: »Jede soziale Gruppe muß zum Zwecke ihres eigenen Überlebens (nach innen wie nach außen) Entscheidungen treffen, die für alle Gruppenmitglieder bindend sind. Aber auch die Gruppenentscheidungen werden immer nur von Individuen getroffen (die Gruppe als solche entscheidet nicht).« (Norberto Bobbio, Die Zukunft der Demokratie 1988, 8)

Der Kapitalismus hat die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten in egoistische »Raff-Gesellschaften« (Marion Gräfin Dönhoff) verwandelt, die das eigene Wohl deutlich über das Gemeinwohl stellen. Höhere geistige und metaphysische Ansprüche in Form von Wissenschaft, Kunst und anderen kulturellen Errungenschaften oder der religiöse Glaube sind in den Hintergrund getreten. Die Marktideologie, die eine andere Art von Glauben darstellt, ist fast allbeherrschend. Sie beansprucht die Menschen zur Gänze. Manche erheben sie bereits zum einzigen Lebenssinn, der alles andere ausblendet. Dies entspringt insofern dem Geist des Kapitalismus, als dieser ausschließlich auf Wettstreit und Egoismus basiert. Ein jeder Marktteilnehmer muss permanent besser werden, muss mehr erwirtschaften, mehr verdienen etc., um im Wettstreit die Nase vorne zu haben. Letztlich gilt alles Interesse des Marktes nur drei Aspekten: Dem Produzieren, der Kapitalakkumulation sowie dem Konsum.

Um die Effizienz von Unternehmen zu steigern und somit ihren Gewinn, haben in den letzten Jahrzehnten erhebliche Konzentrationsprozesse auf den diversen Märkten stattgefunden, die selbstredend nicht am Markt der Medien vorbeigegangen sind. Diese Konzentration der Medienmacht in wenigen Händen ist aber kein Marktprozess wie jeder andere. Die Medien sind Teil eines demokratischen Prozesses der checks and balances: Einerseits sollen sie die Mächtigen kontrollieren, sei es durch investigativen Journalismus, sei es indem sie den zwar nicht-mächtigen, aber deshalb nicht gänzlich ohnmächtigen Gruppen und Gruppierungen mit ihren Anliegen im Land Gehör verschaffen. Andererseits sollen sie objektiv von den politischen Vorgängen berichten, und dabei Nachricht und Kommentar auseinanderhalten, so dass der Leser zwischen Fakten und Meinungen differenzieren und sich eine eigene Meinung bilden kann. Die Unterscheidung zwischen Nachricht und Kommentar gelingt heute durchgängig kaum noch einem Medium, nicht einmal den Angesehensten. Zudem wird neuerdings noch eine Prise Unterhaltung beigemischt, eine Sparte, die sich weder mit einer Nachricht noch einem Kommentar verträgt. Zu guter Letzt sollen die Medien eine Art Marktplatz der Ideen darstellen, einen öffentlichen Raum, in dem jeder sich frei und unter eigenem Namen einbringen, mit Gleichgesinnten wie Andersgesinnten austauschen oder die Mächtigen in ihrer Machtausübung kritisieren kann.

Gerade der letzte Aspekt war in der Vergangenheit von besonderer Wichtigkeit. Die Medien ermöglichten durch diesen Marktplatz der Ideen nicht nur bessere, neuartige, bis dahin nicht bedachte politische Entscheidungsoptionen, sondern vor allem heizten sie mit einer Vielfalt an Ideen und Politikentwürfen den politischen Wettbewerb der Parteien massiv an und zwangen diese mit Verweis auf diese Vielzahl an Optionen zu einer Entscheidungsfindung gemäß rationalen Argumenten, die wiederum in die Arena des öffentlichen Raumes kommuniziert wurden und dort erfolgreich auf Akzeptanz treffen mussten. Dieser ganze Prozess verlangte sowohl den Medien als auch der Politik einiges ab, so dass diese Sphären ständig die Wählerschaft im Auge behalten mussten, letztere in Form von gut informierten und interessierten Bürgern, die zugleich die Arbeit der Politik wie der Medien durch ihre Beiträge beeinflussen und hinterfragen konnte. Al Gore benennt dieses Prinzip:

»Wenn die Bürger alle Handlungen einer Regierung eingehend prüfen und erörtern können, dann ist der Missbrauch demokratisch legitimierter Macht für den persönlichen Vorteil kaum zu verbergen. Ist aber das Vernunftprinzip die Messlatte, an der jede Ausübung von Regierungsgewalt gemessen wird, dann können von einer wohlinformierten Bürgerschaft auch die raffiniertesten Pläne zum Missbrauch des Vertrauens der Öffentlichkeit aufgedeckt und geahndet werden. Wenn die Bedeutung von Vorschlägen nach ihrem sachlichen Gehalt bemessen wird, dann führt die Vernunft zu Entscheidungen, die dem maximalen Kenntnisstand der ganzen Gruppe entsprechen.« (Al Gore, Angriff auf die Vernunft 2007, 101)

Besonders stark war dieses Prinzip von Anfang an mit der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika verbunden, denn bereits die Gründerväter setzten auf die Entstehung von politischer Vernunft mittels Öffentlichkeit. Bei den Gründervätern findet sich geschrieben, die amerikanische Demokratie sei eine Herrschaft der Vernunft und nicht einzelner Menschen. Dieses öffentliche Vernunftprinzip hat die moderne Demokratie, die einst von den Vereinigten Staaten ihren Siegeszug um die Welt antrat, ermöglicht. Der der Demokratie zugrunde liegende Rechtsstaat wurde durch dieses Prinzip ebenso gestärkt wie der einzelne Bürger, der durch den öffentlichen Austausch von Informationen und Meinungen erst in die Lage kam, selbst Macht und Einfluss durch Wissen und Bildung im öffentlichen Raum zu erlangen und diese anschließend mittels erfolgreicher Wahlen in Staatsämter gemünzt auszuüben. Ein riesiger zivilisatorischer Fortschritt, der ganz auf das Zeitalter der Printmedien zugeschnitten und trotz aller Unzulänglichkeiten im Großen und Ganzen äußerst erfolgreich war. Bis heute ist diese Zeit und dieses Prinzip in den Geschichtsbüchern als sogenannte Republic of Letters, als amerikanische Gelehrtenrepublik ein stehender Begriff.

Bestand zu Zeiten der Gründungsväter, also in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der öffentliche Marktplatz der Ideen noch überwiegend aus Druckerzeugnissen, ist diese Medienform mittlerweile mit schwerwiegenden Verwerfungen durch das Medium Fernsehen abgelöst worden. In den Vereinigten Staaten sind es schon gut fünfzig Jahre, in denen die Mehrheit der Bürger Nachrichten und andere Informationen überwiegend nicht mehr in gedruckter Form beziehen. Die heutige Medienwelt ist eine andere, es gilt das berühmte, vielfach kolportierte Diktum: »Was nicht im Fernsehen ist, existiert nicht.« Genau dieses Medium, das Fernsehen, bereitet nun den modernen Demokratien zunehmend Probleme, denn »[m]it der wachsenden Dominanz des Fernsehens wurden lebenswichtige Elemente der amerikanischen Demokratie ins Abseits gedrängt. Am schwersten wiegt jedoch der Verlust des Spielfelds selbst.« (Al Gore, Angriff auf die Vernunft 2007, 22) Mit Spielfeld ist hier der Marktplatz der Ideen oder der öffentliche Raum gemeint, der unabdingbar für die Lebendigkeit der Demokratie im Sinne der amerikanischen Gründungsväter ist.

Statt dass der Staat unter dem Primat der Vernunft steht, der wiederum unter dem Primat des freien gedruckten Austausches rationaler Argumente steht, befindet er sich heute mehr oder weniger unter dem Primat von Interessengruppen, die ihre Organisationsmacht aufbieten, um für ihre Organisationsziele Zustimmung und Loyalität in der Öffentlichkeit zu erzeugen. Dies ist ein ebenso schwerwiegender Einschnitt wie Rückschritt. Es gefährdet die uns bekannte liberale, offene Demokratie, die immer mehr in ihren vernunftbezogenen Ansprüchen als auch in ihrer integrativen Offenheit ausgehöhlt wird. Mit anderen Worten:

»Offen sind freilich auch die politischen Systeme, solange sie den Boden der modernen Kultur nicht mutwillig preisgeben. Die unbedingte Geltung von Menschenrechten und Demokratie garantiert diese Offenheit und macht sie für alle handhabbar. Jede mögliche Politik, ihrem Sinn nach die verbindliche Gestaltung sozialer Ordnung, ist in der Moderne immer nur eine unter vielen Möglichkeiten. Ihre Anerkennung kann in nichts anderem mehr gründen als dem Einverständnis der von ihr Betroffenen. Daher sind Menschenrechte und Demokratie die einzigen festen Planken in der Flut immer neuer Deutungen, Vorschläge, Kritiken, Gegenkritiken und Orientierungsangebote des öffentlichen Lebens. Sie ermöglichen Vertrauen und Verläßlichkeit, da sie dem einzelnen die Chance des Einflusses und der Berechenbarkeit, also das für sein Leben notwendige Maß an Sicherheit in den für ihn wichtigsten Grundbezügen bieten.« (Thomas Meyer, Die humane Revolution 2001, 39)

Schon heute nimmt die Vielfalt der Meinungen in den Medien ständig ab. Der Prozess der Konzentration schreitet voran, wenige Medienkonzerne gewinnen immer größeren Einfluss. Bevor die problematischen Folgen für die Demokratie noch detaillierter erörtert werden, darf an die eigentliche Aufgabe einer Demokratie erinnert werden:

Was macht eigentlich Demokratie aus? Was ist ihre Idee? Wie ist ihre Funktionsweise? Was setzt sie voraus? Wenn es das Ziel der Demokratie ist, die Herrschaft des Volkes sicherzustellen, kann dies in den heutigen Nationen zwangsläufig organisatorisch nur mittels Repräsentation durch die vom Volk gewählten Abgeordneten erfolgen. Der Wille des Volkes muss also politisch immer organisiert und zusammengefasst werden. Politikkonzepte müssen formuliert und gestaltet werden, was in den Parteien und im Parlament geschieht. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass alle Staatgewalt vom Volke ausgeht, denn ihre Ausübung ist demokratisch in Wahlen legitimiert. Politik kommt in modernen Demokratien insofern überwiegend durch das Medium der Repräsentation sowie der Parteien zustande. Dennoch handelt es sich um deliberative Demokratien, also um Demokratien die auf Diskussions- wie auch Entscheidungsprozessen des Souveräns, sprich des Staatsbürgers basieren.

Zu diesem Zweck sollen die Staatsbürger sowohl miteinander als auch mit den Politikern debattieren. Dafür muss ein hinreichender Zeitrahmen zur Verfügung stehen, wie es in den sich immer länger hinziehenden Wahlkämpfen der Fall ist, ehe am Ende in freien und geheimen Wahlen die Entscheidung fällt. Selbstredend müssen alle wahlberechtigten Bürger insofern einbezogen werden, als sie an diesem öffentlichen Diskurs teilnehmen können und ihre Stimme gehört wird. Weiterhin muss jede demokratische Entscheidung auf der Basis von Regeln erfolgen, damit die in Wahlen gefällte Entscheidung überhaupt als kollektive Entscheidung Akzeptanz findet. Diese Regeln sind meistens in Verfassungen niedergeschrieben und sozusagen dem demokratischen Prozess verfahrenstechnisch vorgelagert, was bedeutet, dass der liberale Rechtsstaat sowohl die historische als auch juristische Voraussetzung der Demokratie darstellt.

Weiterhin zeichnet Demokratie sich dadurch aus, dass eine große Anzahl von Staatsbürgern mit Entscheidungsmacht ausgestattet ist. Entscheidungsverfahren finden daher in der Regel nach dem Prinzip der Mehrheitsregel statt, d.h. grundsätzlich ist die Entscheidung für die Gesamtgruppe bindend, die die Zustimmung der Mehrheit der Entscheidungsbefugten erhält. Eine Demokratie bedarf einer Reihe weiterer Voraussetzungen, die hier nur stichwortartig benannt sind: Gewaltenteilung, Pluralismus, Parlamentarismus, Herrschaft des Rechts, Gleichheit vor dem Gesetz, Toleranz sowie die in der Verfassung geschützten sogenannten Freiheitsrechte der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit und der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Diese Voraussetzungen sind sicherlich unabdingbar, hinreichend sind sie aber noch keineswegs. Neben diesen Voraussetzungen bedarf es gleichfalls einer gewissen Gesinnung der Bürger, die einst mit dem heute wenig modernen Begriff des staatsbürgerlichen Anstandes umschrieben wurde. Diese Gesinnung beinhaltet eine gewisse Rücksichtnahme aufeinander, aber auch die Akzeptanz für politische Konsensfindung mittels rationaler Argumente in vernunftbestimmter und korrekter Weise. Wird das Prinzip der Vernunft in der Demokratie außer Kraft gesetzt oder manipuliert, kann diese scheitern, und zwar immer dann, wenn ein großer Teil der Bürgerschaft das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des demokratischen Verfahrensprozesses verliert. Was dabei zur Disposition steht, sollte man sich  immer wieder bewusst vor Augen führen:

»Die Demokratie ist ihrer begründenden Idee nach eine Versicherung für die Bürger, daß niemand befugt ist, gegen ihre Interessen bindende Entscheidungen zu fällen, die sie gegebenenfalls auch wieder verwerfen können. In Verbindung mit ihrer rechtsstaatlichen Begrenzung erscheint sie auf dem Boden der modernen Kultur darum als die beste Gewähr der Selbstversicherung der Bürger für die Wahrung ihrer Interessen und Rechte sowie für die Kalkulierbarkeit ihrer Lebensverhältnisse. Zwar besteht in ihr, wie täglich zu erfahren ist, keine Gewähr, daß Vernunft und Verantwortlichkeit sich durchsetzen, aber sie bietet, so scheint es, für beide immer noch die relativ besten Chancen.« (Thomas Meyer, Die humane Revolution 2001, 92f.)

Gerade aber wenn das Wesen der Demokratie auf diesem deliberativen Moment des einzelnen Staatsbürgers beruht, muss die Gleichheit der Staatsbürger die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie sein. Waren Freiheit und Gleichheit die Errungenschaften der Aufklärung und zugleich die Grundpfeiler der europäischen Demokratie, sind diese dem Kapitalismus bzw. dem Markt weitgehend wesensfremd. Anders ausgedrückt: »Die Demokratie hat ihren Ursprung in der Annahme, dass alle gleich geschaffen sind. Der Kapitalismus dagegen hat seinen Ursprung in der Annahme, dass der Wettbewerb Ungleichheit schafft, je nach Talent, Fleiß und Glück. Beide Wertesysteme haben ihre Gültigkeit, und zwar im jeweiligen Lebensbereich.« (Al Gore, Angriff auf die Vernunft 2007, 112) Während also der Markt Ungleichheit der Staatsbürger legitimiert, ja geradezu als essentiell betrachtet, benötigt die Demokratie die relative Gleichheit der Bürger als Legitimationsgrundlage für ihr Funktionieren. Was passiert aber, wenn die ungleiche Verteilung der Mittel im Markt zu einer Ungleichheit der Mittel der Staatsbürger in einer Demokratie führt?

Abgesehen von den ungleichen Möglichkeiten der Lebensgestaltung ändern sich vor allem die Mittel, die den Bürgern zur Einflussnahme auf öffentliche Entscheidungen zur Verfügung stehen. Selbst wenn sie auf dem Papier über die gleichen politischen Rechte verfügen, gerät die Demokratie durch enorme wirtschaftliche Ungleichgewichte in Gefahr, denn es entstehen extreme Unterschiede in der Fähigkeit Wahlen zu beeinflussen. Sowohl die hohen Kosten des Lobbyismus als auch die immer aufwendigere Finanzierung von Wahlkämpfen öffnen dem Tür und Tor, was man crony capitalism nennt, den Paul Ginsborg trefflich so umschreibt:

»Angesichts enormer privater Zuwendungen gerät der demokratische Prozess in die große Gefahr, vom crony capitalism vereinnahmt zu werden, einem Kapitalismus, der sich auf instrumentalisierte Freundschaften stützt. Man gewinnt Wahlen, um denen, die die Wahl finanziert haben, lukrative Aufträge zu verschaffen, Freunde in wichtigen Funktionen zu platzieren und in vielen Demokratien um Familienmitglieder mit Macht- und Prestigepositionen zu versorgen. Dem Parteiensystem fällt es sehr schwer, sich von diesen Entwicklungen nicht anstecken zu lassen, und in vielen Ländern reichen die Antikörper nicht aus, um das Abgleiten in die Korruption zu verhindern. Angesichts dieser Tatsachen üben die einfachen Bürger heftige Kritik an der politischen Klasse, im Geheimen (oder auch ganz offen) aber streben sie danach, selbst in das Klientelwesen aufgenommen zu werden, das den verborgenen Mechanismus zahlreicher zeitgenössischer Demokratien bildet.« (Paul Ginsborg, Wie Demokratie leben 2008, 33)

Auch hier muss vor einem Fehlschluss gewarnt werden: Die Forderung nach Gleichheit in der Demokratie bedeutet keine Forderung nach absoluter, sondern nur nach relativer Gleichheit. Eine relative Gleichheit, die ein qualitativ hochwertiges Funktionieren der Demokratie erlaubt. Vollständige Gleichheit ist schon aufgrund ungleicher Voraussetzungen der menschlichen und gesellschaftlichen Natur unmöglich. Der Mensch hat von Natur aus immer unterschiedliche Veranlagungen, gleichfalls lassen sich beispielsweise Präferenzen und Ressentiments im sozialen Miteinander nicht gänzlich vermeiden. Besorgniserregend sind vielmehr sowohl der Grad der vorhandenen Ungleichheit als auch die Tatsache, dass diese weiter anwächst.

Die Grundrechte, die die gleichen Rechte und Pflichten der Bürger garantieren, sind somit nicht hinreichend, um die Möglichkeit der politischen Einflussnahme als gleich anzusehen. Die politischen Mittel bleiben in allen demokratischen Systemen ungleich verteilt, so dass die Privilegierten mehr politische Mittel in Form von Geld, Informationen, Zeit, Wissen etc. zur Verfügung haben, um das Verhalten anderer zu beeinflussen. Verstärkt wird diese Ungleichheit der politischen Mittel noch durch die Ungleichheit der Kenntnisse, der Fähigkeiten und der Anreize. Das Wissen der Durchschnittsbürger über politische Fragen ist äußerst bescheiden, so dass eine kleine Elite die großen politischen Fragen für eine mehr oder weniger schweigende, oftmals politikverdrossene Mehrheit entscheidet.

Die große Ungleichheit der Bürger führt schon heute dazu, dass Menschen mit mehr politischen Mitteln und bzw. oder überlegenen politischen Fähigkeiten diese nicht nur für das ›Gemeinwohl‹ nutzen, sondern ebenso für eigene Zwecke. Die Tatsache, dass heutzutage eine kleine Minderheit in demokratischen Ländern ihre Zeit überwiegend damit verbringt, politischen Einfluss zu suchen und auszuüben, verstärkt diesen Effekt weiter. Letzterer Aspekt ist geschichtlich neu, denn in der Vergangenheit haben die Menschen zwar ebenfalls einen signifikanten Teil ihrer Zeit dem Versuch gewidmet, die Entscheidungen anderer in Gemeinschaften zu beeinflussen, aber nicht in dem heute zu manifestierenden Ausmaß.

Wenn Robert A. Dahls Beobachtung richtig ist, dass heute die Internationalisierung der Entscheidungsprozesse den Menschen die Chance nimmt, in ihren eigenen Demokratien hinreichend Widerstand zu mobilisieren und Veränderungen herbeizuführen (vgl. Robert A. Dahl, Politische Gleichheit – ein Ideal? 2006, 82ff.), stellt sich die Frage möglicher Strategeme der Selbstbehauptung für Demokraten in einer zunehmend ›geschlossenen Gesellschaft‹ aus zwei Stoßrichtungen. Einerseits von unten, durch die zunehmende Ungleichheit der Bürger, andererseits von oben, durch die zunehmende Konzentration der Medien in den Händen einiger weniger Konzerne bzw. Medienmogule.

Zur Erläuterung: Mit zunehmend ›geschlossener Gesellschaft‹ sei hierbei der Umstand gemeint, dass nicht jedem gebildeten und gut informierten Bürger in der heutigen Demokratie die Möglichkeit gegeben ist, ein Medium zur freien Artikulation zu nutzen. Weiterhin sei darauf verwiesen, dass Dahls These, die Bürger hätten immer weniger Einfluss auf internationale Entscheidungsprozesse, hier nicht als Rechtfertigung für die angebliche Handlungsunfähigkeit der Politik herhalten soll. Dies würde den vielfach artikulierten Mythos des wirtschaftlichen Handlungszwangs begünstigen, den der Autor ebenso wie auch Thomas Meyer als Ausrede für ein Abdanken der Politik ansieht (vgl. Thomas Meyer, Die humane Revolution 2001, 76).

Um das eigentliche Kernproblem nochmals deutlich herauszuarbeiten: In Zeiten der Vorherrschaft der Printmedien bedurfte es einer guten, innovativen Idee oder eines ausgereiften Konzeptes, um in der Lage zu sein, sich mit einem geschriebenen Beitrag in die öffentliche Diskussion einzumischen. In diesem Zeitalter galt der Primat der Vernunft. Das geschriebene Wort generierte qua Diskussion diese Vernunft, die wiederum Voraussetzung für eine recht zufriedenstellend funktionierende Demokratie war. Diese Demokratie war eine offene, denn wer immer eine gute Idee hatte, gut informiert und hinreichend gebildet war, konnte sich – soweit er diese noch auf Papier bannen konnte – jederzeit in die Demokratie erfolgreich einbringen. Die Qualität der Idee oder des vorgeschlagenen Konzeptes entschied darüber, was sich am Markt durchsetzte, so dass unabhängig von Vermögen oder Herkunft die Idee eines jeden Bürgers Gehör finden konnte.

Dieses Zeitalter ist seit einigen Jahren endgültig vorbei. Das gedruckte Wort verliert an Bedeutung. Auch in Deutschland herrschen die elektronischen Medien – allen voran das Fernsehen. Letzteres stellt primär eine Einbahnstraße der Kommunikation dar. Während die gedruckten Medien noch den Meinungsaustausch der Bürger durch Beiträge, Leserbriefe etc. kannten, die das Ziel der Vernunft als Maßstab der Politik verfolgten, ist das Fernsehen eine ›geschlossene Veranstaltung‹ weniger für wenige. Das Fernsehen hat keinen Platz für den einzelnen Bürger, der sich einzubringen gedenkt. Es sendet an den Zuschauer, dieser empfängt, kann aber nicht zurücksenden. Nicht von ungefähr wird von einer ›Dauerberieselung‹ der Zuschauer gesprochen. Das Fernsehen ist ein für die Demokratie weitgehend ungeeignetes Medium, nicht nur weil es nur in eine Richtung sendet, sondern auch weil es anstatt auf die Qualität der Vernunft zu setzen, überwiegend Emotionen zu evozieren sucht.

Marshall McLuhan hat schon früh auf die besonderen Merkmale des Mediums verwiesen, eines Mediums, das sein Wesen dem Benutzer nicht zeigt und das per se kein neutrales ist (vgl. McLuhan, Das Medium ist die Botschaft 2001, 110; 173-176; 190f.). Das Besondere am Fernsehen ist sein Charakteristikum als Bühne. Was auf dieser passiert, entscheidet der Regisseur, und einer Bühne ähnlich funktioniert das Fernsehen, das nach eigenen Gesetzen die Auswahl von Personen und Themen, aber auch die Art der Darstellung bestimmt. Letztere ist meist stark emotionalisiert, denn Emotionen, Skandale und Sensationen führen zu höheren Einschaltquoten, diese wiederum zu mehr Marktmacht für den jeweiligen Medienkonzern, und wer den Markt beherrschen will, muss diesen immer weiter kommerzialisieren, so dass es für ein anspruchsvolles Programm unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten keinen nennenswerten Platz mehr geben kann. Obwohl mehr Menschen das Medium Fernsehen beziehen als die Printmedien jemals bezogen haben, haben immer weniger Menschen inhaltlichen Zugang zu diesem Medium. Es ist alles andere als interaktiv. Beiträge von Bürgern finden sich im Fernsehen so gut wie gar nicht, nicht nur, weil der Bürger keinen Zugang hat, sondern weil der unter Quotendruck stehende Fernsehsender kein Interesse an dessen Ideen hat. Die wenigen Kanäle, die hier als andersartiges Fernsehen in Erscheinung treten, sind Nischenkanäle, die mehr einem demokratischen Feigenblatt entsprechen als echten Einfluss auf die Demokratie auszuüben.

Wenig überraschend wirkt daher der Vernunftprimat der Politik seit einiger Zeit schal. Dies lässt sich schon daran erkennen, dass die Bürger seit Jahren klagen, zwischen den beiden großen deutschen politischen Parteien seien kaum noch Unterschiede feststellbar. Dies verwundert nicht, denn der Wettbewerb der Ideen hat abgenommen. Die geistige Auszehrung der Politik schreitet unablässig voran. Wenn die gebildeten und gut informierten Bürger keine Möglichkeit mehr haben, sich mit ihren Gedanken in der Demokratie einzubringen, dann gerät die Demokratie in Gefahr. Gelebte Demokratie braucht staatsbürgerliches Engagement. Wenn sich nicht mehr eine kritische Masse mit unterschiedlichen Meinungen im öffentlichen Raum austauscht, entstehen Misstrauen bzw. oder Resignation. Misstrauen gegen die angeblichen Experten und Politiker, die den Bürger paternalistisch bevormunden, sich seiner Kontrolle entziehen und nur noch par ordre de mufti mit ihm kommunizieren. Resignation insoweit, als die weniger Privilegierten nicht mehr in der Lage und vielleicht auch nicht mehr Willens sind, die notwendige Anstrengung auf sich zu nehmen, um gegen die Ungleichheit zu mobilisieren. Viele Bürger befürchten, dass sich jegliche Regierung nur noch um ihre eigenen Interessen bemüht und nicht mehr um das Gemeinwohl. Es scheint den Mächtigen oftmals egal, was »die Menschen im Land« (Willy Brandt) denken. Als Folge gehen seit Jahren immer weniger Menschen in Deutschland wählen, sie halten ihre Wählerstimme für bedeutungslos. Ebenso treten immer weniger Menschen Parteien bei, denn sie glauben nicht länger an die Möglichkeit, Demokratie gestalten zu können.

Die Zeichen sind eindeutig. Die Demokratie verliert an Akzeptanz. Dies ist vor allem die Schuld von Parteien, die lange Zeit fälschlicherweise glaubten, mittels Werbegurus und Meinungsforschern könne man mit viel Geld massive Werbekampagnen zur Beeinflussung der Wähler kaufen und somit Zustimmung für die eigene Politik generieren. Selbst wenn dies ein- oder zweimal erfolgreich ist, kann es nicht von Dauer sein. Wer nicht in einen offenen Dialog mit den Wählern und den eigenen Anhängern tritt, wer nicht erfolgreich Auseinandersetzungen mit Meinungen und Ansichten der Wähler, Anhänger, Parteimitglieder in die eigene Politik kanalisieren kann, wer nicht wirklich offen für neue gestaltungswillige Mitglieder in den eigenen Reihen ist, wird irgendwann nicht nur politisch unglaubwürdig, sondern verpasst sich selbst das Image eines manipulativen Geschäftemachers, dem es nicht wirklich auf die Inhalte ankommt. Der Absturz ist dann jäh und schmerzlich. Die angeblich leicht zu manipulierenden Zielgruppen werden störrisch und politikmüde. Die Demokratie nimmt Schaden.

Zurück zur Ebene des nationalen demokratischen Diskurses. Während die Heilungskräfte bei Parteien, die ihre Wähler, Anhänger und Mitglieder täuschen, manipulieren oder nicht hinreichend ernst nehmen, ihnen weder Gehör noch Mitsprache verschaffen, immer noch mittels Wahlen zu funktionieren scheinen, sieht dies auf der Ebene des überparteilichen Diskurses anders aus. Selbst wenn die Parteien darauf verzichten, ihre Aufgabe in der Inszenierung von Politik und der Manipulation öffentlicher Meinung zu sehen, und integrativ mittels Mitgliedern und programmatischen Diskussionen die Meinungsvielfalt und Ideen zu kanalisieren versuchen, heißt dies im Umkehrschluss noch nicht, dass dies auch in der allgemeinen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Die Medienkonzerne sind hier in doppelter Hinsicht die Torwächter.

Wie bereits erörtert ist der Zugang zum Medium nicht für jedermann offen. Die Medien bestimmen selbst, wem sie Zutritt gewähren. Wohlhabende haben bessere Chancen, denn sie können sich mittels Geld den Zugang erkaufen. Dies kann direkt, aber auch indirekt erfolgen. Direkt beispielsweise durch Schaltung von Spots, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Diese Einflussnahme findet in amerikanischen Wahlkämpfen oft namentlich durch Privatpersonen wie Unternehmen statt, in Deutschland wird dies meistens noch versteckt hinter Vereinen wie Initiative Soziale Marktwirtschaft oder Deutsches Aktieninstitut als Lobbyorganisationen mit dem Schein des Gemeinwohls betrieben. Indirekt, beispielsweise durch Organisation von Charity-Veranstaltungen, Kongressen etc., durch gesellschaftliche, kulturelle oder sportliche Events, mit denen dann die Medien angefüttert werden und über die sie meistens auch dankbar berichten, denn das Event füllt kostenlos ihr Fernsehprogramm und hilft den Medienkonzernen Kosten zu sparen. Prominenten wie Schauspielern oder Sportlern wird mittlerweile von den Medienkonzernen Expertise in Sachen Mode, Musik, Kunst, Politik bis hin zur Geschichte zugewiesen. Die wenigen auserwählten Fernsehexperten für ›dies und das‹ werden immer einflussreicher, ihre Ansichten bekommen weit über ihre eigentliche Expertise hinweg Gewicht, das Niveau des Mediums sinkt invers zu diesem Vorgang. Der Wettbewerb der Ideen leidet, mit ihm die Meritokratie und letztlich auch die Demokratie, die sich bereits heute kaum noch auf das Vernunftprinzip stützen kann, was Entscheidungen wie der Irak-Krieg, die Ausweitung der Tätigkeitsbereiche der hochspekulativen hedge fonds oder die unsolide finanzierten Steuersenkungen der Regierungen der westlichen Welt exemplarisch zeigen.

Neben der bereits stattfindenden Manipulation der Öffentlichkeit durch die happy few, die zu allem und nichts etwas zu sagen haben, neben der Zugangskontrolle durch die gatekeeper-Funktion der Medienkonglomerate, kommt weiter hinzu, dass die wenigen Medienkonzerne ihre eigene Ziele und Interessen mit Hilfe der ihnen gehörenden Medien verfolgen. Heute puscht das Medium die Fernsehinhalte, die es anschließend in einer langen Vermarktungskette mit Produkten zur Sendung verkauft. Der sendende Fernsehkanal ist ebenso Vermarkter des Ereignisses wie objektiver Berichterstatter. Wer hier einen Widerspruch zwischen journalistischem Ethos und Vermarktung sehen will, ist nicht in der Realität unserer Demokratie angekommen. Was die Bevölkerung vorgesetzt bekommt, bestimmen einige wenige Medienkonzerne. Sie entscheiden, welche Meinungsäußerung die Bevölkerung sich zu Gemüte führen soll. Maßgeblich ist nicht Vernunft, sondern sind primär Gier und Profit. Über die Macht im Staat entscheidet letztlich ein immer kleiner werdender Kreis, für den besondere Regeln gelten:

»Das Kriterium von Öffentlichkeit, um das Rechte vom Unrechten, das Erlaubte vom Unerlaubten zu unterscheiden, gilt nicht für den, bei dem, wie beim Tyrannen, Öffentliches und Privates zusammenfallen, insofern die Affären des Staates seine persönlichen sind und umgekehrt.« (Norberto Bobbio, Die Zukunft der Demokratie 1988, 95)

Dieser Kreis entscheidet, wer dazugehört, wer mediale Macht erhält, wer vermutlich die Wahlen gewinnt, und wer überhaupt Einfluss nehmen darf. Seine Interessen stehen dabei konträr zu den Zielen der Demokratie. Die mittel- bis langfristigen Folgen ihres Tuns für das Gemeinwohl beachten die Medienkonzerne ebenso wenig, wie es die Banker im Vorfeld der Finanz- und Wirtschaftskrise getan haben. Auch hier gilt: Augen zu und durch.

Die interessierte Öffentlichkeit, die die gut funktionierende Demokratie der Vergangenheit zu wahren gedenkt, ist in einer schwierigen Lage. Aufgrund der hidden agenda der elitären Entscheider kann sie immer seltener Vorschläge prüfen, Programme ergründen, politische Entscheidungen hinterfragen. Ein wichtiger Pfeiler der Demokratie verliert seine Funktion, denn „[d]ie Demokratie beruht auf der Hypothese, daß alle über alles entscheiden können.“ (Norberto Bobbio, Die Zukunft der Demokratie 1988, 27) Die Gefahr steigt, dass die Öffentlichkeit schweigend oder auch nicht Entscheidungen mit trägt, die sich als kontraproduktiv für die eigenen Interessen und das Gemeinwohl herausstellen. Im Kern liegt der Widerspruch zwischen dem Interesse der Demokratie an einer relativen Gleichheit der einzelnen Staatsbürger und dem Interesse des Kapitalismus an einer maximalen Ungleichheit der wirtschaftlichen Subjekte. Quasi naturgesetzlich wird dabei den betriebswirtschaftlichen Interessen nachgegangen, unabhängig von ihren möglichen sozialen Folgen für die Gesamtgesellschaft. Man mag mit Sorge um die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – wie recht frühzeitig Gräfin Dönhoff – die Zivilisierung des enthemmten Kapitalismus fordern (vgl. Marion Gräfin Dönhoff, Zivilisiert den Kapitalismus 1997). Ebenso gut kann man darüber sinnieren, ob es Strategeme der Selbstbehauptung für Demokraten in einer zunehmend ›geschlossenen Gesellschaft‹ gibt. Im Kern läuft all dies nach Ausschluss des Vernunftprinzips der Demokratie mit Brachialität auf eine Reihe von Fragen hin: Wer hat die Macht? Wer hat mehr Macht? Welchen Einsatz ist man letztlich bereit für die Macht zu zahlen?

Hier seien einige mögliche Optionen in aller Kürze durchgespielt:

1. Gewalt in Form von Unruhen und Ausschreitungen: Diese Überlegung ist keine Begrüßung von Gewalt, gleichwohl als erste Option zu benennen. Man darf sich nichts vormachen, Gewalt als Fanal ist nie auszuschließen. Flächendeckend über einen längeren Zeitraum ist dies derzeit nur in Griechenland zu beobachten. In Deutschland und anderen westlichen Demokratien findet es nur temporär statt, wie z.B. bei den regelmäßigen Mai-Ausschreitungen in Berlin. Ob ein Weg zurück zur Demokratie auf der Basis des Vernunftprinzips nach einer Gewalteskalation möglich ist, bleibt fraglich. Eine manipulative Aktion stellt diese Option insofern dar, als sie die Kosten für den Schutz der Gesellschaft erhöht und mit Verbreitung von Angst und Terror die eine oder andere Machtkonzentration eventuell nicht mehr lohnenswert macht. Ein Strategem für Demokraten stellt sie jedoch nicht dar, denn Demokratie basiert auf einem Gewaltverbot.

2. Gezielte Erosion der Demokratie durch eine Protestbewegung: Wenn zu wenige Bürger am deliberativen Prozess teilnehmen, verkümmert die Demokratie. Dieses Strategem verfolgt tendenziell das Konzept einer List. Die Mächtigen wissen nicht länger, ob sie die Legitimation des Volkes genießen. Unsicherheit macht sich breit. Zur Wahrung ihrer Privilegien wollen die Mächtigen nun plötzlich Sicherheiten, gar Zustimmung der Bevölkerung. Die Sicherheit der partizipativen Demokratie zurückwünschend sind die Mächtigen zu Zugeständnissen bereit. Dieses Strategem erscheint eher unwahrscheinlich, es ist zu spekulativ anzunehmen, dass Demokraten gezielt gegen ihre unmittelbaren Interessen gehen und den bewussten Niedergang der Demokratie in die Wege leiten. Ansatzweise gibt es aber Belege für solch ein denkbares Strategem. Bei der letzten Bundestagswahl gab es erstmals gezielt Aufrufe zum Nichtwählen aus Protest, für die Argumente der Ausgrenzung aus der partizipativen Demokratie ins Feld geführt wurden. Ebenso macht das politische Kabarett verstärkt die Ohnmacht der Bürger zu seinem Thema.

3. Terrorismus: Gewaltbereite Gruppen greifen die Mächtigen an. Eine Handlungsoption für Demokraten stellt dieses bereits existente Szenario aufgrund des Primats der Gewaltfreiheit in der Demokratie nicht dar. Zudem bräuchten die Terroristen die schweigende Unterstützung einer Mehrheit in der Gesellschaft, um sich Chancen auf eine gesellschaftliche Veränderung ausrechnen zu können. Letzteres ist kaum zu erwarten, auch wenn es dem Terrorismus gelingen würde, die Mächtigen temporär zurückzudrängen. Eine gewaltorientierte Lösung kommt für Demokraten wohl nur im äußersten Notfall in Betracht, also dann, wenn die Demokratie in toto in Gefahr ist. In Ansätzen ist die Verfolgung dieses Strategems dennoch in der gegenwärtigen Entwicklung der autonomen Szene erkennbar. Die Zahl der gewalttätigen Anschläge nimmt zu, die Szene führt u. a. undemokratische Prozesse zur Begründung an.

4. Gewaltfreier, aber breiter öffentlicher Widerstand: Dieser erscheint äußerst unwahrscheinlich, denn durch die Kontrolle des Zugangs zu den Medien ist auch gut informierten und gebildeten Bürgern die Möglichkeit genommen, sich breit und effektiv zu organisieren. Es bedürfte eines inhaltlichen Auslösers, um die Massen auf die Straße zu bekommen, aber auch dann wäre es fast unmöglich, diese über einen längeren Zeitraum zu organisieren. Dies bedeutet nicht, dass sich nicht hin und wieder gewaltfreie Protestbewegungen dieses Themas annehmen.

5. Hineintragen des Anliegens in eine Partei bzw. Gründung einer Partei mit dem Ziel, eine Partei erfolgreich im demokratischen Spektrum zu platzieren, die sich als Protestpartei für die Belange der Meinungsfreiheit und des öffentlichen Diskurses stark macht. Letztlich handelt es sich dabei immer um eine kräftige Ohrfeige für alle etablierten Parteien. Diese werden bei hinreichender Masse an Wählern eventuell gezwungen zu reagieren und die Mediengesetzgebung so zu ändern, dass gewisse Konzentrationsprozesse beschränkt und Zugangshürden reeduziert werden. Das Aufkommen einer Partei wie Die Piraten in Europa scheint  in diese Richtung zu weisen, auch wenn das Profil der Partei sich noch nicht hinreichend erkennen lässt. Dieses Strategem besitzt durchaus Erfolgspotential, was sich nicht zuletzt am Aufstieg der einstigen Ein-Themen-Parteien der Ökologie- und Friedensbewegung zeigt.

6. Mehr Bildung als langfristiger Ausweg, damit die dann größere Masse an besser Gebildeten eine Debatte anstößt, um einen neuen demokratischen Diskurs zu ermöglichen. Ziel ist es, einen Austausch entstehen zu lassen, der Gedanken und Meinungen des Einzelnen einen öffentlichen Raum schafft. Es ist der Weg zurück zu einem neuen Marktplatz der Ideen. Dieser Weg ist schwierig, da machtvolle Interessen ihm entgegenstehen. Dennoch könnte er vor allem in Verbindung mit dem Einbruch des Demokratieanliegens in das Parteienspektrum ein interessantes Strategem der Selbstbehauptung darstellen.

7. Nutzung eines neuen Mediums. Geradezu messianisch wurde das Medium Internet als eine solche ur-demokratische Technik gefeiert, bevor sich herausstellte, dass es tendenziell die Machtkonzentration der großen Medienkonzerne weiter vergrößert. Daher ist diese Option mit Vorsicht zu genießen, auch wenn eine trickreiche Technik als Strategem durchaus denkbar wäre, so ist doch wahrscheinlich, dass jede neue Technik mittelfristig wieder von Großkonzernen mit hoher Kapitalisierung kontrolliert wird.

Fest steht, dass eine Gesellschaft, wenn sie offen und demokratisch sein bzw. bleiben will, eine gut gebildete und informierte Bürgerschaft braucht, die sich jederzeit und aus eigenem Antrieb in die Debatte zu wichtigen Entscheidungen der Gesellschaft einbringen kann. Wenn der Zugang zu diesen Informationen beschränkt, wenn die Teilnahme an dieser Debatte auf einen ausgewählten Personenkreis eingeschränkt wird, dann verlieren die Bürger das Interesse an der Demokratie, gehen nicht mehr wählen und geben sich allgemeiner Politikverdrossenheit hin. Zugleich muss man davon ausgehen, dass ein nicht geringer Verlust an Zivilität zu beklagen sein wird, wenn große Teile der Gesellschaft von den Informationen über die Vorgänge abgeschnitten sind und nicht teilhaben an den Entscheidungen.

Zivilitätsverlust ist ein hoher Preis, den die Gesellschaft zahlt, wobei der zu entrichtende Preis derzeit noch nicht ermittelt werden kann. Thomas Meyer setzt diesen Preis sehr hoch an, wenn er schreibt:

»Daß in unseren durch Individualismus und Massenmedien, aber auch durch Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit und neue Armut geprägten Gesellschaften Zivilität geschwächt wird, Intoleranz, Gewaltbereitschaft und Isolation, Individual- und Gruppenegoismus, Rücksichtslosigkeit und Verantwortungsverweigerung zunehmen, ist das Produkt einer alles andere als zufälligen Entwicklung, die für lange Zeit irreversible Folgen haben kann. Zivilität entsteht und erhält sich in empfindlichen sozialen Biotopen der Nahwelt, die schnell zu lädieren sind. Vertrauen entsteht in öffentlichen Welten, die den zivilisierenden Gemeinschaftserfahrungen von Verständigung, Solidarität und Kooperation den sozialen Raum schafft und Zeit gibt. Eine Gesellschaft, in der Zivilität im Umgang der Individuen und Gruppen miteinander, die Aufgeschlossenheit für die Angelegenheiten des Gemeinwesens geschwächt werden oder gar verlorengehen, blockiert sich selbst und untergräbt die Bedingungen funktionsfähiger Demokratie. Auf die Dauer treten rücksichtslose Kämpfe, bloßer staatlicher Zwang und private Gewalt an die Stelle von Verantwortung und Überzeugung, Verständigung und Rücksichtnahme. Am Ende kennt eine solche Entwicklung fast nur noch Verlierer. In der Atmosphäre, die dann entsteht, wird es sogar für Wohlmeinende schwer, zivile Umgangsformen bei der Bewältigung gemeinsamer Angelegenheiten zu praktizieren, denn Mißtrauen und Isolation, Aggression und rücksichtsloser Durchsetzungswillen treten an die Stelle von Verständigungsbereitschaft und Bürgergeist.« (Thomas Meyer, Die humane Revolution 2001, 121)

Der dramatische Niedergang der partizipatorischen Demokratie fordert seinen Preis. Es war der Zivilisationsprozess selbst, der die kulturellen Grundwerte der Gleichheit der Bürger, ihrer unabdingbaren Menschenrechte, der Demokratie als solcher sowie eine Vielzahl von hochgradig spezialisierten und differenzierten Institutionen ermöglicht hat. Gerade die liberale, offene Demokratie war der Nährboden auf dem Zivilität gedeihen konnte. Wird die partizipative Demokratie nun immer mehr eingeschränkt, darf niemand sich wundern, wenn die Zeiten unziviler, ja sprichwörtlich ›rauer‹ werden.


Literatur

BOBBIO, NORBERTO, Die Zukunft der Demokratie. Aus dem Italienischen von Sophie G. Alf, Friederike Hausmann, Gabriele Huber und Otto Kallscheuer, Berlin 1988.
DAHL, ROBERT A., Politische Gleichheit – ein Ideal? Aus dem Englischen von Barbara
Steckhan, Thomas Wollermann und Gabriele Gockel, Hamburg 2006.
DÖNHOFF, MARION GRÄFIN, Zivilisiert den Kapitalismus. Grenzen der Freiheit, Stuttgart 1997.
GINSBORG, PAUL, Wie Demokratie leben. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann, Berlin 2008.
GORE, AL, Angriff auf die Vernunft. Aus dem Englischen von Enrico Heinemann und Friedrich Pflüger, München 2007.
MCLUHAN, MARSHALL, Das Medium ist die Botschaft = The medium is the message.
Herausgegeben und übersetzt von Martin Baltes, Dresden  2001.
MEYER, THOMAS, Die humane Revolution. Plädoyer für eine zivile Lebenskultur, Berlin
2001.
Iablis © 2009/12