Robert A. Dahl: Politische Gleichheit – ein Ideal?
Aus dem Englischen von Barbara Steckhan,
Thomas Wollermann und Gabriele Gockel,
Hamburg (Hamburger Edition) 2006, 139 S.
Für Robert Dahl ist das Vorhandensein
politischer Gleichheit die Grundvoraussetzung für eine funktionierende
Demokratie. Sein wissenschaftliches Hauptaugenmerk liegt in der
Untersuchung der Bedeutung von Gleichheit in der Demokratietheorie.
Insbesondere die Auswirkung von Ungleichheit auf die Demokratie bedingt
durch eine gleichfalls ungleiche Verteilung der Mittel, die Bürgern zur
Einflussnahme auf öffentliche Entscheidungen zur Verfügung stehen, ist
für ihn von besonderem Interesse. Dabei ist sich der Autor sehr wohl
bewusst, dass es bestimmte Grundaspekte der menschlichen Natur und
Gesellschaft gibt, die uns daran hindern, unter den Bürgern eines
demokratisch regierten Landes jemals vollständige politische Gleichheit
herstellen zu können.
Im
Gegensatz zum Streben nach vollständiger politischer Gleichheit
diagnostiziert er vielmehr die unmittelbare Gefahr des weiteren
Auseinanderdriftens, die er in den westlichen modernen Demokratien am
Werke sieht. Dahl fragt sich, ob eine politische Ungleichheit in so
hohem Maß wie wir sie derzeit beobachten, nicht zu einer Aushöhlung
unserer demokratischen Institutionen führen muss. Wenn sich
herausstellen sollte, dass dieser Prozess nicht mehr umkehrbar ist,
wird seines Erachtens das Ideal von Demokratie und politischer
Gleichheit praktisch bedeutungslos. Denn wenn wir an Demokratie als
Ziel oder Ideal glauben, müssen wir immer auch implizit politische
Gleichheit als Ziel oder Ideal anstreben.Diese
Tatsache ergibt sich für den Autor aus zwei Annahmen, die in einem
vernünftigen öffentlichen Diskurs nur schwerlich zurückgewiesen werden
können:1.
Die intrinsische Gleichheit der Menschen. Hierbei handelt es sich um
die moralische Feststellung, dass alle Menschen an sich von gleichem
Wert sind, dass kein Mensch einem anderen übergeordnet ist, und dass
dem Wohl oder dem Interesse einer jeden Person die gleiche Beachtung
geschenkt werden muss. Ungeachtet der Eignung einzelner Personen oder
Gruppen zum Regieren, geht dieser ethische Grundsatz davon aus, dass
niemand so eindeutig besser geeignet ist, dass man ihm die
uneingeschränkte und endgültige Autorität über die Führung des Staates
anvertrauen dürfe. 2.
Politische Gleichheit ist als Ziel erstrebenswert. Zwar mag sich in der
Realität das Ideal der politischen Gleichheit noch nicht verwirklichen
lassen, doch bleibt es als wünschenswertes Ideal ein Maßstab, den wir
nicht nur anstreben sollten, sondern an dem sich die Güte oder der Wert
des Erreichten messen lassen. In dieser Funktion ist das Ideal eine
Hilfe für die empirische Theorie bzw. Forschung. In einer anderen Form
gibt es das Ideal auch als ein Werturteil, das das ideale Ergebnis oder
Ziel vorformuliert. Diese beiden Bedeutungen eines Ideals
unterscheiden sich zwar, widersprechen sich aber nicht. Es ist zu
berücksichtigen, dass ein Ideal im ersten Sinne nicht zwangsläufig
auch ein Ideal im zweiten Sinne impliziert.Wie
Dahl hervorhebt, gründet nur ein einziges politisches System zum
Regieren eines Staats seine Legitimation und seine politischen
Institutionen auf der Idee der politischen Gleichheit: Dies ist die
Demokratie. Dabei sollte eine ideale Demokratie als Minimum über
folgende Merkmale verfügen: Teilnahme am Meinungsbildungsprozess,
gleichberechtigte Abstimmung bei der Entscheidungsfindung, Aufklärung
in Form von Information über Politikoptionen und deren Konsequenzen,
letzte Kontrolle über die politische Tagesordnung durch das Volk,
Einbeziehung aller Mitglieder des Volkes sowie Grundrechte, die diese Bestandteile der idealen Demokratie verfassungsmäßig absichern.Ausschlaggebend
für die Entscheidung in einer Demokratie ist immer das
Mehrheitsprinzip. Dieses Prinzip wird dem Grundsatz gerecht, dass alle
Bürger das Recht der politischen Gleichbehandlung haben. Es versteht
sich allerdings von selbst, dass die unabdingbaren Grundrechte eines
jeden Bürgers nicht durch Mehrheiten beschnitten werden können. Das
politische System der Demokratie ist nämlich nur die notwendige, wenn
auch nicht ausreichende Bedingung für die Verwirklichung politischer
Gleichheit. Es würde einem demokratischen politischen System schaden,
wenn man die notwendigen Grundrechte verweigert oder dagegen verstößt.
Hingegen würde es demokratischen Vorstellungen nicht widersprechen,
wenn man der Macht der Mehrheit Grenzen setzt.Der
Autor sieht neben der hier genannten Frage des Minderheitenschutzes
aber noch die Möglichkeit einer anderen, weit heimtückischeren
Entwicklung für die Demokratie, die dann von der Demokratie zu einer
Art Oligarchie verlaufen könnte. Dabei würde es die Mehrheit der Bürger
versäumen, ihre Grundrechte zu schützen und zu verteidigen, obwohl sie
von diesen überzeugt sind, da ihnen eine Partei mit größeren Ressourcen
gegenübersteht, die diese gezielt für ihre eigenen Interessen einsetzt.
Von
jeher stehen der politischen Gleichheit immense Hindernisse entgegen,
die das erreichbare Maß an Gleichheit schon immer beschränkt haben –
auch in historisch relativ günstigen Epochen. Die Hürden, die der
politischen Gleichheit zuwiderlaufen, lauten: Ungleiche Verteilung der
politischen Mittel, Fähigkeiten und Anreize; unaufhebbare
Zeitbeschränkungen; die Größe der politischen Systeme; die Dominanz der
Marktwirtschaft; die Existenz internationaler Systeme, die wichtig,
aber nicht demokratisch sind; und die Unausweichlichkeit schwerer
Krisen. Dahl stellt gerade diese Hürden in den Mittelpunkt seiner
Analyse und sieht gegenwärtige Entwicklungen in Richtung einer Erhöhung
dieser Schranken, die die politische Gleichheit untergraben, mit großer
Sorge.Selbst
wenn die Grundrechte die gleichen Rechte und Pflichten der Bürger
garantieren, bleiben doch die politischen Mittel in allen
demokratischen Systemen dermaßen ungleich verteilt, dass die politische
Einflussnahme nicht als gleich angesehen werden kann. Unter politischen
Mitteln versteht man dabei all das, was ein Mensch benutzen kann, um
das Verhalten anderer zu beeinflussen: Geld, Informationen, Zeit,
Wissen, Nahrung, die Androhung von Gewalt, Arbeitsstellen,
Freundschaften, sozialer Status, tatsächliche Rechte, Wahlkampfmittel und vieles
andere mehr. Neben
dieser Ungleichheit der politischen Mittel kommt noch eine weitere
Ungleichheit hinzu, nämlich: Die Ungleichheit der Kenntnisse, der
Fähigkeiten und der Anreize. Die politischen Kenntnisse und die
politischen Fähigkeiten sind bei den Bürgern so unterschiedlich
vorhanden, dass die Möglichkeiten der Bürger, diese effektiv
einzusetzen und tatsächlich politische Ziele zu erreichen, stark
divergieren. Empirisches Material seit den 1940er Jahren zeigt, dass in
allen demokratischen Ländern der Durchschnittsbürger dem guten
Staatsbürger, wie er in der klassischen und modernen Literatur
beschrieben wird, nicht gerecht wird. Zweifelsohne sind die Bürger in
der deutlichen Minderheit, die über ein ausgeprägtes Interesse an
Politik verfügen. Die Zahl der politisch Aktiven ist noch geringer. Das
Wissen der Durchschnittsbürger über politische Fragen ist äußerst
bescheiden, so dass eine kleine Elite die großen politischen Fragen für
eine mehr oder weniger schweigende, oftmals politikverdrossene Mehrheit
entscheidet. Zudem sind die politischen Prozesse derart komplex, dass
der Durchschnittsbürger oftmals gar nicht erkennt oder erkennen kann,
wo seine Interessen in diesen Entscheidungsprozessen liegen.Daraus
folgt, dass Menschen mit überlegenen politischen Fähigkeiten diese
nicht nur für das Gemeinwohl nutzen können, sondern ebenso für eigene
Zwecke. Möglicherweise erfolgt dies auf Kosten anderer Bürger. Dies ist
nichts Neues, denn in der ganzen Menschheitsgeschichte haben in allen
Gesellschaften die meisten Menschen einen signifikanten Teil ihrer Zeit
dem Versuch gewidmet, die Entscheidungen anderer in Gemeinschaften zu
beeinflussen. Insofern gibt es Einflussnahme, Macht und Autorität
überall im Leben des Menschen. Problematisch wird gemäß Dahl die
Situation aber dann, wenn Menschen einen Großteil ihrer Zeit mit dem
Versuch verbringen, die Regierung ihres Landes zu beeinflussen. Und
heutzutage lässt sich kaum übersehen, dass eine kleine Minderheit in
demokratischen Ländern ihre Zeit überwiegend damit verbringt,
politischen Einfluss zu suchen und auszuüben, die Mehrheit der Bürger
dies aber nicht tut bzw. nicht tun kann. Diese Tatsache der zeitlichen
Kontingenz hat unausweichlich Konsequenzen für die politische
Gleichheit.Außerdem
lohnt es sich für die gesellschaftlichen Eliten unter Kosten- und
Nutzengesichtspunkten mehr Zeit aufzuwenden, um politischen Einfluss zu
gewinnen. Gleichzeitig gewinnen sie dadurch immer größeren Einfluss auf
politische Entscheidungen. So verstärkt sich in modernen Demokratien
zwangsläufig – solange nicht politisch bewusst gegengesteuert wird –
das Gewicht der Einflussnehmer auf die Politik immer mehr zugunsten
kleiner Zirkel, und damit einhergehend vergrößert sich die Ungleichheit
innerhalb einer demokratischen Gesellschaft zunehmend. Da in modernen
Demokratien aufgrund des Dilemmas der Größe die Bürger die Macht
zwangsläufig und für Dahl auch sinnvollerweise an Repräsentanten
delegieren, wird die politische Gleichheit zusätzlich beeinträchtigt.
Je größer eine politische Einheit ist, desto weniger stehen die
Repräsentanten den Bürgern zur Verfügung. Dies ist zwangsläufig so,
denn je größer die Zahl der Bürger, die ein Delegierter vertritt, desto
weniger Zeit steht diesem zur Verfügung, sich mit diesen auszutauschen.
Dies stärkt nolens volens wiederum die privilegiertesten Mitglieder
einer Gesellschaft.Trotz
aller Vorteile, die eine am Markt orientierte Wirtschaft mit sich
bringt, sieht Dahl auch zwei negative Folgen dieser, die in einer
demokratischen Ordnung permanente Probleme mit sich bringen:1.
Der Autor geht davon aus, dass eine Marktwirtschaft ohne regulierende
Maßnahmen unausweichlich immer einigen, gelegentlich auch vielen
Menschen Schaden zufügt. Der Schaden wird durch dynamische
Veränderungen verursacht, die in einer Marktwirtschaft permanent
stattfinden, wozu u.a. Arbeitslosigkeit, Beschäftigung in
unqualifizierten Tätigkeiten, Verarmung, anhaltende Armut,
unzureichende Unterkunft, Krankheit, körperliche Beeinträchtigung und
Tod in Folge der Bedingungen am Arbeitsplatz, Beschädigung der
Selbstwertschätzung, des Selbstvertrauens und des Ehrgefühls, Verlust
von Nachbarn und Freunden aufgrund der notwendigen Mobilität zählen.
Vom Mangel an Wohnungen für Familien bis hin zu einem Leben auf der
Straße können die Folgen der Marktwirtschaft reichen.2.
Jede Marktwirtschaft produziert zwangsläufig eine Ungleichheit an
Mitteln unter den Bürgern, denn dies macht einen Teil ihres Wesens aus.
Dies betrifft Ungleichheit im Sinne von Einkommen und Wohlstand, aber
auch direkt oder indirekt von Informationen, Status, Bildung, Zugang zu
politischen Eliten sowie vieles mehr. Die Leichtigkeit der Umwandlung
dieser Mittel in politische Mittel ist ja bereits erörtert worden.
Insofern sind politische Ungleichheiten in hohem Maße Ungleichheiten an
Mitteln als Resultat der Marktwirtschaft.Für
Robert Dahl verfügt ein modernes, demokratisches Land über keine
umsetzbare Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Die
Grenzen zwischen freiem Markt und staatlicher Regulierung seien dennoch
ständig im Fluss, so dass die Menschen grundsätzlich durch die
demokratischen Institutionen in die Lage versetzt werden, Widerstand zu
mobilisieren und so Veränderungen herbeizuführen. Dies war in der
Vergangenheit im Nationalstaat oft mit Erfolg der Fall. Der
Politikwissenschaftler sieht allerdings für die heutige Zeit das
zunehmende Problem in der Internationalisierung der
Entscheidungsprozesse, wobei internationale Systeme für die politische
Gleichheit ein Problem in dreierlei Hinsicht darstellen: Internationale
Systeme treffen Entscheidungen mit erheblichen Folgen für die Bürger in
demokratischen Ländern; viele Entscheidungen, die aus solchen Systemen
hervorgehen, führen zu höchst wünschenswerten Ergebnissen; die
Entscheidungen internationaler Systeme kommen nicht auf demokratischem
Wege zustande und können es auch nicht.Die
erste Aussage dürfte unstrittig sein. Und auch die zweite Aussage
werden wenige anzweifeln, selbst wenn einzelne Gegner bestimmter
Organisationen und Systeme sind. Die dritte Aussage ist der
entscheidende Sachverhalt, denn wenn diese richtig ist, stehen wir vor
einer schwerwiegenden Herausforderung an die Demokratie und damit an
die politische Gleichheit. Für ihn treffen internationale Systeme
Entscheidungen, die hierarchisch, elitär sind und zudem dem Preissystem
folgen. Eine effiziente demokratische Kontrolle über die
Entscheidungsträger aber fehlt ganz oder ist nur rudimentär
ausgebildet. Zwangsweise stellt sich die Frage, ob wir überhaupt von
internationalen Systemen erwarten können, dass sie grundlegende
politische Institutionen ähnlich einer modernen repräsentativen
Demokratie herausbilden. Aus guten Gründen fällt für den Autor die
Antwort verneinend aus:1.
Die Institutionen müssten bewusst entwickelt werden, denn sie entstehen
nicht durch Evolution oder durch spontane Akte. Es erscheint dem Autor
geradezu absurd, zu glauben, dass die Entscheidungen der Weltbank oder
der Welthandelsorganisation eines Tages von einem legislativen Gremium
getroffen werden könnten, dessen Mitglieder direkt von den Bürgern
ihrer Länder gewählt wurden.2.
Das Problem der Größe wird in internationalen Systemen noch verstärkt.
Bereits große Länder können kaum den Kontakt zwischen Bürgern und
Repräsentanten halten. Bei internationalen Systemen ist dies so gut wie
nicht umsetzbar, was die Verwirklichung der politischen Gleichheit
praktisch unmöglich macht.3.
Die Schaffung demokratischer Institutionen, sowohl das Funktionieren
dieser als auch der Austausch zwischen Repräsentanten und Bürgern wird
auf der internationalen Ebene durch die verschiedenen historischen
Erfahrungen, Unterschiede in Identität, Kultur, Werten, Überzeugungen
und Bindungen sowie sprachlichen Hindernissen noch unwahrscheinlicher.
Mit zunehmender Größe (an Einwohnerzahl wie an betroffenem Gebiet)
steigt laut empirischen Erfahrungen die Diversität. Politische
Entscheidungen dürften unterschiedliche Folgen für verschiedene Gruppen
haben, von denen sich die Verlierer vielleicht nur widerwillig oder
nicht fügen werden, was mit neuen Friktionen bis hin zu offener Gewalt
einhergehen kann. 4.
Die Diversität liefert somit die Notwendigkeit, eine gemeinsame
politische Kultur zu schaffen, die dazu beiträgt, dass die Bürger ihre
politischen Institutionen in Zeiten von Konflikten und Krisen
unterstützen. Da es bereits heute in demokratischen Ländern schwierig
ist, während einer akuten Krise die Stabilität aufrechtzuerhalten,
zweifelt Dahl mit der Ausnahme der Europäischen Union an dem Erfolg
eines solchen Ansinnens, denn einem internationalen System würde
jegliche gemeinsame politische Kultur fehlen.5.
Internationale Entscheidungen sind oftmals derart komplex, dass sie von
den meisten Bürgern nicht nachvollzogen werden können. Den Entscheidern
ist somit gleichfalls unmöglich, eine sachlich begründete Zustimmung
darzulegen.6.
Zu guter Letzt umfasst die Weltwirtschaft schon heute internationale
Märkte und multinationale Unternehmen in einem höchst komplexen,
Legitimationsfragen aufwerfenden System. Haben in der Vergangenheit
Unternehmen einen wesentlichen Teil ihrer öffentlichen Akzeptanz und
Legitimität durch Regulierungsmaßnahmen seitens des Staates erhalten,
wird dies zunehmend von anderen internationalen Organisationen und
Abläufen übernommen – namentlich von der Welthandelsorganisation, der
Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds etc. Damit hat das Problem
des demokratischen Konsenses aber kein neues Gesicht erhalten, denn bei
diesen Organisationen handelt es sich um die Herrschaft durch begrenzte
pluralistische Eliten, die zur weiteren Zunahme der politischen
Ungleichheit führt.Man
kann Analyse und Kritik Dahls wie folgt zusammenfassen: Die Verteilung
der politischen Mittel, Fähigkeiten und Anreize, die Größe der
politischen Systeme, unaufhebbare Zeitbeschränkungen, die Dominanz der
Marktwirtschaft, die Existenz internationaler, nicht demokratischer
Systeme, die Unausweichlichkeit schwerer Krisen stehen dem Ziel
politischer Gleichheit der Bürger einer politischen Einheit verstärkt
entgegen. Dahl fordert daher einen Maßstab, mit dem sich der Abstand
der politischen Gleichheit zum Idealzustand bestimmen lässt. Der
Ist-Zustand erlaubt nicht einmal eine hinreichende Einschätzung, ob die
politische Gleichheit größer oder kleiner geworden ist. Es gibt kein
verlässliches Maß wie bei Einkommen, Lebenserwartung etc., anhand
dessen sich sagen lässt, in welchem Umfang die politische Gleichheit im
Land X größer als im Land Y ist. Nur auf Rangordnungen wie ›mehr‹,
›weniger‹, ›ungefähr gleich‹ könne man zurückgreifen.Dahls
primäre Befürchtung ist, dass die ungleiche Verteilung politischer
Ressourcen ein Niveau erreichen könnte, auf dem eine Veränderung
schwierig oder unmöglich ist. Obwohl die weniger privilegierten
Schichten die Mehrheit der Bevölkerung stellen, könnte der kumulative
Zugewinn an Macht, Einfluss und Befugnissen der privilegierten
Schichten so groß werden, dass die weniger Privilegierten nicht mehr in
der Lage und vielleicht auch nicht mehr Willens sind, die notwendige
Anstrengung auf sich zu nehmen, um gegen die Ungleichheit zu
mobilisieren. Wenn aber zu wenige Bürger die erforderlichen Opfer an
Zeit und anderen Ressourcen aufbringen, um den überlegenen Ressourcen
der Oberschicht, die weit eher bereit ist, ihre privilegierte Position
zu verteidigen, etwas entgegenzusetzen, könnte die Demokratie erheblich
Schaden nehmen. Gewalt wäre dann als Fanal nicht auszuschließen,
letztlich könnte aber auch die Demokratie erodieren.Robert
Dahl stellt die richtigen, ja die richtig unbequemen Fragen zum
aktuellen Entwicklungspfad moderner Demokratien. Eigentlich müsste man
annehmen, dass diese Fragen ein breites Echo in der Öffentlichkeit
finden. Zwar hat sich mittlerweile eine Debatte zum Zustand des
Kapitalismus in Gang gesetzt, in deren Rahmen auch der Zustand der
Demokratie immer mehr in den Focus gerät, aber die Kernfragen Dahls
sind bisher nicht tangiert worden: Ist das Streben nach Gleichheit in
der Demokratie eine notwendige und unabdingbare Voraussetzung zu ihrer
Selbstbehauptung? Und welchen Grad an Gleichheit braucht Demokratie
eigentlich? Diese Debatte wird kommen, Dahls Buch Politische Gleichheit
– ein Ideal? ist der lesenswerte Vorbote.Ulrich Arnswald