Peter
Brandt
im
Gespräch mit Renate Solbach
Selbstbehauptung
vor der Geschichte
Was
ist links?
Solbach: Das
Thema Selbstbehauptung lässt sich unterschiedlich deklinieren – im
persönlichen, im öffentlichen und im Bereich der Institutionen
einschließlich des Staates und seiner supranationalen Schöpfungen. Um
mit letzteren zu beginnen: von den beiden führenden Militärblöcken der
zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Nato und Warschauer Pakt,
hat sich nur einer behauptet. Frage an den Historiker (ich hoffe, sie
wirkt nicht zu bizarr): Hätte es, vor allem mit Blick auf das heutige
China, für Russland eine realistische Möglichkeit gegeben, den eigenen
Machtblock über den Zusammenbruch des sozialistischen
Wirtschaftssystems hinweg zusammenzuhalten?
Brandt: Ich
denke, dass man auch kontrafaktische Überlegungen anstellen darf – bis
zu einem gewissen Grad auch muss – als Historiker, um
Entscheidungssituationen überhaupt als solche wahrnehmen zu können. Es
besteht immer die Gefahr, dass man historische Entwicklungen vom
tatsächlich Eingetretenen her beurteilt und dann als zwangsläufig
ansieht. Das ist ja zunächst ein ganz banaler Gedanke, insofern finde
ich die Frage nicht bizarr. Sie ist nur schwer zu beantworten.
Ich denke, eine Weichenstellung liegt in der Entscheidung der Führung
um Gorbatschow – wobei offenbar Schewardnadse eine wesentliche Rolle
spielte –, die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands zu
akzeptieren. Es zeichnete sich ja bereits ab, dass der Zug in diese
Richtung gehen und es schwer sein würde, ihn von sowjetischer – damals
noch sowjetischer, nicht russischer! – Seite zu stoppen. So
etwas hatte man sich mit gutem Grund jahrzehntelang nicht vorstellen
können. Wenn es ein Motiv für die Sowjetunion gegeben hätte, in eine
wie auch immer geartete deutsche Vereinigung einzuwilligen, dann doch
den, das westdeutsche Potential dem Nato-Bündnis zu entziehen. Nun
hatte sich die weltpolitische Konstellation verändert, es ging in
Richtung Entspannung – wobei das Neue Denken in der sowjetischen
Führung eine maßgebliche, wenngleich nicht alleinige Rolle spielte –
und die innere Krise der Sowjetunion, insbesondere der
Gorbatschow-Führung, spitzte sich gleichzeitig zu. So kam man am Ende
der Überlegungen offenbar zu dem Ergebnis, dass man dem westlichen
Block und insbesondere den USA allerdings ungeheure Schwierigkeiten
bereiten würde, wenn man die Zustimmung zur Vereinigung an die
Bedingung koppelte, das vereinte Deutschland dürfe nicht der Nato
angehören. Das hätte keineswegs automatisch einen Neutralitätsstatus
wie den der Schweiz bedeutet, man hätte sich da verschiedene Varianten
vorstellen können. Es wurde ja auch alles Mögliche überlegt, unter
anderem eine Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in beiden
Militärblöcken. Solche Ideen geisterten damals herum.
Das Mindeste wäre gewesen, die Nato hätte darauf verzichtet, sich auf
das ostdeutsche Territorium auszudehnen. Dass es so gehen würde, wie es
dann ging, war zunächst einmal ganz unwahrscheinlich. Es ist
anzunehmen, dass die Gorbatschow-Führung die Lage so eingeschätzt hat:
Wir haben da zwar eine Trumpfkarte, aber wenn wir sie spielen, dann
bekommen wir einen massiven Konflikt mit den Amerikanern. Gerade den
wollten sie nicht. So muss man es wohl deuten. Trotzdem überrascht,
dass sie alles aus der Hand gegeben haben. Gut, sie haben finanzielle
Hilfen und die Reduzierung der deutschen Armee als Gegengabe bekommen.
Aber gemessen an dem, was sie aufgegeben haben, war das sehr wenig. Es
war völlig klar, die Aufgabe der DDR bedeutete, dass der Ostblock nicht
zusammengehalten werden konnte. Man darf ja nicht übersehen, in Polen
gab es schon ab Sommer 1989 eine nicht-kommunistische Regierung unter
Mazowiecki. Man vergisst das oft, wenn man die Bedeutung des 9.
November, der Maueröffnung ins Auge fasst. In Ungarn waren die Weichen
bereits deutlich in Richtung auf ein Mehrparteiensystem gestellt. Die
Sowjetrussen hatten die Doktrin der begrenzten Souveränität, also die
Breschnew-Doktrin, aufgegeben. Das heißt, es war schon sehr viel mehr
passiert, als die meisten Menschen wahrnahmen.
Daher neige ich dazu, die Frage zu verneinen. Aber ich halte es für
denkbar, dass es bei mehr Hartnäckigkeit Moskaus möglich gewesen wäre,
eine veränderte Sicherheitsstruktur zu schaffen, und sei es in der
Variante – eine Idee, die über Jahrzehnte auch immer wieder
herumschwirrte –, dass die Sowjetunion oder Russland in der Folge der
Nato beigetreten wäre. Natürlich hätte das eine völlig andere als die
heutige Nato bedeutet. Die Nato war immer maßgeblich auch ein
Instrument der amerikanischen Hegemonie. Angenommen, ein zweiter
Partner dieser Dimension wäre ihr beigetreten, so wäre es damit vorbei
gewesen. Theoretisch existierte die Möglichkeit, die Nato-Strukturen
und die Strukturen der OSZE zu verschmelzen. Auch im Nachhinein, aus
heutiger Sicht erscheint eine solche Entwicklung nicht unmöglich. Aber
angesichts der Weiterexistenz der Nato, so wie sie war, glaube ich
nicht, dass es für Russland eine Chance gegeben hätte, den eigenen
Machtblock zusammenzuhalten.
Solbach: Ist es nicht ungewöhnlich, dass die anderen
ehemaligen Ostblock-Staaten in die Nato strebten, dass sie aus dem
einen Machtblock herauskamen und sofort wieder einem neuen beitreten
wollten?
Brandt: Das hing natürlich mit der Sorge zusammen, dass
sich noch einmal so etwas wie ein, wenn nicht sowjetrussischer, dann
großrussischer Hegemonismus entfalten könnte. Das ist bis heute das
Hauptmotiv geblieben: Man will Sicherheit haben vor großrussischen
Ambitionen. Es zeigt sich in der Raketenschirm-Angelegenheit bis hin zu
den entsprechenden Beitritts- bzw. Annäherungswünschen der Ukraine,
Georgiens und Kasachstans. Angesichts dessen wäre es schon eigenartig,
wenn es aus russischer Sicht keine Einkreisungsängste gäbe. Man muss
auch einmal sehen, dass die Russen– und zwar nicht nur die
kommunistischen oder pro-kommunistischen Russen sondern fast alle –
sich natürlich betrogen fühlen. Es gab so etwas wie ein Versprechen an
die damals noch sowjetische Führung, dass angesichts ihrer
Totalkapitulation in Deutschland die Nato wenigstens nicht an die
russische Westgrenze vorrückt, auch wenn es nicht ganz eindeutig ist,
was da nun versprochen wurde. Zumindest hat die Gorbatschow-Führung die
deutsche Nato-Mitgliedschaft wohl unter dieser Voraussetzung
akzeptiert. Daher kommt nicht zuletzt die in Russland sehr verbreitete
Vorstellung, die andere Seite habe die Russen über den Tisch gezogen.
Solbach: Wir werden auf einen anderen Aspekt der Frage
später zurückkommen. Man hätte sich damals ja auch vorstellen können,
dass so ein Modell sich wandelt, dass eine sowjetische
Führung in dieser Lage nicht sofort auf Kapitalismus setzt oder
pro-westlich agiert, sondern neue Modelle entwickelt. Darauf kommen wir
noch. Vor zwanzig Jahren erfuhr die westliche Linke einen Prestige- und
Machtverlust, von dem sie sich bis heute nicht wirklich erholt hat.
Manchem erschien das damals unlogisch. Das Scheitern des seit langem
kritisierten östlichen Modells hätte die Bahn für alternative Konzepte
in Ost und West frei machen können. Stattdessen schlug die Stunde des
Neoliberalismus. Seither gibt es einen durch Abtrünnige aus den eigenen
Reihen verstärkten Druck auf die Sozialdemokratie, sich zur Aktions-
und Koalitionsgemeinschaft mit der aus der östlichen Staatspartei und
diversen Splittern im Westen hervorgegangenen Linkspartei zu bekehren.
Wird die Linke immer noch eher als eine Gesinnungs- beziehungsweise
Kampfeinheit wahrgenommen denn als Spektrum unterschiedlicher
Gesellschaftsmodelle?
Brandt: Erst
einmal: einschränkend würde ich sagen, es hat ja eine Phase gegeben, in
der zwar nicht die radikale Linke, aber Mitte-Links-Regierungen
dominierten. Wenn man an die späten neunziger Jahre denkt, ca. zehn
Jahre nach dem Umbruch, so gab es in 13 der 15 damaligen EU-Länder
Mitte-Links-Regierungen, unter anderem in Deutschland. Man kann diese
Tatsache auch als einen ersten schüchternen Versuch der Völker
interpretieren, diesen Turbo-Kapitalismus irgendwie zu steuern. Das hat
nicht funktioniert, unter anderem, weil diese Regierungen selbst ihn
munter weiter vorantrieben. Ich will nur sagen, die Entwicklung verlief
nicht so eindeutig. Aus heutiger Sicht sieht es für die Linke in ihren
verschiedenen Ausprägungen so düster aus wie seit vielen Jahrzehnten
nicht. Das muss man sagen und es betrifft nicht nur Deutschland, wo
sich immerhin auch gegenläufige Tendenzen zeigen, wenn man auf die
Sozialdemokratie und die Partei »Die Linke« sieht. Ob es damals, vor
rund einem Jahrzehnt, eine objektive Chance gab, die
Entwicklungsrichtung zu ändern, darüber kann man diskutieren. Man hat
es damals einfach nicht zuwege gebracht, ein eigenes wie auch immer
geartetes Modell auf europäischer Ebene zu installieren.
Solbach:
Kann das auch damit zusammenhängen, dass Russland seit der Revolution
von 1917 für viele dieses utopische Modell war, bei dem man nicht so
genau hinschaute? Dass mit dem Ende der Sowjetunion eine Art
Rückenstärkung für die Linken weggefallen ist?
Brandt: Das
trifft natürlich teilweise zu. Große Teile allerdings, wenn nicht die
Masse der Linken, wenn man die Sozialdemokratie dazurechnet, standen
von vornherein in Distanz und auch Gegnerschaft zu diesem Modell. Das
trifft übrigens sogar auf einen Teil der radikalen Linken zu, der von
Anfang an Distanz und dann sogar heftigen Widerstand empfunden hat.
Trotzdem muss man sagen, dass die Linke insgesamt – das wird ja immer
unterstellt, nicht ohne Grund – durch den Zusammenbruch des
Ostblocksystems aus dem Tritt kam. Man kam zum einen aus dem Tritt,
weil man – wie stark auch immer – doch noch gewisse Hoffnungen darauf
setzte, und sei es auf die allerletzte Reformphase
Gorbatschows. Da sind noch einmal unglaubliche Hoffnungen mobilisiert
worden, das darf man nicht vergessen.
Solbach:
Viele haben mit einer Sozialdemokratisierung gerechnet.
Brandt: So
ist es. Wie immer das dann im Konkreten ausgesehen hätte. Es gab nicht
allein das Entsetzen über den Zusammenbruch des Post-Stalinismus bei
der pro-sowjetischen Strömung, es gab zum anderen die Enttäuschung oder
auch die Desorientierung, die aus dem Zusammenbruch des Versuchs
entstand, diesen auf eine reformerische Weise zu überwinden. Diese
Differenzierung ist wichtig. Dazu kommt, dass ganze Generationen von
politischen Akteuren darauf trainiert worden waren, mit dem
Ost-West-Gegensatz zu operieren. Das trifft nicht nur auf alle zu, die
in irgendeiner Weise sich, wie vage auch immer, zu einer Art
Sozialismus bekannten, sondern in gewisser Weise auch auf diejenigen,
die konträr dazu standen. Nur war es für Letztere einfacher, sich nun
zum Sieger zu erklären. Das, denke ich, spielte mit, auch symbolisch.
Man hatte jetzt nicht mehr diese Ost-West-Konstellation. Die ganz
beachtlichen Konzepte, die namentlich die deutsche Sozialdemokratie
nicht nur in der Frühphase der Entspannung seit den späten
sechziger Jahren, sondern auch in der Spätphase, in der ersten Hälfte
der achtziger Jahre, gegen den Trend der erneuten Verschärfung des
Ost-West-Konflikts entwickelt hatten, das war Makulatur in dem Moment,
in dem eine Seite von der Bildfläche verschwand. Man muss sich das
immer wieder klar machen: Noch aus der Sicht der mittleren achtziger
Jahre war das, was dann passierte, völlig unwahrscheinlich. Heute sieht
es so aus, als hätten diejenigen, die auf den Zusammenbruch des
Ostblocks gesetzt hatten – den im Ernst kaum ein Mensch mehr erwartete
–, eine langfristige, langsichtige Politik betrieben. So war es nicht.
Da haben sich Dinge entwickelt, die nicht nur unwahrscheinlich
erschienen, sondern, wie ich betonen möchte, aus der Sicht noch der
mittleren achtziger Jahre auch unwahrscheinlich waren. Natürlich kann
man viele Gründe finden, warum sich das dann trotzdem so entwickelt
hat. Alles zusammengenommen erklärt immerhin, warum danach insbesondere
links der Mitte erst einmal eine gewisse Desorientierung eintrat und es
vielen schwer fiel, sich zurechtzufinden.
Es war eben so, dass die liberal-konservativen Kräfte es leichter
hatten. Sie mussten sich zwar auch umstellen, aber sie konnten die
Kehrtwende vollziehen, indem sie alles, was irgendwie vorne die drei
Buchstaben S-O-Z hatte, einfach dem untergegangenen System zurechneten.
Das war jetzt passé und als nächstes war der sozialdemokratische
Wohlfahrtsstaat dran. Der hat dann ja wegen der Globalisierung auch
beträchtliche Anpassungsprobleme gehabt. Rein gedanklich könnte man
sagen, das ist unlogisch – warum sollte die Sozialdemokratie dadurch
geschädigt werden, dass jetzt die Diktatur im Osten, der kommunistische
Etatismus, passé war. De facto lief es so angesichts der weltweiten
Entfesselung des Finanzmarkt-Kapitalismus.
Aber noch aus der Perspektive des Spätjahrs 1989 stand das Ganze auf
der Kippe. Es war nicht zwingend, dass es so gehen musste, wie es
gegangen ist. Nach wie vor glaube ich, dass in diesem Spiel die
Entwicklung in der DDR einen entscheidenden Stellenwert besaß. Damit
meine ich die Wahl am 18. März 1990, deren Ergebnis, der große Sieg der
Allianz für Deutschland, ja für viele sehr überraschend kam. Es war
eine situationsbedingte Wahl. Auch wenn man die Umfragen mit bis zu 53
Prozent für die Sozialdemokratie nicht für bare Münze nahm – Leute, die
etwas von der DDR verstanden, hatten über die Jahrzehnte immer
prophezeit, dass die Sozialdemokratie vorne liegen würde, sollte es
einmal zur einer freien Wahl kommen. Die weitgehende Zerstörung der
alten sozialdemokratischen Hochburgen in Mitteldeutschland hat man
möglicherweise unterschätzt. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass
manches aus Berliner, soll heißen Ostberliner Perspektive sich anders
darstellte als etwa in Sachsen. Jedenfalls gab es gute Gründe zu
vermuten, die Sozialdemokratie würde in der DDR erfolgreich sein. Nun
gehörte ich nicht zu denen, die der Meinung waren, es sei möglich oder
wünschenswert gewesen, die DDR dauerhaft zu erhalten. Das war zu dem
Zeitpunkt auch schon gar nicht mehr realistisch. Jetzt kam es darauf
an, wie der Einigungsprozess betrieben würde. Schäuble hat dadurch,
dass auf der anderen Seite des Tisches jemand wie Minister Krause saß,
de facto mit sich selber verhandelt. Das wäre bei einer anderen
politischen Konstellation doch etwas anders gewesen. Insofern glaube
ich, dass diese Wahl in der DDR tatsächlich eine gewisse
Weichenstellung bedeutete. Der Spielraum für politische Alternativen
jenseits des westlichen Spektrums war sowieso vorbei. Die alte Diktatur
und die Kommandowirtschaft hatten weder in der Realität noch beim
Wahlvolk irgendeine Chance. Nicht ausgemacht war die simple
Angliederung, die für die DDR in gewisser Weise die eindeutigste Lösung
bedeutete, weil man einem bestehenden und relativ gut funktionierenden
Staat beitrat. Aber die Frage stellte sich ja für den ganzen Bereich
Mittel-, Ost- und Südeuropas. Das war, glaube ich, eine wirkliche
Entscheidungssituation und in dieser Entscheidungsphase 1989 bis
Frühjahr 1990 kam der Volkskammerwahl noch einmal eine besondere
Bedeutung zu.
Nicht alles hätte so laufen müssen, wie es gelaufen ist. Das hilft
jetzt nicht so sehr weiter, aber – dem galt ja bereits die erste Frage
nach dem Kontrafaktischen – um überhaupt Situationen als
Entscheidungssituationen zu erkennen, muss man sich solche Fragen schon
stellen. Darauf würde ich nach wie vor beharren, schon deshalb, weil
die weitere Entwicklung dann ja auch zur Delegitimierung Gorbatschows
beitrug. Das darf man nicht vergessen. Dieser rapide Verfall der
Autorität, nicht ganz ohne eigenes Zutun, die Auflösung des eigenen
Machtbereichs und seine Auffüllung durch die Gegenseite, schritten
rapide fort, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und unterminierten
Gorbatschows Position bis hin zum Putsch vom Sommer 1991, der
schließlich dazu führte, dass Jelzin mit seinen Leuten das Steuer
übernahm. Jelzin war anfangs ein Protagonist ganz anderer Strömungen
als der, die in seinem Gefolge dann – einschließlich der Chicago-Boys
und Radikal-Privatisierer – Einzug hielten. Ursprünglich galt er als
Repräsentant – ob zu Recht oder Unrecht – radikalreformerischer, auch
egalitärer, radikaldemokratischer Bestrebungen. Dass er dann
für anderes stand, auch das gehört zu den Ergebnissen der eingetretenen
Konstellation. Was es über seine Person aussagt, steht auf einem
anderen Blatt.
Solbach: Es
ist die Frage, ob man so etwas überhaupt persönlich sehen kann.
Brandt: Ich
will damit sagen, dass Jelzin unter anderen Umständen möglicherweise
für etwas Anderes gestanden hätte. Man muss sich in der Tat auch
fragen, was das eigentlich für eine herrschende Schicht in der
Sowjetunion war, die dann bruchlos ins Oligarchentum überging. Nicht,
dass mich das entsetzt hätte, das nicht, eher hat es mich in meiner
kritischen Haltung bestärkt. Das war schon verblüffend, da sieht man,
wie dünn dieser ideologische Firnis war, der das alte System
legitimiert und stabilisiert hat. Ich selbst hatte ja, unter anderem
beruflich, Kontakt nicht nur zu Oppositionellen in der DDR, sondern
auch zu SED-Leuten und ich kann mich erinnern, dass Mitte der achtziger
Jahre, vielleicht 1986, ein Kollege, ein bekannter Historiker der DDR,
einmal zu mir sagte – privat natürlich, nicht auf einer Konferenz –:
Wir haben den Wettlauf verloren. Ein linientreuer Mann. Das hat sich
mir sehr eingeprägt, weil ich mich immer nach dem tieferen Grund
gefragt habe, warum sich das Massaker vom Pekinger Platz des
Himmlischen Friedens in der DDR nicht wiederholt hat. Wenn eine
Führung, die sicherlich machtopportunistisch deformiert ist, vage doch
noch daran glaubt, dass man auf Seiten des historischen Fortschritts
marschiert usw. und dann ist der Glaube weg und man hat irgendwann
vielleicht das Gefühl, es bleibt nur das einfache Klammern an die Macht
übrig – in dieser Konstellation liegt, glaube ich, der tiefere Grund,
dass das alles so relativ unblutig, in der DDR völlig unblutig, aber
selbst aufs Ganze gesehen ziemlich unblutig vor sich gegangen ist.
Solbach:
Kommen wir doch noch einmal auf meine Frage zurück, als was die Linke
heute wahrgenommen wird.
Brandt: Ich
weiß nicht, als was die Linke wahrgenommen wird. Ich habe den Eindruck,
um es ein wenig flapsig zu formulieren, wenn im heutigen Deutschland an
die Linke gedacht wird oder der Begriff ›die Linke‹ auftaucht, dann
denkt man erst einmal an die Linkspartei, sprich: Nachfolge der SED mit
einigem angelagertem Westpotential, ansonsten an Gender-Mainstreaming
und die Befreiung der Transsexuellen in der Inneren Mongolei und
dergleichen, im Grunde aber nicht mehr an die harten Themen. Es war nie
präzise auszumachen, was die Linke ist, aber in den letzten Jahrzehnten
ist es noch diffuser geworden. Insofern denke ich, seit langem hat
niemand mehr darunter eine Gesinnungs- oder Kampfeinheit verstanden.
Eher handelte es sich um ein Konglomerat oder eine politische Tendenz,
fast so etwas wie eine Ansammlung von Milieus, mit einem bestimmten
Lebensgefühl und einer Grundtendenz im Politischen. Das wurde zunehmend
weniger als eine Frage der politischen Programmatik verstanden. Durch
die Konstituierung der Linkspartei hat sich das jetzt vielleicht ein
bisschen geändert. Aber da laufen sozusagen zwei Begriffe der ›Linken‹
nebeneinander her.
Solbach: Für
viele ist das wie ein Label.
Brandt:
Daher kann man sagen: Was heute links ist, was als links gelten kann,
das ist ganz diffus. Man müsste auch nach dem Gegenbegriff fragen.
Rechts will ja keiner sein, bis auf die Ultras. Die CDU/CSU jedenfalls
würde nicht behaupten: Ja, wir sind rechts. Sie würde vielleicht sagen:
Wir haben unter anderem ein konservatives Element, das sich, nebenbei
gesagt, marginalisiert fühlt. Aber man macht gemeinsam Kampagnen gegen
rechts, ist gegen rechtsextrem. Da hat eine interessante Verschiebung
stattgefunden – die Mitte umfasst sozusagen neunzig Prozent, jedenfalls
vom Anspruch her.
Ich halte das für eine ungesunde Entwicklung, denn damit ist eine
Einengung der politischen Debatte verbunden. Ich bin ja nun politisch
identifizierbar, aber ich bin durchaus der Meinung, dass es
konservative, rechte Positionen gibt, die legitimerweise sich im Rahmen
unserer Verfassungsordnung ausdrücken können und auch ausdrücken können
müssen. Sie gehören in die politische Debatte. So wie legitimerweise
eine Partei »Die Linke« existiert, die jetzt kapitalismuskritische
Positionen vertritt. Aber es gibt eine Tendenz bei einem beträchtlichen
Teil der Publizistik, zu meinen, Kapitalismuskritik sei quasi
verfassungsfeindlich. Demokratie und Marktwirtschaft werden oft in
einem Atemzug genannt und es gibt die Meinung, dass beides nur zusammen
funktioniert. Man kann dieser Meinung ja sein, aber wenn alles andere
verfassungsfeindlich wäre, dann wäre die deutsche Sozialdemokratie vor
1959 eine verfassungsfeindliche Partei gewesen. Sie hat aber maßgeblich
zum Grundgesetz beigetragen.
Solbach: Das
wäre meiner Meinung nach auch eine unzulässige Vermischung von Ökonomie
und Politik.
Brandt: Wie
gesagt, man kann der Meinung sein, dass nichts anderes funktioniert.
Gemeint ist, nebenbei gesagt, damit nicht bloß Marktwirtschaft, sondern
privatkapitalistische Marktwirtschaft. Da geht es nicht nur um den
Markt als Steuerungsmechanismus, sondern um eine kapitalistische
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
Solbach: Zur
Selbstdarstellung der Parteien im parlamentarischen System gehört es,
sich als Alternative zur bestehenden, das Regierungshandeln
bestimmenden Gemengelage aus begrenzten Projekten, Interessen und
Rücksichten darzustellen. Keine Partei will Staatspartei sein, aber
alle zusammen bilden den Staat. Sie füttern ihn mit den Einbildungen,
deren das Handeln bedarf, und stellen seine Akteure. Dieser Gegensatz
zwischen Selbstdarstellung und pragmatischem Handeln wird in der
Öffentlichkeit als Glaubwürdigkeitslücke der Politik gehandelt. Eine
Partei der ›kleinen Leute‹ ist da besonders gefährdet, da sie vom
Vertrauen dieser in der Wahrnehmung ihrer Interessen eher passiven
Bevölkerungsgruppe unmittelbarer als andere abhängt. Ideologische und
organisatorische Divergenz scheint der Preis zu sein, den die Linke in
einer Gesellschaft der enttäuschten Erwartungen für die Jagd nach dem
notwendigen Minimum an Vertrauen zahlt. Ist das die strukturelle Falle,
in der sie sich heute befindet?
Brandt: Na
ja, dass innerhalb der Linken verschiedene Richtungen existieren, ist
nichts Neues. Die sozialdemokratisch-kommunistische Spaltung – daneben
gab es dann manchmal noch eigene linkssozialistische Gruppierungen –,
besteht nun seit dem Ersten Weltkrieg oder der Zeit unmittelbar nach
dem Ersten Weltkrieg. Die Frage ist also: Was hat sich geändert? Für
das Wahlvolk schwerer erkennbar geworden ist der Zusammenhang zwischen
Selbstdarstellung und programmatischer Orientierung auf der einen Seite
und dem, was die betreffenden Parteien praktisch tun. Eine gewisse
Diskrepanz gab es da ja immer und es war stets die Frage, wie weit es
den betreffenden politischen Gruppierungen gelang, in der Wahrnehmung
der Leute eine Verbindung herzustellen. Für Parteien, die sich auf den
Boden der gegebenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stellen – man
könnte es etwas schärfer formulieren: die den gesellschaftlichen Status
quo als legitim akzeptieren, um es nicht auf die Systemfrage zu
verengen –, ist es natürlich einfacher, sich rein pragmatisch zu
verhalten. Anders steht es um Parteien, die – wie vage auch immer – die
Vorstellung von einer neuen Gesellschaft, einer – jetzt kommen wir
indirekt wieder zur Frage »Was ist links?« − solidarischen Gesellschaft
der Freien und Gleichen hegen. Das hört sich sehr pathetisch an, aber
ich rede von einer Zielrichtung, einer ›Vision‹. Parteien, die so etwas
besitzen, wie vage auch immer, wie diffus auch immer, können sich nicht
ohne Wenn und Aber auf den Boden des gesellschaftlichen Status quo
stellen. Für sie ist immer das Problem größer, zwischen dem praktischen
Regierungshandeln und ihrer programmatischen Orientierung eine
erkennbare Beziehung herzustellen. Das Problem hat auch früher
existiert bis dahin, dass man in Regierungen eingetreten ist, um
gegenüber dem größeren das kleinere Übel zu garantieren, oder eine
Regierung zu tolerieren – denkt man an die Regierung Brüning in der
Schlussphase der Weimarer Republik, die nun wirklich in vielen Punkten
Dinge tat, die dem Eigenen strikt zuwiderliefen, um das große Übel, das
Nazitum, zu verhindern. Immerhin haben die SPD- und Gewerkschaftsbasis
das damals weitgehend geschluckt. Die Sozialdemokraten sind zwar in
Wahlen schwächer geworden, aber man hat die Truppen im Wesentlichen
zusammengehalten. Darin, denke ich, liegt ein Unterschied zur
gegenwärtigen Situation. Inzwischen, das ist allgemein bekannt, werden
die Milieubindungen schwächer, die Bindungen an die sozialen
Formationen, an die sozialen Klassen und Schichten haben sich
gelockert, was nicht heißt, dass sie überhaupt keine Rolle mehr
spielten, aber in den 1960er Jahren gab es Gegenden, da
konnte die SPD eine Vogelscheuche aufstellen und kriegte sechzig
Prozent der Stimmen, und die CDU oder CSU hatte ihrerseits Gegenden, wo
auch sie eine Vogelscheuche aufstellen konnte. Einige wenige davon gibt
es noch…
Solbach: …
die Hochburgen.
Brandt: …die
sogenannten Hochburgen, ganz genau und das waren auch damals nicht nur
begeisterte Leute. Ich glaube, zweierlei spielt eine Rolle: erstens die
abnehmende Milieubindung. Der harte Kern der CDU/CSU waren immer die
kirchlich stark gebundenen Katholiken, mehr als die Protestanten, vor
allem natürlich im mittelständischen Milieu. Bei den Sozialdemokraten
waren es die evangelischen Industriearbeiter. Erst später kamen die
katholischen stärker dazu. Die Vorstellung, das sind unsere Leute, die
wir wählen, war schwer zu erschüttern. Das ist das eine. Das zweite
ist, dass für die Menschen in der Tat der Zusammenhang zwischen der
politischen Praxis und der, wie vage auch immer, Zielvorstellung oder
programmatischen Orientierung, kaum mehr erkennbar ist. Ob eine Partei
noch glaubwürdig als Partei der kleinen Leute akzeptiert wird, hat
dabei nicht nur mit ihrer praktischen Politik, sondern auch mit
Symbolik zu tun. Auch das muss man sagen: Der normale
sozialdemokratische Politiker der fünfziger und sechziger Jahre war
niemand, der aus dem akademischen Bereich kam oder eine akademische
Ausbildung hatte. Das Übliche war, dass die Leute aus den Betrieben
kamen, dass sie aus den Büros kamen und eine sehr viel engere
lebensweltliche Verbindung zu dem besaßen, was die Masse der
Bevölkerung tat. Natürlich kann man einwenden, dass es heute sehr viel
mehr Abiturienten als damals gibt und es insofern naheliegt, dass auch
in den Parteien ein größerer Anteil von Akademikern oder akademisch
ausgebildeten Leuten Funktionen bekleidet. Aber insgesamt muss man wohl
feststellen, dass die politische Führungsschicht – manche sagen: die
politische Klasse – sich von der Gesellschaft entfernt hat.
Insbesondere von dem, was man die normalen Menschen nennt. Das teilt
sich diesen auch mit. Damit will ich nicht sagen, die Politiker seien
korrupter oder schlechter in ihrem charakterlichen Zuschnitt als
früher. Ich meine nur, die Verselbständigung dieser Sphäre ist
deutlicher spürbar. Diese zwei bzw. drei Faktoren spielen eine Rolle.
Solbach: Es
geht ja teilweise so weit, dass Politiker sagen, das sind Wahlaussagen,
ob sie nachher eingelöst werden, ist eine andere Sache. Irgendwo
entspricht das dann auch dem momentanen Menschenbild. Man redet von
Mobilität und Flexibilität, durchgängige Gesinnungen oder Meinungen
widerstreben dem in gewisser Weise. Da stehen ganz viele Dinge
gegeneinander…
Brandt: Der
frühere Bundeskanzler Schröder hat, noch ehe er Kanzler wurde, die
schöne Formulierung gebraucht, es gebe keine linke oder rechte
Wirtschaftspolitik, sondern nur eine moderne oder nichtmoderne. Das
bringt den Sachverhalt in gewisser Weise auf den Punkt: Es geht nur
noch darum, dass es funktioniert. Verfolgt man diesen Gedanken weiter,
dann geht es zwischen den Parteien letztendlich nur darum, wer es am
besten macht. Ganz neu ist das nicht, es spielte in der
parteipolitischen Konkurrenz schon immer eine Rolle.
Solbach: Das
Schema von Zersplitterung und Sammlung, von Entzweiung und Vereinigung
der ›historisch wirksamen Kräfte‹ schmeckt nach einer Politik des
Schismas oder, schärfer formuliert, nach Geschichtsmetaphysik. Ist die
Idee einer pragmatischen, geschichtsphilosophisch
ernüchterten Partei der sozialen Verantwortung (für deren deutsche
Variante einst das Godesberger Programm stand) ein Bluff, eine
jesuitische Verbeugung vor einer radikal-konstruktivistischen
Gegenwart, in der die Vergangenheit nur als Rohmaterial für Statistiken
taugt? Verlangt das Überleben einer genuinen Linken die Artikulation
eines Menschheitsinteresses, das sich nicht im gerade gültigen
Systemrahmen beruhigt? Was ist links?
Brandt: Die
großen Schismen in der Geschichte sind ja durchaus real und nicht nur
metaphysisch. Ob wir jetzt an das Schisma zwischen der Ostkirche und
der Westkirche denken, oder dann später an Katholizismus und
Protestantismus. Auch das hier näher liegende große
kommunistisch-sozialdemokratische Schisma betrifft ganz reale Dinge.
Wenn man die politische Sphäre plural denkt, dann muss aus dem Schisma
nicht die Vereinigung folgen oder die Vorstellung, es müsse irgendwie
aufgehoben werden. Es kann auch bedeuten, dass man die Schärfe der
Trennung mildert oder die Form der Auseinandersetzung ändert. Die
Konfessionen haben irgendwann aufgehört Religionskriege zu führen und
im Laufe der Zeit ist daraus ein immer noch nicht spannungsfreies, aber
doch überwiegend konstruktives Verhältnis geworden. Nein, man muss
nicht die Vorstellung haben, dass das Schisma einfach im Sinne der
Vereinigung beseitigt wird.
Solbach:
Immerhin könnte man sagen, dass etwas überhaupt als Schisma bezeichnet
wird, legt diese Sicht nahe.
Brandt: Da
denke ich vom historischen Ursprung her. Schließlich hat es dieses
Schisma ja gegeben. Es ist dann ein bisschen ein Streit um des Kaisers
Bart, ob man sagt, da hat sich etwas verselbständigt und es macht
keinen Sinn mehr, das unter den Begriff des Schismas zu
fassen, oder ob man auf dem Bild des Schismas beharrt. Gehen
wir zum nächsten Punkt. Das Godesberger Programm wird ja nicht nur in
der Sozialdemokratie, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit gern
hochgehalten.
Nebenbei gesagt, viele, die es außerhalb der Sozialdemokratie, sogar
unter den Gegnern der Sozialdemokratie hochhalten, haben es
wahrscheinlich nie gelesen, denn es enthält manches, worüber die Leute
staunen würden. Ganz so angepasst ist es nicht, es ist offen, es ist
eine Öffnung, und eines der Problem von Godesberg war, dass es nicht
nur als Absage an eine bestimmte geschichtsphilosophische und
gesellschaftstheoretische Untermauerung des Programms, also an ein im
Wesentlichen noch vom Marxismus oder von Marxschen Gedanken bestimmtes
Dogma verstanden werden konnte und auch überwiegend verstanden wurde.
Die Idee einer Öffnung, also zu sagen, es gibt verschiedene Zugänge –
wie das nebenbei schon Kurt Schumacher formuliert hatte: man kann
genauso von der Bergpredigt her kommen wie von der marxistisch
beeinflussten Gesellschaftsanalyse oder von ethischen Positionen ganz
anderer Art –, diese Idee war ja nicht neu, es war eine der Prämissen,
die in das Programm einflossen, doch überwiegend wurde Godesberg in der
Partei als Absage an jede gesellschaftstheoretische Fundierung
verstanden.
Wenn man die sechziger Jahre verfolgt, dann sieht man, wie damals
innerparteilich agiert wurde. Die frühen Sechziger, das war die Zeit
der Gemeinsamkeitspolitik, es gab das Stichwort der Umarmungstaktik
gegenüber der CDU, die der Analyse einer bestimmten Psychologie des
deutschen Wahlvolks entsprang, das – nach dem Zweiten Weltkrieg auch
nachvollziehbar – auf Sicherheit setzte. Da dachte man, jede
Konfrontation geht zu unseren Ungunsten aus, also machen wir das jetzt
ganz anders. Wir versuchen den Eindruck zu erwecken, wir sind die
bessere CDU.
Worauf ich hinauswill: Das alles hätte sich nicht zwingend aus
Godesberg ergeben müssen. Und in der Tat wurde auf der Grundlage des
Godesberger Programms etwas später der Begriff des demokratischen
Sozialismus – den man dort findet – reaktiviert, der eine Zeitlang ganz
aus der Mode gekommen war, und man fing an, wieder sehr viel
grundsätzlicher gesellschaftsanalytisch und gesellschaftspolitisch zu
denken, zu argumentieren und zu diskutieren.
Insofern denke ich, Godesberg ist so etwas wie eine algebraische Formel
gewesen, in die man Verschiedenes hinein legen konnte. Das Berliner
Programm von 1989 bedeutete sicherlich keine Re-Ideologisierung oder
Dogmatisierung im alten Sinne, doch drückte es, verglichen mit
Godesberg, noch einmal eine gewisse Tendenz nach links aus. Es ist dann
ja schnell Makulatur geworden. Zum Glück für die SPD kam der Umbruch in
der DDR gerade noch rechtzeitig, so dass sie die deutschlandpolitischen
Passagen umformulieren konnte. Davon abgesehen, war das aus meiner
Sicht ein durchaus zukunftsweisendes Programm, in das man etwa die
ökologische Problematik eingearbeitet hatte. Zur Zeit des Godesberger
Programms war die SPD noch für die friedliche Nutzung der Atomenergie.
Ich kann mich erinnern, auch ich als junger Linkssozialist war in der
zweiten Hälfte der sechziger Jahre für die friedliche Nutzung der
Atomenergie. Zum Teil haben wir damals, ich will nicht sagen das Heil
davon erwartet, aber doch die Lösung mancher Probleme. Die ganze
ökologische Dimension war noch nicht im Bewusstsein und das war einer
der Gründe, weshalb es für die SPD zweckmäßig war, in den achtziger
Jahren ein neues Programm zu machen. In der Tat glaube ich, die
Probleme, vor denen – wiederum etwas pathetisch formuliert – die
Menschheit steht, sind so gravierend, dass die Linke ohne eine
weitreichende menschheitliche Orientierung, die sich nicht in dem
gerade gültigen Systemrahmen bewegt, eigentlich überflüssig ist. Die
linke Option macht nur Sinn, wenn diese Dimension darin enthalten ist.
Was das konkret bedeutet, dazu kommen wir noch.
Die entgrenzte
Gesellschaft und ihre Feinde
Solbach:
Blickt man auf das durch ein neues Säkularbewusstsein in eine weitere
Distanz gerückte neunzehnte Jahrhundert zurück, dann fällt auf, dass
keine der damals als ›modern‹ konzipierten Ideen wirklich aufgegeben
wurde. Ob Liberalismus, Sozialismus, Nationalismus, Imperialismus,
Internationalismus, Anarchismus, Feminismus, Maskulismus, Rassismus –
sie alle, durch die Geschichte desavouiert oder nicht, existieren und
lauern auf ihre Gelegenheit. Selbst der geschmähte Fortschritt hat sich
von seinen Niederlagen erholt und erklärt so manches. In dieser
Hinsicht erscheint uns das neunzehnte Jahrhundert heute näher als das
zwanzigste. Ist das pure Illusion oder gibt es eine Parallelität der
Weltlagen?
Brandt: Ich
denke, in einem zentralen Punkt existiert diese Parallelität: Die
Teilung der Welt in zwei Blöcke ist passé. Nun galt diese nicht fürs
ganze zwanzigste Jahrhundert, aber im Grunde deutete sich die Teilung
in weltanschauliche Lager schon mit dem Ersten Weltkrieg an. Das ist
vorbei. Damit ist ja auch manches wieder freigesetzt, auch manches
Destruktive. Über Jahrzehnte hatten wir eine Situation, in der der eine
Block beanspruchte, die Freiheit in der Welt zu repräsentieren, während
der andere beanspruchte, den Sozialismus und den sozialen Fortschritt
zu repräsentieren. Das neunzehnte und das zwanzigste Jahrhundert liegen
hinter uns. Wir hatten völlig die Naivität, man kann auch sagen, die
Unbefangenheit im Umgang mit gedanklichen Systemen verloren. Das ist
vorbei. Wir können über vieles wieder unbefangener reden. Sofern man
heute von sozialen Klassen und Schichten sprechen kann – Schichten
jetzt als Unter- und Zwischenkategorien verstanden –, wird man in
anderer Weise davon sprechen als im neunzehnten Jahrhundert und in
größeren Teilen des zwanzigsten. Da gibt es beträchtliche Veränderungen.
Aber einfach aufgelöst haben sich die Klassen und Schichten in der
langen Prosperitätsphase des Nachkriegskapitalismus nicht, und
spätestens seit den neunziger Jahren hat die soziale Polarisierung auch
in den entwickelten Ländern wieder zugenommen.
Solbach: Hat
das nicht zwei Aspekte? Wenn man all diese Dinge aufzählt, bekommt man
das Gefühl, es sind gar keine neuen Ideen dazu gekommen. Auf der
anderen Seite brechen nach dem Ende der Blöcke, zum Beispiel in
Jugoslawien, Dinge auf, von denen man nie vermutet hätte, dass sie
unter dem, was du eben Firnis genannt hast, überhaupt noch da waren
oder wieder aufbrechen und eine Rolle spielen könnten. Man hat das als
Rückfall in alte Muster gesehen oder zumindest bezeichnet.
Brandt: Hier
spielt der Ethnonationalismus insofern eine besondere Rolle, als es im
östlichen Teil Europas mehr oder weniger nie zur Konsolidierung von
konstitutionellen Nationalstaaten gekommen ist. Die einzige
halbwegs stabile repräsentative Demokratie in der Zwischenkriegszeit
war die Tschechoslowakei, auch sie nicht unproblematisch, da auch in
ihr das Nationalitätenproblem nicht wirklich gelöst war. Es war ein
Nationalitätenstaat, der sich als Nationalstaat definiert hat. Pauschal
gesprochen kann man sagen, der konstitutionelle Nationalstaat in
Richtung repräsentative Demokratie hat sich in dieser Großregion nicht
stabilisieren können. Das heißt, schon in der Zwischenkriegszeit waren
diese Nationalitätenkonflikte nicht gelöst, auch nicht in irgendeiner
Form beherrscht worden. Letzten Endes haben sie maßgeblich dazu
beigetragen, dass diese Staaten dann zerfielen, jedenfalls sich in den
meisten Fällen in Richtung Diktatur entwickelten. Mit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs wurden diese Staaten vom Sowjetkommunismus
überformt. Da war es dann der Gewaltapparat, der die Konflikte unten
gehalten hat. Das muss man so drastisch sagen. In Jugoslawien gab es
immerhin erstens eine mildere Form der Diktatur und zweitens
versuchte man dort durchaus, den Nationalitäten einen gewissen
Entfaltungsspielraum zu geben. Das war übrigens immer ein Problem, auch
im alten Jugoslawien vor 1941, weil einige Regionen sehr viel weiter
entwickelt waren als andere und es in der Logik dieser Staatsordnung
lag, dass umverteilt wurde. Die Slowenen und Kroaten waren immer
unzufrieden damit, dass ein Teil ihres Mehrprodukts abgeschöpft wurde
und in die weniger entwickelten südlichen Regionen ging. Dennoch hatte
man den Eindruck, das Problem sei unter Tito einigermaßen gelöst. Doch
als dann die alte Ordnung erodierte und schließlich zusammenbrach, gab
es keine verbindende Idee mehr.
Die gesamtjugoslawische Staatsidee war eng verbunden mit dieser Version
des sogenannten ‹realen Sozialismus‹. Der Sowjetpatriotismus war eng
verbunden mit dem Sowjetkommunismus. Sobald mit dem System des
kommunistischen Etatismus die Ideologie weg war, gab es keinen
Zusammenhalt mehr. In Jugoslawien, weniger ausgeprägt als in einigen der
anderen Ländern Mittel-, Ost- und Südeuropas, konnte man beobachten,
dass Teile der ehemals kommunistischen Führungsgruppe auf ethnischen
Nationalismus als neues ideologisches Bindemittel umschalteten. Bei
Milošević konnte man es geradezu exemplarisch beobachten. Schon 86/87
fing das an und erreichte einen ersten Höhepunkt mit der berühmten Rede
auf dem Amselfeld, diesem Schlachtfeld, auf dem die Serben 1389 eine
Abwehrschlacht gegen das aufstrebende Osmanische Reich geschlagen
hatten. Diese Politik wurde ganz systematisch eingeleitet. Die
serbische Führung brachte das in Gang, bei den Kroaten gab es ähnliche
Kräfte. Man hat den Ethno-Nationalismus ganz gezielt als ideologisches
Bindemittel und als machtpolitische Ressource genutzt.
So etwas kann natürlich nur funktionieren, wenn man eine Situation hat,
in der unter Nationalitäten, Völkern im ethnischen Sinne des Wortes
oder sich so verstehenden Gruppen von Menschen der Eindruck existiert,
sie hätten sich in der alten Ordnung kulturell und politisch nicht
entfalten können. Dann kommt manches zurück, das atavistisch erscheint.
Interessant war, dass sehr schnell wieder die alten Muster zwischen den
westeuropäischen Mächten zutage traten. Wenn man einmal von Russland
mit seiner traditionellen konfessionell-orthodox und panslawistisch
begründeten Verbindung zu Serbien absieht, so lag auch bei den
Engländern und Franzosen zunächst die Sympathie eher bei den Serben,
während sie bei den Deutschen traditionellerweise der kroatischen Seite
galt. Es war schon bemerkenswert, wie schnell diese alten Rivalitäten
wieder aufflammten. Immerhin hat sich das dann im Sinne des
europäischen Zusammenspiels einigermaßen geregelt. Ob deshalb immer
alles geschickt gehandhabt wurde, ist eine andere Frage. Das Problem
war: sobald man einmal konzedierte, es ist nicht unbedingt
zwingend, dass diese Völker in einem Staat zusammenleben –
grundsätzlich kann man ja sagen, das ist nicht zwingend, die Tschechen
und Slowaken, sprachlich und ethnisch ähnlich eng verbunden wie die
Kroaten und Serben, haben sich friedlich auseinanderdividiert –, und
man über Teilung redete, dann lag es in der Logik der Sache, auch die
alten Republikgrenzen in Frage zu stellen. Daraus ergab sich der
nächste Schritt, dass die Serben in der Kraina und die bosnischen
Serben sagten, dann wollen wir aber zum serbischen Vaterland – wenn
schon, denn schon. Da folgte eins aufs andere. Ich vermute, es war bis
zu einem gewissen Grad unvermeidlich, dass sich bei einem solchen
Systemzusammenbruch die nationalen Empfindungen und Erinnerungen
geltend machten. Es gab aber genügend Kräfte auf den verschiedenen
Seiten, die das über das unvermeidliche Maß hinaus verschärft haben.
Solbach:
Selbstbehauptung ist ein seltsames Wort, es setzt ein Selbst voraus,
das sich als Hauptsache setzt. In dieser Hinsicht enthält die
Gesellschaft der planetarischen Kommunikation und des globalen
Kommerzes eine bittere Lektion. Was sich behauptet, sind ›Marken‹,
geprägte Formeln mit wechselndem Inhalt, und ›Firmen‹, mehr oder minder
anonyme Konzentrationen von Macht und Geld. In beiden Dimensionen ist
ein persönlicher (oder personvermittelter) Sinn nicht erkennbar. In
einer solchen Welt existiert kein Selbst, es herrscht die Travestie.
Die Frage ist: Was behauptet sich, wenn sich nichts behauptet? Oder ist
die totale Gesellschaft nur ein schlechter Witz, der nicht nur an ihren
Rändern ständig widerlegt wird?
Brandt: Wir
kennen das noch als Behauptung aus dem Mund Margaret
Thatchers: Es gibt so etwas wie Gesellschaft nicht, es gibt nur
Individuen, es gibt nur Familien. Diese Vorstellung ist mit dem, was
man als Neoliberalismus bezeichnet, eng verbunden, nicht nur als
Feststellung, sondern auch als Programm. Was an gesellschaftlichen
Bindekräften noch da ist, soll ganz bewusst aufgelöst werden. Es gibt
in der europäischen Tradition, stärker als in der nordamerikanischen,
doch erhebliche Bindekräfte. Ich denke da an gesellschaftliche
Organisationen, seien es die Kirchen, die in Europa anders organisiert
sind als in Amerika, sei es unser Typ von Parteien oder
Interessenorganisationen wie die Gewerkschaften, aber auch an die
Einrichtung des Sozialstaats. Nun wissen wir, dass all das durch die
Globalisierung unter enormen Druck geraten ist. Die Frage ist, was sich
davon behauptet. Es gibt eine Erosionstendenz, das ist ganz klar.
Innerhalb bestimmter Denkrichtungen betrachtet man diese ja als etwas
rundum Erfreuliches. Der Mensch wird – so meint man –freier von
Milieubindungen, frei von der Anbindung an Organisationen. Die
Vereinsmeierei hört auf. Er ordnet sich von Fall zu Fall zu.
Solbach:
Aber er wird auch frei verfügbar.
Brandt: Er
wird freier verfügbar, das kommt hinzu, aber so ist es bei den
Apologeten nicht gemeint: Man stellt sich dort vor, dass diese
Individualisierung zu einer Befreiung führt. Ich will ja nicht leugnen,
dass es bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts
traditionelle Bindungen gab, die den Menschen unfrei machten. Wir haben
noch eine Familienstruktur kennen gelernt – ich rede jetzt nicht von
eigenen Erfahrungen –, die zweifellos repressiv war. Man sollte heute
nicht so tun, als sei das eine Idylle gewesen. Aber ganz sicher ist die
simple Auflösung nicht die Befreiung. Das ist, nebenbei gesagt, auch
meine Kritik an der 68er-Bewegung, dass dort ungewollt dieser
Zeitströmung zugearbeitet wurde und das hinterher von manchen
Protagonisten auch noch so gedreht wurde, als wäre es der eigentliche
Sinn und Zweck des Ganzen gewesen. Ich habe mich gerade etwas
ausführlicher mit Nordeuropa im frühen zwanzigsten Jahrhundert
beschäftigt. Man kann dort zum Beispiel sehen, dass diese modellhaft
demokratische – übrigens immer friedliche – Entwicklung von der
konstitutionellen Monarchie zum Parlamentarismus und zum
sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat unter anderem mit einer ganz
ungewöhnlich dichten Organisierung dieser Gesellschaft zu tun hatte.
Eine Art von demokratischem Korporatismus war ein wesentlicher Aspekt
dieses Prozesses. Es gab vor dem Zweiten Weltkrieg keine Gesellschaft,
die so durchorganisiert war wie die dänische. Ich sage das im Hinblick
darauf, dass man den Korporatismus oft eher mit dieser autoritären
deutschen Tradition verbindet. Der Mensch ist nun einmal beides, er ist
ein Individuum und er ist ein Gemeinschaftswesen. Man schädigt ihn und
seine Fähigkeit, die Umwelt – jetzt nicht im ökologischen Sinne
verstanden – in einer erträglichen und in der Perspektive erfreulichen
Richtung zu gestalten, wenn man den einen Aspekt einfach kappt, indem
man die Gemeinschaftlichkeit ruiniert. Ich sehe diese Tendenzen, ich
sehe sie als destruktiv an, ich bin auch nicht sicher, ob wir das
geregelt kriegen. Ich kann nicht ganz ausschließen, dass diese quasi
totalitäre Atomisierungstendenz so weit geht, dass unsere
Gesellschaften, unsere Gemeinwesen – ein alter deutscher Ausdruck, der
mir sehr gut gefällt, weil er zwischen Staat und Gesellschaft angelegt
ist und genau dieses Gemeinschaftliche betont –, dass unsere
Gemeinwesen nicht mehr im Stande sind, überhaupt noch kollektiv zu
handeln.
Solbach: Du
hast es totalitäre Atomisierung genannt – man stellt ja auch wirklich
fest, dass diese Individualisierung auf der anderen Seite
Ökonomisierung und Konformismus produziert: die Bindung an Marken, an
Firmen, Vorbilder etc., die was weiß ich woher geholt werden und mit
gesellschaftlichen Werten sehr wenig zu tun haben.
Brandt: Ich
will mich nicht darüber erheben, an manchen Stellen sind wir ja selber
Teil dieses Systems, man kann dem gar nicht ausweichen, wir sind Teil
der Gesellschaft mit ihrem Regelwerk. Aber ich unterstelle,
altersmäßig, vom Bildungsstand und Reflexionsgrad her haben Leute wie
wir wahrscheinlich noch relativ starke Widerstandskräfte. Man merkt es
doch bei den eigenen Kindern. Das sind keine Idioten – im Gegenteil –,
das sind keine unfertigen Menschen, aber man merkt, wie stark der Druck
ist, der Zwang, sich zu behaupten und der Druck sich der Konsumwelt
anzupassen. Beides.
Solbach: Das
meinte ich mit frei verfügbar werden.
Brandt:
Vielleicht kann ich noch einen Gedanken anschließen. Ich habe mich oft
gefragt, was eigentlich bei der Generation unserer Kinder anders ist.
Ich bin Abiturjahrgang 1968, damals war das Schuljahresende noch um
Ostern herum. Es waren unter zehn Prozent eines Jahrgangs, die das
Abitur machten, und es war völlig klar, wenn man sein Abitur hatte,
wurde nicht groß gefragt, mit welchem Notendurchschnitt. Dieser war
meistens etwas strenger berechnet, das muss man auch sagen, aber das
spielte dann keine Rolle mehr. Es standen einem grundsätzlich die Türen
offen. Man hatte, zumindest im beruflichen Sinne, das Gefühl, seines
Glückes Schmied zu sein. Man fragte sich, was will ich machen, nicht,
wo komme ich eventuell rein. Das war eine völlig andere Situation als
bei den jungen Leuten heute. Es gab zu unserer Zeit zudem einen anderen
Horizont, unter dem man sich mit seiner Existenz auseinandersetzte. Wir
hatten doch, jedenfalls wenn ich an mich und mein weiteres Umfeld
denke, das Gefühl, das eigene Leben hat irgendwie mit dem Allgemeinen
zu tun. Vielleicht war das manchmal konstruiert und man hat den
Zusammenhang enger gedacht, als er tatsächlich bestand. Welchen
Unterschied hätte es für unser individuelles Leben gemacht, wenn der
Vietnam-Krieg sich anders entwickelt hätte? Man hatte immerhin die
Vorstellung, dass es diesen Zusammenhang gibt – im engeren
gesellschaftlichen Bereich sowieso. Das ist, glaube ich, bei meinen
Kindern, die sich wirklich für vieles interessieren, die kritisch sind
usw., verloren gegangen. Meine Tochter zum Beispiel ist ökologisch
sehr engagiert, mehr eine Naturschutz-Grüne des alten Typs,
wenn auch ohne Latzhose und öffentliches Stricken. Aber ich habe nicht
den Eindruck, dass sie die Vorstellung hat, die Lage der Welt sei mit
dem eigenen Leben mehr oder weniger direkt verbunden. Wenn sie sich
engagiert, dann aus einem allgemeinen Verantwortungsgefühl für die
Natur heraus, und das ist der Unterschied.
Solbach:
Komischerweise, da die Welt doch verfügbarer geworden, enger
zusammengerückt ist.
Brandt:
Objektiv ist der Zusammenhang dichter, man kann sich dem Allgemeinen
weniger entziehen, als das noch einige Jahrzehnte davor der Fall war,
wenn man einmal von der realen Gefahr des allgemeinen Atomkriegs
absieht, unter der wir objektiv standen, an die wir aber subjektiv
nicht ständig gedacht haben, sonst hätte man ja gar nicht existieren
können.
Solbach: Ich
denke, auch die Bindung an das Geschichtliche oder wie immer du das als
Historiker nennen würdest, ist weniger stark. Wenn man mit jungen
Leuten redet, die ökologisch bewegt oder das oder jenes sind, hat man
oft das Gefühl, sie meinen, dass sie das jetzt zum ersten Mal machen,
als wäre jetzt der Moment gekommen, das zu erkennen und vorher habe es
das alles nicht gegeben. Und wir sehen das und denken, hmm.
Brandt: Ja,
es ist in der Tat so. Ich darf natürlich nicht von mir ausgehen, weil
ich mich immer für Geschichte interessiert habe und sicher auch, weil
ich aus einem sehr politisierten Elternhaus kam. Trotzdem denke ich,
für unsere Altersgruppe – wenn ich Dich unfreundlicherweise mal mit
einbeziehen darf – waren doch zum Beispiel der Zweite Weltkrieg und die
Nazizeit ganz dicht dran. Nun kann man sagen, das betraf schließlich
auch unsere Elterngeneration. Aber für uns war das, was in der
Generation davor passiert war, dichter als für die heutige Jugend das,
was in ihrer Elterngeneration passiert ist. Das ist, habe ich den
Eindruck, für sie Lichtjahre entfernt, und der Zweite Weltkrieg, das
ist so etwas wie der Dreißigjährige Krieg. Ich glaube auch, dass ein
Teil dieser völlig abstrakten und in mancher Hinsicht abwegigen Art,
wie heute mit unserer in der Tat nicht los zu werdenden Belastung durch
das Nazitum umgegangen wird, damit zu tun hat. Das ist unwirklich, sie
können sich nicht vorstellen, dass das lebendige Menschen waren,
Menschen, die in diesem Land gelebt und agiert haben, und
dass man das irgendwie einzuordnen versuchen muss. Dieser
Umgang wird immer abstrakter.
Solbach: Das
hat zur Folge, dass auch die Wahrnehmung undifferenzierter wird. So wie
wir eben von der Diffusität des Linken geredet haben, so ist heute in
vielen Fällen auch gleich die Nazi-Zuschreibung zur Hand.
Brandt: Das
ist völlig grotesk, es ist natürlich auch eine Form der Verharmlosung,
weil es in überhaupt keiner Relation mehr zu dem steht, was real
geschehen ist.
Solbach:
Gesellschaft und Menschenbild gehören zusammen. Wo immer sich Menschen
gewaltsam oder freiwillig zu einer gemeinsamen Praxis verbinden,
produzieren sie ›Bilder‹ von Göttern und Menschen. Könnte es sein, dass
unter dem Druck eines universalen Ökonomismus zwangsläufig die
Selbstreproduktion von Gesellschaft stagniert, während das tragende
liberale Menschenbild in eine Vielzahl auf Kampf und Durchsetzung
gestellter Gruppen-Fundamentalismen zerfällt, deren jeder sich selbst
der Nächste ist? Ist der Krieg der Fundamentalismen in einem radikalen
Sinn unvermeidlich, insofern eine entgrenzte Ökonomie per se
terroristische Züge trägt?
Brandt: Es
ist eine heute gängige Überlegung, dass der Ökonomismus, die
Entgrenzung des Kapitalismus auf der einen Seite und die
fundamentalistische Reaktion auf der anderen zusammen gehören. Vorhin
haben wir über einen anderen Aspekt dieses Vorgangs gesprochen, die
Atomisierung der Individuen, jetzt geht es um die Gruppen. Ich bin
nicht ganz sicher, ob der Ausdruck Fundamentalismus immer passt.
Fundamentalistisch, denke ich, reagieren Leute, wenn traditionale
Zusammenhänge in irgendeiner Weise noch vorhanden, aber in Auflösung begriffen
sind und als bedroht empfunden werden. Es gibt den islamischen
Fundamentalismus mit seinen politischen Ansprüchen, das ist allgemein
bekannt, es gibt so etwas wie einen christlichen Fundamentalismus in
Amerika, den Bibel-Gürtel usw. Der kommt aus einem Milieu, das noch
weitgehend intakt ist und sich bedroht fühlt...
Solbach:
Oder regeneriert. Gerade die Erweckungsgedanken spielen ja eine große
Rolle. Man sagt, man besinne sich auf etwas, das nicht mehr da ist, das
aber man zurückrufen will.
Brandt:
Richtig. Man hat auch festgestellt, dass im Judentum insbesondere die
ultraorthodoxen Strömungen einen Aufschwung nehmen – nicht nur in
Israel selbst, sondern auch in anderen Teilen der Welt. Das ist am
Anfang des 21. Jahrhunderts irgendwie grotesk. Das spräche in der Tat
dafür, dass sich nicht nur bedrohte Milieus mittels Fundamentalismus
wehren, sondern dass auch neue Segmente dazukommen. Konflikte sind
unvermeidlich.
Solbach: So
wie man fragen kann, ob nicht in manchen Situationen der Staat oder
bestimmte Gruppierungen sich in den Ultrarechten ein Feindbild
schaffen, könnte man ja fragen, ob nicht eine entgrenzte Ökonomie
solche Fundamentalismen auch hervorruft. Das meinte der Ausdruck, dass
sie per se terroristische Züge trägt.
Brandt: Ganz
sicher kann man sagen, dass durch diese Ökonomisierung, die
marktkapitalistische Durchdringung von allem und jedem, bestimmte
Bedürfnisse des Menschen zu kurz kommen und das dann zu solchen
Gegenreaktionen führt. Unsere entwickelten Gesellschaften sind sehr
weit fortgeschritten in der Durchdringung auch von Teilen der
Lebenswelt, die bis vor einigen Jahrzehnten nicht kapitalisiert waren.
Der ganze Konsumbereich bis ins Private hinein ist inzwischen ja
kapitalisiert. Man hat zu Recht gesagt, dass die immer wieder zu
verzeichnenden Wellen des Rechtsextremismus in den entwickelten Ländern
auch in diesen Zusammenhang gehören: das Bedürfnis nach
Selbstvergewisserung, nach Identität, der Protest gegen
Marginalisierung, durchaus auch im sozialen Sinn. Der soziale Protest
wanderte am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa, und zwar auch
in Osteuropa, nach rechts außen. Das ist eines der Phänomene, die man
beobachten kann. Teilweise berührt das Fragen, die wir vorhin schon
diskutiert haben. Die verschiedenen Strömungen der Linken sind nicht
mehr im Stande, ein bestimmtes soziales Segment, eine
bestimmte Protestströmung einzufangen. ›Einfangen‹ klingt
sehr funktionalistisch, ich meine damit ›artikulieren‹, Ausdruck
verschaffen, einem legitimen Bedürfnis Ausdruck verschaffen. Das ist
sehr auffällig.
Man hat schon vor Jahren festgestellt, dass die Ultrarechten in
Frankreich, die Le Pen-Partei, die meisten Arbeiterstimmen bekommt –
von denen, die überhaupt abstimmen. Viele gehen ja gar nicht zur Wahl.
Da hat sich etwas verschoben. Teilweise hat das mit Entwicklungen zu
tun, die wir eben schon diskutiert haben, damit, dass diese Kräfte,
seien es religiöse, seien es ultrarechte, am ehesten als Gegenkräfte
verstanden werden. Die andere Seite, die Etablierten auch links der
Mitte, wird eher noch als Teil dieses bedrohlichen Gesamtprozesses
gesehen. Es gibt immerhin Beispiele dafür, dass linke Gruppierungen
erfolgreich sind. Wir haben nicht nur die Partei »Die Linke« in
Deutschland, wir haben zum Beispiel ganz spektakulär die Sozialistische
Partei (SP) in den Niederlanden, nicht die sozialdemokratische Partei,
die heißt »Partei der Arbeit«, sondern die von einem ehemaligen
Maoisten gegründete Gruppierung. Inzwischen ist sie manchmal
stärker als die Sozialdemokratie, weil sie genau das schafft, was
in der
Grundtendenz heute eher die Ultrarechten schaffen. Damit will ich nicht
Rot und Braun gleichsetzen. Das ist nicht der Punkt. Ich will damit die
Frage stellen: Wer schafft es, bestimmte Bedürfnisse zu artikulieren?
Solbach: Ich
glaube, wir sind uns da sehr nahe. Dasselbe habe ich mit dem Ausdruck
›Fundamentalismen‹ gemeint. Dass die Selbstreproduktion stagniert,
heißt ja auch einfach, dass Ideen, die als fortschrittlich angesehen
wurden, nicht weiter entwickelt werden, dass durch die Ökonomisierung
ein Angriff auf den Menschen stattfindet, der auf eine Weise verfügbar
ist, dass er sich wirklich auf fundamentale Dinge zurückbesinnen muss.
Dazu gehört, dass er Selbstverständliches wieder neu bedenken und
hinterfragen muss. Was wird gebraucht? Familienstrukturen z. B. sind
zerbrochen, aber ohne sie geht es nicht. Und so weiter. Diese
Ultrarechten haben natürlich sehr schlichte Bilder und Vorstellungen.
Aber auch diesen Zug muss man verstehen, die Gradheit oder Einfachheit,
die gar nicht positiv sein muss…
Brandt: Es
sind scheinbar einleuchtende, simple Antworten, die Ordnung in den
Gefühlshaushalt bringen. Unsereiner ist es gewohnt, auf
unterschiedlichen Etagen unterschiedlich zu denken, obwohl auch er
gerne Orientierung hat. Das andere ist unser Beruf, wir sind von Jugend
an darauf trainiert, hin und her zu denken, das ist dem Normalmenschen
nicht zuzumuten. Der Intellektuelle hat einen großen Vorteil gegenüber
dem engagierten Nicht-Intellektuellen. Das bezieht sich übrigens auch
auf die Linke und ihre Niederlagen. Der Intellektuelle kann immer noch
geistig und sogar emotional eine gewisse Befriedigung daraus ziehen,
die Niederlage zu bearbeiten und zu erklären. Er ist damit natürlich
auch viel anfälliger für eine bestimmte Art von Opportunismus – ich
meine jetzt nicht die krasse Spielart, Korruption und dergleichen,
sondern die gewisse Art, sich in einen ganz anderen geistigen
Zusammenhang als den hinein zu mogeln, in dem man ursprünglich stand.
Ich habe übrigens auch beobachten können, dass für Menschen, die aus
dem Bereich der normalen Arbeitnehmerschaft kommen, der Entschluss,
sich zu engagieren, sich zum Beispiel einer relativ kleinen Gruppe
anzuschließen, eine viel existenziellere Bedeutung besitzt.
Man muss dergleichen im Auge behalten, wenn man den Zusammenhang
zwischen der Entgrenzung des Warenverhältnisses und der Atomisierung
des Einzelnen thematisiert.
Solbach:
Gesellschaft und Staat in Europa bilden, blickt man auf die letzten
zwei Jahrhunderte zurück, eine Selbstbehauptungseinheit, die in der
klassischen Dichotomie von Besitz- (beziehungsweise Erwerbs-) und
Staatsbürger ebenso ihren Ausdruck findet wie in der proletarischen
Figur des Genossen, in der beide Funktionen zusammengeführt und
›vergesellschaftet‹ erscheinen. Was sich da behauptet, ist das Volk
(demos) in seiner doppelten Bedeutung als ›Masse‹ und Nation: die
lebendige Einheit aus Individual- und Kollektivwillen. Unter dem Regime
der G8-Beschlüsse und EU-Richtlinien scheint davon nur der statistische
(und ordnungspolitische) Faktor ›Bevölkerung‹ übrigzubleiben. Was
bedeutet Demokratie ohne Volk?
Brandt: Aus
meiner Sicht gibt es keine Demokratie ohne Volk. Auch wenn die
Entwicklung, am deutlichsten auf der europäischen Ebene, dahin zu gehen
scheint, dass das Volk sich in der Bevölkerung auflöst. Der Begriff
Volk hat mehrere Dimensionen. Zwei sind genannt worden, das politische
Volk auf der einen Seite und das soziale Volk, die Masse im Gegensatz
zu Elite. Die dritte Dimension wäre die ethnische oder
ethnisch-kulturelle. Die Frage ist, ob es gelingt, diese Funktionen
sozusagen aufzuteilen. Ich kann mir ein vereintes Europa, das aus
vielen Gründen nötig ist, nicht anders vorstellen, als dass wir ein
europäisches Volk im politischen Sinne zunächst einmal begrifflich
konstruieren, bevor es dann nach und nach Gestalt annimmt. Aber es wird
mit Sicherheit kein Volk von der Einheitlichkeit des deutschen sein –
nun gut, das ist heute auch nicht mehr so einheitlich. Das europäische
ist nur vorstellbar als zusammengesetztes Volk. Das heißt, es wird für
eine nicht absehbare Periode – man zögert zu sagen für immer –
wahrscheinlich eher für Jahrhunderte als für Jahrzehnte neben dem
europäischen Volk das deutsche, das italienische Volk usw. geben. Ich
behaupte sogar, dass die europäische Konstruktion nur funktionieren
kann, wenn es das deutsche, spanische, schwedische Volk weiter gibt,
die europäische Konstruktion also auf funktionierenden
konstitutionellen Nationalstaaten ruht. Nebenbei gesagt, auch in
Deutschland, auch in der heutigen Bundesrepublik gibt es in den
Landesverfassungen z. B. ein Volk von Rheinland-Pfalz, begrifflich
findet man auch da durchaus diese Doppelkonstruktion. Nun wird auf
absehbare Zeit Europa nicht dieselbe Dichte erreichen wie die
Bundesrepublik Deutschland. Es wird auf längere Frist etwas bleiben,
das zwischen Staatenbund und Bundesstaat angesiedelt ist. Das
Problem besteht darin, wie man es so geordnet, sortiert bekommt, dass
nicht durch die Ungleichgewichtigkeit der Ebenen die Demokratie perdu
geht und eigentlich niemand mehr weiß, wer das Subjekt ist, der Träger
der Souveränität und so weiter. Ich habe da kein Patentrezept, nur
denke ich, dass es gerade der falsche – zum Teil heute auch theoretisch
beschrittene − Weg ist, zu sagen, das Konzept Volk kann man vergessen,
das ist vorbei und wir reden jetzt über Mehr-Ebenen-Systeme. Mein Weg
wäre eher der, das Volk zu rekonstruieren bzw. zu konstruieren, und
zwar sowohl auf der nationalen als auch auf der europäischen Ebene. Ich
gebe zu, dass ist erst einmal nur ein Postulat. Aber ohne dieses sehe
ich nicht, wie man den ganzen Prozess demokratisch konsolidiert
bekommt.
Solbach:
Nach dem Schweizer Volksbegehren zum Bau von Minaretten habe ich mir
den Satz eines Journalisten aufgeschrieben, weil ich ihn so signifikant
fand. Es geht mir dabei nicht um das Ergebnis des Volksbegehrens, aber
einfach zu schreiben, der Staat ticke anders, als die, die den Staat
ausmachen, das erschien mir doch bemerkenswert.
Brandt: Es
ist immer nett zu hören, sobald bei einer Volksabstimmung nicht das
herauskommt, was die Betreffenden gerne hätten: Da sieht man, wohin die
direkte Demokratie führt, da kann ja nur Mist herauskommen.
Entsprechend könnte man bei einer Parlamentsentscheidung, die einem
nicht gefällt, sagen, das ist Mist, was der Parlamentarismus bringt, da
braucht man doch eine Diktatur. So kann es nicht gehen. Eine ganz
andere Diskussion wäre, ob man das Schwergewicht der Entwicklung auf
die Ausdehnung in Richtung auf die direkte, also plebiszitäre
Demokratie legt oder auf ihre Vertiefung in die verschiedenen
staatlich-gesellschaftlichen Sphären hinein. Das eine schließt das
andere nicht aus, aber es sind zwei verschiedene Stoßrichtungen. Ich
gebe offen zu, dass ich hinsichtlich der Zweckmäßigkeit von
Volksabstimmungen generell schwankend bin. Aber natürlich müssen wir
darüber nachdenken. Die Entwicklung ist in Deutschland noch
dramatischer als in anderen Ländern, vielleicht weil in Deutschland
mehr tabuisiert oder quasi tabuisiert wird. Diese ungeheure Diskrepanz
zwischen dem, was auf der zentralen politischen, sprich
parlamentarischen Ebene behandelt und dem, was im Volk gedacht und
empfunden wird, ist meines Erachtens für die Demokratie auf ganz
dramatische Weise ungünstig. Wenn die Menschen nicht mehr das Gefühl
haben, irgendwie repräsentiert zu sein mit ihrer Meinung – nicht jeder
Einzelne, aber doch beträchtliche Strömungen –, dann ist das höchst
bedenklich.
Solbach:
Wenn man das diskutieren wollte, müsste man natürlich auch über die
Medien reden.
Brandt: Bei
den Medien ist es das Gleiche. Die Masse des Volkes empfindet einen
großen Abstand gegenüber der politischen Klasse, zu der ja nicht nur
die Funktionäre des Politischen, sondern auch die Journalisten zählen,
sie sind ja im Grunde Teil dieses Betriebs. Es
entsteht der Eindruck, diese Leute diskutieren ihre Sachen über unsere
Köpfe hinweg, sie entscheiden über unsere Köpfe hinweg, mit unseren
Interessen, Gedanken, Empfindungen hat das nichts zu tun. Die Medien
gehören da genauso rein.
Solbach: Sie
beeinflussen in beiden Richtungen.
Brandt: Da
beginnt eine ganz heikle Diskussion. Die Pressefreiheit wurde einmal
gegen den Obrigkeitsstaat durchgesetzt, d.h. sie hatte eine bestimmte
emanzipatorische Bedeutung. Nebenbei gesagt, wenn man sich Zeitungen
bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ansieht, dann sind
die auch anders. Da wird zum Beispiel viel breiter berichtet als heute.
Heute spricht man nicht ohne Grund von der vierten Gewalt. Das ist eine
ungeheure Macht und man kann schon die Frage aufwerfen, ob es so sein
muss, dass derjenige, der viel Geld hat, auch seine Medienmacht
entfalten kann. Das muss nicht so sein, wie das öffentlich-rechtliche
Fernsehen beweist. Wenn das öffentlich-rechtliche Fernsehen auch nicht
das Gelbe vom Ei ist, so praktiziert es, verglichen mit dem
Privatfernsehen, doch noch eine mildere Form der Anpassung bzw.
Manipulation.
Wissen und Schreiben
Solbach: Zu
den beunruhigenden Entwicklungen der letzten Jahre gehört die
Ökonomisierung des Wissens. Sie umfasst nicht allein die banale Formel,
dass Institutionen der Wissenserzeugung und -vermittlung, an erster
Stelle die in Europa traditionell staatlichen Universitäten und
Forschungseinrichtungen, sich ›rechnen‹ müssen: diese Zwänge sind nicht
wirklich neu und die Institutionen können damit leben. Ökonomisierung
des Wissens bedeutet: die Motive, Wissen zu erwerben und zu erlangen,
beugen sich einem ökonomischen Regime, das die Marktplätze des Wissens
denen des Kapitals zuschlägt. Eine der Folgen ist eine veränderte
Selektion auf Seiten der Forschenden und Lehrenden wie auf Seiten der
Studierenden. Wie kommt ein traditionell geistes- und
sozialwissenschaftlich ausgerichtetes Fach wie die Geschichte mit
dieser Entwicklung zurecht?
Brandt: Was
man in unserem Fach schon längere Zeit feststellen kann, ist die
stärkere Orientierung an intellektuellen Moden. Das hat sicher mit
diesem Prozess zu tun. Es bedeutet etwa, dass es schwerer ist, in
Bereichen Drittmittel einzuwerben, die nicht als up to date gelten.
Moden hat es in gewisser Weise auch früher schon gegeben. Doch es war
nicht so kurzatmig wie heute. Auf Grund der Originalquellen als
eigentlicher Materialbasis ist das bei den Historikern immer noch
gebremst, man kann da nicht völlig wild herumspekulieren und
-theoretisieren. Es ist natürlich erfreulich, dass die Historiker im
Laufe des letzten halben Jahrhunderts auch in Deutschland gelernt
haben, dass man nicht voraussetzungslos Geschichte macht, dass man sich
seines Standpunkts bewusst sein muss. Das schließt ein, dass man das,
was im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich theoretisch
stattfindet, mitreflektieren muss, mitberücksichtigen muss.
Als Vertrauensdozent bei der Hans-Böckler-Stiftung bekomme ich viele
Anträge auf Promotionsstipendien zu Gesicht, auch aus thematischen
Bereichen, die mir relativ fern liegen, sofern der fachliche Bezug
gegeben ist. In den letzten Jahren gibt es da einen klaren Trend zu
Themen wie Erinnerungskultur, Geschichtspolitik, zu Rezeptionsthemen
usw. Ich will gar nichts gegen diese Themen sagen, doch es ist
auffällig, dass solche Metathemen – wenn ich das so nennen darf –
wirklich ganz dramatisch zunehmen. Ich denke, das hat auch mit einem
Markt zu tun. Ob es wirklich das Resultat von Ökonomisierung im engeren
Sinne ist, ob wir es nicht genauso hätten, wenn die staatliche
Kontrolle der Universitäten stärker wäre und diese teilweise
ökonomische Selbständigkeit der Hochschulen nicht existierte, ist
allerdings zu bezweifeln.
Solbach: Das
habe ich auch gar nicht gemeint. Es geht wirklich darum, dass die Leute
ihr Wissen erwerben, um damit anschließend auf dem Markt
antreten zu können. Es geht darum, dass der Wissenschaftlerberuf als
Karriere gesehen wird. Das Wissen, dass Gedanken auch Zeit brauchen, um
sich zu entwickeln, gerade in den geisteswissenschaftlichen Fächern,
scheint darüber verloren zu gehen.
Brandt: In
gewisser Weise ist das bei uns Historikern die gleiche Crux wie in
anderen Fächern auch. Vor Jahren hatte ich das Gefühl, keine Zeit mehr
zum Nachdenken zu haben. Da habe ich mir gedacht, wenn man als
Professor, der ja von der Gesellschaft bezahlt wird, um nachzudenken –
natürlich soll er aus dem Vor- und Nachgedachten etwas machen – in
eine solche Lage gerät, dann läuft etwas ganz schief. Das ging nicht
allein mir so, ich kann mich erinnern, dass andere ähnliches gesagt
haben.
Man versucht uns mit allen möglichen Dingen zu beschäftigen, die für
sich allein genommen alle irgend einen Zweck – ich sage jetzt nicht
Sinn – besitzen, uns aber in der Summe tendenziell unfähig machen,
gründlich nachzudenken. Das ist heute ohnehin schwieriger, da die Fülle
der Veröffentlichungen es nicht erlaubt, auch nur über ein einziges
Fach insgesamt den Überblick zu behalten. Das geht nur eklektisch, umso
mehr, wenn man noch benachbarte Fächer im Auge behalten möchte. Ich
habe ja das große Glück – das meine ich nicht ironisch –, dass ich hier
mit euch in dieser Verbindung stehe und dadurch in manches Neue immer
wieder hineingezogen werde. Es gibt andere Verbindungen, durch die ich
in bestimmte Zusammenhänge hineinkomme. Aber das ändert nichts daran,
dass wir in einer haarsträubenden Entwicklung stehen.
Eine Orientierungsmöglichkeit könnte sein, ich schaue zu, was ist up to
date, wie kann ich meine Chancen verbessern, welche Theorie ist gerade
im Schwange. Wenn man sich daran orientiert, dann ist das immer noch
sehr viel, was man aufnehmen muss, aber man geht natürlich in eine
Richtung und sagt sich: Mit anderem muss ich mich gar nicht
beschäftigen, dafür interessieren sich doch nur noch Dinosaurier, das
ist doch von gestern. Eine gewisse Art von Orientierung besitzt man
auch dann, aber ich glaube in der Tat, dass bei den jüngeren Kollegen,
denen das eingetrichtert wird und die unter Umständen professionell
auch besser, jedenfalls nicht schlechter sind als die älteren, doch ein
anderer Horizont besteht. Ich sehe nicht, dass die Historiker vor
intellektueller Anpassung gefeit sind. Wir haben vielleicht den
Vorteil, dass wir durch unseren Stoff über eine gewisse Erdung
verfügen, eine gewisse Bodenständigkeit lässt sich kaum wegbekommen.
Aber auch in dem Rahmen kann man sich so oder so verhalten. Schon
früher, angesichts der Wende zur Sozialgeschichte in den sechziger und
siebziger Jahren konnte ich nie verstehen, warum es nicht nach wie vor
zweckmäßig und auch sinnvoll sein sollte, z. B. eine solide
diplomatiegeschichtliche Studie anzufertigen oder sich mit
Ideengeschichte zu beschäftigen. Das wäre ja geradezu irrational.
Natürlich gab es immer Leute, die das auch gemacht haben, die wurden
dann aber manchmal als Gestrige abgestempelt. Heute, nach der
kulturalistischen Wende, gilt die klassische Sozialgeschichte als
altmodisch. Das ist ebenso abwegig. Es hat in der Tat mit allgemeinen
gesellschaftlichen bzw. geistigenTendenzen zu tun. Darunter leidet
natürlich ein solches Fach, das ja nur dann dem Bedürfnis nachkommen
kann, der Gesellschaft auch so etwas wie eine historisch-politische
Orientierung zu geben, wenn es sich selbst behauptet. Keiner schafft
es, sich von den gesellschaftlichen Trends völlig zu lösen, aber eine
gewisse Hartnäckigkeit im Behaupten ist doch zu wünschen.
Solbach: Es
ist wichtig, wie man sich dazu stellt. – Das Artikulationsmedium des
Intellektuellen ist das Wort, genauer: das öffentliche Wort.
Gelegenheiten, das Wort zu ergreifen, gibt es allerorten. Dennoch muss
man sagen, dass die Öffentlichkeit der Intellektuellen sich seit den
achtziger Jahren tiefgreifend gewandelt hat. Das liegt nicht nur,
vielleicht nicht einmal vorrangig an den neuen Medien. Die ideologische
und soziale Rolle der Intellektuellen ist eine andere geworden. Wie
stellt sich die Lage aus der Sicht eines Wissenschaftlers dar, der
gewohnt ist, sich auch außerhalb der Fachöffentlichkeit zu artikulieren?
Brandt:
Biographisch gesehen war ich erst ein politischer Aktivist, bevor ich
Wissenschaftler wurde. Damit will ich sagen, dass meine politische
Intervention ursprünglich nicht die eines typischen Intellektuellen
war. Es handelt sich aber insgesamt um zwei parallele Stränge. Ich
habe, glaube ich, schon seit meiner Jugend beides besessen, wenn man so
will: eine kontemplative und analytische Ader und eine aktivistische.
Mal stand das eine im Vordergrund, mal das andere. Aufgrund meines
Berufes dominiert heute natürlich die erstgenannte.
Wir agieren ja alle mit der Vorstellung, wir könnten irgendetwas
erreichen. Ich glaube nicht, dass man dann, wenn man in die
Öffentlichkeit geht, im weitesten Sinne des Wortes politisch agiert,
damit zufrieden ist, es nur gesagt zu haben. Ich kann mich erinnern,
wie Rudolf Bahro vor dreißig Jahren aus der DDR in die Bunderepublik
kam, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war. Ich hatte einem
Komitee für die Befreiung von Rudolf Bahro angehört, deswegen wurde ich
in einen Diskussionszirkel eingeladen, zu einer der frühesten
Diskussionen, die er im Westen führte. In mancher Hinsicht war er der
typische deutsche Idealist mit Schillerkragen, eine Mischung aus
sympathisch bis an die Grenze zum Befremdlichen. Der Kern aber bestand
darin, dass er aus einer Gesellschaft kam, in der unglaublich viel
tabuisiert war. Etwas nur auszusprechen, hatte eine ungeheure
Bedeutung.
Wir befinden uns in einer Gesellschaft, in der man fast alles sagen
kann, es nimmt nur kaum jemand zur Kenntnis. Und wenn es zur Kenntnis
genommen wird, dann wird es leicht skandalisiert. Aber es dahin zu
bringen, dass es einen Diskussionsprozess auslöst, das ist schwierig.
Das habe ich Bahro übrigens damals gesagt, nicht so belehrend, wie es
sich anhören könnte, sondern so, dass er es richtig verstand: Hör mal,
du kommst hier in eine Gesellschaft, wo das anders ist, wo man nicht
durch ein Buch, und sei es noch so gescheit, plötzlich die politische
Szenerie verändert. Eigentlich wollte er es nicht akzeptieren. Er hatte
tatsächlich die Vorstellung, er komme jetzt in die Bundesrepublik und
könne die Linke neu formieren. Er hat sich dann ja sehr ins Zeug
gelegt, in der Friedensbewegung, bei den Grünen usw., davor hat er ein
paar große sozialistische Konferenzen gemacht und gegen Ende, als der
DDR-Laden zusammenkrachte, hatte er die Vorstellung, er könnte jetzt
wieder zur SED oder PDS wechseln, sie würden ihn wieder aufnehmen und
dankbar anhören, was er sagt.
Das ist das ganz große Problem, mit dem wir zu tun haben: dass wir
überhaupt ankommen. Es kommt auf die Erwartung an, die man hat. Die
Aufgabe besteht darin, bestimmte Gedanken als solche überhaupt in die
Debatte einzufüttern, dafür zu sorgen, dass sie als legitim akzeptiert
werden. Das ist der erste Schritt und ich habe persönlich die Erfahrung
gemacht, dass er nicht aussichtslos ist. Meine persönliche Erfahrung
ist, man wird verstanden, auf die Dauer. Natürlich gibt es immer Leute,
die einen falsch verstehen, und es gibt Leute, die wollen einen falsch
verstehen. Es ist ja immer schwer zu sagen, welchen Anteil man selbst
an irgendetwas gehabt hat. Man wird auch immer damit zu tun haben, wenn
man – jetzt nicht im habituellen Sinn – Nonkonformist ist, dass Leute
einem heimlich recht geben, aber nie für einen eintreten würden, weil
sie Angst haben, sie kriegen auch eins auf den Deckel. Als
Intellektuelle, die entweder in einer abgesicherten Position sind, an
einer Hochschule oder andernorts, oder freischwebend, haben wir das
Glück, in ganz anderem Maße als andere Menschen sagen zu können, was
uns wichtig ist. In Frage steht der Effekt. Ein Professor im
buchstäblichen Sinne ist ein Bekenner. Das ist erst einmal nur eine
Wortspielerei. Doch ich meine schon, dass es den Intellektuellen gut
anstünde, wenn sie erkennbar wären. Nicht unbedingt, dass man unbedingt
einer bestimmten allgemeinen Richtung folgt, aber dass die Person
erkennbar sein sollte, mit einem Standpunkt, von mir aus auch im
Plural, mit Standpunkten. Ich meine, dass es zur Glaubwürdigkeit der
Intellektuellen beiträgt, wenn sie nicht nur als zynische Kommentatoren
auftreten, die mehr oder weniger kluge Äußerungen absondern, im
günstigeren Fall schwadronieren, was gerade up to date ist, und im
ungünstigen Fall nur Pessimismus und Resignation verbreiten. Ich könnte
so gar nicht leben. Ich weiß nicht, was daraus folgen würde, wenn ich
endgültig an der Lernfähigkeit der Menschen verzweifeln würde. Nicht
der Selbstmord – aber ob ich überhaupt noch imstande wäre, mich außer
in einem ganz engen fachwissenschaftlichen Rahmen zu bewegen, das ist
die Frage. Das bliebe ja in jedem Fall, insofern habe ich es gut.
Solbach: Die
Schwierigkeit, einen Gedanken in eine Diskussion hineinzubekommen,
kenne ich aus frauenbewegten Kreisen. Wenn etwas im Moment nicht
gefragt oder angesagt ist, heißt es da schnell: Da sehe ich mich jetzt
aber nicht. Und damit ist die Sache abgebügelt.
Brandt: Die
Redensart kannte ich noch nicht. Aber ich kenne natürlich – das direkt
oder indirekt gesagt wird, diesen Gedanken kann man nicht weiter
verfolgen, weil die Konsequenz dieses und jenes wäre und das ist nicht
erlaubt. Man unterstellt eine gedankliche Logik und weil nicht sein
kann, was nicht sein darf…
Solbach: Das andere ist nur die weibliche Variante derselben Sache.
Brandt: Ach
so.
Solbach: Die
Gretchenfrage »Wie hältst du es mit der Aufklärung?« ist unumgänglich,
wann immer die Rede aufs Schreiben kommt. Wer schreibt, belehrt – sich
oder andere. Das kann autoritativ geschehen oder im Modus der
Erkundung. Wer die Geschichten der Vergangenheit erkundet, will nicht
nur wissen, ›wie alles geworden ist‹, er will auch – idealiter –
wissen, welches Potential in der Gegenwart liegt. Wieviel Aufklärung im
Sinne von Kants ›Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten
Unmündigkeit‹ ist unter heutigen Bedingungen möglich? Welche
Unmündigkeit kann durch die Kraft des geschriebenen Wortes abgestreift
werden? Worin kann Mündigkeit bestehen, wenn nicht in einem neuen
fundamentalistischen Bekenntnis oder in seiner resignativen Vermeidung?
Brandt: Wenn
wir uns heute als Aufklärer verstehen, dann als geläuterte und
skeptischere Aufklärer. Es ist deutlich geworden, wie schwierig
Aufklärung ist, was es für Gegenkräfte gibt usw., das alles ist
zugegeben. Trotzdem würde ich mich im Kantischen Sinne als Aufklärer
verstehen und würde auch deiner Formulierung in Bezug auf das Gewordene
zustimmen. Auch Nicht-Historiker kennen vielfach das meist aus dem
Zusammenhang gerissene und verabsolutierte Zitat von Ranke, er wolle
wissen, wie es eigentlich gewesen sei. Das war natürlich gegen
spekulative Geschichtsdeutungen ohne Boden gerichtet. Insofern war es
ein wissenschaftlicher Fortschritt, zu sagen, man muss erst einmal
versuchen, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Die Historisten waren
nicht ganz so naiv, wie man ihnen gern unterstellt, auch wenn sie nicht
genügend ihren eigenen Standort in der Gesellschaft reflektiert und die
Schwierigkeit unterschätzt haben, sich in Menschen einer ganz anderen
Epoche hinein zu versetzen.
›Wie alles geworden ist‹: das zielt bereits auf größere Zusammenhänge,
auf Entwicklungstendenzen usw. Insofern ist dann auch der Schritt vom
›Wie alles geworden ist‹ zum ›Was bedeutet das für die Gegenwart‹ nicht
mehr so groß. Wir lächeln heute etwas darüber, wie in der DDR die
›Lehren aus der Geschichte‹ gezogen wurden. Zu Recht, denn diese hängen
in hohem Maße vom Standort ab, von der eher philosophischen Deutung,
auch von der Analyse des Gesamtprozesses. Ob die Geschichte überhaupt
Lehren im direkten Sinne bereit stellt, wage ich zu bezweifeln. Die
Aufklärungshistoriographie des 18. Jahrhunderts beruhte auf
Fortschrittsvorstellungen, also teleologischen Vorstellungen. Wenn man
einmal den aus heutiger Sicht naiven Fortschrittsoptimismus abzieht und
die methodologische Weiterentwicklung des Fachs berücksichtigt, dann
sehe ich, auch abgesehen davon, dass die moderne Geschichtswissenschaft
mit der Aufklärungshistoriographie beginnt, durchaus Möglichkeiten
der Anknüpfung.
Das führt uns zur Frage ›Wie viel Aufklärung ist unter heutigen
Bedingungen möglich?‹ Man muss sich klarmachen: Kant schrieb für einige
tausend Leute im deutschen Sprachraum. Diese ganze Gruppe, mit der er
es zu tun hatte, diese Bildungsschicht, das waren vielleicht einige
zehntausend Leute. Mit der überwältigenden Mehrheit hatte das überhaupt
nichts zu tun – oder allenfalls in einem ganz vermittelten Sinne. Damit
tröste ich mich manchmal, ohne mich deshalb mit Kant auf eine Stufe zu
stellen: So wie das dann doch irgendwie gewirkt hat, so wirkt
vielleicht auf andere Weise irgendwie auch das, was unsereins macht.
Anders gesagt, zu Kants Zeit waren große Teile der Bevölkerung im
buchstäblichen Sinne unmündig: als Frauen – das hat sich im neunzehnten
Jahrhundert sogar noch verschärft –, als Dienstboten und als Gesinde,
abhängige Bauern, Tagelöhner usw. Die Bauernbefreiung stand erst am
Anfang. Heute ist das Problem eher, folgt man einer der
faszinierendsten Passagen im 1. Band des Marxschen Kapitals, die
falsche Optik, die dadurch entsteht, dass Beziehungen zwischen Menschen
als Warenbeziehungen wahrgenommen werden. In gewisser Weise ist das
also dem Kapitalismus als solchem immanent, natürlich extrem potenziert
durch die weitere Entwicklung und durch die Kapitalisierung aller
Lebensbereiche. Dies scheint mir ein ganz wesentliches Hindernis dafür
zu sein, den Gedanken überhaupt in der Welt verbreiten zu können, dass
Verhältnisse, wie immer sie sind, letzten Endes von Menschen gemacht
werden. Wir hören überall die Rede von den Sachzwängen. Ich will nicht
behaupten, dass es keine Sachzwänge gibt. Wenn eine bestimmte Situation
so ist, wie sie ist, dann kann man sie nicht willkürlich, ohne
Berücksichtigung der Umstände, ändern. Aber es geht doch letzten Endes
um menschliche Verhältnisse und das ist nur schwer in die Köpfe zu
kriegen.
Solbach: Es
hat auch immer etwas mit Verantwortung zu tun. Wer Sachzwänge
reklamiert, will womöglich Verantwortung abgeben.
Brandt: Man
hat nur ein Leben. Jede Art des Engagements ist auch immer unbequem.
Insofern hat es für viele etwas Beruhigendes, sagen zu können, dass man
nichts machen oder allenfalls an kleinen Stellschrauben drehen kann. Im
günstigen Fall kann das geschriebene Wort ein Bewusstsein für dieses
Dilemma schaffen. Es wäre naiv zu glauben, dass die Leute sich nach der
Lektüre alle anders verhalten. Es gibt dieses Sprichwort:
Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Wenn einem, uns oder
mich jedenfalls eingeschlossen, bewusst wird, was man alles als
Sachzwänge akzeptiert, wenn man sich immer wieder dabei ertappt, was
man alles laufen lässt und hinnimmt, dann stellt man zwar fest, dass
man nicht an allen Stellen rebellieren oder auch nur gründlich
reflektieren kann. Dennoch, so denke ich, liegt hier der Ansatzpunkt
sich bewusst zu machen, dass es sich im Prinzip, in letzter
Instanz sozusagen, immer um menschliche Verhältnisse handelt, die,
wiederum im Prinzip, auch geändert werden können. Das Einfache, das
schwer zu machen ist.
Solbach: Ich
danke dir für das Gespräch.