Bernhard H.
Bayerlein: »Der Verräter, Stalin, bist Du!«
Vom Ende der linken Solidarität. Komintern
und kommunistische Parteien im Zweiten Weltkrieg.
Unter Mitarbeit von Natalja S. Lebedewa, Michail Narinski und Gleb
Albert, mit einem Zeitzeugenbericht von Wolfgang Leonhard und einem
Vorwort von Hermann Weber
Berlin (Aufbau-Verlag) 2008, 540 S.
Vom
Ende der linken Solidarität
Eine der finstersten Phasen in der Geschichte des Kommunismus Moskauer
Prägung waren die beiden Jahre des deutsch-sowjetischen
Nichtangriffspakts 1939-1941. Auch hier gilt: Wer es wissen wollte,
konnte es früher schon wissen, jedenfalls in den Grundzügen.
Doch nachdem die Sowjetunion bzw. Russland vor knapp zwei Jahrzehnten
endlich die Existenz des Geheimen Zusatzabkommens zur Aufteilung
Ost-Mitteleuropas eingeräumt und davon Abstand genommen hatte, die
freie Forschung über den Hitler-Stalin-Pakt zu unterbinden, sind neue
wichtige Arbeiten zu diesem Komplex erschienen. Dabei ist die
Intensität der deutsch-sowjetischen Kooperation um 1940, die teils
offene, teils verdeckte Unterstützung der UdSSR für das NS-Reich, noch
deutlicher herausgearbeitet worden als das vordem schon sichtbar
gewesen war, ebenso die Tatsache, dass Stalin sich im Sommer 1939
bewusst für die hitlerdeutsche Option als die für ihn vermeintlich
vorteilhaftere entschied. Insgesamt kann man heute, was die
zwischenstaatliche Ebene betrifft, nicht mehr von einer schlechten
Forschungslage sprechen.
Bei der hier vorzustellenden Dokumentation geht es indessen um einen
bisher nicht unbekannten, aber relativ unterbelichteten Aspekt des
Ganzen: die spezielle Rolle der Kommunistischen Internationale, ihrer
verschiedenen Mitgliederparteien und der Exil-KPD im Besonderen. Es
handelt sich um ein gleichermaßen faszinierendes und spannendes wie
bedrückendes Werk, das der Mannheimer Kommunismus-Forscher Bernhard H.
Bayerlein mit seinem Team jüngst publiziert hat, ergänzt um einen
Zeitzeugen-Beitrag von Wolfgang Leonhard, der die innersowjetische und
innerkommunistische Umsteuerung ab dem 23. August 1939 als blutjunger
Mann in der Sowjetunion erlebt hat und den die Erschütterung über
diesen Vorgang bis heute umtreibt. Bayerleins Einleitungsaufsatz, der
an ein ausführliches inhaltliches Vorwort von Hermann Weber anschließt,
enthält, neben den üblichen Angaben zur Edition, dezidierte
Deutungsangebote, die fast immer überzeugen. Das Werk sei
uneingeschränkt empfohlen!
Das Buch ist keine Edition zum rein fachwissenschaftlichen Gebrauch.
Die Quellen sind in der Regel auszugsweise abgedruckt, um das Ganze
zwischen zwei Buchdeckeln unterbringen zu können, und collageartig,
dennoch alle wissenschaftlichen Regeln genau beachtend, hintereinander
gesetzt. Den einzelnen Abschnitten sind die erforderlichen historischen
Einordnungen als knappe Einführungen vorangestellt. Zusätzliche, eher
spezielle Erläuterungen bzw. Anmerkungen sind in den Text eingebaut
oder, sofern es sich um den chronologischen Ablauf des allgemeinen
Geschehens handelt, zusammen mit einschlägigen Fotos auf einer
Randleiste angebracht. Ein kommentiertes Personenregister, ein
Verzeichnis der Pseudonyme, Kryptonyme und Akronyme sowie eine
thematisch gegliederte Zusammenstellung ausgewählter Literatur (und
gedruckter Quellen) runden den für ein breiteres, historisch und
politisch interessiertes Publikum benutzerfreundlich gestalteten Band
ab. Die darin veröffentlichten und durchweg aus verschiedenen Sprachen
ins Deutsche übersetzten Dokumente entstammen hauptsächlich dem
Russischen Staatsarchiv für Sozial-Politische Geschichte und dem Archiv
der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, daneben
einer ganzen Reihe weiterer Archive sowie nicht zuletzt einigen
ausländischen Quelleneditionen.
Im Mittelpunkt des dokumentierten Geschehens – über den Sommer 1941
deutlich hinaus – stehen die chiffrierte, über das geheime Funknetz der
Komintern abgewickelte Korrespondenz der Moskauer Zentrale der Dritten
Internationale und informelle Quellen aus der Umgebung Stalins bzw.
seiner engsten Mitarbeiter, daneben Partei- und Regierungserklärungen,
offizielle Briefwechsel, Reden, Artikel, Geheimberichte usw. auf den
verschiedenen Ebenen. Es tritt hervor ein vielfältiges und dichtes
Geflecht eines ganz besonderen Mechanismus und des ihm eigenen
Verhältnisses von sowjetstaatlicher Machtpolitik und ideologischer
Legitimierung. Die kommunistischen Quellen werden immer wieder
kontrastiert durch (teils private) Äußerungen linker Kritiker des
vorherrschenden Kurses, auch aus den eigenen Reihen, sowie durch
aufschlussreiche Zitate aus den Goebbels-Tagebüchern. Die Herrschaft
der Nomenklatura erscheint dabei vor allem anderen als Diktatur der
systematisierten Lüge und des Selbstbetrugs.
Die inhaltliche Quintessenz: Anders als es die KP-offizielle
Charakterisierung des Krieges vor dem Sommer 1941 als eines beiderseits
imperialistischen nahe legte (was nach der Leninschen Logik von 1914
bedeutet hätte, in allen beteiligten, auch und besonders den
faschistischen Ländern, die jeweilige Staatsführung mit dem Ziel zu
bekämpfen, den »Völkerkrieg in den Bürgerkrieg« zu verwandeln), trat
der Weltkommunismus im Gefolge der Stalinschen Außenpolitik und vom
Sowjetstaat unmittelbar instrumentalisiert, durch die offizielle
Neutralität eher verhüllt, faktisch auf die Seite des
nationalsozialistischen Deutschland, am krassesten sichtbar bei den
Versuchen der kommunistischen Parteien Nord- und Westeuropas, im Zuge
der deutschen Besetzung der betreffenden Länder im Frühjahr/Sommer 1940
die Weiterexistenz ihrer Organisationen und ihrer Presse zu erwirken.
Die Hoffnungen selbst deutscher Kommunisten richteten sich eine Zeit
lang auf einen halblegalen Status der KPD unter der NS-Diktatur, wo sie
laut Walter Ulbricht zusammen mit sozialdemokratischen Arbeitern und
»nationalsozialistischen Werktätigen« den deutsch-sowjetischen Pakt –
der gegen die aggressiven, kriegerischen Pläne Englands, des
vermeintlichen Zentrums der Weltreaktion, gerichtet sei – verteidigen
und dessen Gegner »aufdecken« sollten. Zu einer solchen Optik passte
das weltkommunistische Beschweigen des NS-Terrors, insbesondere der
Judenverfolgung, in diesen Jahren.
Ulbrichts berühmt-berüchtigter, von Bayerlein mit aufgenommener Artikel
in der KPD-Exil-Zeitschrift Die Welt vom 9. Februar 1940 stellt dabei
nicht etwa eine extreme Zuspitzung oder eine Verirrung dar, sondern
beschreibt in ihrer Logik exakt die Linie der KPD, der Komintern und
ihrer Moskauer Auftraggeber. Nach dem schnellen Sieg der deutschen
Wehrmacht über die französische Armee und der dadurch schlagartig
hergestellten, doch von Stalin offenbar so nicht erwarteten Hegemonie
Hitlerdeutschlands auf dem europäischen Kontinent begann eine tastende
Modifikation, doch keinesfalls eine Revision der seit Ende August 1939
propagierten kommunistischen Position zum Krieg.
Bayerleins Sammlung zeigt immerhin, wie schwer sich die kommunistische
Weltbewegung namentlich in Europa tat, den Hitler-Stalin-Pakt zu
akzeptieren und in der Folgezeit ideologisch bzw. strategisch-taktisch
»angemessen« auf die mit dem deutsch-sowjetischen Grenz- und
Freundschaftsvertrag vom 28.09.1939 weiter veränderte Lage zu
reagieren, hatte man doch jahrelang unter der Fahne des Antifaschismus
gestritten. »Faschismus« und »Antifaschismus« waren laut dem
sowjetischen Außenminister Molotow »veraltete, unanwendbare Formeln«.
Das bisherige Weltbild schien geradezu auf den Kopf gestellt.
Zunächst missverstanden etliche der kommunistischen Parteien den
deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag als reine Notmaßnahme
Stalins, die es ihnen erlauben würde, die Politik der
Volksfront-Periode modifiziert weiterzuführen. So enthielt der erste
Aufruf der KPD-Exilführung nach dem Vertragsabschluss wie
selbstverständlich noch die Forderung nach dem Sturz Hitlers. Die
Moskauer Führung musste, vermittelt über die Kominternspitze, hier wie
gegenüber den anderen Parteien massiv korrigierend eingreifen.
Obwohl die Komintern-Parteien schon seit den späten 1920er Jahren
»bolschewisiert« und »gesäubert« d. h. auf strikte Moskau-Gefolgschaft
ausgerichtet worden waren, ging der im Spätsommer und Herbst 1939 von
Stalin angeordnete Kurswechsel einer beachtlichen Zahl von Mitgliedern
und Funktionären doch zu weit, zumal selbst die engeren Bündnispartner
im linken und linksliberalen Spektrum sich entsetzt distanzierten. Im
deutschen politischen Exil trugen der Hitler-Stalin-Pakt sowie die Art
seiner Verteidigung durch die Kommunisten maßgeblich dazu bei, die
eigenständigen linkssozialistischen Gruppierungen und die
Restorganisation der SPD wieder einander anzunähern.
Zu den besondern Verdiensten der vorliegenden Dokumentation gehört es,
Kontinuitäten der Phase 1939-41 und der folgenden Phase vom Beginn des
Russland-Feldzugs der Wehrmacht bis zur formellen Auflösung der
Komintern (1941-43) herauszuarbeiten. Das betrifft die völlige Aufgabe
der – im ursprünglichen Sinn – weltrevolutionären Orientierung
zugunsten einer von Agententätigkeit für die UdSSR selbst funktional
kaum noch zu unterscheidenden politischen Aktivität der Internationale.
(Die heroische Widerstandstätigkeit von Kommunisten im
nationalsozialistisch beherrschten Europa einschließlich des
Reichsgebiets steht auf einem anderen Blatt.) Auch die Programmatik der
jetzt ganz breit konzipierten, »patriotischen« Bündnisse knüpfte bei
näherem Hinsehen an die Überlegungen und Floskeln der Paktphase an.
Allerdings scheint mir der nationalpatriotische Aspekt der
kommunistischen Politik – im Unterschied zu Bayerlein – schon in der
Volksfront-Periode stärker ausgeprägt, neben opportunistischen
Erwägungen durchaus auch als Ergebnis eines echten Lernprozesses
gegenüber der ultralinken Periode 1928-33/34. Zu kritisieren ist m. E.
nicht die Wahrnehmung des gegen die Besatzungs- und
Kollaborationsregimes gerichteten Kampfziels als des einer nationalen
Befreiung (worum es doch zweifellos unter anderem auch ging, selbst in
Italien und in gewisser Weise sogar Deutschland), sondern die
vollständige Skrupellosigkeit, mit der jetzt, ab Mitte 1941, an
regelrecht chauvinistische Affekte gegen »die Deutschen« appelliert
wurde, während man in den besetzten Ländern 1939/40 noch die
Verbrüderung mit den einfachen deutschen Besatzungssoldaten empfohlen
hatte. Die in ihrer Wirkung höchst zweifelhafte, weniger spontane als
von Moskau initiierte, der Tradition der Arbeiterbewegung fremde
Methode individueller Terroranschläge gegen Wehrmachtsangehörige und
deren einheimische Unterstützer – statt der ausschließlichen
Ausrichtung auf Massenaktionen – wird von Bayerlein zu Recht ihres
antifaschistischen Heiligenscheins entkleidet, auch durch Dokumente
zeitgenössischer Kritik daran.
Der Titel des Buches zitiert den letzten Artikel Willi Münzenbergs, des
genialen kommunistischen Verlegers und Organisators, der schon 1938/39
aus der KPD gedrängt worden war, weil er Ulbrichts und anderer
intolerantes und unkluges Verhalten gegenüber den linken
Bündnispartnern nicht mitmachte. Angesichts des deutsch-sowjetischen
Pakts schrieb Münzenberg, auf die typische stalinistische, permanente
Verratspsychose Bezug nehmend, am 22. September 1939: »Heute stehen in
allen Ländern Millionen auf, sie recken den Arm, rufen, nach Osten
deutend: Der Verräter, Stalin, bist Du!«
Münzenberg, der bei seiner Flucht vor den deutschen Truppen im Sommer
1940 unter ungeklärten Umständen durch Mörderhand starb, konnte im
Herbst 1939 noch nicht wissen, wie weit Stalin gehen würde; man
entledigte sich über 1000 in Ungnade gefallener, inhaftierter deutscher
Kommunisten, indem man sie einfach an der deutsch-sowjetischen
Demarkationslinie den NS-Sicherheitsorganen übergab.
Peter Brandt