Abendländische
Philosophie:
der Mensch wird darin systematisch
in seinen größten Abstand zur Welt gedacht.
Julien Gracq
Der Titel dieses Beitrags ist einem
gleichnamigen berühmten Buchtitel (von Max Adler, 1936) entlehnt. –
Als es erschien, war ›Gesellschaft‹ außerhalb des Hegelmarxismus
und der sozialistischen Literatur, wie E. Gothein zu Gesellschaft im Handwörterbuch der Staatswissenschaft
(3. Aufl.) zusammenfassend schrieb, ein bloß verschwommener Sammelbegriff. Im
Gegensatz zu Gemeinschaft
als einem natürlichen
Menschenverbund (Familie, Clan, Stamm), schien sich ein
Zusammenhang von nicht tribalistisch miteinander Verbundenen, von
Fremden miteinander, nicht konzeptualisieren zu lassen.
Gesellschaft sei gegenüber
Gemeinschaft, so hatte es
Tönnies in seiner maßgeblichen Untersuchung bestimmt, ein
Konstrukt, ein Artefakt. –
Dementsprechend hatte Hellmuth Plessner (1924) über Grenzen der Gemeinschaft nachgedacht −
einer der Anlässe war, dass Gemeinschaft zum ›Idol des Zeitalters‹
wurde.
Der Zusammenhang in der Gesellschaft ist allerdings nicht mehr
sinnlich erfahrbar, sondern weist als Verkehrsform den abstrakten
Austausch aus. Diese neue, moderne Lebensform ist der von Kant so
identifizierte »Antagonism der ungeselligen Geselligkeit«. Die
ehedem fraglos vorteilhafte Idee einer die Menschen behütenden
(überschaubaren) äußeren Gemeinschaft wird überwunden zugunsten
eines nicht mehr sinnlich erfahrbaren internen Selbstzusammenhangs
des Menschen. − Es wäre die einzige Möglichkeit, der
Plünderung der Zukunft durch die gegenwärtige sog. ›soziale
Marktwirtschaft‹ Einhalt zu gebieten, so wurde neuerdings vermutet,
wenn es gelänge, »eine sozialpsychologische Neuerfindung der
›Gesellschaft‹« (Sloterdijk) zu bewerkstelligen.
1. Das Solfeggio der
Gesellschaft
Seit Mitte der Dreißiger versuchte man sowohl in Europa wie
auch in Südamerika, jedoch mit methodisch unterschiedlichen
Mitteln, das Solfeggio der
Gesellschaft zu entziffern. − Als
philosophisch bemerkenswert an der damit neu entstehenden modernen
Anthropologie, namentlich von Lévi-Strauss, wurde kürzlich
hervorgehoben, dass sie erstens nie »den Köder empirischer
Legitimität« (Descola) in Anspruch zu nehmen gedachte, und zweitens
»einer monistischen Konzeption des Geistes und der Welt« (ebd.)
folgte. – Damit verbieten sich bezüglich des Gesellschaft-Begriffs
alte (aufklärerische) vertragstheoretische oder milieutheoretische
Begründungen von
Gesellschaft.
Für die Frage nach dem ›Was-ist-Gesellschaft?‹ bliebe also sowohl
eine substantialistische Begründung von Gesellschaft wie eine
dualistische, die von einer anfänglich-ursprünglichen »Opposition
von Natur und Kultur als einem ›urweltlichen Datum‹« (ebd.)
ausginge, nicht zielführend. – Für eine damit induzierte
›dritte‹ Lösung eröffnen sich dann modern neue Perspektiven, die
allerdings so oder so mit ihrer Subjektförmigkeit
zusammenhängen.
a.
Das Werk von Lévi-Strauss bietet einen außerordentlich originellen
Ansatz dafür: Er versucht, zumal er auch noch annimmt, dass »die
Distinktion zwischen Natur und Kultur höchstens graduell sein kann«
(ebd.), diese Opposition zwischen Natur und Kultur ineinander
konvertierbar zu machen. Wie ginge das? Der ethnologische
Beobachter Lévi-Strauss hat einen frappierenden Einfall: diese
Entgegensetzung zu handhaben ist keine logische – cartesianische –
Denkoperation, sondern er bemerkt, das jene Real-Opposition »sich
aufhebt, wenn sie die Küche durchläuft«. (ebd.) – Ins
Philosophische übersetzt hieße das: man muss beide Seiten der
Opposition – isomorphistisch – als in ihrem Bewegungs-Modus, als in
Tätigkeit gesetzt verstehen, also als eine Praxis, als (in
der Sprache des Deutschen Idealismus)
Thathandlung.
Nun, das was hier unter anthropologischen Auspizien als
in-der-Küche-passierend, eben als ›kochen‹ begriffen wird, kann man
sich nämlich durchaus klassisch transzendentalphilosophisch
übersetzen: als ›verkörpern‹, als Synthesis von prima facie ganz
unterschiedlichen Elementen, abstrakt als ›schematisieren‹,
›realisieren‹, ›restringieren‹, kurz: als
Enactivismus.
Und so kann man unter der vorausgesetzten Bedingung, dass man sich,
wie von der Neuen Anthropologie explizit gefordert, ebenfalls an
die erkenntniskritischen Kriterien von
nicht-empirisch und
antidualistisch bindet, unsere
Titelfrage auf subjektivitätstheoretische Weise enträtseln. –
Zugleich wäre ein transzendentalistischer Subtext aufweisbar in der
Verfahrensweise der auf den ersten Blick ganz von der Neuen
Philosophie des Deutschen Idealismus unterschiedenen Neuen
strukturalen Anthropologie – beide sind vom wissenschaftlichen
Typus her
Die Mathematik
vom Menschen wie Lévi-Strauss es 1955 einmal ausdrückte ( …
und der Intensitätsgrad der Mathematik in einer Wissenschaft macht
– nach Kant – ihre Wissenschaftlichkeit aus).
Der geistige Mittelsmann einer solchen Verbindung ist dann
konsequenterweise auch ein Moderner, Friedrich Nietzsche nämlich,
wenn er sich sein Verständnis der Metaphysikkritik so
klarmacht:
»Was mich am gründlichsten von den Metaphysikern abtrennt, das
ist: ich gebe ihnen nicht zu, dass das ›Ich‹ es ist, was
denkt; vielmehr nehme ich das
Ich
selber als eine Construktion des Denkens ( … ), also
nur als
regulative
Fiktion, mit deren Hilfe eine Art Beständigkeit, folglich
›Erkennbarkeit‹ in die Welt des Werdens hineingelegt,
hineingedichtet wird.« (Nietzsche, S.
239)
b.
Als eine der neuen methodischen Tugenden im modernen französischen
soziologischen Denken wurde schon in der Zwischenkriegszeit
in Deutschland auf deren
synthetischen bzw.
konstruktivistischen Denkeinsatz
abgehoben: Namentlich die
Durkheimiens »führten die
unpersönliche Vernunft und die verschiedenen Begriffe selbst auf
Kollektivvorstellungen zurück und dachten so den Apriorismus und
den Empirismus, die Transzendenz und die Immanenz zu versöhnen und
sogar den Dualismus des Menschen, der zugleich Individuum und
soziales Wesen, zugleich profan und heilig ist.« (Jourdan, S.
485)
Eine solche Bestimmung könnte man – aus deutscher Perspektive
– als den nachhaltigen klandestinen Kantianismus in der
modernen französischen Sozialphilosophie identifizieren. Diese
»machtvolle Dialektik von Durkheim, die Weite seiner Anschauung,
sein metaphysischer Eifer und Mut«, so heißt es an gleicher Stelle
weiter, »hat ihm einen großen Teil der Jugend gewonnen«.
Allerdings: »Der traditionelle Rationalismus hatte darunter bald
einen wahrhaften sozialen Mystizismus gewittert und Durkheim
beschuldigt, die Gesellschaft zu vergöttlichen, wie Bergson die
durée pure vergöttlicht
hatte«. (Ibid., S. 484 f.)
Es galt namentlich die ›Gesellschaft‹, die zwischen
Historismus und der
Tragödie der Kultur (Georg Simmel) zunehmend
irrational gedeutet und dann als ›Gemeinschaft‹ identifiziert
wurde, wieder in diskurs- und lebenspraktischen Kontexten verstehen
zu lernen. Gemeinsam wurde dabei jetzt exemplarisch beiderseits des
Rheins eben gerade die Mythengeschichte neu entdeckt, beide Male
als »Garant einer menschlichen Kompetenz, die von der Moderne
bedroht wurde: der Freiheit bzw. der sozialen Verbindlichkeit.«
(Kippenberg , S. 95) Ein neuer Begriff von Gesellschaft wurde so
über den ›Umweg‹ des Mythos-Begriffs denkbar, denn Mythen erzählen
performativ Geschichten von der Gesellschaft.
Exkurs zu Ernst Cassirers neuem
erkenntniskritischem Mythos-Begriff
Cassirer bemerkt früh schon, dass man mythische Denkformen wohl nur
unzulänglich wird erfassen können, wenn es »nicht gelingt, von der
bloßen Denkform des Mythos zu seiner
Anschauungsform und zu seiner
eigentümlichen
Lebensform
zurückzudringen.« (Symbol. Formen, 2, S. 89) Wenn also hierbei das
bloß Begriffliche des Mythos deutlich überstiegen werden soll, dann
natürlich nicht auch gleich sein Begreifliches. Cassirer fragt sich
also, ob diesseits der überlieferten erkenntnistheoretischen
Dichotomie person-interne (›privatistische‹) Intuition versus
›physikalistisches‹ Messen jetzt zum Erfassen des Mythischen nicht
gleichsam
ein Drittes
möglich sein sollte. Zu bedenken wäre also, so der Einfall
Cassirers, ob nicht die bisherigen reduktionistischen
(›monolithischen‹) Erklärungsversuche des Mythos der Anlass sein
könnten, über so etwas wie eine kulturphilosophische ›Feldtheorie‹
nachzudenken. Sie hätte immerhin den Vorteil, dass die
aufzuklärenden kulturellen Artefakte nicht länger – wie schon
neuerdings in der Naturwissenschaft – als »bloß summatives Ganzes,
als ein Aggregat aus Teilen aufzufassen«, sondern als »ein System,
ein Inbegriff von Kraftlinien.« (Logik d. Kulturwissenschaften, S.
92)
Auf den Mythos bezogen hieße das jetzt, dessen Erzeugungsprozessen,
d.i.
Bewusstseinsprozessen, nachzugehen,
als den Bedingungen ihrer Möglichkeit. Also eine Deutung
einzufordern, die »die mythischen Gestalten als autonome Gebilde
des Geistes nimmt, die aus sich selbst, aus einem spezifischen
Prinzip der Sinn- und Gestaltgebung begriffen werden müssen.«
(Symb. Formen, 2, S. 7)
Auf diese Weise vermag man gerade ›das Mythische‹ auch wieder als
Gegenwärtiges zu verstehen und es nicht etwa als ein vermeintlich
überwundenes
Prälogisches
einer fernen Vergangenheit ( ... oder der ›Dritten Welt‹)
zuzuordnen.
Cassirer beschreibt die Gesamtstruktur des mythischen Bewusstseins
– ihren Wort-, Bild- und Schriftzauber – als ein ›synthetisches‹,
aufs Leben abgestelltes Prinzip. Es ist jenes (schon von Kant in
seiner
Schematismus-Theorie) gesuchte
Dritte, und zwar »dadurch,
dass hier die beiden Momente, das Dingmoment und das
Bedeutungsmoment in eine unmittelbare Einheit zusammenwachsen. Der
Mythos erhebt sich geistig über die Dingwelt, aber er tauscht in
den Gestalten und Bildern, die er an ihre Stelle setzt, nur eine
andere Form des Daseins und der Gebundenheit ein.« (Montague, S.
259)
2. Der sozial-apriorische
Charakter der Realität
In den Versuchen, den Mythos als Lebensform von z.B. Religionen zu
begreifen, konnte man von Anfang an zwischen der
(religions-)soziologisch orientierten Durkheim-Schule und dem
Post-Neokantianismus von Cassirers Symboltheorie interessante,
produktive Gegensätze konstatieren.
In beiden Denkansetzen geht es mit zwar unterschiedlichen aber
nicht kontradiktorisch entgegengesetzten Methoden um das
übergreifend gleiche, um »die Theoriefähigkeit sozialer Prozesse
überhaupt.« (Lübbe, S. 13)
Durkheim konstatiert korrekterweise zunächst, so Cassirer, »daß
weder der Animismus, noch der ›Naturismus‹ die eigentliche Wurzel
der Religion sein könne; denn wären sie es, so hieße dies nichts
anderes, als daß alles religiöse Leben überhaupt ohne ein
festes tatsächliches Fundament, daß es ein Inbegriff bloßer
Trugbilder, ein ganzes von Phantasmen wäre. Auf so schwankenden
Grunde kann die Religion nicht beruhen: sondern wenn sie irgendeine
Art von innerer Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann, so muß
sie sich als Ausdruck einer objektiven Realität erkennen lassen.
Diese Realität ist nicht die Natur, sondern die Gesellschaft.«
(Symb. Formen, 2, S. 229f.) Cassirer begann gleichzeitig mit jenen
religionsphilosophischen Studien in Paris im Umkreis der
Warburg-Bibliothek in Hamburg seine Analysen zur Begriffsform
mythischen Denkens. Dies allerdings immer unter
erkenntniskritischen Auspizien, um zu prüfen, ob neue Theoriefelder
den Anforderungen anspruchsvoller Theoriebegriffe genügen
könnten.
Cassirer allerdings vermutet, dass, wenn man mythische bzw.
religiöse Konstellationen als letztlich und eigentlich
sozial konfiguriert begreift, sie also
gewissermaßen ›sozial-apriorisch‹ auffasst, dieser Erklärungsansatz
dann »zuletzt auf ein
usteron
proteron
h
inausläuft. Denn so wenig die
Form der objektiven Gegenstände der Natur ... etwas schlechthin und
unmittelbar
Gegebenes ist,
so wenig ist es auch die Form der Gesellschaft.« (ebd., S.
230)
Namentlich am Phänomen des
Totem macht Cassirer ein gewisses
Unbehagen mit allen Arten von ›Letztbegründung‹ deutlich, also
seine Ablehnung derjenigen Versuche, die Form und den Inhalt des
mythologischen Bewusstseins aus der Empirie der menschlichen
Gesellschaft ableiten zu wollen oder bestimmte soziale Lagen als
konstitutiv für Religion bemühen zu wollen. In Anlehnung an eine
Bemerkung Schellings aus dessen Vorlesungen zur Philosophie der
Mythologie, sagt Cassirer: »das mythisch-religiöse Bewußtsein
folgt so wenig einfach aus
dem faktischen Bestand der Gesellschaftsform, daß es vielmehr als
eine der
Bedingungen der
gesellschaftlichen Struktur ... erscheint.« (Symb. Formen, S.
212)
Der Totemismus ist für Durkheim gerade hermeneutisch ausgezeichnet
als eine Projektion bestimmter sozialer Bindungen ›nach außen‹.
Dabei sei, so Cassirer, »das eigentliche Objekt der Religion die
Gesellschaft, während das Totem nur als ein sinnliches
Zeichen angesehen wird, durch welches
irgendein Gegenstand zum sozial-bedeutungsvollen gestempelt und
damit in die Sphäre des Religiösen emporgehoben wird.« (ebd., S.
232) Diese, wie sie Cassirer nennt,
nominalistische Theorie des Totem bei
Durkheim gerät in die erkenntnistheoretische Kritik, da das
dingliche Zeichen des Totem kein
fundamentum in re, wohl aber eines im
mythisch-religiösen Bewusstsein ist. Und die Formen der
menschlichen Gesellschaft sind ihrerseits »nichts
ursprünglich-Gegebenes, sondern etwas geistig-Bedingtes und
geistig-Vermitteltes.« (ebd.)
Kurz, so Cassirer: die Gesellschaft, das Soziale ist kein bzw.
stellt kein ›letztbegründendes‹, gewissermaßen Natur-Faktum zur
Erklärung gesellschaftlicher Formen dar; vielmehr sollte das
Soziale künftig
kulturphilosophisch begriffen werden
als Synthese-Form und Form des Werdens, beispielsweise mythischer
Konfigurationen. Cassirer will künftig also eher das
Formdenken als das
Ursachendenken befördern, ganz in der
Weiterführung seiner früheren Unterscheidung von
Substanz – und
Funktionsbegriffen.
Eine neue kulturwissenschaftliche Erkenntnistheorie, die
hinsichtlich der Differenz von Lebens- und Denkformen vermitteln
will, hätte uns also zu lehren, »Symbole zu deuten, um den Gehalt,
der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus
dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu
machen.« (Logik d. Kulturwiss., S. 86)
Cassirer versteht also
symbolische Formen als den Inbegriff
jener ›zweiten Natur‹ des Menschen, eine Welt selbstgeschaffener
Zeichen und Bilder, die in dem, was wir prima vista die ›objektive
Wirklichkeit‹ nennen, eine
kulturierende Ordnung – gefasst
als Sprache, Kunst oder Religion – zu stiften in der Lage ist. Die
hierbei aufscheinende kollektive, besser: transzendentale –
soziale – Dimension
ist auch für die Durkheim-Schule gerade deswegen so schlechthin
grundlegend, weil sie auf die ›tiefengrammatische‹ intersubjektive
Verfasstheit im Menschen (und seinen Entäußerungen) selber
verweist: »Die menschliche Existenz ist doppelt: der Mensch
hinsichtlich seines Körpers ein sinnliches, individuelles,
egoistisches Wesen; hinsichtlich der Seele ein moralisches,
soziales, vernünftiges Wesen. ... eine Auffassung, die Durkheim von
Kant hatte.« (Kippenberg, S. 129)
Die Durkheim-Schule wurde in der Zwischenkriegszeit in Deutschland
neben Cassirer leider nur von wenigen anderen, weiterblickenden
Philosophen rezipiert und diskutiert. Der einzige Ort dafür war die
verdienstvolle Warburg-Bibliothek in Hamburg. Hier hatte im Februar
1932 auch der junge Joachim Ritter Gelegenheit, einen
Theorieabgleich zwischen jener französischen Schule und Deutschland
zu versuchen, und zwar gerade in Bezug auf Mythos und
Religion als zweier geistiger Formen fundamentalen
Weltverstehens.
Wie Cassirer macht Joachim Ritter als zentralen Punkt bei Durkheim
das Problem namhaft: Was ist eine soziale Tatsache und wie formt
sie das religiöse Bewusstsein? Besonders prononciert und klar wird
dabei die neue Antwort der Durkheim-Schule hervorgehoben, die in
bemerkenswerter Weise an Intersubjektivitätstheoreme der
philosophischen Moderne erinnert, mit ihrer neuen
Begriffsbestimmung:
mentalité
collective – »Das, was Durkheim und Levy-Bruhl gezeigt
haben, ist der Sozial- und der Kollektivcharakter dieser weder
psychisch-individuell noch aus der eigenen Natur des Menschen noch
aus den Verbindungen der objektiven Welt begründbaren Einheit.«
(Ritter, S. 227) – Ritter sieht hierbei auch einen Denkansatz in
Frankreich, der geeignet wäre, den Streit zwischen Empiristen und
Aprioristen zu beenden. Diese Überlegungen der Durkheim-Schule
sollten, so Ritter, »ernsthaft geprüft werden, gerade auch wo sie
auf den ersten Blick etwas befremdend wirken.« (ebd., S. 231)
Dies ist der Anfang eines gemeinsamen Diskurses, von dem für unsere
Gegenwart Michel Foucault als produktiv hervorgehoben hat,
dass mit ihm »das Empirische und das Transzendentale in einer
Trennung aufrechterhalten und es dennoch gestattete, gleichzeitig
auf beide zu zielen« und damit – notabene! – »die vergessene
Dimension des Transzendentalen wiederherzustellen.« (Foucault, S.
387)
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