Konstantin Paustowski / Wassili Konstantinowitsch Blücher:
Der lange Marsch. Partisanen und Soldaten im
russischen Bürgerkrieg.
Herausgegeben und übertragen von Wladislaw Hedeler
mit einem Nachwort von Nadja Rosenblum,
Berlin (BasisDruck Verlag) 2009, 136 S.

Wassili Blücher – der Heros im Maelstrom der Revolution

I.

Ex oriente lux. Bis in die 1930er Jahre hinein, bei manchen noch länger, leuchtete der Rote Oktober wie eine religiöse Verheißung ins Bewusstsein ›fortschrittlicher‹ Intellektueller im Westen. Hervorgegangen aus Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg, schien in Sowjetrussland unter dem roten Banner und den Klängen der ›Internationale‹ die seit 1789 wiederholt gescheiterte Hoffnung auf ›Befreiung‹, auf eine brüderlich-gleiche Menschheit wahr geworden. Zeitungen, Bücher, Lieder, Filme kündeten vom Anbruch der neuen Zeit, von der Selbstbefreiung aus Hunger, Ausbeutung und Unterdrückung, vom Heroismus der roten Matrosen, der Partisanen vom Amur und der Roten Armee.

Einer der legendärsten unter all den Helden der Revolution und des Bürgerkriegs war Blücher. Was sagt der Name Wassili Blücher (russisch: Bljucher) den Heutigen? Im November 1918 war er der erste Träger des Rotbannerordens, im November 1935 zusammen mit Woroschilow, Budjonny, Tuchatschewski und Jefremov unter den ersten fünf Marschällen der Sowjetunion. Dreißig Jahre später diente der ›Fall Blücher‹ als Material zur Vorbereitung der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU am 26. Februar 1956.

Blücher wurde »juristisch rehabilitiert am 12. März, politisch rehabilitiert am 13. März«, heißt es am Ende der biographischen Zeittafel in dem vorliegenden Bändchen. Indem es einen Text aus der Feder des Schriftstellers Paustowski, eine Rede Blüchers sowie ein Kapitel aus einem Erinnerungsbuch eines weißen Offiziers aneinanderreiht und mit einem Nachwort (»Auf den Amurklippen«) kombiniert, entrollt es am Beispiel einer fast vergessenen Heldenfigur das Geschichtsdrama des Weltbürgerkriegs im 20. Jahrhundert.

II.

Zu loben ist vorab das editorische Geschick des Herausgebers: Dies gilt für die Komposition der drei historischen Texte, für den Geschichtsessay im Nachwort, für die sorgfältigen Zeittafeln zu Blücher und Paustowski sowie für das auf 13 Seiten mit vielerlei biographischen Details ausgestattete Personenregister – eine historische Fundgrube.

Gleich am Anfang stößt man auf den Namen des in den »Amurklippen« genannten Karl Albrecht (?1897-1969), ein Ingenieur, der 1925 als Kommunist in die Sowjetunion ging, 1932 als Trotzkist verurteilt wurde, 1934 nach Deutschland ausreisen durfte. Sein Buch Der verratene Sozialismus, erschienen 1938 im Verlag der Antikomintern, diente als Vorlage für NS-Propaganda. Weiter ist aus dem Register zu erfahren, dass Alexej A. Brussilow (1853-1926), der Kommandeur der nach ihm benannten russischen Offensiven im Sommer und Herbst 1916, seit Mai 1920 als Berater und 1923 als Kavallerie-Inspektor der Roten Armee diente. Der in Blüchers Rede als blutiger Schlächter erwähnte, als »Seifensieder« geschmähte General Michail W. Chanshin (1871-1945) fungierte 1919 als Kriegsminister der weißen Gegenregierung unter Admiral Koltschak in Irkutsk. Anders als Koltschak, der im Januar 1920 von »weißen Tschechen« ausgeliefert und im Februar erschossen wurde, entging der Konterrevolutionär Chanshin der revolutionären Justiz. Nach dem Bürgerkrieg überlebte er zuerst als Kontorleiter eines Bohnenhändlers in China, sodann als technischer Zeichner bei der Südchinesischen Eisenbahn. 1945 wurde er von der sowjetischen Militärabwehr verhaftet und zu 10 Jahren Haft verurteilt. 1954 wurde er amnestiert.

Es empfiehlt sich, das Nachwort – der Titel Auf den Amurklippen sowie Textzitate verweisen auf die historisch komplementäre, ins Mythische erhobene Dramatik von Ernst Jüngers Marmorklippen − als Vorwort zu lesen. Die Autorin Nadja Rosenblum (womöglich ein nom de plume) gibt Aufschluss über die Bedeutung des nicht nur unter Slawisten bekannten Autors Konstantin Paustowski (1892-1968). In seinem Werk verteidigte Paustowski Mensch und Natur gegen die »Ingenieure der Seele«, die Subjektivität des Schriftstellers gegen den Reduktionismus der Ideologie sowie die Ästhetik der Sprache gegen die von Funktionären des Fortschritts betriebene futurokratische Sprachzerstörung, die etwa Ausdruck fand in Begriffen wie Oprodkombug (als Abkürzung für ›Spezielles Lebensmittelkomitee des Gouvernements‹). Anno 1965 wäre Paustowski beinahe zum dritten russischen Nobelpreisträger – nach dem 1920 emigrierten Iwan Bunin und nach Boris Pasternak − gekürt worden. Nach massiven Interventionen der sowjetischen Regierung fiel die Wahl des Nobelkomitees auf Michail Scholochow (»Der stille Don«).

Paustowski notierte 1936: »Entweder man schreibt, was von einem erwartet wird, oder man schreibt für die Schublade.« Bei seinem Blücher-Porträt − es erschien 1938 in drei Druckversionen, zuerst in der Februarausgabe der Literaturzeitschrift Novyi Mir − dürfte es sich um eine Auftragsarbeit gehandelt haben. Mit Formulierungen wie »Trotzkis verräterische Direktiven« und »der die komplizierte und verwickelte Situation an der Front schnell durchschauende Genosse Stalin« vermittelt der Text eine Anschauung der im Jahre 1938 herrschenden Atmosphäre. Seine Kurzbiographie Blüchers liest sich passagenweise wie ein Dokument des 1934 dekretierten Sozialistischen Realismus: »Der Name Blücher ist von Ruhm umgeben. Doch dieser Ruhm gleicht überhaupt nicht dem Ruhm der großen Heerführer der Vergangenheit. Sie umgab der Ruhm von Eroberern. Blücher, ein Sohn der Partei Lenins und Stalins, ist vom Ruhm des Befreiers umgeben. Blüchers Ruhm ist ein Abglanz der bedeutendsten Revolution in der Welt...«

Paustowskis Heldenbild zeichnet die Lebensstationen des aus einfachsten Verhältnissen aufgestiegenen »kulturvollen und scharfsinnigen Revolutionärs« nach: 1889 in einem Dorf im Bezirk Rybinsk im Wolgagebiet geboren, schickte man den Bauernsohn mit 13 Jahren nach St. Petersburg, wo er sich als Ladenjunge verdingte. Den Demütigungen und Prügeln entzog er sich durch Arbeit in der Fabrik, erst in Petersburg, dann in Moskau. Im Selbststudium erwarb er das Rüstzeug zum Revolutionär. 1910 als Streikführer verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, wurde »das Gefängnis für Blücher die Fortsetzung der revolutionären Schule«. Bei Kriegsbeginn wurde er eingezogen. »Er war ein einfacher Soldat, doch in erster Linie war er ein Revolutionär.«

Dass Blücher – der selbst zugelegte Name ging auf den leibeigenen Urgroßvater zurück, der ob seiner Bravour im Kampf gegen Napoleon von seinem Gutsherrn mit dem Spitznamen ›Blücher‹ gerufen wurde – unter General Brussilow diente, für seine Tapferkeit zum Unteroffizier befördert und mit zwei Georgskreuzen ausgezeichnet wurde, ist bei Paustowski nicht zu erfahren. Stattdessen heißt es: »Gewaltige Armeen, Millionen von Arbeitern und Bauern, eingekleidet in Uniformen und Pelzmützen, wurden auf die Schlachtfelder getrieben, um im Namen des Mehrwertes, der Märkte und der Handelsabkommen zu töten und zu sterben.«

Schwerverwundet 1915 aus der Armee entlassen, kehrte Blücher in seine Heimat im Wolgagebiet zurück. Als Dreher in den mechanischen Werkstätten von Osterman in Kasan trat er den Bolschewiki bei. »Im Oktober 1917 begann Blüchers ungestümer Aufstieg – so ungestüm, wie die Entwicklung der Revolution selbst.«

Im Sommer 1918 verbreitete sich Blüchers Name bei Freund und Feind – bei den Weißen ging die Fama, es handle sich um einen gekauften deutschen General −, als er an der Spitze einer aus Partisaneneinheiten und ›roten‹ Kosaken zusammengesetzten Truppe von ca. 10.000 Mann einen Siegeszug über insgesamt 1500 km unternahm. Blüchers langer Marsch begann in dem bereits im Mai 1918 eingenommenen Orenburg im südlichen Ural, führte über Werchne-Uralsk und Ufa und endete im September bei Kungur (südlich von Perm), wo sich seine ›Uralarmee‹ mit Einheiten der Roten Armee vereinigte. Dazwischen lagen blutige Schlachten und endlose Gefechte gegen die »Weißen« − die bunte Palette von Monarchisten, Konstitutionalisten, zarentreuen Kosaken, Menschewiki und Sozialrevolutionären (SR) − und die zu ihnen übergetretene, entlang der Transsibirischen Eisenbahn operierende Tschechoslowakische Legion (›weiße Tschechen‹).

»1919 durchquerte Blücher mit der 51. Division ganz Sibirien und säuberte es von Koltschak.« Ein Jahr später stürmte die 51. Division die Festung Perekop am Eingang zur Krim und warf die Weißen unter Admiral Wrangel aus ihrer letzten strategischen Schlüsselposition im europäischen Russland. »Heute um 9 Uhr morgens«, telegraphierte Blücher am 11. November 1920, »hat die Division festen Schrittes das saubere Territorium der Krim betreten.« Im Folgejahr wurde Blücher als Oberbefehlshaber der Roten Armee in die Fernöstliche Republik entsandt, wo die japanische Besatzungsmacht in Wladiwostok ein weißes Regime protegierte.

Vor der Entscheidungsschlacht richtete Blücher einen patriotischen Appell an den weißrussischen General W. M. Moltschanow: »Ich bin ein einfacher Soldat der Revolution und möchte mit ihnen sprechen, bevor ich das letzte Gespräch in der Sprache der Kanonen beginne. Welche Sonne ziehen Sie vor, im Fernen Osten zu erblicken: jene, die auf der japanischen Flagge prangt, oder die aufgehende Sonne des neuen russischen Staates, die nach dem reinigenden revolutionären Gewitter beginnt, unsere Heimat zu wärmen?« In derlei Sätzen, zitiert von Paustowski, wird die Dialektik von revolutionärem ›Internationalismus‹ und nationalrussischer Revolution greifbar. Bei Schnee und Eiseskälte mit Temperaturen um 40 Grad unter Null siegten Mitte Februar 1922 Blüchers Truppen nach mehrtägigen Kämpfen über die Weißen − das fernöstliche Finale des Bürgerkriegs.

1925 bis 1927 fungierte Blücher − aufgrund eines 1922 von der Sowjetregierung mit Sun-Yat-sen geschlossenen Abkommens − als leitender Militärberater der Kuomintang-Regierung unter dem Decknamen ›Galen‹ in Kanton. (Paustowski lässt Blücher als »Berater von Sun Yat-sen« auftreten, der bereits 1925 gestorben war.) Im Herbst 1929, als es wegen der Ostchinesischen Eisenbahn zu Zusammenstößen mit Truppen Chiang Kai-sheks kam, erhielt er den Oberbefehl über die Besondere Fernostarmee.

»Blücher bewacht die Grenze aufmerksam, mit sicherer und starker Hand«, schrieb Paustowski. Die Hommage schloss mit dem Satz: »Die Fernostarmee und ihr Befehlshaber führen die Weisung des Genossen Stalin exakt aus: ›Man muß unser ganzes Volk im Zustand der Mobilisierung halten in Anbetracht der Gefahr eines militärischen Überfalls, damit kein ›Zufall‹ und keine Tricks unserer äußeren Feinde uns unvorbereitet treffen.‹«

III.

Der Blücher-Eloge folgt die Rede (»Zur Geschichte der 30. Schützendivision«), die der Held selbst am 22. November 1935, zwei Tage nach seiner Erhebung zum Marschall, vor sieben Schriftstellern hielt. Die Gruppe arbeitete – als ›Kollektiv‹? – an einem Epos über jene aus der ›Uralarmee‹ und den bei Kungur operierenden Einheiten gebildete 30. Schützendivision.

»Wie gelangte ich, der Sohn eines Jaroslawler Bauern, ein Arbeiter aus den Werken in Piter und Mitischtschi, zu Beginn des Bürgerkriegs in den Ural?« Blüchers Rede, anscheinend aus dem Stegreif formuliert und aufgezeichnet, vermittelt zum einen das (Selbst-)Bild des nüchternen, klassen- und selbstbewussten Proletariers, zum anderen ein facettenreiches Bild des Bürgerkriegs. Nach der Vertreibung der ›Dutowleute‹ − gemeint war der 1921 in China von der Tscheka ermordete ›weiße‹ Kommandeur A. J. Dutow − aus Orenburg verweigerte Blücher den Befehl des in Samara tonangebenden Kommissars Walerian W. Kujbyschew, nach Süden Richtung Turkestan zu marschieren. Kämpfer, die während des Marsches durch Trunkenheit auffielen, ließ Blücher nach eigener Auskunft erschießen. Zu seinen verlässlichen Mitkämpfern gehörten Kosakenabteilungen unter den Brüdern Kaschirin. (Beide Offiziere wurden 1937 erschossen.) Außerdem gab es Verträge, welche die ›Roten‹ mit ›neutralen‹ Offizieren auf ein halbes Jahr schlossen. Einen von ihnen − er fiel im März 1919 an der Kama −, lässt Blücher sagen: »Ich sehe mir diese Leute an und komme mir immer elender vor. Sie haben weder Schuhe noch Kleidung, keine Patronen. Mit gefällten Bajonetten greifen sie die Weißen an. Sterben. Sie verlangen nichts, auch wenn es etwas gibt. Ich habe gesehen, wie sie ihr Leben leben, wie sie Frauen und Kinder zurücklassen im Namen irgendeiner großen Idee, die wir beide nie verstehen werden, doch sie ist ernster zu nehmen als unsere Lebenspläne.«

Mit Entrüstung erinnerte Blücher sich an den ehemaligen Kosakenoffizier Enborissow, der nach der Einnahme von Werchne-Uralsk zu den Weißen übergelaufen, nach dem Bürgerkrieg ins Ausland geflohen sei und »ein empörendes Buch über unsere Abteilung« geschrieben habe. Das auf Blüchers Rede folgende Kapitel »Werchne Uralsk« entstammt dem ›empörenden Buch‹ von Gawriil Wassiljewitsch Enborissow. Den »bolschewistischen Oberbefehlshaber« Blücher bedenkt Enborissow seinerseits mit allen üblichen Verdächtigungen: ein desertierter Jude, vom Feldgericht zum Tode verurteilt, begnadigt und aus dem Zuchthaus entsprungen. »Sein Name wurde bekannt, als er 1918 nach seiner Flucht im Gouvernement Orenburg auftauchte.« Enborissow selbst, so sein Bericht, entging in einem von ›Roten‹ besetzten Kosakendorf zweimal dem Tode. Das eine Mal »vergaßen« sie, noch uneinig über die Art der Exekution, die Ausführung der vom Revolutionsgericht verhängten Todesstrafe. (»Allmählich wurde es Tag, und der Herrgott errettete mich und die anderen, die auf ihre Hinrichtung warteten.«) Zuvor hatte man ihn mit dem Gewehrkolben traktiert und zweimal aus einem Revolver auf ihn geschossen. Doch die in der Uniformtasche steckende Klapp-Ikone aus Messing, seit der Inthronisation der Romanows (1613) in Familienbesitz, rettete dem Kosakenoffizier Enborissow das Leben. Sein Erinnerungsbuch Ot Urala do Charbina. Pamjatka perežitom (»Vom Ural bis Charbin. Merkbuch des Durchlebten«) erschien 1932 in Schanghai.

IV.

Am 11. Juli 1937 gehörte Blücher zu dem Militärtribunal, das Michail N. Tuchatschewski und andere »Militärverschwörer« zum Tode verurteilte. (Von dem neunköpfigen Tribunal unter dem Vorsitz von Wassili W. Ulrich überlebten vier die ›Säuberungen‹). Den Heros Blücher ereilte sein Schicksal im Sommer 1938. Zu der Zeit befehligte er die Truppen, die am Chasansee verlustreiche Kämpfe gegen die Japaner führten. Am 31. August 1938 wurde er aus Fernost abberufen, am 4. September durch Befehl 0040 des Volkskommissars für Verteidigung (Kliment J. Woroschilow) abgesetzt und am 22. Oktober »wegen Beteiligung an einer militär-faschistischen Verschwörung« verhaftet.

Zu einem Schauprozess kam es nicht mehr. Bei den Verhören wurde Blücher gefoltert – Hauptakteur war Stalins letzter, langjähriger Geheimdienstchef Lawrentij Berija −, so dass ihn seine gleichfalls verhaftete zweite Frau Galina Koltschugina-Blücher kaum wiedererkannte. Er sehe aus, als sei er unter einen Panzer gekommen, erzählte sie einer Mitgefangenen. Blücher starb an den Folterungen im Lefertovo-Gefängnis am 9. November 1938. Sein Leichnam wurde zur Autopsie ins Butyrka-Gefängnis gebracht, danach im Krematorium des Donskoj-Friedhofs eingeäschert. Ein Vierteljahr später, am 10. März 1939, wurde der tote Marschall »wegen Spionage für Japan« zum Tode verurteilt.

Am 22. Oktober 1938 war auch Blüchers Frau aus dritter Ehe verhaftet worden. Sie kam bei einer ›Sonderberatung‹ des NKWD mit 8 Jahren Zwangsarbeit davon, während seine zweite Frau Galina Koltschugina am 14. März erschossen wurde. Blüchers Bruder Pawel Konstantinowitsch (geb. 1905), Kommandeur einer Fliegerstaffel in Chabarowsk, wurde am 23. Oktober 1938 verhaftet, am 26. Februar 1939 zum Tode verurteilt und erschossen. Gleichfalls zum Tode verurteilt wurden dessen Ehefrau sowie Blüchers Frau aus erster Ehe.

Im ›Besserungslager‹ in Karabass begegnete Blüchers dritte Frau Glafira Beswerchowa der Ehefrau des Dichters Eduard Bagrizki (1895-1934). Aus dessen GedichtPjat´desjat pervaja [»Die Einundfünfzigste« (Division)], so erfahren wir aus Paustowskis Text, hatte Blücher dereinst das Epigramm für seine Erinnerungen an die Entscheidungsschlacht gegen die ›Weißen‹ unter General Wrangel bei Perekop gewählt:

I rasognaw gustye wolny dyma,
Sabrysgannye krwoju i w pyli,
Po beregam schirokoschumnym Kryma
My krasnye snamena promesli.

[und die dichten Feuerqualmwogen auseinanderjagend,
voller Blut und staubbedeckt,
trugen wir entlang der umtosten Ufer der Krim
die roten Banner.]

Wer, außer Liebhabern der russischen Literatur, wagte es heute noch, an solcher Wortgewalt, an Kriegslyrik Gefallen zu finden? So naheliegend und politisch korrekt die Abwertung von derlei Pathos – sie verfehlte den 1917 in Russland aufgebrochenen, weltweit ausstrahlenden Geist der Utopie.

Den Blick dafür öffnet das Nachwort Nadja Rosenblums: In der Vita Blüchers spiegelt sich das von innerweltlicher Glaubensintensität durchtränkte Zeitalter der Revolution. Aus den Texten spricht die sich bis zum Selbstopfer steigernde Fähigkeit einfacher Menschen zur Selbsttranszendenz. Das religiöse Moment – den Passionszug der leidenden und hoffenden Massen unter dem roten Banner – brachte Alexander Block in seinem Poem Die Zwölf (1918) zum Vorschein. Auch Edmund Erwin Dwinger, der, Sohn einer russischen Mutter, als kriegsgefangener deutscher Offizier in der Armee Koltschaks kämpfte, fragte sich im Roman Zwischen Weiß und Rot (1930) angesichts der revolutionären Gläubigkeit der Roten, ob diese »nicht so alt [sei], wie die Menschheit selbst, zum wenigsten so alt wie Christus und seine Lehre?«

Diese Glaubens- und Opferbereitschaft der ›Massen‹ verweist auf die politisch-theologische Dimension der Revolution (und der Konterrevolution). Der Terror, anfangs – seit Dezember 1917 − noch ein Instrument Leninscher quasi- religiöser Selbstgewissheit, diente in der Ära der ›Säuberungen‹, so Rosenblums Deutung, als »umfassende Kompensationsstrategie« für die ausgebliebene Parusie oder, so wäre zu ergänzen, als Modus zur Aufrechterhaltung der Parusie-Erwartung: Erst nach Vernichtung aller ›Verräter‹ würde den gläubigen (und verängstigten) Massen der Eingang ins kommunistische Paradies offenstehen.

V.

Wenn es den Anschein hat, als sei hierzulande nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/91 das Interesse an russischer Geschichte erloschen, so findet eine solche Annahme in dem Bändchen mit dem Titel Der lange Marsch eine eindrückliche Widerlegung.

Soll der Rezensent Schönheitsfehler bemängeln? Die am Ende, nach den Buchannoncen des Verlags eingefügte Faltkarte ist im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführt und darum nur durch Zufall zu finden. Zudem ist dem Kartographen in der Überschrift (»Die UdSSR von 1917 bis 1922«) ein chronologischer faux pas unterlaufen: Die UdSSR (russisch: SSSR) wurde erst am 30. Dezember 1922 gegründet. Es müsste heißen: ›Sowjetrussland‹ − oder ›Russland‹.

Auf 136 Seiten sind Texte und Materialien versammelt, die ein faszinierendes Bild von der einst aus Russland aufgehenden Menschheitshoffnung vermitteln, von der frühen Wirklichkeit des Weltbürgerkrieges zwischen ›Rot‹ und ›Weiß‹ und vom Maelstrom der bolschewistischen Revolution. Die Fotografie auf Seite 92 illustriert das Ende der »großen Illusion« (François Furet): Sie zeigt die Gedenkanlage auf dem Donskoje-Friedhof in Moskau, wo die Asche vieler vom NKWD Hingerichteter in eine Sammelgrube geschüttet wurden – die einst sogenannten ›Nichtabgeholten Urnen‹.

Herbert Ammon