Stefan George: Leben und Nachleben
Solbach: Stefan George gilt
manchen als moderner Dichter des ›Kairos‹. Lassen sich der antike
Begriff des Kairos, also des rechten Augenblicks, und der moderne
Begriff des Zeitfensters umstandslos miteinander vermitteln? Gibt
es etwas, was man bei George darüber lernen kann?
Braungart: ›Kairos‹ bei
George hat kaum etwas mit dem heutigen Begriff ›Zeitfenster‹ zu
tun, eher mit einer von George angestrebten wirklichen Revision der
deutschen Lyrik. Das hat Folgen für den Einzelnen: die Ausbildung
von Sensibilität für die Gegenwärtigkeit einer Lebenssituation und
einer ästhetischen Situation, die jetzt gestaltet werden müssen –
aber nicht genutzt, sondern
gestaltet; das ist schon etwas
anderes.
Solbach: Sie würden also
den Begriff des Zeitfensters rein funktional sehen? Wie im
Englischen: »windows of opportunities«?
Braungart: Ja, als
Gelegenheit. Die Metapher des Zeitfensters besitzt nicht die
geschichtlich-kulturelle Dignität, die bei George grundlegend ist.
Man kann das anhand seines ersten Gedichts zeigen, dem Gedicht
Weihe zu Beginn der
Hymnen. Man kann zeigen,
wie er das poetische Schreiben wirklich an der Grenze zwischen
Wasser und Land, zwischen Feuchtem und Festem, also
zwischendrin platziert. ›Zwischendrin‹
sieht er sich eigentlich immer, weder dem einen, noch dem anderen
zugehörig. Dieser Anspruch auf Autonomie der Poesie, die nur so
ihre Aufgabe – nicht ihre Funktion, sondern ihre Aufgabe –
wahrnehmen kann, bleibt durchgängig für das gesamte Werk
verbindlich.
Solbach: Er versteht sich
als Dichter und nicht als Autor oder Schriftsteller. Da erscheint
das Wort ›Aufgabe‹ schon eher angebracht.
Braungart: Und genau darauf
bezieht sich ›Kairos‹. George ist nicht nur ein Dichter im
differenzierungstheoretischen Sinn von Autonomie, der besagt, dass
die Dichtung eine eigene Sphäre ist. Seine Konzeption von Dichtung
ist stärker eingreifend, sie setzt ein Maß, sie
will ein Maß setzen, einen Anspruch
formulieren, und das in einer viel zu sehr ihrer selbst gewissen
geschichtlich-kulturellen Kontinuität und Homogenität. Insofern ist
diese Dichtkunst immer, und zwar von Anfang an, Lebensvollzug. Sie
ist nicht einfach etwas, was man zu einer bestimmten Zeit oder im
günstigen Augenblick macht, den man dann ergreift. Dergleichen
Bedingungen braucht es auch, wenn Dichtung entstehen soll. Aber
dieses sich Hingeben an die Aufgabe der Dichtkunst ist zugleich
Vollzug eines entschiedenen Lebens. So möchte ich es sagen.
Solbach: Bleiben wir noch
ein wenig bei Stefan George. Der Philosoph Manfred Riedel hat in
einem Gespräch mit Steffen Dietzsch in Iablis (2005) gesagt:
»George, der den Bismarck-Staat im Namen eines ›geheimen
Deutschland‹ bekämpfte, das die auf diesem Geschichtsboden
entstandene Überlieferung von Antike, Christentum und Humanismus
bis hin zur Klassik in sich schloss, sah nun am Ausgang seines
Lebens einen neuen Usurpator aufsteigen, der selber auch eine
deutsche Fehlentwicklung beklagte und sich [...] als ›Kämpfer für
ein anderes Deutschland‹ bekannte. […] Das ›andere‹ ist der
Gegenbegriff zum ›geheimen Deutschland‹. Das aber ist ein
Schlüsselwort konservativer Bismarck-Opponenten, um das zur Sprache
zu bringen, was durch den modernen Nationalstaat verschwiegen
wurde: den europäischen Grundzug deutscher Vergangenheit.« Im
Attentat des 20. Juli stoßen demzufolge das ›andere‹ und das
›geheime‹ Deutschland aufeinander. Der Diktator überlebt, im Bild
der getöteten Verschwörer überlebt das menschliche Antlitz der
Nation. Ist Ihre Auffassung von George in dieser Darstellung
aufgehoben?
Braungart: Eine Antwort
muss wohl zwei verschiedene Aspekte bedenken. Erstens: Gibt es
einen und von welcher Art wäre ein möglicher Zusammenhang zwischen
dem Attentat der Männer vom 20. Juli bzw. – das muss man vielleicht
doch ganz besonders stark sagen – Stauffenbergs und dem geistigen
Milieu des George-Kreises und unter dem Einfluss Georges? Darüber
kann man streiten. Grundsätzlich lässt sich eine
lebensgeschichtliche Handlung, mit welcher Tiefenwirkung und
Tiefenbedeutung auch immer, ganz selten so direkt auf Literatur
zurückführen. Hier liegt vielleicht eine Hoffnung, vielleicht auch
eine Größenphantasie, die von der Literatur immer wieder gehegt
wird. Das halte ich für schwierig, erst recht in diesem Fall. Ganz
sicher kommt Stauffenberg von George her, und er hat diese
Verantwortung auf sich genommen. Im neuen Jahrbuch der
George-Gesellschaft findet sich ein Interview mit Peter Hoffmann,
der diese Position energisch vertritt, und ich stimme ihm da völlig
zu: Ohne die Einflüsse Georges wäre Stauffenberg sicher nicht zu
dem geworden, was er dann war. Und ohne Stauffenberg wäre das
Attentat wohl nicht unternommen worden. Aber deswegen zu sagen, die
Tat sei die Realisierung Georgeschen Denkens oder eines Denkens,
das er im Kreis und bei George gelernt habe, das geht auch mir viel
zu weit. So monokausal und einfach sind Sozialisationsprozesse
nicht, so einfach ist das Leben nicht, auch nicht im Falle
Stauffenberg. Da gibt es viele Prägungen. Um die verheerende
Politik Hitlers und die ungeheure Katastrophe wahrzunehmen, die der
nationalsozialistischen Politik geschuldet ist, brauchte es George
nicht. Und auch dazu, die Konsequenz zu ziehen, brauchte es George
nicht. Andererseits – das ist der zweite Aspekt – glaube ich schon,
dass die Bereitschaft Stauffenbergs, eine Entscheidung zu treffen –
in einer Situation, in der ihm ganz klar sein musste, dass er sein
Leben riskiert –, die Bereitschaft zu dieser Entschiedenheit, von
der wir gerade schon kurz gesprochen haben, von George mitgeprägt
wurde.
Solbach: Eine Prägung muss
nicht inhaltlich sein, sie kann sich auch auf die Haltung, den
Habitus beziehen.
Braungart: So ist es. Aber
direkte Einflüsse und direkte Abhängigkeiten sehe ich nicht. Das
Verhältnis zwischen Hitler-Deutschland und dem Geheimen Deutschland
ist ganz kompliziert. Es irritiert mich immer am George-Kreis, dass
sich doch vergleichsweise viele mediokre und sich dem
Nationalsozialismus hingebende Gestalten dort haben aufhalten
können – Hildebrandt, Wolters, am Schluss Frank Mehnert –, und dass
George da nicht viel schärfer interveniert hat. Johannes Fried aus
Frankfurt hat in einer neuen Studie, die noch einmal auf
antisemitische Tendenzen und Personen im George-Kreis abstellt,
sehr deutlich gemacht: Ja, das hat es im George-Kreis gegeben. Das
Geheime Deutschland und das nationalsozialistische Deutschland – da
gibt es auch innere Bezüge, die man nicht verschweigen darf. Man
muss sich fragen, warum George das nicht gesehen hat – bei der
Energie, mit der er Kulturkritik praktisch betrieb. Warum hat er
sich nicht stärker distanziert? Warum hat er es bei offener
deutbaren symbolischen Aktionen belassen wie dem Weggang in die
Schweiz oder – das war sicher überlegt – seiner Ablehnung einer
Ehrenposition in der Preußischen Akademie der Künste, die er durch
Morwitz überbringen ließ? Natürlich wusste er, was er tat. Aber das
genügt, glaube ich, in einer solchen Situation wirklich
nicht.
Meine Antwort auf Ihre Frage wäre, dass George sich mit dem
christlich-europäisch-abendländischen Erbe in gewisser Weise sehr
schwer tat. Ich sehe nicht, wo George – ich habe die These
anderweitig auch schon vertreten − den emphatischen Subjektbegriff
der jüdisch-christlichen Tradition vertritt. Den emphatischen
Subjektbegriff, der dann aus dem 18. Jahrhundert kommt, weil er
dort säkularisiert wird in dem Sinne, dass der Einzelne jetzt
jenseits seiner Hinsichten, seiner Funktionalitäten,
Brauchbarkeiten und Nützlichkeiten zählt und sich aus seinem
Menschsein allein Rechte ableiten, so wie es in der Formulierung
der Menschenrechte und in unserem Grundgesetz festgehalten wurde.
Diesen emphatischen und im Kern jüdisch-christlichen Subjektbegriff
hat George sich nicht ausdrücklich zu eigen gemacht. Er wendet sich
nämlich gegen das »Individuumchen«, wie er es nennt, lässt aber das
starke Individuum gelten. Das starke Individuum ist nicht das
schwache Subjekt, nicht das leidende und hilflose Subjekt, das in
seinem Leiden und seiner Hilflosigkeit, gerade darin, dennoch ein
volles Recht auf Wahrung seiner Würde besitzt. Das ist aus meiner
Sicht einer der Gründe, warum George die Differenz nicht schärfer
gewahrt hat und gewahrt wissen wollte und sich nicht schärfer von
Figuren geschieden hat, die Verheerendes dahergeredet und getan
haben.
Solbach: Sie sind seit
einiger Zeit Vorsitzender der George-Gesellschaft. Während der
Missbrauchs-Skandale des vergangenen Jahres wurden auch
George-Verse zitiert, so als habe man in ihm einen Gewährsmann
kulturell gehobenen Päderastentums vor sich. Im Hintergrund steht
natürlich, was man seit dem George-Biographen Thomas Karlauf über
das Sexualleben des Dichters und seines Kreises glaubt oder zu
wissen glaubt. Ist die historische Verbindung von Homosexualität
und ›Kultur‹ ein weiteres Mal in Gefahr, aus sinistren Gründen auf
dem Altar einer prüden Gesellschaft, die sonst nirgends zu sehen
ist, geopfert zu werden? Bleibt das geheime Deutschland das
Gegenbild der ihrer selbst gewissen und dabei höchst unsicheren
politischen Gemeinschaft, gleich unter welchem Vorzeichen?
Braungart: Karlaufs
Biografie ist ja keineswegs die Biografie eines
Päderastenkreises…
Solbach: So wurde sie aber
rezipiert.
Braungart: So wird sie
rezipiert und das sagt womöglich mehr über die Gesetze unserer
Medienlandschaft und die Interessen und die Gier der Medien aus als
über dieses Buch, das viel differenzierter argumentiert und dabei
nicht verschweigt, dass es diesen Aspekt im Kreis gibt. Es ist ja
ohne Zweifel so, dass er eine Rolle spielt, so wie die
Homosexualität im Kreis eine Rolle spielt – wer einmal die Briefe
Ernst Glöckners an George gelesen hat, wie ich das getan habe, der
weiß, welche Dimensionen das hat.
Nun wissen wir alle, dass zwischenmenschliche Verhältnisse stark
erotisch aufgeladen sein können. Warum sollen das nicht auch
homoerotische Verhältnisse sein? Ganz grundsätzlich und über George
hinausgehend gesagt: Es hängt immer davon ab, wie Menschen
miteinander umgehen. Wenn es liebevolle Verhältnisse sind, sind es
legitime Verhältnisse. Liebevolle Verhältnisse bedeutet: volle
wechselseitige Anerkennung des anderen als anderen. Bei George muss
man bedenken, dass Homosexualität ein Straftatbestand war. Wenn da
etwas nach außen drang, riskierte man eine Gefängnisstrafe. Das hat
natürlich zum Gemunkel um den Kreis auch beigetragen.
Karlauf hat eine Biografie geschrieben. Man kann ihm nicht
vorwerfen, dass er die Gedichte nicht wirklich interpretiert. Eine
Biografie muss anderen Ansprüchen genügen als eine Werkmonografie.
Es ist, die methodischen Grenzen bedenkend, legitim, immer wieder
einen Blick auf das Werk zu werfen und zu sehen, inwieweit es da
Korrespondierendes zur Biografie gibt. Als Philologe muss man aber
diesen möglichen Zusammenhang immer kontrollieren und sehr
vorsichtig damit umgehen. Ganz allgemein möchte ich sagen: Zwischen
Menschen ist Vieles möglich, auch vieles Schlimme. Darunter rechne
ich den Missbrauch von Kindern und sexuell nicht Mündigen. Aber
einen naiven Schluss auf die poetische Leistung Georges zu ziehen,
halte ich für ganz blödsinnig. Warum sollen Dichter bessere
Menschen sein als andere? Dafür, dass das keineswegs der Fall ist,
gibt es in der Literaturgeschichte viele Beispiele. Diese
Diskussion, gerade sie sollte uns darauf verpflichten, das Werk
genauer anzuschauen: Taugt es auch etwas jenseits des
Sensationellen, nach dem unsere Medien verlangen?
Solbach: Es ist wohl auch
eine merkwürdige Sache, zwei völlig unterschiedliche historische
Situationen so ineinander zu teleskopieren. Die jetzt aufgedeckten
Missbrauchsskandale bekommen im Gefolge von ’68 und der sexuellen
Befreiung einen deutlich anderen Hintergrund. Ist das Zitieren von
George-Versen da die angemessene Haltung?
Braungart: Ich will das
jetzt nicht miteinander vergleichen. Auch das Zitieren von
Rilke-Versen in irgendwelchen politisch opportunen Situationen
halte ich nicht für sonderlich glücklich.
Solbach: Oder in
esoterischen Kreisen.
Braungart: Was ich gerade
sagte, ist meine Position, und sie ist mir wichtig. Das Recht auf
Anerkennung des Subjekts darf auch ein Autor beanspruchen. Er darf
es auch für seine literarischen Äußerungen beanspruchen. Dann haben
diese zunächst einmal jenseits ihrer Funktionalität und
Brauchbarkeit einen Wert an sich. Ich glaube, kultureller Wert kann
nur so entstehen, dass man den Wert an sich anerkennt, jenseits der
Brauchbarkeiten. Man muss sich selbst immer wieder prüfen. Wir
brauchen die Literatur, aber sobald wir Literatur um einer uns
genehmen Brauchbarkeit willen instrumentalisieren, dann ist das
etwas anderes, das überlegt sein will. Das ist in dieser Diskussion
sicher geschehen. Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum man über
Päderastie und Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen nicht
einfach so reden kann und reden soll, wie man darüber reden muss:
also über ein großes Unrecht, das nicht geschehen darf und das man
öffentlich machen und verhindern muss.
Solbach: Manche Interpreten
sprechen, dem Gesagten zum Trotz, von einer George-Renaissance. Das
wirkt einigermaßen komisch angesichts einer gnadenlos
kommerzialisierten Gegenwartsliteratur und einer global
orientierten Öffentlichkeit, die selbst mit den obligaten
Aufklärungstopoi nichts mehr anfangen kann. Was nehmen Sie wahr,
wenn Sie mit Literaturwissenschaftlern und jungen Lesern sprechen?
Enthalten die Denk-, Rede- und Lebensfiguren einer Gruppe von
Leuten um einen Dichter, der uns, rein zeitlich, so fern steht wie
Goethe und die Weimarer Klassik ihm, einen hier und heute
vermittelbaren, vielleicht sogar unmittelbar eingängigen
Sinn?
Braungart: Ob die
Gegenwartsliteratur gnadenlos kommerzialisiert ist, weiß ich nicht.
Ich kenne viele junge Autoren, die Unsicherheiten in ihrem
Lebensentwurf oder Lebensweg-Entwurf – denn ein Lebensentwurf ist
es ja nicht unbedingt – in Kauf nehmen, um sich literarisch zu
äußern und sich auf dem Feld der Literatur einzumischen. Sie wissen
zum Teil nicht, wie es morgen weiter geht, wenn sie sich heute mit
dem letzten kleinen Workshop oder der letzten kleinen Lesung
durchschlagen, für die es vielleicht 200 Euro gibt. Es beeindruckt
mich schon sehr, dass es viele junge Leute gibt – gerade in der
Lyrikszene, von Lyrik kann man ja nicht leben –, die sich trotz
allem auf dieses riskante Feld begeben und versuchen, das
durchzuhalten. Sicher muss man die Autoren, die das Geschäft
bestimmen und entsprechend vermarktet werden, die also ein
Wirtschaftsfaktor sind, davon unterscheiden. Ich war vor einem Jahr
bei einem Treffen − einer Einladung der Industrie- und
Handelskammer hier in Detmold folgend – von Industrieleuten und
Kulturleuten. Es kam dann die Absurdität auf, dass wir, um mit den
Wirtschaftsleuten ins Gespräch zu kommen, ein kulturelles
speed dating machen und
alle fünf Minuten den Platz wechseln sollten. Da bin ich angesichts
des Geredes von Kultur als Standortfaktor, während sich
substantiell niemand für sie interessiert, geflüchtet. Damit habe
ich nichts zu schaffen.
Um auf die Frage einer George-Renaissance zurückzukommen: Ich
glaube schon, dass es eine der ganz großen Fragen ist, die die
Geschichtsschreibung und vor allem die deutsche
Geschichtsschreibung und das deutsche Selbstverständnis noch lange
beschäftigen werden und beschäftigen müssen, wie es zum
Nationalsozialismus kommen konnte. Die George-Renaissance hängt
auch damit zusammen. Eine Antwort, die unter anderem mein Kollege
Robert Norton gegeben hat und die auch sonst einige zu geben
geneigt sind: dass der George-Kreis sozusagen Steigbügelhalter für
die Nazis gewesen sei, ist diesem Interesse zu verdanken, man möge
doch jetzt endlich eine fassbare und in der Reichweite auch
überschaubare Erklärung finden. Es bleibt aber immer schwierig, für
einen derartigen Zivilisationsbruch eine einfache und historisch
knappe Antwort zu geben. Die Geschichtswissenschaft mag die zwanzig
oder dreißig Jahre, in denen der George-Kreis und die ihm
nahestehenden Dichter und Intellektuellen geholfen haben sollen,
den Nationalsozialismus vorzubereiten, hier einordnen. Es ist
angesichts ihres Erklärungsbedarfs möglicherweise auch
nachvollziehbar, aber ich glaube, es greift viel zu kurz.
Seit den neunziger Jahren gibt es verstärkt wieder eine politische
George-Rezeption, die ihn in diese Vorgeschichte einzuordnen
versucht und vielleicht gar nicht wahrnimmt, dass es eine
europäische Kulturkritik gibt, die sich gerade in Deutschland
besonders ausgeprägt als Kulturpessimismus äußert. Darauf hat Fritz
Stern schon in den sechziger Jahren in seinem großen Buch
Kulturpessimismus als politische
Gefahr hingewiesen. Das ist ein imponierendes, ein epochales
Buch. Stern sagt – und er warnt davor –, dass der Kulturpessimismus
in der radikalen Form, wie er seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
formuliert wird, zeigt, wie wenig kritisch-positiv die
geschichtliche Situation als eine angenommen wird, in der zu
handeln ist und mit der man sich auseinanderzusetzen hat. Das wäre
moderne Demokratie, gerade in der sogenannten modernen
Massengesellschaft. Im deutschen Bildungsbürgertum und bei den
deutschen Intellektuellen bestand hier ein großes Defizit. Die
Gegenwart in ihrer Eigenart kritisch als zu gestaltende zu bejahen,
das hat der Kulturpessimismus nicht geleistet. Er hat nur verwerfen
können, und der George-Kreis steht zum Teil in dieser Tradition
einer solchen, stark kulturpessimistisch getönten Kulturkritik.
Meiner Auffassung nach muss Kulturkritik tatsächlich sein; das ist
Aufgabe der Intellektuellen, auch der Dichter, wenn sie sich als
Intellektuelle verstehen (das brauchen sie gar nicht und tun auch
nicht alle). Die Intellektuellen müssen diese Aufgabe wahrnehmen,
sie müssen Abstand wahren, sie müssen kritisch kommentieren, aber
sie müssen auch die Implikationen ihrer Äußerungen sehen und sich
genau überlegen, was sie statt des Kritisierten haben wollen. Das
wäre meine Antwort auf die kritische George-Rezeption.
Die sogenannte George-Renaissance war zunächst eine intellektuelle,
eine wissenschaftliche Renaissance im Rahmen des
Universitätsbetriebs. Es gibt aber auch eine George-Renaissance
unter den Dichtern, Wulf Kirsten, Thomas Kling, Uwe Kolbe, Norbert
Hummelt, Dirk von Petersdorff, auch Durs Grünbein, beziehen sich
auf ihn. Es gibt eine ganze Reihe von Dichtern, die völlig
unverdächtig sind, Demokratiefeinde zu sein, die aber ihre Rolle
als kritische Beobachter unserer Kultur und unserer Gegenwart ernst
nehmen. Ich finde das richtig. Sie sollen das tun.
Die andere Rezeptionallinie fragt danach: Wo kommt das
Bildungsbürgertum her, was ist das eigentlich, was sind die
Bildungshorizonte des sogenannten Bildungsbürgertums, warum war es
politisch so schwach und warum resultierte daraus so wenig? Carola
Groppe hat ein imponierende Buch geschrieben, in dem sie die
Bildungshintergründe und -horizonte der Georgeaner aufhellt und
zeigt, wie eng die Verbindung zwischen bildungsbürgerlichen und
kulturellen Sozialisationen des 19. Jahrhunderts und dem
George-Kreis war.
Und dann gibt es doch auch ein ästhetisches und poetologisches
Interesse. Es ist vorzugsweise meines wie auch, wie gesagt, das
vieler Lyriker, die sich mit George befassen. Es wäre vielleicht zu
viel, auf diesem Feld von Renaissance zu sprechen. Aber es gibt
derzeit fast keine Universität in Deutschland, an der nicht
George-Seminare abgehalten würden. Die Anerkennung, Achtung und
Schätzung der Leistungen Georges in der Geschichte der deutschen
Lyrik sind jetzt wieder da, und das ist natürlich gut und mir sehr
wichtig. Es ist wirklich so: Die deutsche Lyrik des 19.
Jahrhunderts vor George war provinziell. Der Erzählliteratur hat
die Provinz nicht geschadet. Deutsche Erzählliteratur ist im 19.
Jahrhundert überwiegend Literatur aus der Provinz. Der deutsche
Realismus ist überwiegend ein Realismus der Provinz und zieht
daraus eine ganz eigenartige Stärke und eine ganz eigenartige
Qualität. Einer meiner Großautoren ist seit vielen Jahren Gotthelf:
Was für präzise Schilderungen des Lebens gibt es da! Das
unterscheidet die in ihrer Kleinstaaterei politisch und kulturell
ganz anders verwurzelte deutsche Literatur von der englischen und
französischen. Mit der Lyrik verhält es sich anders. Mörike ist
vielleicht der letzte Fall wirklich ganz großer Lyrik. Man muss die
beiden Antipoden in der Lyrik, Mörike und Heine, in ihrer
unvergleichlichen, ja ganz eigenartigen poetischen Sensibilität
unmittelbar aufeinander beziehen. Und dann ist Schluss. Es ist
Georges nie zu bestreitende Leistung, gespürt zu haben, dass die
deutsche Lyrik sich nur erneuern kann, wenn sie sich auch der
ästhetischen Erfahrung in der Metropole gegenüber öffnet. Sprich:
in Paris. Und das heißt: gegenüber Baudelaire, Mallarmé, Verlaine.
Andere kommen hinzu. Man sieht das, glaube ich, inzwischen wieder
sehr viel deutlicher. An dieser Wahrnehmung haben natürlich viele
Wissenschaftler mitgearbeitet. George wird hier eine Position
zugewiesen, die ihm eigentlich längst gebührt. Ohne ihn hätte es
zum Beispiel die Baudelaire-Rezeption, die sehr schnell um 1900
einsetzt, so nicht gegeben.
Also: Dieser frühe George wirkt nicht als ausschließender, sondern
als ›Ermöglichungsfaktor‹.
Aber zurück zu den Lyrikern, die sich heute auf George beziehen.
Das sind – ich sage es noch einmal ganz pathetisch – oft mutige und
tapfere Leute, die für die Kultur, für ihr Verständnis von Kultur
große Einschränkungen in ihrem persönlichen Lebensstandard
hinnehmen.
Solbach: Das ist ja nicht
der Betrieb.
Braungart: Das ist nicht
der Betrieb, die kleinen Theater, die sich so knapp durchschlagen,
die Ein-Mann-Betriebe, die es unter den Verlegern gibt usw. Nicht
zu vergessen die zahllosen Literaturpreise. Etwas kritisch muss man
sagen: Man kann einem Literaturpreis fast nicht mehr entgehen. Aber
diese kleinen Preise bedeuten – auch wenn sie ganz regionaler Art
sind, kaum Aufmerksamkeit erregen – eben auch Unterstützung für
diejenigen, die sich so durchschlagen.
Kulturwissenschaft: Gedanken zu
einer Zwischenbilanz
Solbach: Die
Ritualforschung hat nicht zuletzt dem Verständnis der Dichtungen
Georges neue Impulse gegeben. Sie hat Unternehmungen wie dem
Maximin-Kult das Aussehen einer bloßen Bizarrerie genommen und
erklären können, wie eine Poesie funktioniert, in deren Zentrum
nicht das isolierte Subjekt, sondern der privilegierte Austausch
zwischen Personen steht, die sich auf besondere Weise verbunden
wissen. Ist das ein begrenztes, auf Sonderfälle der Literatur oder
allgemeiner der Kultur gemünztes Deutungsmuster oder lässt es ganz
allgemein besser begreifen, worum es in Literatur geht? Anders
ausgedrückt: Hat jede Literatur ihre Zeit (und ihren Ort) oder gibt
es so etwas wie ein universales Spiel mit Worten, das wir als
Poesie, Dichtung oder Literatur bezeichnen?
Braungart: Das ist eine
Frage, die ein mindestens abendfüllendes Gespräch verlangt.
Zunächst: Eine emphatische Subjektivität und ein emphatisches
Subjektverständnis, ohne das Literatur heute nicht denkbar ist,
bedeutet nicht notwendig ein isoliertes Subjekt und schon gar nicht
ein kämpferisches. Aber das gilt nicht nur für den Dichter. Mein
Anliegen ist, immer deutlich zu machen, dass wir uns in dieser
Spanne sozusagen zwischen Soziabilität und individueller
Verantwortung für unser Lebens bewegen und auch bewegen können. Das
Ritual ist eine Möglichkeit der Gemeinschaftsbildung, die nicht
totalitär werden darf. Sie kann eben dann nicht totalitär werden,
wenn sie von einem emphatischen Subjektbegriff her kontrolliert
wird – das meint auch ein Subjekt, das sich seiner eigenen Würde
und seiner eigenen Geltung bewusst sein darf. Ich bin damals, als
ich mit diesen Überlegungen zum Ritual angefangen habe, immer
wieder gefragt worden: Hat das noch mit Moderne zu tun und führt
das nicht stracks in den Nationalsozialismus? Ist das nicht
totalitär? Dann habe ich immer die Antwort gegeben: Haben Sie
einmal mit kleinen Kindern zu tun gehabt und haben sie einmal
versucht, denen das Abendritual zu verweigern?
Solbach: Ein Leben ohne
Rituale zu führen, ist gar nicht so einfach.
Braungart: Ja, das ist am
auffälligsten, wenn Kindern die Bestätigung der menschlichen Nähe,
der menschlichen Verbundenheit und Zugehörigkeit, also das, was
Turner die Communitas nennt, verweigert wird. Man kann damit viel
Unheil anrichten. Für mich ist das eine eigentlich für jeden
nachvollziehbare Erfahrung, die zeigt, dass Ritualität und
Gemeinschaftsbildung durch Rituale und emphatische Subjektivität
sich überhaupt nicht ausschließen müssen. Denn Kinder sind, gerade
in ihrer Abhängigkeit von den Erwachsenen, als autonome Subjekte
anzuerkennen.
Nun weist der George-Kreis und insbesondere der Maximin-Kult noch
auf ein ganz anderes Problem hin: auf das Grundproblem ›Religion in
der Moderne‹. Gibt es Gemeinschaftsbildung ohne wirklich tragfähige
sinnhafte, erfahrbare Zentrierung? Kann das Ritual sich nur als
Konvention halten? Ich glaube das nicht, jedenfalls nicht auf
Dauer. Rituale brauchen einen Wert, der unausgesprochen in ihrem
Zentrum steht. Das kann der Wert der Zugehörigkeit zu einem
sozialen Verbund sein, den man z. B. Familie nennt oder wie auch
immer, mit allen möglichen Formen der Zugehörigkeitserfahrung, in
denen sich der Wert dessen, wozu man gehört, dann auch zeigt. Aus
dem Maximin-Kult spricht, glaube ich, die Einsicht, dass es für die
Gemeinschaftsbildung ein solches Sinnzentrum braucht. Wenn man aber
genauer hinschaut, dann bemerkt man, dass George auch in den
Gedichten ständig darauf hindeutet: Das ist meine Hervorbringung,
Maximin bin eigentlich ich, denn ich habe diesen Maximilian
Kronberger erst zu Maximin gemacht.
Und so ist es ja de facto. Im Kreis ist Maximin die Chiffre dafür,
dass das, was dem Meister absolut wichtig ist, auch für die Jünger
Bedeutung haben muss. Das hat gewisse Züge einer
kultisch-religiösen Praxis, wie sie um 1900 in vielen Bünden,
Verbänden, Kreisen usw. üblich war. Der Philosoph Claus Artur
Scheier hat über diesen Maximin im ersten George-Jahrbuch einen
Beitrag geschrieben, in dem er ausführt: Dieser Maximin, das ist im
Grunde eine mythische Figuration aus dem Geist der Moderne, nämlich
der herstellenden Moderne, der sich selbst produzierenden Moderne.
Maximin ist ein gemachter Gott, und er folgt dem Prinzip der
Moderne, dem Prinzip der Produktion. Scheier argumentiert sehr
heideggerisch getönt; aber ich glaube, er fasst etwas ganz richtig
ins Auge. Das betrifft dann natürlich auch die mangelnde
Belastbarkeit dieses Mythos, der an die Person des Meisters
gebunden ist. Mit dem Tod des Meisters fehlt im Grunde die
charismatische Mitte und der Kreis bricht auseinander. Ulrich
Raulff hat das gerade in seinem Buch
Kreis ohne Meister deutlich
gezeigt.
Ich komme auf den anderen Teil Ihrer Frage zurück. Man kann eine
einfache Überlegung anstellen: Wenn man sich allgemein auf
Literatur bezieht und nicht nur auf die Literatur als künstlerische
Äußerung, so ist es ja nie so, dass Sprache und also auch Literatur
eine ein für allemal gültige Semantik besitzen. Natürlich wird, was
wir unter Sprache und damit auch unter Literatur verstehen, immer
auch von dem bestimmt, was unsere Einbildungskraft damit machen
kann, und unsere Einbildungskraft ist nicht im geschichtslosen Raum
geprägt. Und sie wird immer weiter geprägt. Ebenso wenig wie man
zweimal in denselben Fluss steigen kann, kann man zweimal in
denselben Text steigen. Er ist dann für uns ein anderer. Ich habe
gerade einen hochinteressanten Vortrag des schon erwähnten Johannes
Fried gehört, der über dieses Thema arbeitet. Es betrifft den
Status der Quellen in unserem Gedächtnis, in unserer Erinnerung.
Ich möchte noch viel weiter gehen und sagen. Unsere
Einbildungskraft ist immer produktiv und immer kreativ. Wir
konstituieren uns in der Tat ständig neu in jeder neuen Lektüre.
Das sind wir, das ist nicht einfach, sozusagen, unser uns fernes
Gehirn; sondern das sind wir, und das tun wir. Man kann es auch
sprachtheoretisch erklären: Semantik kommt immer aus der Geschichte
und ist nicht ein für alle Mal definiert. Jede Lektüre bedeutet
immer auch
unsere
Aneignung geschichtlicher Semantik.
Andererseits kann man auch wieder sagen: Unsere anthropologische
Ausstattung ist vielleicht vierzig- bis fünfzigtausend Jahre alt,
vielleicht noch viel älter. In dem, was wir physiologisch und
biochemisch sind, was wir neurologisch sind usw., hat sich seither
nicht so sehr viel getan. Insofern ist auch relativ leicht
nachvollziehbar, dass menschliche Grundkonflikte und
Grundherausforderungen, die vor zweieinhalbtausend Jahren in Athen
formuliert wurden, uns heute auch noch beschäftigen. Lieben und
Hassen, Trauern und Sich-selbst-behaupten-wollen, in Zorn geraten
usw. sind geschichtlich zwar jeweils unterschiedlich ausgeprägt,
doch in der anthropologischen Grundsituation immer noch
nachvollziehbar. Der Zorn der Antigone auf einen tyrannischen
König, der das einfache Menschliche nicht begreift, ist
nachvollziehbar, weil es sich nicht nur um eine geschichtliche
Konstellation handelt, sondern weil es um die Frage geht, was das
Richtige ist und was das uns Gemäße. Diese Fragen stellt sich
Antigone, und sie beantwortet sie anders als Kreon.
Solbach: Literatur
beantwortet vielleicht dieselben Fragen immer wieder anders.
Braungart: Sie merken auch
daran, dass ich vehement gegen ein Modell bin, in dem die
Geschichte den Hintergrund liefert und die Literatur den
Vordergrund. Diese Theatermetapher oder bildnerische Metapher – man
kann es sich ja so und so zurechtlegen –, ist einfach unsinnig,
weil sie die Frage nach dem Verhältnis von Hintergrund und
Vordergrund ausklammert. Warum soll das Geschichtliche Hintergrund
sein? Und warum das Literarische Vordergrund? Ich verstehe das
nicht. Nach welchem Modell soll man sich diese Relation denn
vorstellen? Literatur ist natürlich immer in Lebensumständen, in
Lebensvollzügen verankert. Diese können eher allgemeiner
geschichtlicher Art sein, sie können genauso ganz individueller Art
sein. Aber die Sprache, also das Material, mit dem Literatur
arbeitet, gehört nicht privilegiert der Literatur an, sondern der
sprachlichen Welt, auf die Literatur sich bezieht und aus der sie
kommt. So gesehen ist Literatur notwendig geschichtlich, weil sie
sich immer mit geschichtlicher Semantik auflädt. Sie ist zugleich,
weil nicht alles nur Wechsel ist, wenn ich noch einmal auf George
anspielen darf, sondern weil im Wechsel auch das Gleiche geschieht,
nicht nur geschichtlich. Sie geht uns an, und ich finde es darum
ein Bildungsverbrechen sondergleichen, an den Schulen oder im
Studium Menschen nicht wenigsten einmal Einblick in eine
griechische Tragödie oder in eine Tragödie Shakespeares zu
gewähren. Denn dann weiß man, wovon wir jetzt gerade gesprochen
haben.
Solbach: Als
Literaturwissenschaftler haben Sie in den vergangenen Jahrzehnten
die bürokratische und forschungspolitische Umwandlung der Geistes-
in Kulturwissenschaften erlebt und in Ihren eigenen Arbeiten mit
vorangetrieben. Könnte es nicht langsam an der Zeit sein,
zurückzublicken und zu fragen: Was war falsch am Geist der
Geisteswissenschaften? Können wir alles besser oder gibt es eine
Gewinn- und Verlustrechnung?
Braungart: An diesem Geist
der Geisteswissenschaften, die kein Selbstbewusstsein hatten aus
dem Spezifischen, das sie leisten können, war natürlich etwas
falsch. Die sogenannte kulturwissenschaftliche Öffnung, so wie ich
sie verstehe, heißt aus meiner Sicht für Literatur einfach nur:
Natürlich ist Literatur eine kulturelle Praxis, das Wort in großer
und weitreichender Bedeutung genommen, und sie vollzieht sich
innerhalb von Kultur.
Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft in dem Sinne aber,
dass man zur Literatur selbst eigentlich nichts zu sagen hat und
literarische Texte nur als irgendwelche beliebigen Äußerungen
wahrnimmt – das war nie meine Position. Umgekehrt soll mir recht
sein, was mir hilft, dass ich Literatur besser verstehe, dass mir
die Eigentümlichkeit dieses – einmal modisch formuliert –
Diskurses Literatur
verständlicher wird. Kulturwissenschaftliche Öffnung bedeutet für
mich auch: Ich schaue, wo ich mich in den verschiedenen
Kulturwissenschaften belehren lassen kann, um die Bedeutung und den
Ernst der Literatur besser zu begreifen. Das ist aus meiner Sicht
eigentlich alles. Für mein Selbstverständnis heißt
Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft: Ich habe die
literarische Kultur im Rahmen der allgemeinen Kultur zu würdigen,
und wenn ich meine Sache gut mache, dann kann ich helfen zu zeigen,
was das Spezifische an literarischer Ästhetik ist. Dazu muss ich
aber sehr viel wissen. Adorno hat einmal gesagt, ein Gedicht zu
verstehen brauchte viel Wissen, auch viel Wissen von der Welt
draußen. Literatur ist keine fensterlose Monade, die sich isoliert
in der Kulturgeschichte herumtreibt. Sie hat ganz viele Fenster zur
Kultur.
Im Rückblick muss ich sagen, dass sicher vieles nicht gut gelaufen
ist. Diejenigen, die sich auf die Kulturwissenschaften gestürzt
haben und jetzt im Grunde keine Literaturwissenschaft mehr treiben,
machen sicher in kulturgeschichtlicher Hinsicht gute Sachen. Das
will ich gar nicht bestreiten. Aber die Literaturwissenschaft wird
dadurch doch nicht überflüssig. Wenn wir, wie ich glaube, in einer
auf Sprache und Texten basierenden Kultur leben, dann braucht es
Spezialisten für das Wissen davon, wie Texte arbeiten, insbesondere
wie ästhetische Texte arbeiten, was ästhetische Texte mit uns
machen und was wir mit ästhetischen Texten machen können. Es wäre
eine große kulturelle Verarmung, wenn eine der Konsequenzen der
kulturwissenschaftlichen Öffnung darin bestünde, dass diese
spezifische Kompetenz in Bezug auf ästhetische Macharten und
literarische Prozesse verloren ginge. Man müsste im Gegenteil umso
energischer fordern, dass die literarische als ästhetische
Kompetenz beibehalten und geschult wird. Ich bin auch da nicht so
pessimistisch – wenn ich die universitäre Landschaft beobachte,
dann ist der Wunsch, zur Literatur zurückzukehren und
Interpretationsübungen zu literarischen Texten zu machen, eher
wieder größer geworden.
Solbach: Außenstehende
können sich nur schwer des Eindrucks erwehren, die gegenwärtigen
Literaturwissenschaften hätten wenig mit Literatur und viel mit
lebensweltlichen Strategien des Schreibens und Lesens zu tun, die
funktionieren, gleichgültig, ob man sie an Klassikern, an
wissenschaftlichen oder an Alltagstexten demonstriert. Viele
Forschungsprojekte zeigen unumwunden, dass es in ihnen um Diskurse
und nicht um Einzelleistungen geht. Enthält die Forschungssteuerung
durch Drittmittel eine Aufforderung zur systematischen
Vernachlässigung dessen, was in der Öffentlichkeit noch immer als
genuiner Gegenstand des Fachs gilt: der Klassiker und dem, was ihre
Texte von denen der Zeitgenossen unterscheidet?
Braungart: Zunächst einmal
ist die ästhetische Anmutung kein Privileg von Literatur.
Kulturelle Äußerungen als von uns Menschen gemachte haben immer
eine ästhetische Anmutung. Nur muss ich nicht immer darauf
aufmerksam werden. Eine Anmutung kann so banal sein, dass sie mich
einfach nicht beschäftigt, weil sie über die jeweiligen pragmatisch
kommunikativen Zusammenhänge hinaus nichts oder nicht sehr viel zu
sagen hat. Insofern wird natürlich die Kompetenz, die man gerade im
Umgang mit Literatur erwirbt, immer auch eine ästhetische
Sensibilisierung einschließen müssen, die es einem schwer macht,
jeden Mist hinzunehmen. Deswegen gibt es durchaus auch sinnvolle,
nachvollziehbare Übergänge zu Schreibübungen, Schreibseminaren usw.
auch im Rahmen von Literaturwissenschaft. Ich glaube,
literarisch-ästhetische Sensibilität kann man nicht eingrenzen auf
die Literatur allein, so wie man die Literatur nicht
eingrenzen kann auf ihren engen Bezirk. Sie ist eben Literatur in
der Kultur, und so ist literarisch-ästhetische oder
textuell-ästhetische Kompetenz nicht etwas jenseits der Kultur. Ich
sehe das gar nicht so skeptisch, ich meine nur grundsätzlich: Wenn
man wirklich lernen will, was literarische Ästhetik ist, dann muss
man an die komplexen literarischen Sachen heran und nicht nur an
die banalen. Deswegen sage ich auch immer, dass der
Literaturunterricht in der Schule nicht dazu dienen darf, dass er
ein bisschen erzieherisch aufhilft bei Defiziten, für die sich
andere Institutionen nicht interessieren. Also Literatur als
Anlassgeber, um über desolate Familien, Drogen, Beziehungsprobleme
und dergleichen nachzudenken. Das darf schon sein, gehört jedoch
primär in die Fächer Gemeinschaftskunde, Ethik usw., die sich damit
wirklich professionell befassen müssen. Literaturunterricht aber
hat sich der Herausforderung der Literatur zu stellen. Ich glaube,
man darf das den Schülern nicht vorenthalten, jedenfalls hielte ich
es für einen ganz großen Fehler.
Solbach: Sie haben den
Qualitätsbegriff ins Gespräch gebracht. Es gibt nun einmal all
diese Probleme, über die Sie gerade sprachen: Trauer, Zorn usw. Es
gibt sie in der griechischen Tragödie und wo auch immer. Aber wenn
sie uns als Literatur gegenübertreten, haben sie einen wichtigen
und unübersehbaren Transformationsprozess durchlaufen. Sie haben
dargestellt, dass da – auch ästhetisch gesehen – ein Unterschied
gegenüber beliebigen mündlichen oder schriftlichen Äußerungen
besteht.
Braungart: Das kann man
sogar an Texten zeigen, denen man es nicht einmal so richtig
zutraut und die ihren Wert scheinbar von woanders her beziehen. Ich
habe heute vormittag, weil ich an einem kleinen Brecht-Büchlein
arbeite, zwei Seiten zur Schlussstrophe von
An die Nachgeborenen geschrieben. Da
kann man sagen: Gut, das ist so ein Weisheitsgedicht, das auf
verschiedene Weise um Verständnis wirbt, aber doch sehr plakativ
und direkt. Am Schluss heißt es: »Ihr aber, wenn der Mensch dem
Menschen ein Helfer ist, / gedenkt unserer / mit Nachsicht«.
»Gedenkt unserer« und dann der Zeilenbruch »mit Nachsicht«. Nun
muss man sich fragen, warum er nicht sagt: ›Denkt an uns mit
Nachsicht‹? Oder: ›Erinnert euch an uns mit Nachsicht‹?. Auf einer
banalen Ebene könnte man sagen: Das ist doch so paraphrasierbar.
Aber er sagt »gedenkt«. In dieser ganz kleinen, doch fast
sakralisierenden, ritualisierenden und pathetischen Vorsilbe, in
diesem pathetischen Verb steckt unglaublich viel. Das meine ich,
wenn ich sage, dass man selbst in so einem kleinen Wechsel – ob
einem das gefällt, ist eine ganz andere Frage – doch den Meister
der Sprache sieht, der sagt: Es geht nicht nur um »Denkt mal an uns
und erinnert euch an uns«, sondern es geht um das Gedenken, das ist
etwas anderes. Diese Transformation ist die Leistung der Kunst, und
dafür muss man meines Erachtens Menschen sensibilisieren, sonst
fehlt ihnen etwas. Wenn das wirklich so ist – und es scheint ja
evolutionär so zu sein, unsere Menschwerdung ist ganz entscheidend
an unser Zur-Sprache-kommen gebunden –, dann geht es ums
Allertiefste und Allergrößte, wenn wir das Arbeiten der Sprache und
die Möglichkeiten der Sprache wirklich ernst nehmen. Dann aber
sollten wir keine Scheu haben, uns gerade den Zeugnissen
zuzuwenden, die am meisten davon wissen und am meisten davon
verstehen.
Nun haben Sie noch nach der Forschungsorganisation gefragt, und das
ist ein ganz prekärer Punkt. Die kulturwissenschaftliche Wendung in
den Geisteswissenschaften hat auch leider eine
Forschungsorganisation nach dem Modell der Naturwissenschaften mit
sich gebracht. Man forscht in der Gruppe, ein Rahmenthema wird
vorgegeben, die verschiedenen Projekte füllen, sozusagen, nur die
Lücken aus. Ich will nicht bestreiten, dass man da gute und
sinnvolle Sachen machen kann. Nur das, was die Individualität des
Ästhetischen und was dann auch die Individualität des Erkennens des
Ästhetischen ausmacht, wird man dadurch nicht erfassen. Ich bin
aber der festen Überzeugung, dass es genau darauf in den
ästhetischen Disziplinen ankommt. Es kommt nicht darauf an, an
Kunstwerken zu zeigen, dass sie das Allgemeine realisieren. So
verfahren die Naturwissenschaften. Ich möchte heute auch immer
stärker sagen – viel stärker als noch vor wenigen Jahren –, dass es
da eine grundsätzliche Differenz zwischen Naturwissenschaften und,
nein, nicht den Geisteswissenschaften, sondern den ästhetischen
Wissenschaften, den Kunstwissenschaften gibt.
Die Naturwissenschaften suchen in den verschiedenen Daten das
Allgemeine, das Prinzip, die Regel, das Gesetz, die Regelmäßigkeit
usw. Das Abweichende ist, sozusagen, der statistische Ausreißer und
wird durch Statistik nivelliert. Das soll auch so sein, dass man
die Regelmäßigkeit sucht. Aber die Regelmäßigkeit ist für uns, die
mit ästhetischen Fragen befasst sind, nicht das Interessante. Es
ist nicht sonderlich aufregend zu sagen: Das ist ein Sonett. Man
kann ein Sonett schustern, wenn man es technisch-handwerklich eben
einigermaßen hinbekommt, und es dann als der Gattung ›Sonett‹
zugehörig identifizieren. Aber erst danach wird es interessant. Das
macht auch, wie ich vorhin schon sagte, diese unauflösliche
Verbindung von Ästhetischem und Lebendigem aus. Am konkreten
Menschen ist in der konkreten sozialen Interaktion auch nicht das
eigentlich Interessante, dass man ihn der Spezies Mensch zuordnen
kann, sondern das, was ihn zum Individuum macht. Und so ist jeder
Text, jeder literarische Text – und umso mehr, je besser er ist –
ein Individuum; und diesem Individuellen gilt mein Hauptinteresse.
Das Sensorium für das Individuelle zu schärfen, das halte ich für
eine meiner Hauptaufgaben. Das Individuelle sollte man erkennen
können. Das macht ganz stark die Ethik der Literaturwissenschaft
aus. Sie hat mit dem Erkennen und Anerkennen des Individuellen zu
tun und auch dem Ertragen des Individuellen, dem Aushaltenkönnen
des Individuellen. Das kann im Ästhetischen so weit gehen, dass das
Individuelle sich mir vielleicht entzieht, dass es mir zu schwierig
ist, dass ich vielleicht nur bis zu dem Punkt komme, an dem ich
weiß, es ist da, aber ich kann es nicht mehr fassen, jetzt entzieht
es sich wieder. Dieses Moment ästhetischer Eigentümlichkeit,
ästhetischer Absonderung ist nicht im Forschungsverbund aufspürbar,
wohl aber im Gespräch. Doch, dass dies etwas anderes ist, diese
Erfahrung macht jeder auf seine Weise. Ich persönlich bin für meine
wissenschaftlichen und auch menschlichen Begegnungen – ich habe ihn
mehrfach getroffen – mit Hans-Georg Gadamer sehr dankbar. Er hat
die Bedeutung des Gesprächs für den hermeneutischen Prozess immer
ins Zentrum gerückt. Wer erlebt hat, was einem einfallen kann, wenn
der Andere einem vertraut und auf der Basis dieses Vertrauens etwas
von einem wissen will, wer erfahren hat, dass man in einem solchen
Gespräch nicht über den Tisch gezogen werden soll, dass es keine
Scharlatanerie, sondern etwas ganz und gar Ernsthaftes ist, was
einem der Andere zeigen will, der hat auch erlebt, wie produktiv
das Gespräch für das Denken ist.
Damit ist man im Grunde bei dem, was viele in der öffentlichen
Debatte kritisieren – bei der Forschungsorganisation. Was wir
brauchen, ist vielleicht nicht so einfach operationalisierbar,
nicht in ›Forschungsdesigns‹ überführbar. Es verlangt von der
Wissenschaftspolitik, von der Wissenschaftsverwaltung sehr viel
Vertrauen in die einzelnen Wissenschaftler. Es verlangt die
Überzeugung, dass sie einen solchen Beruf nur ausüben, weil
ihr Gegenstand sie wirklich beschäftigt und wirklich anzieht.
Verlangt ist damit auch so viel Vertrauen, dass man ihnen dann die
Freiräume lässt, die sie brauchen. Es ist falsch zu glauben, durch
Dauerevaluation, Positionspapiere aller Art, Antragstellungen am
laufenden Band könne man diese Art der Produktivität ständig
steigern und überprüfen. Das kann man nicht – soviel würde ich auch
kritisch zur Forschungsförderung sagen.
Nun ist es natürlich umgekehrt nachvollziehbar, dass in einer
Gesellschaft, die insgesamt auf Effizienz und Produktivität setzt,
diese Standards bei den wissenschaftlichen Disziplinen nicht so
ohne weiteres außer Kraft gesetzt werden können und dass man
versucht, sie diesen Standards zu unterwerfen. Nur kommt dabei
nicht zwangsläufig Qualität heraus. Es gibt ganz andere
Wissenschaftler, die ich sehr schätze, wie Paul Hoffmann seinerzeit
in Tübingen, der gar nicht so unendlich viel produziert hat, der
aber in seinem Kreis eine unglaublich anspruchsvolle ästhetische
Gesprächskultur gefördert hat und der für die Literatur der
Jüngeren ein ganz großes Gespür hatte. Es ist eine große Leistung
der Universität Tübingen – ich weiß nicht, ob sie so etwas heute
noch könnte –, dass sie einen solchen Wissenschaftler geholt hat,
dass sie die nötigen Freiräume geschaffen hat und ihn hat gewähren
lassen. Ich glaube, mit wachsendem Abstand wird man die Leistung
von Wissenschaftsförderung an Wissenschaftsinstitutionen wie den
Universitäten auch daran messen, ob sie diese Freiräume denen, die
sie brauchen, auch gelassen oder wieder geschaffen hat. Ich sage
immer, man möge doch meine Arbeit ruhig evaluieren, aber unter
einer Bedingung: Man muss mit mir darüber sprechen, und man muss
wissen wollen, was so jemanden eigentlich interessiert und warum er
das macht. Man muss dann auch nach den Standards fragen, die aus
den Gegenständen, der Literatur selbst, kommen.
Solbach: Man kann nicht
Geisteswissenschaften, Literaturwissenschaften usw. nach Mustern
evaluieren, die für die technischen und naturwissenschaftlichen
Disziplinen entwickelt wurden.
Braungart:
Wissenschaftspraktisch würde das auch bedeuten, dass wir in einem
so kleinen Land wie unserem in den Geisteswissenschaften verstärkt
Gutachter aus anderen Ländern hinzuziehen. So könnte der Gefahr der
Ausbildung von Netzwerken, die ja in den letzten Jahren immer so
gefeiert werden, der Gefahr der Strippenzieherei, der internen
Absprachen, der Herausbildung von mainstreamigen
Forschungsdiskursen und -kontexten vorgebaut werden. Das brauchen
wir dringend. Ich habe einmal einen Aufsatz über Botho Strauss
geschrieben, der in den USA veröffentlicht wurde, in
German Quarterly. Da gab es eine
Begutachtung, und die Herausgeberinnen haben mir mitgeteilt, was
der amerikanische Gutachter sagte: Diese Argumentation komme aus
einem so anderen Wissenschaftsverständnis und einer so anderen
Wissenschaftstradition, sie komme ihm ebenso fremd wie anregend vor
und daher solle man den Aufsatz unbedingt drucken. Das fand ich
eine eindrucksvolle Position.
Solbach: Gleichgültig, ob
man von Geistes-, Kultur- oder Literaturwissenschaften spricht:
Haben diese Wissenschaften ihre Glanzzeiten hinter sich? Erhalten
sie sich in einer Zeit, die das von ihnen transportierte Wissen für
weit weniger wichtig hält als die Erregung über die neuesten
Wirtschaftsdaten oder die Computersimulationen des Weltklimas in
fünfzig Jahren, vor allem auf Grund der Trägheit der Institutionen,
die sich lieber mit neuen Aufgaben rüsten als zu verschwinden? Oder
sehen Sie, dass das Schicksal der Welt an der unterschiedlichen
Auslegung einer Zeile von Celan hängt oder an der Übersetzung eines
Dante-Verses? Ist das literarische Pathos eines Nietzsche oder
eines Rudolf Borchardt heute nur noch komisch oder enthält es einen
Ernst, dem man sich nicht versagen kann?
Braungart: Vor Größenwahn
und vor Selbstüberschätzung der Literaturwissenschaften sollte man
immer warnen. Diese Kultur und dieses Land würden sich auch ohne
Literatur einigermaßen zurechtfinden. Aber sie wären einfach ärmer.
Da wir vorhin über kulturwissenschaftliche Perspektiven gesprochen
haben: Ich habe gerade mit einem Biologen zusammen einen Aufsatz zu
der Frage geschrieben, was man denn eigentlich für die
Literaturgeschichtsschreibung von der biologischen Ökologie lernen
kann. Ich versuche, von diesem Modell der Beschreibung biologischer
Prozesse, biologischer Umwelten zu lernen, dass es grundsätzlich
immer gut ist, auch in der Kultur über möglichst viele
Möglichkeiten zu verfügen, nicht über möglichst wenige. Je größer
die Zahl der Möglichkeiten, desto größer die Chancen auf eine
lebendige und differenzierte Variation und Wahl neuer Lösungen. Das
gilt grundsätzlich für jede Kultur. Monokulturen sind nicht gut.
Entsprechend gilt in Bezug auf die Vielfalt in der entwickelten
technischen und weitgehend durchökonomisierten Kultur: Es tut aller
Voraussicht nach nicht gut, den kulturell ökologischen Prozess auf
einige wenige Faktoren zurückzustutzen. Dann fällt uns irgendwann
nichts mehr ein. Die Lösungsmöglichkeiten, die im Ästhetischen
liegen, die geistigen Kombinationsmöglichkeiten, die in der Kultur
durch das Ästhetische erprobt und bereitgestellt werden – dazu
zählt ja nicht nur die Literatur –, sollte man nicht
unterschätzen.
Ich springe kurz in eine andere Diskussion.Wenn es in der Debatte
zwischen Habermas und Benedikt XVI. zu einem gewissen Kompromiss
gekommen ist, dann liegt es auch daran, dass Habermas sieht, dass
Religion in der modernen Zivilisation eine viel wichtigere
Sinnressource ist, als es von einem doch vielleicht etwas
reduktionistischen Verständnis von Aufklärung her scheinen mag. So
sage ich eben auch für den Bereich der Literatur: Literatur ist
nicht in diesem handfesten und handwerklichen, lehrsatzhaften Sinn,
sondern in einer viel weiteren Bedeutung, nämlich als Möglichkeit
ästhetischer Erfahrung, eine Sinnressource der Kultur. Ich glaube,
es gibt ein Menschenrecht darauf, dass Menschen ein sinnvolles, ein
sinnerfülltes Leben führen. Wo das gesellschaftlich nicht
ermöglicht wird, werden sie irgendwann depressiv oder gewalttätig
oder dergleichen.
Die Möglichkeit ästhetischer Sinnerfahrung scheint mir gerade in
einer technisch-ökonomischen, hochgradig arbeitsteiligen
Zivilisation nötiger denn je. Die aufgeklärten Unternehmen wissen
längst, dass Mitarbeiter nicht nur Faktoren in einem ökonomisch
effizienten Getriebe sind. Ich habe hier in Bielefeld jetzt zweimal
– letztes Jahr einmal, dieses Jahr wieder – an einem
Samstagnachmittag im Rahmen einer kleinen literarischen
Gesellschaft, die sich bei uns gegründet hat und bei der ich ein
wenig im Beirat mitarbeite, einen Workshop angeboten. Da kommen
einfach am Samstagnachmittag Leute. Sie sprechen mit mir drei
Stunden lang über ein paar Gedichte – letztes Jahr über Stefan
George, dieses Jahr über Krankheit, Leiden, Sterben, Tod in der
Gegenwartslyrik. Wären einige nicht da gewesen, es wäre mir nicht
aufgefallen. Sie sind alle freiwillig gekommen, niemand hat sie
genötigt.Das letzte Mal waren es bestimmt 30 Menschen, die einen
Samstagnachmittag einmal nicht in den Boutiquen oder sonst irgendwo
verbracht haben, sondern im Gespräch über Lyrik. Das sind nicht die
großen Massen. Aber vielleicht waren es die nie. Doch diejenigen,
die erfahren, wie schön und vertiefend es fürs eigene Leben sein
kann, im Gespräch mit anderen an schwierigen Gedichten sich selbst,
den anderen und das soziale Miteinander vielleicht etwas besser zu
verstehen, sich dafür auch die Zeit zu nehmen, einfach das
Kontinuum zu unterbrechen und herauszutreten – jetzt rede ich schon
fast in Kategorien von Botho Strauss –, Menschen, die das erfahren
haben, haben auch andere Erwartungen an ihr Leben. Sie besitzen
andere Standards, und diese tragen sie womöglich auch in ihre
alltägliche, in ihre lebensweltliche Kommunikation und in die
gesellschaftliche Kommunikation hinein. Da bin ich nicht so
pessimistisch. Nur sollte man Literatur auch nicht überfordern. Man
muss für sie werben in dem Sinn, dass man bereit ist, Menschen zu
zeigen, was an ihr interessant sein kann. Deswegen arbeite
ich sehr gerne mit Laien, sofern sie die innere Bereitschaft dazu
mitbringen. So habe ich es immer auch mit der bildenden Kunst
gehalten, wenn ich dort Führungen machte, gerade für Laien. Sie
müssen nur akzeptieren, dass es etwas geben kann, was sie
vielleicht noch nicht kennen, etwas, das kennenzulernen, das besser
kennenzulernen für sie vielleicht sehr schön wäre.
Die Stunde der
Literatur
Solbach: Vor annähernd
zwanzig Jahren wurde das Ende der Gutenberg-Galaxis verkündet und
damit das Ende der Literatur. Vilém Flusser sah – wie andere – in
Computerprogrammen und denen, die sie schrieben, die wahren
Nachfolger der Dichter. Die Programmierer haben die an sie
herangetragene Aufgabe dankend abgelehnt, und die sogenannte
Netzliteratur ist eine mehr oder weniger bezaubernde Spielerei
geblieben. Wo sehen Sie einen zeitgemäßen Begriff von
experimenteller Poesie?
Braungart: Literatur gönnt
sich immer wieder einmal experimentelle Phasen. Es hat viel für
sich, Literaturgeschichte und Kunstgeschichte auch nach den
immanenten Logiken ihrer stilistischen Entwicklung anzuschauen. Das
war lange Zeit verpönt. Aber es gibt immer wieder Epochen, in denen
die formalen Möglichkeiten der Künste bis an den Rand geführt,
völlig ausgereizt werden, bis sie vielleicht sogar experimentell
werden und schließlich keine Option mehr sind. Leichter lässt es
sich an der Architektur klarmachen. Sie spielt bei mir im
Unterricht und auch in der Forschung eine immer größere Rolle. Die
Architektur des Barock wird in den dreißiger bis fünfziger Jahren
des 18. Jahrhunderts, gerade in Süddeutschland, soweit getrieben,
dass klar wird: Es geht da nicht weiter, da ist kein Spielraum
mehr, ohne dass sich die Makroform in lauter Mikroformen auflöst
und die architektonische Synthese zum Gebäude im Grunde nicht mehr
gelingen kann. Dann kann man in den späten Rokoko-Kirchen, so bei
Balthasar Neumann und Domenicus Zimmermann beobachten, wie sich
klassizistische Momente, in
Vierzehnheiligen zum Beispiel,
hineinschieben, so dass eine Beruhigung der Formensprache entsteht.
Also: Experimentell sind die Künste immer dann, wenn sie den
Spielraum haben, ästhetische Prinzipien wirklich durchzuexerzieren.
Im Manierismus ist es so. Insofern war die Phase der
experimentellen Lyrik, die wir in den sechziger Jahren hatten und
die bis etwa Mitte, Ende der siebziger Jahre andauerte, auch ein
Auskosten und Ausloten der Spielräume, die die fünfziger Jahre in
der sprachkritischen Auseinandersetzung mit der ›alten‹ Sprache und
in der Abstoßung des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs
geschaffen hatten. Beides kann man relativ gut beschreiben, und man
kann zeigen, warum das in sich sinnvoll gewesen ist. Deswegen
glaube ich, dass experimentelle Phasen in der Literatur immer
wiederkommen werden, solange sie nur lebendig ist. Insbesondere für
die Lyrik, weniger stark vielleicht für die Prosa, gilt das
Grundprinzip oder die Grundlizenz der metaphorischen Freiheit – der
Freiheit zur Kombination des Heterogenen. Darin stecken immer
zugleich eine Waghalsigkeit und ein großes Potential. Waghalsigkeit
deshalb, weil diese kombinatorische Freiheit des Metaphorischen in
die Willkür drängen kann und das oft wirklich tut. Ein großes
Potential deshalb, weil durch neue metaphorische Prozeduren und
neue metaphorische Versuche auch neue poetische Spielräume eröffnet
werden. Wenn man so etwas überhaupt sagen kann, dann liegt darin,
denke ich, ein entscheidendes Moment. Auf der Ebene des Lautlichen
und in der Tradition von Dada und der Expressiven kann nicht sehr
viel herauskommen. Der Spielraum liegt eher, scheint mir, auf der
Ebene des Metaphorischen, also in einem Grundprinzip von Literatur,
besonders von Lyrik –der Lizenz zur Kombination des
Heterogenen.
Eine Autorin, die mir gefällt, ist Marion Poschmann. In ihrer Lyrik
entsteht wirklich im besten Sinn Originelles, d. h. zu denken
Gebendes. Das ist eine Machart experimentellen lyrischen
Schreibens. Eine andere Möglichkeit probiert Dirk von Petersdorff
durch, den ich auch sehr schätze. Es ist eine – wie bei fast allen
Gegenwartsautoren – hochreflektierte Lyrik. Diese Autoren sind,
sozusagen, mit allen poetologischen Wassern gewaschen. Sehr
eindrucksvoll finde ich bei Dirk von Petersdorff die Verschränkung
von Volkslied- und Popton, um eine neue Ernsthaftigkeit zu
erzielen. Einige andere haben das auch gemacht, nicht genauso, aber
so, dass sie den Wunderhornton und den Liedton genutzt haben, zum
Teil schon Biermann in etlichen großartigen Gedichten aus den
siebziger Jahren. Da gibt es etliche, die mir sehr gefallen. Zum
Teil hat es auch Sarah Kirsch so gemacht, die ich für die
vielleicht bedeutendste Liebeslyrik-Autorin der sechziger und
siebziger Jahre halte. Das sind zum Teil ganz grandiose und ganz
sensible und sprachaufmerksame Texte. Auch da wird ein bestimmter
Schatz von Sprache in Anspruch genommen. Aber bei von Petersdorff
ist es dann eben diese Verbindung mit der Zeitgenossenschaft, also
mit den banalen Phänomenen der gegenwärtigen populären Kultur. Das
ist auch eine interessante Möglichkeit; ich bin gespannt, wie das
weitergeht.
Wenn ich mich nicht täusche, gibt es gerade in der Gegenwartslyrik
bei den Autoren, die in der Mischung der sprachlichen Register und
der kulturellen Ausdrucksformen und der kulturellen Bereiche
experimentell waren, jetzt eine Tendenz zu einer neuen
›Verernstung‹. Nur arbeiten sie nicht nach einem Begriff von
experimenteller Literatur, sondern nach ihrer Sprachkraft, ihrem
Sprachvermögen und ihrem Ausdrucksbedürfnis. Zum Glück machen sie
es so und halten sich nicht an Konzepte. Ich glaube, das hat auch
nachgelassen. Dieses stilbildende, programmatische Einschwören
ganzer Autorengruppen ist auch nicht das, was nottut.
Solbach: Das literarische
Leben der Nation bestreiten einige wenige Großverlage im Verbund
mit einem schwächelnden Feuilleton, einem Preiszirkus mit
durchsichtiger Vergabepraxis, öffentlichen Zuwendungen für
Dauertalente und ans Kindische grenzenden Lese-Events.
Überproportional gewachsen ist die brutale Kommerzialisierung,
sprich: Trivialisierung der Leseinhalte. Ist es noch
gerechtfertigt, von einer nationalen Bühne der Literatur zu
sprechen? Und, falls nicht, auf welcher Seite liegt der
Ausfall?
Braungart: Ja, was heißt
nationale Bühne? Die deutsch-deutsche Frage, die hat doch wieder
eine nationale Bühne geschaffen, und auch wirklich völlig zu Recht,
denn das ist in jeder Hinsicht ein so anspruchsvolles Thema, dass
die Literatur sich damit befassen muss. Vielleicht war es – und das
sprechen Sie aus guten Gründen an – eine Selbstüberschätzung der
Feuilletons und der Verlage, immer den großen Deutschlandroman, den
Wiedervereinigungsroman fordern zu müssen. Ich weiß nicht, was man
in 20 Jahren von Tellkamps Roman sagen wird. Er hat schon etwas
sehr Angestrengtes. Zeitgenossenschaft macht es schwer, etwas
Aktuelles wirklich seiner Qualität nach zu beurteilen. Dass da
einer schreibt, der viel von der Sprache versteht, der gut
beobachten und einfallsreich schreiben kann, daran scheint mir gar
kein Zweifel zu bestehen. Aber man hat den Eindruck, dieser Roman
unterliegt auch dem Monumentalisierungsdruck durch die deutsche
Frage; und da muss alles allegorisch werden. So etwas schränkt eben
die Spielräume der Literatur ein. Andererseits gibt es so viele
deutsch-deutsche Schicksale, die nach Ausdruck geradezu schreien.
Das gilt vor allem für die Erzählliteratur. Dass man lyrisches
Kapital daraus schlagen kann, glaube ich eher weniger. Wie es war,
wenn Familien zwischen Ost und West getrennt wurden, wie es bei den
Familien war, die aus den deutschen Ostgebieten kamen und in zwei
deutschen Ländern angesiedelt waren usw., darin liegt noch so viel
an menschlichen Großherausforderungen, dass auch die nationale
Bühne – wenn man es so will – eine berechtigte Herausforderung ist
und bleibt.
Was nun die Verlagspolitik und die Verlagsstrategien angeht, so
gibt es doch auch ein recht lebendiges literarisches Leben, das
nicht gleich in die ganz große Öffentlichkeit drängt. Das
kommerzielle Interesse oder ein gewisses ökonomisches Interesse,
ein bildungsökonomisches Interesse an Literatur ist vielleicht
nicht unbedingt nur ein Schaden, denn damit tun sich auch
Tätigkeitsfelder für Autoren auf. Eine gute Freundin von mir,
Angelika Overath, ist in die Schweiz übergesiedelt und arbeitet
dort viel in ganz verschiedenen Bildungsinitiativen. In der Schweiz
scheint die Bereitschaft, an den Schulen in die Zusammenarbeit mit
Autoren Geld zu investieren, größer als bei uns. Die Schweiz ist
ein reicheres Land. Dieses Interesse von Schulen mit einer
kompliziert zusammengesetzten, aus verschiedenen Milieus und
Migrationszusammenhängen stammenden Schülerschaft und entsprechend
neuen pädagogischen Aufgabenstellungen im Bereich literarischer
Bildung erzeugt neue Felder der Nachfrage nach Autoren als
Spezialisten für sprachlich differenzierte Ausdrucksformen. Das
dringt eigentlich nicht unbedingt nach draußen; es bleibt in den
Regionen. Ich hoffe ein bisschen darauf, dass die Krisen, die wir
gerade durchlaufen und noch weiter durchlaufen werden, vielleicht
auch die regionalen Öffentlichkeiten, nicht nur die überregionale,
dazu ermuntern, darüber nachzudenken, ob es nicht auch andere
sinnvolle Aufgaben gibt, als nur über Geldanlagen nachzudenken. Mir
scheint es fast so zu sein, dass sich für lebendige
Eigeninitiativen in regionalen Zusammenhängen so neue Chancen
eröffnen.
Solbach: Ist das nicht ein
bisschen schwierig zu vereinbaren für Menschen, die sich nicht nur
als Berufsschriftsteller verstehen, sondern eine Aufgabe sehen?
Kann man das wirklich gut unter einen Hut bringen?
Braungart: Gadamer sagte
einmal – das, finde ich, geht zu weit und ist übertrieben –, dass
die größte Kunst gar nicht in den Zeiten entstanden sei, in denen
sie völlig frei war, sondern in den Zeiten, in denen man etwas von
ihr wollte, in denen Ansprüche an sie gestellt wurden.
Solbach: Die Frage ist
natürlich, was für Ansprüche das sind.
Braungart: Wir haben vorhin
über die griechische Tragödie gesprochen. Es gab die Konkurrenz der
Dichter im Tragödienwettbewerb, den kultischen Zusammenhang, das
Repräsentationsbedürfnis der Polis, die sich einmal im Jahr vor
sich selbst zeigen und sich ihrer vergewissern wollte. Das hat die
wohl bedeutendste Literatur Europas hervorgebracht. Oder: Ich habe
vor vier Jahren mit der erweiterten Familie eine Tour durch die
französischen Kathedralen unternommen. Dabei zu begreifen, dass ein
ästhetisches Europa von Paris bis Prag existierte, bevor es nur von
Ferne eine politische Idee davon gab, war schon sehr eindrucksvoll.
Diese unglaublichen Gebäude zu betrachten, die die Synthetisierung
der sozialen, ökonomischen und kulturellen Energien ganzer Regionen
verlangt haben – ich will das gar nicht euphemistisch sehen, weil
es natürlich auch andere Seiten hat, die Brecht z. B. mit der Frage
anspricht, wer das siebentorige Theben baute. Dennoch: Mit dem
Ausdrucksbedürfnis einer ganzen geschichtlichen Konstellation
entsteht dann so etwas. Insofern muss die gesellschaftliche,
soziale und politische Erwartung an Literatur und Kunst sie nicht
immer unbedingt behindern. Sie kann auch eine Herausforderung
sein.
Solbach: Das meine ich auch
gar nicht. Eher kritisch würde ich sehen, dass in einer
durchökonomisierten Welt das Berufsbild des Autors und Dichters,
mit Karriere und allem, was dazugehört, im Vordergrund steht. Die
Gesellschaft bezahlt das gewissermaßen und setzt dann auch ihre
Erwartungen durch. Dahin zielt meine Frage.
Braungart: Das ist immer
eine Frage der Sichtweise. Ich stimme Ihrer Meinung zu, dass vor
allem das ökonomische Interesse zählt. Ich bin einmal in einer
Vorlesung gefragt worden, was denn nun die eigentlichen Triebkräfte
der Geschichte seien? Ich habe geantwortet, dass das ökonomische
Interesse ein starkes, wenn nicht das stärkste Motiv von
Entwicklung, von geschichtlich-kultureller Bewegung sei. Aber ob
ich der These von der totalen Durchökonomisierung, die man ja heute
immer wieder hört, so zustimmen möchte… Mir scheint es eine Art
Reformulierung von Adornos und Horkheimers totalem
Verblendungszusammenhang zu sein. Einerseits ist sie richtig, fast
bis zur Handlungsunfreiheit der nationalen und internationalen
Politik. Die Politik muss sich reaktiv darauf einstellen, aber sie
kann kaum mehr gestalten. Das gibt einem sehr zu denken.
Andererseits möchte ich gerne – das kann man ja blauäugig oder naiv
nennen –, in dem Sinne antworten, wie ich es vorhin andeutete: dass
literarische Bildung, Bildung überhaupt, eine Bildung zu
verantwortungsbewusster Individualität sein soll. In dem Sinne will
ich auch sagen: Es liegt schon auch an uns, was wir damit machen
und wie wir damit umgehen.
Solbach: Ich gebe Ihnen
recht, und Ausreißer gibt es immer. Die Frage ist, wie es auf der
nationalen Bühne und im Großen aussieht.
Braungart: Auch die
Soziologie beobachtet, dass die ökonomische Orientierung als
Sinnressource den Menschen ganz offensichtlich nicht reicht, und
Subkulturen, die sich anders orientieren, haben wir ja schon
länger. Sie sind ein notwendiges Ferment unserer Gesellschaft. In
diesem Bereich wird es anschaulich, wie ökonomische Interessen
manchen Bevölkerungsgruppen vielleicht nicht ganz gleichgültig,
aber doch eher sekundär sind. Dasselbe möchte ich immer auch zu den
Bildungsprozessen sagen, an denen ich teilhabe und die eben nicht
nur Ausbildungsprozesse sind. Auch wenn der Begriff altmodisch ist
und viele sich darüber lustig machen: Dort, wo ich teilhaben kann
und auch Verantwortung in meinem bescheidenen Rahmen trage, ist mir
wirklich ein Ziel die Mündigkeit des Individuums, das für sich
selbst entscheiden muss und entscheiden kann, was ihm wichtig sein
soll, wofür es seine Lebenszeit hergeben will. Dazu muss man ihm
aber auch Werte zeigen.
Ich habe einmal eine Vorlesung unterbrochen, weil es im Raum zu
unruhig war. Eine Zeitlang wurde ja die Anwesenheit kontrolliert.
Da saßen dann auch Leute dabei, die nicht wussten, warum sie an der
Veranstaltung teilnahmen. Ich habe gesagt: Jetzt machen wir fünf
Minuten Pause, und Sie denken über folgende Frage nach: Angenommen,
dies wären die letzten fünf Minuten ihres Lebens – war das recht
so, hat sich das gelohnt, sind Sie damit einverstanden, können Sie
sich zustimmen? Da guckten viele vollkommen bedrückt und geradezu
erschrocken. Ich habe dann weitergemacht und nichts weiter dazu
gesagt. Lehrer, wo auch immer, in welchen Lebensbereichen auch
immer – und Lehrer sind ganz viele von uns irgendwo – dürfen keine
Scheu haben, auch einmal etwas zu sagen, was vielleicht nicht so
charmant ist und vielleicht nicht allen gefällt, selbst wenn sie
dabei gelegentlich Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen. Wenn
jemand sich über einen lustig macht, dann muss man das eben
hinnehmen.
Solbach: Popliteratur
beansprucht, ein globales Lebensgefühl, globale Konflikte und vor
allem: ein Publikum anzusprechen, das nicht durch literarische
Bildung auseinanderdividiert, sondern durch gemeinsame
Mediennutzung geeint wird. Sehen Sie hier die Gegenwart der
Literatur? Oder ihre Zukunft? Ist eine schwierige Literatur in der,
mit Kondylis zu sprechen, ›postmodernen Massengesellschaft‹
gerechtfertigt? Noch zugespitzter: ist das, was eine andere Epoche
›große‹ oder ›bedeutende‹ Dichtung nannte, endgültig tot? Oder war
sie die Popliteratur ihrer Epoche?
Braungart: Popliterarische
Phänomene gibt es nicht nur in der Gegenwart. Man diskutiert immer
wieder darüber, ob Pop ein Phänomen ist, das mit den Sechzigern
aufkommt, oder ob es nicht grundsätzlicher mit Popularität zu tun
hat. Bei der populären oder trivialen Kultur, also an der
massenhaft verbreiteten Literatur und Kunst, hat sich die
Hochliteratur, die Hochkunst immer bedient. Das kann man an der
Romantik studieren, auch im 17. Jahrhundert, ja sogar im
Mittelalter. Das ist nichts Ungewöhnliches. Popliteratur im engeren
Sinn, also die Literatur, die sich seit den sechziger Jahren
durchsetzt, ist jedoch noch einmal etwas Anderes. Diese Literatur
ist in dem Sinne eine dezentrierte Literatur, dass sie alles
Mögliche ästhetisch gut oder interessant findet. Das meine ich
jetzt gar nicht programmatisch, sondern in dem Sinn, dass man auch
im Ästhetischen, im Lebenspraktischen nicht sagen mag, was wirklich
Bedeutung für einen hat. Die Popliteraten der späten achtziger und
neunziger Jahre, die tatsächlich aus einer Wohlstandssozialisation
und einer Wohlstandsgesellschaft kommen, müssen sich auf die Suche
nach einer Form des Ausdrucks für sich begeben, und sie finden sie
zunächst einmal, indem sie sich der Banalität des Alltäglichen
zuwenden, sich aber nicht irgendwo dazwischen platzieren wollen,
sondern stattdessen in den Diskursen schweifen und grundsätzlich
affirmativ gegenüber der Phänomenalität der banalen Welt
sind.
Das hat sicher seinen Grund in der ökonomisch sehr prosperierenden
Gesellschaft der achtziger und neunziger Jahre. Aber wenn ich mich
nicht täusche, ist diese Literatur nicht der interessanteste Teil
der Gegenwartsliteratur. Diese sogenannten Popautoren der achtziger
und neunziger Jahre sind nur selten durch hervorragende Beiträge
hervorgetreten, die dann weitergeführt worden wären. Wir haben
vorhin über Literatur im kulturwissenschaftlichen oder kulturellen
Zusammenhang gesprochen. Literatur – das habe ich auch schon ein
paar Mal in Veröffentlichungen gesagt – ist eine menschliche
Ausdrucksform, die es gibt, weil sie gebraucht wird. Nun kann das
Brauchen jeweils unterschiedlich ausfallen. Die Popliteratur der
achtziger und neunziger Jahre drückt schon etwas aus, das auch ein
Problem indiziert. Das wird auch längst so wahrgenommen. Ich sagte
vorhin, dass es, wenn ich mich nicht täusche, durchaus einen neuen
›Verernstungsprozess‹ gebe, selbst bei den Autoren, die weiter
experimentelle und spielerische Schreibweisen praktizieren, weil
sie nicht damit zufrieden sind, sich in der Manier der achtziger
und neunziger Jahre an der Oberfläche allein zu orientieren.
Insofern ist die Popliteratur der achtziger und neunziger Jahre ein
Übergangsphänomen. Sie hat die Literatur keineswegs allein
bestimmt; sie hat nur fast mit einem Schlag viel Aufsehen erregt.
Die schwierige Literatur ist nicht die Literatur, die schwierig
ist, weil sie schwierig sein will – die wäre auf eigene Weise
banal, denn Schwierigkeit ist kein Selbstzweck. Literatur, die sich
an etwas heranwagt und angemessene Schreibweisen für etwas sucht,
das schwer auszudrücken ist, wird selbstverständlich irgendwann
schwierig und verlangt dem Leser und dem Betrachter, z. B. im
Theater, oft sehr viel ab. Die Theaterstücke aber, die die
Banalität der alltäglichen Lebenswirklichkeit einfach nur
verdoppeln, ziehen vielleicht ein paar Leute an. Man kann da
Laienspieler mit einbeziehen; manche erkennen manches wieder, und
dann ist es das eben gewesen. Da, denke ich, bin ich fast ein
bisschen Hegelianer: mit der Zeit wird sich zeigen, dass nicht
immer etwas drin steckt, was zu neuer Auseinandersetzung
herausfordert.
Insofern habe ich für die schwierige Literatur eigentlich gar keine
Angst. Sie darf nur nicht schwierig sein wollen. Sie muss einfach
gut sein wollen, und zwar in all dem, was Literatur leisten kann.
Das ist eigentlich alles. Gewiss kann das Schreibweisen verlangen,
die uns extrem herausfordern. Marion Poschmann ist eine solche
Autorin. Aber es gibt auch andere. Thomas Kling war – aber das
finde nicht nur ich, das haben andere ja schon längst so gesehen –
eines der größten lyrischen Talente. Er ist vergleichsweise jung
gestorben. Der hat auch keine Zugeständnisse gemacht; er hat die
Lyrik der sechziger und siebziger Jahre gekannt. Das merkt man ihm
an, aber er sucht seinen Ausdrucksweg, macht Lautkunst daraus, die
auf das Vorlesen angelegt ist. Der Vortrag hat in der Lyrik
überhaupt an Bedeutung gewonnen – auch auf Grund der medialen
Möglichkeiten. Aber Literatur, die nur auf die medialen
Möglichkeiten schielt, würde nicht solche Gedichte hervorbringen.
Durch die mediale Realisierung, z. B. als Hörbuch, gewinnen sie
jedoch noch, vor allem, wenn sie der Autor selber vorträgt, wenn
er, wie Kling, ein meisterhafter Rezitator der eigenen Sachen war.
Insofern möchte ich der Popliteratur gegenüber betonen: Es ist
unsere Aufgabe – jetzt meine ich die, die mit Literaturvermittlung
zu tun haben –, immer an Maßstäbe zu erinnern und Maßstäbe zu
erarbeiten. Dann liegt es an jedem selber, ob er Literatur
bevorzugt, die eigentlich keine Förderung braucht, weil sie so
geschrieben ist, dass sie sich von sich aus hinreichend fördert,
oder ob er sich etwas mehr zumutet.
Solbach: In gewisser Weise
haben Sie die letzte Frage schon beantwortet. Ich stelle sie
trotzdem, vielleicht gewinnen wir ihr ja noch einen Aspekt ab:
Angenommen, Ihnen als Literaturwissenschaftler fällt ein Buch in
die Hand, das nicht durch den Prestigezirkus der öffentlichen
Anerkennung gewandert ist und das Sie schlicht auf Grund Ihrer
Lektüre bewundern müssen. Was sagt Ihr Wissenschaftler-Ethos:
zuklappen und abwarten, bis sein Öffentlichkeitswert eine seriöse
Beschäftigung mit ihm erlaubt, also Systembeobachtung zweiten
Grades, um mit Luhmann zu reden, oder: darüber reden, schreiben,
mit den Mitteln der Analyse und der Erzeugung fachlicher
Aufmerksamkeit dem eigenen Urteil zur Anerkennung verhelfen? Wer
fällt die definitiven Werturteile: die ›Kritik‹, sprich: das
Feuilleton, das ›Leservotum‹, sprich: der Markt, oder die
Auslegung, sprich: die Wissenschaft?
Braungart: In der Gegenwart
alle drei, am stärksten sicher Markt und Feuilleton. Der
Literaturwissenschaftler ist ja nicht primär Literaturkritiker,
sondern er muss auch anderes tun; er muss seine Literatur mit einem
längeren historischen Atem anschauen. Die deutsche
Gegenwartsliteratur hat sicher in den nicht deutschsprachigen
Ländern einen anderen Stellenwert, weil der Spracherwerb und die
Sprachvermittlung ganz stark auch über Gegenwartsliteratur gehen.
Deswegen gibt es in der nicht deutschsprachigen
Literaturwissenschaft oft größere Kenner der Literatur nach ’45 als
in Deutschland selbst. Mit der Vermittlung von Barockgedichten zum
Beispiel lässt sich die Sprachkompetenz nicht so ohne weiteres
verbessern. Das ist ein ganz banales Argument. Dieser Umstand führt
auch zwischen den Literaturwissenschaften oder den Germanistiken zu
Verwerfungen und verleitet dazu, dass sich unter Umständen weltweit
gerade die deutsche Gegenwartsliteratur besonders gut hält und sich
durchsetzt, die wir in 20 oder 30 Jahren wahrscheinlich nicht mehr
beachten werden. Solche Texte müssen zum Beispiel ein relativ hohes
Maß an Zugänglichkeit besitzen, Jugendjargon, aktuelles
umgangssprachliches Vokabular usw. Darum hat die sogenannte
deutsche Popliteratur auch weltweit Aufmerksamkeit erregt unter
allen, die Deutsch lernen und sich mit deutscher Literatur
auseinandersetzen. Da bekommt sie Rückenwind. Aber als
Literaturwissenschaftler interessiert mich auch die Suche nach
Fragestellungen, nach Problemstellungen, die Texte miteinander in
eine Beziehung bringen. Von Uwe Japp, dem Literaturwissenschaftler
in Karlsruhe, gibt es ein schönes Buch. Das ist schon 20 Jahre alt.
Es heißt
Beziehungssinn.
Ein Konzept der
Literaturgeschichte. Leider ist es zu wenig rezipiert
worden. Die Literaturgeschichtsschreibung folgt oft pragmatischen,
also unterrichtlichen Zwecken in Schule und Universität. Dafür ist
ein komplizierteres Konzept nicht gut tauglich. Das Epochenmodell
hält sich deswegen so lange, weil es vergleichsweise einfach ist.
Japp versucht aber, wie amerikanische Wissenschaftler vor ihm, die
Literaturgeschichte unter dem Gesichtspunkt des Beziehungssinns der
Texte miteinander, also der internen sinnvollen
Referenzbildung zu konzipieren und als einen auch über die Zeiten
gehenden Kommunikationszusammenhang zu begreifen. Das gefällt mir
sehr. Wenn man mit Gegenwartsautoren spricht, die durch eine
tiefere intellektuelle Schulung gegangen sind, dann gilt das für
alle. Hummelt z. B. übersetzt T. S. Eliot. Man merkt ihm an, wie
sehr die Auseinandersetzung mit diesem Autor ihn und sein
Verständnis von Poesie geprägt hat. Ein Lyriker, den ich ebenfalls
sehr schätze und der auf eine ganz eigenartig und hoch artifizielle
Weise den Satz umsetzt, dass Gedichte gemacht werden, Jan Wagner,
schreibt auch aus seiner enormen Kenntnis der englischen und
amerikanischen Poetik und der Lyrik, die er von seiner eigenen
Übersetzungsarbeit her bestens kennt. Diese
poetae docti, diese gelehrten Dichter,
die es seit den späten Siebzigern wieder stärker gibt, begnügen
sich nicht mit einer banalen Zeitgenossenschaft. Sie setzen ihre
Literatur ganz selbstbewusst in viel größere Bezüge; und das kommt
ihr auch zugute.
Wer fällt die Werturteile? Natürlich dürfen wir uns nicht davor
genieren, es selbst zu tun. Nur sollte man nicht so vermessen sein
zu meinen, man richte damit sehr viel aus. Man sollte auch gar
nicht danach fragen. Man richtet gewiss immer etwas aus. Wenn man
an die eigene Lebensgeschichte denkt, dann kann man aus dem Abstand
ganz gut sagen, wer Spuren bei einem hinterlassen hat, und das tut
man selbst auch, wenn man nur ernsthaft und energisch genug etwas
vertritt. Das versuche auch ich in meiner Arbeit. Diejenigen, die
sich darauf einlassen, haben dann zumindest etwas, woran sie sich
reiben können, worüber sie sich womöglich ärgern können. Das sollen
sie ja auch ruhig. Wenn ich meine Publikationen der letzten Jahre
betrachte, so gehen sie alle in die Richtung, meine Position nicht
einfach hinter der Sachlichkeit einer Rekonstruktion zu verstecken.
Eine solche Sachlichkeit kann es kaum wirklich geben.
Rekonstruktion ist immer wertend und kommentierend und Akzente
setzend und modellierend usw. Ich bin kein Feuilleton-Kritiker. Das
sollen Kulturjournalisten machen, das ist ihre Arbeit; sie können
es viel besser. Ich bin auch nicht so sehr für die Vermischung von
universitärer Arbeit und Feuilleton. Literatur- und
Kulturjournalisten schreiben oft sehr gut; sie pointieren, sie
schießen auch daneben. Das ist ihr Recht. Sie müssen nur aufpassen,
dass sie nicht in einen Machtrausch geraten, weil sie sich für zu
bedeutsam halten. Aber von den guten Kritikern, die wir in
Deutschland haben, ist immer etwas zu lernen. Ich lese
Literaturkritiken sehr gerne; und nicht selten bringen sie mich
dann auch dazu, etwas zu lesen, das ich sonst vielleicht nicht in
die Hand genommen hätte. Dafür bin ich dankbar. Vor Eitelkeit und
Selbstüberschätzung müssen sich auch die Wissenschaftler hüten. Das
ist gewiss kein ›Privileg‹ der Feuilleton-Journalisten.
Das Feuilleton ist aus meiner Sicht nicht die Gegner der
Wissenschaft. Eher finde ich, dass wir in dem Sinne im selben Boot
sitzen, als es uns darum geht, die Sache der Literatur zu fördern
und zu unterstützen. Das muss jeder auf seine Weise tun. Warum
sollte ich jemandem gegenüber grundsätzlich misstrauisch sein, bei
dem ich die Ernsthaftigkeit sehe oder vermuten kann? Für ein
produktives Lernen und Weiterkommen ist das grundsätzliche
Vertrauen ganz wichtig, dass einen der andere nicht über den Tisch
ziehen will, dass er einem vielmehr etwas zu sagen hat. Zu diesem
Vertrauen gehört auch, Texte so lesen zu können, dass man hört, ob
man vertrauen kann. Daran muss man selber immer arbeiten. Ist einer
wirklich glaubwürdig in der Art und Weise, wie er spricht? Auch zu
dieser Kompetenz, das zu beurteilen, müssen wir, glaube ich, an der
Universität ausbilden. Das heißt literarisch: literarische
Qualität, und das heißt feuilletonistisch: ästhetisch
intellektuelle Aufrichtigkeit. Man darf sich nicht blenden lassen
von einer flotten Formulierung, weil jemand sprachlich etwas drauf
hat und es sich leisten kann auf Grund der Resonanz, über die er
verfügt. Dagegen muss man immer kämpfen. Und der beste Mitkämpfer
ist derjenige, der einen darauf aufmerksam macht, wenn man sich
selbst auf Irrwege begibt.
Solbach: Vielen Dank für
das Gespräch.