Martin Jacques
When China rules the World

Öffentlicher Vortrag an der London School of Economics IDEAS
13. Januar 2010

Ein­füh­rung von Jörg Bü­sching

Die Be­schäf­ti­gung mit China hatte in Eu­ro­pa ihre Kon­junk­tu­ren, seit der Rei­se­be­richt des Marco Polo die Phan­ta­si­en von Herr­schern, Pries­tern, Händ­lern und Aben­teu­rern an­reg­te. Zwar stand dabei von Be­ginn an die Öko­no­mie im Mit­tel­punkt, vor allem das eu­ro­päi­sche In­ter­es­se an Er­zeug­nis­sen der hoch­ent­wi­ckel­ten chi­ne­si­schen Hand­werks­kunst, doch mit den Mis­si­ons­ver­su­chen der ka­tho­li­schen Kir­che ent­wi­ckel­te sich sehr früh­zei­tig auch das Be­dürf­nis, die chi­ne­si­sche Kul­tur zu ver­ste­hen. Sei­nen Hö­he­punkt er­leb­te die eu­ro­päi­sche Be­wun­de­rung für China im Zeit­al­ter der Auf­klä­rung, als Schrift­stel­ler und Phi­lo­so­phen wie Vol­taire das Staats­we­sen und sein durch Prü­fun­gen re­kru­tier­tes ge­bil­de­tes Be­am­ten­tum als Vor­bild für ein Eu­ro­pa jen­seits von Feu­dal­macht und Stän­de­ord­nung ent­deck­ten.

Von die­ser Be­wun­de­rung ist wenig ge­blie­ben, nach­dem In­dus­tria­li­sie­rung und Ko­lo­nia­lis­mus das glo­ba­le Macht­gleich­ge­wicht zu­guns­ten Eu­ro­pas und sei­ner ma­ri­ti­men Im­pe­ri­en ver­schob (bevor diese im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert von den USA be­erbt wur­den). Wenn etwa Fried­rich Nietz­sche Kants Mo­ral­phi­lo­so­phie als »Kö­nigs­ber­ger Chi­ne­sen­thum« (KSE 6, S.177) be­zeich­net und durch die be­gin­nen­de Ar­bei­ter­be­we­gung in Deutsch­land seine Hoff­nung ent­täuscht sieht, »[…] dass hier sich eine be­schei­de­ne und selbst­ge­nüg­sa­me Art Mensch, ein Typus Chi­ne­se zum Stan­de her­aus­bil­de […]« (ebd. S. 142), dann kann man darin durch­aus jene hoch­mü­ti­ge At­ti­tü­de er­ken­nen, die sich das Bür­ger­tum, ein­mal zur Macht ge­langt, vom glei­cher­ma­ßen ver­hass­ten wie be­nei­de­ten Adel borg­te (eine Hal­tung, ne­ben­bei be­merkt, die ge­ra­de heute wie­der in ge­wis­sen Krei­sen post­mo­der­ner und li­ber­tä­rer Pro­ve­ni­enz fröh­li­che Ur­stän­de fei­ert).

So­wohl die idea­li­sier­te Sicht­wei­se der Auf­klä­rer als auch die nach­fol­gen­de bür­ger­li­che Ver­ach­tung waren letzt­end­lich vom Eu­ro­zen­tris­mus ge­präg­te Ver­su­che, die frem­de Zi­vi­li­sa­ti­on in das ei­ge­ne Welt­bild zu in­te­grie­ren. Um die Wende vom neun­zehn­ten zum zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert gab es noch ein­mal eine Welle ge­stei­ger­ten In­ter­es­ses, als For­scher wie der deut­sche Si­no­lo­ge Ri­chard Wil­helm oder Au­to­ren wie der fran­zö­si­sche Arzt und Schrift­stel­ler Vic­tor Sega­len das Reich der Mitte be­reis­ten und Über­set­zun­gen chi­ne­si­scher Werke sowie Rei­se­be­schrei­bun­gen mit­brach­ten. Nach dem zwei­ten Welt­krieg sank das durch Ko­lo­nia­lis­mus und Bür­ger­krieg ge­beu­tel­te be­völ­ke­rungs­reichs­te Land der Erde auf den Sta­tus eines Ent­wick­lungs­lan­des herab. Das rei­che kul­tu­rel­le Erbe schien durch die mao­is­ti­sche Kul­tur­re­vo­lu­ti­on dem Un­ter­gang ge­weiht zu sein.

Die Glo­ba­li­sie­rung in ihrer heu­ti­gen Form ist in ers­ter Linie Öko­no­mi­sie­rung. Kul­tu­rel­le Fra­gen spie­len in der von Gro­ß­kon­zer­nen do­mi­nier­ten Welt der Fi­nanz-, Wa­ren- und Roh­stoff­märk­te keine Rolle – dies je­den­falls die Mei­nung derer, die diese Ent­wick­lung in den Schalt­zen­tra­len der po­li­ti­schen und wirt­schaft­li­chen In­sti­tu­tio­nen vor­an­trei­ben. Genau an die­ser Stel­le setzt Mar­tin Jac­ques’ Ar­gu­men­ta­ti­on ein: Der sich ab­zeich­nen­de öko­no­mi­sche Auf­stieg des Rei­ches der Mitte werde eben doch po­li­ti­sche und kul­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen mit sich brin­gen, wes­halb es dar­auf an­kom­me, die zi­vi­li­sa­to­ri­sche An­ders­ar­tig­keit Chi­nas zu ver­ste­hen. Das ist für je­man­den, der bis 1991 Her­aus­ge­ber der ein­fluss­reichs­ten mar­xis­ti­schen Zeit­schrift Groß­bri­tan­ni­ens ge­we­sen ist, eine be­mer­kens­wer­te Wen­dung, die er am Ende des Vor­tra­ges selbst mit teil­wei­se sehr per­sön­li­chen Er­fah­run­gen er­klärt.

Den­noch soll­te das Per­sön­li­che nicht über­be­wer­tet wer­den. Jac­ques lie­fert nicht nur be­den­kens­wer­te The­sen, die ein mehr und mehr sich in eine Sack­gas­se aus Selbst­ge­fäl­lig­keit und tech­no­kra­ti­scher Igno­ranz ma­nö­vrie­ren­des Eu­ro­pa (und in be­son­de­rer Weise gilt dies viel­leicht für Deutsch­land) drin­gend nötig hat, seine Ar­gu­men­ta­ti­on hebt sich vor allem auch durch ihre Nüch­tern­heit, ihren Witz und ihren his­to­ri­schen und geo­po­li­ti­schen Weit­blick von ähn­li­chen Be­trach­tun­gen ab, die ent­we­der nicht von der oben skiz­zie­ren eu­ro­zen­tri­schen Über­heb­lich­keit weg­kom­men oder die po­li­ti­sche Ana­ly­se durch mo­ra­li­sche (Vor-)Ur­tei­le er­set­zen zu dür­fen glau­ben.
Die Über­set­zung er­folg­te nach dem auf der Home­page der Lon­don School of Eco­no­mics ver­öf­fent­lich­ten Ton­do­ku­ment (http://​richmedia.​lse.​ac.​uk/​publicLecturesAndEvents/​20100113_​1830_​when ChinaRulesTheWorld.​mp3). Für die freund­li­che Er­laub­nis dazu möch­te ich Mar­tin Jac­ques sowie Frau Dr. Emi­lia Knight von der LSE ganz herz­lich dan­ken. Eben­so danke ich dem Autor für seine ge­dul­di­ge Hilfe bei Ver­ständ­nis­pro­ble­men mei­ner­seits. Soll­ten den­noch gra­vie­ren­de Miss­ver­ständ­nis­se bzw. Ab­wei­chun­gen vom Ori­gi­nal ent­deckt wer­den, gehen diese selbst­ver­ständ­lich ganz und gar auf mein Konto.

Bei Reden, ins­be­son­de­re, wenn sie wie diese mit Lei­den­schaft und Freu­de am Ar­gu­ment vor­ge­tra­gen wer­den, sind Red­un­dan­zen, Wie­der­ho­lun­gen und ein­ge­scho­be­ne Be­mer­kun­gen un­ver­meid­lich. Um der bes­se­ren Les­bar­keit wil­len habe ich ein­zel­ne For­mu­lie­run­gen sprach­lich ein wenig ge­glät­tet und, wo es die Ar­gu­men­ta­ti­on nicht ver­frem­det, durch Kür­zun­gen ge­strafft. An­sons­ten habe ich den Re­de­cha­rak­ter so­weit wie mög­lich zu er­hal­ten ver­sucht, weil ich glau­be, dass auch dies, die sprich­wört­li­che eng­li­sche De­bat­ten­kul­tur, zum Ver­ständ­nis bei­trägt. Von An­fang an wird klar, dass hier nicht, im hohen aka­de­mi­schen Ton Wahr­hei­ten ver­kün­det, son­dern Denk­an­stö­ße ge­ge­ben wer­den, die, wie sich in der ab­schlie­ßen­den Fra­ge­run­de zeigt, auch eben­so leb­haft wie fair auf­ge­grif­fen wer­den.

Wo es m. E. Ver­ständ­nis­schwie­rig­kei­ten geben könn­te, habe ich in ecki­gen Klam­mern zu­sätz­li­che In­for­ma­tio­nen ein­ge­fügt. Ins­be­son­de­re ist dies dort der Fall, wo sich der Autor auf Per­so­nen be­zieht, die hier­zu­lan­de viel­leicht nicht die­sel­be Be­kannt­heit ge­nie­ßen wie im an­gel­säch­si­schen Raum, und an Stel­len, an denen Jac­ques auf Kar­ten und Dia­gram­me ver­weist, die er in sei­nem Vor­trag ver­wen­det hat. In dem Fall habe ich die Sei­ten in sei­nem Buch (When China Rules the World. The Rise of the Midd­le King­dom and the End of the Wes­tern World, Lon­don 2009) an­ge­ge­ben, auf denen die ent­spre­chen­den Do­ku­men­te ab­ge­bil­det sind.


Vortrag


Ein­lei­tung von Prof. Mi­cha­el Cox

Herz­lich will­kom­men zum Er­eig­nis die­ses Abends, or­ga­ni­siert von LSE IDEAS. Für all jene, die es noch nicht wis­sen: IDEAS in Groß­buch­sta­ben be­zeich­net das Zen­trum für das Stu­di­um von Di­plo­ma­tie und Stra­te­gie hier an der Lon­don School of Eco­no­mics. Wir be­trei­ben es seit nun­mehr zwei Jah­ren. Ich bin einer der Ko-Di­rek­to­ren. Der an­de­re ist Pro­fes­sor O. A. West­ad, der auch hier im Pu­bli­kum sitzt. Wir füh­ren die­ses aus un­se­rer Sicht span­nen­de Pro­jekt ge­mein­sam. Einer der Grün­de, die es so span­nend ma­chen, ist, dass wir so wun­der­vol­le Red­ner prä­sen­tie­ren kön­nen – wie Mar­tin Jac­ques, der heute Abend einen Vor­trag mit dem un­ver­fäng­li­chen Titel When China Rules the World hal­ten wird.

Wie Sie wis­sen, waren wir Ex­per­ten in den let­zen zwan­zig Jah­ren ge­ra­de­zu traum­haft darin, Vor­her­sa­gen zu ma­chen: Wir sag­ten das Ende des Kal­ten Krie­ges nicht vor­her – und doch fand es statt. Nach dem Ende des Kal­ten Krie­ges sag­ten wir eine mul­ti­po­la­re Welt­ord­nung vor­her, und was er­hiel­ten wir? Wir er­hiel­ten ein Jahr­zehnt der Uni­po­la­ri­tät, von einem neuen ame­ri­ka­ni­schen Jahr­hun­dert war die Rede. Als Prä­si­dent Bush, der we­ni­ger in­tel­li­gen­te, im Jahr 2000 das Amt über­nahm, was be­un­ru­hig­te ihn, wenn man sich seine Pro­gno­sen hin­sicht­lich der na­tio­na­len Si­cher­heit an­sieht: Auf­stre­ben­de Mäch­te. Und was bekam er am 11. Sep­tem­ber 2001? Nun, er bekam es nicht mit ›auf­stre­ben­den Mäch­ten‹ zu tun, son­dern mit nicht­staat­li­chen Ak­teu­ren die in einer Weise han­del­ten, die nie­mand vor­weg­ge­nom­men oder vor­her­ge­sagt hatte. Und schlie­ß­lich, wie sprach die gute Kö­ni­gin von Eng­land zu einem Öko­no­men hier an der Lon­don School of Eco­no­mics:  »Wieso hast du nicht die Fi­nanz­kri­se vor­her­ge­sagt, lie­ber Junge? Du wirst doch wohl gut genug be­zahlt?«

Hin­sicht­lich der Welt­er­eig­nis­se der letz­ten zwan­zig Jahre haben wir uns also grö­ß­ten­teils ge­irrt. – Nun, ich kann mich an noch eine an­de­re Vor­her­sa­ge er­in­nern, die in den spä­ten acht­zi­ger Jah­ren des vo­ri­gen Jahr­hun­derts ge­macht wurde, als wir nicht das Ende des Kal­ten Krie­ges vor­her­sag­ten, und die bezog sich auf Asien. Wir alle, oder ei­ni­ge von uns, wag­ten die große Vor­her­sa­ge, die neue, auf­stre­ben­de Macht in Asien wäre – Japan. Er­in­nern Sie sich noch: All die auf­ge­hen­den Son­nen, furcht­ba­ren Filme und schreck­li­chen Bü­cher – ich habe ein gan­zes Regal vol­ler schreck­li­cher Bü­cher, wenn Sie wel­che kau­fen wol­len...? – Bü­cher, die er­klär­ten, Japan werde die Welt be­herr­schen, die Num­mer eins wer­den und all dies. Da­mals, vor zwan­zig Jah­ren, auf dem Hö­he­punkt des Kal­ten Krie­ges in Eu­ro­pa, bevor, nur ein paar Jahre spä­ter, die UdSSR kol­la­bier­te, sagte nie­mand vor­her, wor­über wir uns heute Abend un­ter­hal­ten wer­den. Eine wei­te­re gran­dio­se Fehl­pro­gno­se, näm­lich das Her­vor­tre­ten und der Auf­stieg von China.

Ich bin hoch­er­freut, Ihnen heute Abend einen guten Freund vor­stel­len zu dür­fen, mei­nen Kol­le­gen Mar­tin Jac­ques. Er ist lei­ten­der Gast­wis­sen­schaft­ler in IDEAS, und zwar im Asi­en-For­schungs­zen­trum. Au­ßer­dem ist er Autor und Ra­dio­mo­de­ra­tor, er war Gast­pro­fes­sor an der Ren­min-Uni­ver­si­tät in Bei­jing, and der Aichi Uni­ver­si­tät und vie­len an­de­ren Hoch­schu­len im asia­tisch-pa­zi­fi­schen Raum. Vor vie­len Jah­ren war er der Her­aus­ge­ber der Zeit­schrift Mar­xism today, bis 1991, dem Jahr als die UdSSR zu­sam­men­brach. Ich weiß nicht, ob er das vor­her­ge­sagt hat – hast du, Mar­tin, hast du das rich­tig vor­her­ge­se­hen oder falsch? Na ja, wir alle ma­chen Feh­ler. Je­den­falls ist Mar­tin ein gro­ßar­ti­ger In­tel­lek­tu­el­ler in der De­bat­te über China. Sein Buch, When China Rules the World. The Rise of the Midd­le King­dom and the End of the Wes­tern World ist au­ßer­ge­wöhn­lich gut auf­ge­nom­men, dis­ku­tiert, er­ör­tert, und kri­ti­siert wor­den, wie es sich ge­hört, und zwar dies­seits des Är­mel­ka­nals, jen­seits des Är­mel­ka­nals, dies­seits des At­lan­tiks und jen­seits des At­lan­tiks, und na­tür­lich hat Mar­tin sein Buch in den USA, in Eu­ro­pa, in Groß­bri­tan­ni­en, und selbst­ver­ständ­lich auch in China an­ge­prie­sen, wo die erste Auf­la­ge nur 100 000 Ex­em­pla­re be­trug, eine, wie man mir sagte, ziem­lich klei­ne Auf­la­ge für China. Mar­tin, ich hoffe, sie macht dich we­nigs­tens zum Mil­lio­när, und dann kannst du an­fan­gen Lehr­stüh­le in IDEAS zu un­ter­stüt­zen!

Bevor du je­doch an­fängst, Lehr­stüh­le zu un­ter­stüt­zen, möch­te ich dich auf­for­dern, den Vor­trag des heu­ti­gen Abends zu hal­ten: When China Rules the World. Es ist gro­ßar­tig dich wie­der hier zu haben und wir sind ge­spannt, was du zu sagen hast.

Mar­tin Jac­ques

Wer braucht nach einer sol­chen Ein­lei­tung noch Fein­de? – Vie­len Dank, Mick.

Guten Abend. – Nun, vor ein paar Mo­na­ten schlug Mick mir vor, dass ich heute Abend auch auf ei­ni­ge Buch­be­spre­chun­gen ant­wor­ten solle. Ich werde das nicht in einem um­fang­rei­chen in­tel­lek­tu­el­len, kon­zep­tio­nel­len Sinn tun, wozu ich hof­fent­lich in der Ta­schen­buch­aus­ga­be kom­men werde, die im Ver­lauf die­ses Jah­res er­schei­nen wird. Aber ich denke, dass es tat­säch­lich von In­ter­es­se sein könn­te, ei­ni­ges über die Be­spre­chun­gen zu sagen. Mick er­wähn­te, dass mein Buch sehr gut auf­ge­nom­men wor­den ist, und er hat recht. Ich glau­be aber auch, dass die Re­zen­sio­nen uns wirk­lich Be­mer­kens­wer­tes über un­se­re Ein­stel­lung ge­gen­über China ver­ra­ten. Das Buch wurde am 12. No­vem­ber [2009 d. Ü] in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten ver­öf­fent­licht und ist wirk­lich sehr breit be­spro­chen wor­den: in der New York Times, der Wa­shing­ton Post, Time und allen mög­li­chen Orten. Eine Sache, die mir bei den ame­ri­ka­ni­schen Re­zen­sio­nen und Er­wi­de­run­gen be­son­ders auf­ge­fal­len ist, war ihre Ernst­haf­tig­keit, die Art und Weise in der na­he­zu jede Be­spre­chung auf den Punkt ge­kom­men ist, sich nicht mit, wie ich das nenne, »Be­schwer­den über China« auf­ge­hal­ten, son­dern die Be­haup­tung über den Auf­stieg von China, d. h. eines sehr an­ders­ar­ti­gen Lan­des, ernst­ge­nom­men hat. Ich denke der Grund dafür liegt im We­sent­li­chen darin, dass es in der glo­ba­len Macht Ame­ri­ka eine kri­ti­sche Masse von Leu­ten gibt, die über das große, glo­ba­le Bild nach­den­ken. Und eben weil es eine glo­ba­le Macht ist, sein Im­pe­ri­um in Gang hal­ten und über Her­aus­for­de­run­gen nach­den­ken muss, hat es einen be­grün­de­ten In­for­ma­ti­ons­be­darf. Des­halb han­delt es sich bei den Er­wi­de­run­gen auch nicht ein­fach um ideo­lo­gi­sche Ein­wän­de.

In Ost­asi­en fie­len die Ant­wor­ten an­ders aus, wie ich wäh­rend mei­ner Reise durch die Re­gi­on – mit Aus­nah­me Ja­pans und Ko­reas – er­fuhr. Für die Men­schen in Ost­asi­en han­delt es sich nicht um eine Hy­po­the­se, son­dern um einen heute schon statt­fin­den­den Pro­zess. Es gibt dort eine Be­schäf­ti­gung mit dem Thema, die an­ders ist als z. B. die Dis­kus­si­on hier­zu­lan­de. Sie möch­ten den Pro­zess ver­ste­hen, um zu wis­sen, wie die Zu­kunft aus­se­hen könn­te. Dem­entspre­chend gab es gro­ßes In­ter­es­se an dem Buch und in­ten­si­ve De­bat­ten und Ar­gu­men­ta­tio­nen drum­her­um. Und kurz noch zu China: Die zehn Tage die ich dort ver­brach­te, ge­hö­ren wohl zu den spek­ta­ku­lärs­ten Ab­schnit­ten, ins­be­son­de­re in Bei­jing, sehr viel mehr als in Shang­hai, wo es au­ßer­or­dent­li­che Dis­kus­sio­nen und De­bat­ten um das Buch gab. Ich fand das ab­so­lut fas­zi­nie­rend.

Was mich schlie­ß­lich zu Groß­bri­tan­ni­en und Eu­ro­pa bringt, den in ge­wis­ser Weise am meis­ten ent­täu­schen­den Orten. Zwar wurde das Buch in Groß­bri­tan­ni­en sehr breit re­zen­siert, und die Be­spre­chun­gen va­ri­ier­ten zwi­schen sol­chen die sich sehr po­si­tiv, sogar er­freut zeig­ten und sol­chen, die ex­trem feind­se­lig waren, sowie alle mög­li­chen Schat­tie­run­gen da­zwi­schen. Aber im Ver­gleich zu den USA oder Asien haben die bri­ti­schen Re­zen­sio­nen in mir zwei star­ke Ein­drü­cke her­vor­ge­ru­fen. Das erste war: »Wir sind weit weg und das Phä­no­men ist für uns noch nicht so recht greif­bar.« Dies ist ganz an­ders als etwa in Asien. Und zwei­tens: Groß­bri­tan­ni­en ist keine glo­ba­le Macht mehr, und des­halb gibt es, an­ders als in der Zeit vor fünf­zig oder hun­dert Jah­ren, als wir noch ein Em­pi­re hat­ten – oder das Ende davon – nicht mehr viele Leute, die einen be­grün­de­ten In­for­ma­ti­ons­be­darf haben. Des­halb war ein Cha­rak­te­ris­ti­kum der bri­ti­schen Re­ak­tio­nen, dass sie sich durch Fra­gen ab­len­ken lie­ßen, die sie daran hin­der­ten, das große Bild zu sehen, Fra­gen wie die nach Men­schen­rech­ten, De­mo­kra­tie, apo­ka­lyp­ti­sche An­sich­ten be­züg­lich der Um­welt – alles sehr star­ke Ge­füh­le ge­gen­über China. Nichts davon ist falsch, aber es geht doch nicht darum, was wir mögen oder nicht mögen, son­dern es geht darum, den Auf­stieg Chi­nas zu ver­ste­hen und her­aus­zu­fin­den, wel­chen Weg die Ent­wick­lung neh­men wird. Mein Buch stellt den Ver­such dar zu ver­ste­hen, statt ein Wert­ur­teil zu fäl­len.

Und Eu­ro­pa? Wäh­rend mein Buch sehr rasch in et­li­che asia­ti­sche Spra­chen über­setzt wor­den ist, gibt es in Eu­ro­pa noch nicht sehr viele Über­set­zun­gen. Ein­mal sprach ich mit einem Deut­schen von der Süd­deut­schen Zei­tung, der es auf Eng­lisch ge­le­sen hatte. Ich frag­te ihn, was die deut­sche Hal­tung ge­gen­über China sei, und er sagte: »Nun ja, die ge­gen­wär­ti­ge Hal­tung Deutsch­lands ge­gen­über China ist die, dass Deutsch­land sich mo­men­tan nur für Deutsch­land in­ter­es­siert. Deutsch­land bringt wirk­li­ches In­ter­es­se nur für Deutsch­land auf. Dar­über hin­aus in­ter­es­siert es sich noch für seine Pe­ri­phe­rie. Über China denkt es nicht nach. In­so­fern es das doch tut, denkt es vor allem an Men­schen­rech­te, De­mo­kra­tie … mit an­de­ren Wor­ten«, sagte er, »wieso kann China nicht so sein wie wir?« – Was na­tür­lich im we­sent­li­chen Will Hut­tons [ein­fluss­rei­cher eng­li­scher Jour­na­list, Autor des Bu­ches Wri­ting on the Wall: China and the West in the 21st Cen­tu­ry, Lon­don 2007; d. Ü.] Po­si­ti­on ent­spricht.

Diese Hal­tung führt uns nir­gend­wo hin. Aber sie ver­rät uns eine Menge über Eu­ro­pa ein­schlie­ß­lich Groß­bri­tan­ni­en: Eu­ro­pa hat keine glo­ba­le Per­spek­ti­ve, kein um­fas­sen­des Bild mehr, und es hat kei­nen Sinn mehr für die Zu­kunft. – So viel dazu.

Das Buch ent­hält zwei Ele­men­te: Das­je­ni­ge, wel­ches die grö­ß­te Auf­merk­sam­keit auf sich ge­zo­gen hat, weil es im Titel vor­kommt – im Gro­ßen und Gan­zen haben die Leute mich immer auf den Titel an­ge­spro­chen, wenn sie über das Buch dis­ku­tier­ten –, be­zieht sich auf den Auf­stieg Chi­nas und den Um­stand, dass ich glau­be, dass es mit der Zeit die Ver­ei­nig­ten Staa­ten als do­mi­nie­ren­de und ein­fluss­reichs­te Macht der Welt ab­lö­sen wird. Das ist ein Teil des Bu­ches, der­je­ni­ge, der die meis­te Be­ach­tung ge­fun­den hat. Der an­de­re Teil ver­sucht die Natur Chi­nas zu ver­ste­hen als etwas, das sehr ver­schie­den von der west­li­chen Er­fah­rung ist und blei­ben wird. Das China von heute, das China der Ver­gan­gen­heit und das China der Zu­kunft wer­den sich in vie­ler­lei Hin­sicht von un­se­rer west­li­chen Er­fah­rungs­welt un­ter­schei­den. Ich glau­be, diese Ein­sicht ist wich­ti­ger als der erste Teil des Bu­ches. Wir kön­nen ver­su­chen zu ver­ste­hen, wie ein auf­stei­gen­des China die Welt ver­än­dern wird, aber wich­ti­ger ist mei­ner An­sicht nach der Ver­such zu ver­ste­hen, wie China in die­ser vor­herr­schen­den Po­si­ti­on sein wird.

Doch bevor wir dazu kom­men, werde ich etwas über den Auf­stieg Chi­nas sagen. Dafür müs­sen wir uns aber zu­erst noch den jet­zi­gen Zu­stand der Welt im Zu­sam­men­hang ver­ge­gen­wär­ti­gen. Das Zeit­al­ter, in dem wir leben, ist zwar am auf­fäl­ligs­ten vom Auf­stieg Chi­nas ge­prägt, doch in Wahr­heit han­delt es sich um den Auf­stieg der Ent­wick­lungs­län­der. Dies ist eine au­ßer­ge­wöhn­li­che Ver­än­de­rung. All­mäh­lich mögen wir sie für selbst­ver­ständ­lich neh­men, doch noch vor zehn Jah­ren hät­ten wir das wahr­schein­lich nicht getan und vor fünf­und­zwan­zig Jah­ren ganz si­cher nicht. Und um 1950 herum wäre es ge­ra­de­zu un­vor­stell­bar ge­we­sen, dass das Sub­jekt der Welt ein­mal nicht mehr der Wes­ten sein würde, son­dern jene be­völ­ke­rungs­rei­chen Län­der, die vom Wes­ten ko­lo­ni­siert wur­den. Des­halb be­haup­te ich in dem Buch, dass das am meis­ten un­ter­schätz­te Er­eig­nis des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts die De­ko­lo­ni­sie­rung, die na­tio­na­le Be­frei­ung ge­we­sen ist. Denn dies war es, was Län­dern wie In­di­en und China die Mög­lich­keit er­öff­ne­te, ein Wachs­tum zu in­iti­ie­ren, das sich von der fak­ti­schen Sta­gna­ti­on der vor­aus­ge­gan­ge­nen ein- oder zwei­hun­dert Jahre grund­le­gend un­ter­schei­det.

Dies [scil. die Ent­wick­lung der Brut­to­so­zi­al­pro­duk­te der grö­ß­ten Volks­wirt­schaf­ten bis 2025 bzw. 2050, dar­ge­stellt in zwei Dia­gram­men nach Be­rech­nun­gen von Gold­man Sachs. Vgl. Jac­ques 2009 S. 230, d. Ü.] sind nur Pro­jek­tio­nen, selbst­ver­ständ­lich sind es nur Pro­jek­tio­nen. Jeder, der sie wört­lich nähme, wäre ein Narr, aber sie ver­mö­gen uns einen Ein­druck davon zu ver­mit­teln, wie die Zu­kunft aus­se­hen könn­te – eine wahr­schein­li­che An­nah­me. Ne­ben­bei be­merkt könn­te es sich sogar um Un­ter­schät­zun­gen han­deln. Diese Daten wur­den vor der glo­ba­len Fi­nanz­kri­se er­ho­ben, daher könn­ten sie z. B. Bra­si­li­en un­ter­schät­zen. Aber schau­en wir uns diese auf Wech­sel­kur­se [US-Dol­lar von 2006, d. Ü.] be­zo­ge­nen Kenn­zah­len des BIP an: Um 2025 fin­den wir China an zwei­ter Stel­le, es hat die USA na­he­zu ein­ge­holt. Dann fol­gen In­di­en an vier­ter und Bra­si­li­en an neun­ter Stel­le. Das nächs­te Dia­gramm ist na­tür­lich sehr viel spe­ku­la­ti­ver, da es sich auf 2050 be­zieht. Ne­ben­bei be­merkt, han­delt es sich nicht ein­fach um Ex­tra­po­la­tio­nen aus der Ver­gan­gen­heit. In diese Daten sind be­reits fal­len­de Wachs­tums­ra­ten ein­ge­rech­net, da z. B. China sein zwei­stel­li­ges Wachs­tum für die nächs­ten zwan­zig bis fünf­und­zwan­zig Jahre kaum bei­be­hal­ten kön­nen dürf­te. Und den­noch zeigt das Bild eine au­ßer­ge­wöhn­li­che Ent­wick­lung: Chi­nas Wirt­schaft ist fast zwei­mal so groß wie die der USA, die in­di­sche fast so groß wie die ame­ri­ka­ni­sche.

In­ter­es­sant sind die nächst­fol­gen­den Län­der: Bra­si­li­en, Me­xi­ko, Russ­land, In­do­ne­si­en, ge­folgt von Japan an ach­ter Stel­le. Nur zwei eu­ro­päi­sche Län­der fin­den sich unter den ers­ten zehn. Dies re­prä­sen­tiert eine au­ßer­or­dent­li­che Ver­schie­bung des öko­no­mi­schen Schwer­kraft­zen­trums der Welt. Doch es han­delt sich um mehr als das. Eines der Pro­ble­me der Dis­kus­sio­nen über den Auf­stieg Chi­nas und der Ent­wick­lungs­län­der all­ge­mein, wie sie bis­lang im Wes­ten ge­führt wer­den, ist, dass sie davon aus­ge­hen, dass dies ein öko­no­mi­sches Phä­no­men, und zwar haupt­säch­lich oder sogar aus­schlie­ß­lich ein öko­no­mi­sches Phä­no­men sei. Der Grund dafür, wes­halb die Leute so den­ken kön­nen, ist die un­ter­schwel­li­ge An­nah­me, dass die Mo­der­ni­tät, die sich diese Län­der an­eig­nen, im We­sent­li­chen eine west­li­che Mo­der­ni­tät sein wird: Wir alle be­fin­den uns auf der­sel­ben Roll­trep­pe, wir rei­sen alle in die­sel­be Rich­tung; der Wes­ten ist le­dig­lich zu­fäl­lig im obe­ren Teil der Roll­trep­pe. Das ist so­zu­sa­gen die his­to­ri­sche Sicht­wei­se.

Mei­nes Er­ach­tens han­delt es sich dabei um eine ab­so­lut falsch ver­stan­de­ne Auf­fas­sung. Und tat­säch­lich kön­nen wir uns das auch schon klar­ma­chen, wenn wir an die heu­ti­ge Welt den­ken, denn es gibt eine große Aus­nah­me unter den In­dus­trie­län­dern, die sich in­ner­halb der letz­ten zwei­hun­dert Jahre, seit die in­dus­tri­el­le Re­vo­lu­ti­on in Groß­bri­tan­ni­en be­gann, mo­der­ni­siert haben, und das ist Japan. Jeder, der sich auch nur ein wenig mit Japan aus­kennt, weiß: Ers­tens das Land ist sehr mo­dern und zwei­tens es ist nicht west­lich. Hin­sicht­lich sei­ner Sit­ten, sei­ner so­zia­len Be­zie­hun­gen, sei­ner Werte, der Struk­tur sei­ner In­sti­tu­tio­nen, der Art und Weise, wie seine Po­li­tik funk­tio­niert un­ter­schei­det es sich tief­grei­fend vom Wes­ten. Es han­delt sich um einen Hy­bri­den, der ge­wis­se Ele­men­te west­li­cher Mo­der­ni­tät ent­hält und viele ei­ge­ne. Und mit dem Auf­stieg der asia­ti­schen Ti­ger­staa­ten und jetzt Chi­nas und na­tür­lich auch In­di­ens wer­den wir sehr klar sehen, dass ›Mo­der­ni­tät‹ nicht ein­fach ›west­li­che Mo­der­ni­tät‹ be­deu­tet. Sie kommt nicht im Sin­gu­lar daher. Es han­delt sich nicht ein­fach um das Pro­dukt von Märk­ten, Wett­be­werb und Tech­no­lo­gie – ein Me­cha­nis­mus, der ihr in der neo­li­be­ra­len Ära zu­ge­schrie­ben wor­den ist. Es ist eben­so und gleich­ran­gig eine Funk­ti­on von Ge­schich­te und von Kul­tur. Und es ist der Auf­stieg von China, der uns dies sehr klar vor Augen füh­ren wird.

Den grö­ß­ten Teil mei­ner Re­de­zeit des heu­ti­gen Abends möch­te ich den vier fun­da­men­ta­len Ei­gen­schaf­ten Chi­nas wid­men, in denen es sich tief­grei­fend vom Wes­ten un­ter­schei­det und die auch grund­ver­schie­den blei­ben und Chi­nas Ver­hal­ten als glo­ba­le Macht, der do­mi­nan­ten Glo­bal­macht aus mei­ner Sicht, be­stim­men wer­den. Die erste ist wahr­schein­lich die wich­tigs­te. Wäh­rend der letz­ten hun­dert Jahre hat China sich selbst als Na­tio­nal­staat be­schrie­ben. Nun weiß jeder, der auch nur ein biss­chen von der chi­ne­si­schen Ge­schich­te kennt, dass hun­dert Jahre darin ein Na­del­stich sind. Auf der Karte sieht man das Qin-Reich am Ende der Pe­ri­ode der strei­ten­den Rei­che, 221 vor Chris­tus [Vgl. Jac­ques 2009, S. 74]. Man kann sehen, dass dies be­reits die Gren­zen des heu­ti­gen öst­li­chen Teils Chi­nas um­fasst. Den­ken sie sich zwi­schen die­sem öst­li­chen und dem west­li­chen Teil Chi­nas bitte eine Linie, denn bei­der Ge­schich­ten sind sehr un­ter­schied­lich.

Die nach­fol­gen­de Dy­nas­tie war die Han-Dy­nas­tie, immer noch zwei Jahr­tau­sen­de zu­rück, und nun kann man be­reits sehen, dass die Aus­deh­nung des Rei­ches nicht mehr so weit von den heu­ti­gen Gren­zen Chi­nas ent­fernt ist. Mit an­de­ren Wor­ten: China in die­ser Grö­ßen­ord­nung ist ganz si­cher das am längs­ten exis­tie­ren­de Ge­mein­we­sen der Welt. Es ist nicht ein paar hun­dert Jahre alt, son­dern we­nigs­tens zwei Jahr­tau­sen­de. Eine Fol­ge­rung dar­aus ist, dass das chi­ne­si­sche Ver­ständ­nis von China und all das, was den Chi­ne­sen ihren Sinn für Iden­ti­tät ver­leiht, keine Re­sul­ta­te der Na­tio­nal­staats­pe­ri­ode sind, son­dern we­sent­lich, über­wie­gend, ja sogar aus­schlie­ß­lich, wenn es um Grund­sätz­li­ches geht, sol­che der Zi­vi­li­sa­ti­ons­staats­pe­ri­ode: Die sehr spe­zi­fi­sche Natur der chi­ne­si­schen Fa­mi­lie etwa oder das sehr an­ders­ar­ti­ge Ver­hält­nis zwi­schen chi­ne­si­schem Staat und chi­ne­si­schem Volk. Viele chi­ne­si­sche Sit­ten wie die Ah­nen­ver­eh­rung, na­tür­lich die ideo­gra­fi­sche Spra­che, der Kon­fu­zia­nis­mus: Dies alles sind Er­run­gen­schaf­ten der Zi­vi­li­sa­ti­ons­staats­pe­ri­ode. Ich stel­le mir China gerne wie einen geo­lo­gi­schen Quer­schnitt vor. Die obers­te Schicht ist ein Na­tio­nal­staat. Die geo­lo­gi­sche Struk­tur ist we­sent­lich die eines Zi­vi­li­sa­ti­ons­staa­tes. Dies ist voll­kom­men ver­schie­den von der west­li­chen Er­fah­rung. Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten etwa sind völ­lig an­ders, weil sie nur als Na­tio­nal­staat in sei­ner mo­der­nen Form exis­tiert haben – unter Zer­stö­rung aller vor­her­ge­gan­gen Zi­vi­li­sa­ti­ons­for­men auf ihrem Ge­biet. Aber ge­nau­so auch in Eu­ro­pa, in Groß­bri­tan­ni­en, in Frank­reich, zum grö­ß­ten Teil in Deutsch­land, in Ita­li­en und so wei­ter: Unser Sinn für Iden­ti­tät grün­det sich in der Na­tio­nal­staats­pe­ri­ode, nicht in etwas Vor­aus­ge­gan­ge­nem. Zwar mag es ein­zel­ne Über­lie­fe­run­gen geben, doch ins­ge­samt steht un­se­re Er­fah­rung in voll­kom­me­nem Ge­gen­satz zur chi­ne­si­schen.

Der erste Punkt des chi­ne­si­schen Kon­zepts eines Zi­vi­li­sa­ti­ons­staa­tes ist diese au­ßer­ge­wöhn­lich lange Ge­schich­te. Der zwei­te Punkt be­trifft Di­ver­si­tät und Größe Chi­nas; dies ist das an­de­re Cha­rak­te­ris­ti­kum, das China als Zi­vi­li­sa­ti­ons­staat de­fi­niert. Zur un­se­rer Er­in­ne­rung: Al­lein die Be­völ­ke­rungs­zahl die­ser vier Pro­vin­zen [scil. Shan­dong, Henan, Guang­dong und Si­chuan, vgl. Jac­ques 2009, S. 202, d. Ü.] ist grö­ßer als die der USA. Die Ein­woh­ner­schaft der grün und blau ein­ge­zeich­ne­ten Pro­vin­zen [scil. Hebei, Anhui, Hunan und Hubei, vgl. ebd., d. Ü.] sind je­weils so groß oder sogar grö­ßer als die des Ver­ei­nig­ten Kö­nig­reichs oder Frank­reichs. Selbst im öst­li­chen Teil Chi­nas gibt es große so­zio-öko­no­mi­sche, kul­tu­rel­le und po­li­ti­sche Un­ter­schie­de. Wir nei­gen dazu, China als etwas Mo­no­li­thi­sches an­zu­se­hen, teil­wei­se wegen sei­ner kom­mu­nis­ti­schen Re­gie­rung, aber auch, weil die Chi­ne­sen über einen so star­ken Sinn für Iden­ti­tät ver­fü­gen, ver­gli­chen etwa mit In­di­en, wo die re­gio­na­len Iden­ti­tä­ten viel stär­ker sind. Doch es gibt große Un­ter­schie­de in die­sem Teil Chi­nas. Und na­tür­lich va­ri­iert auch der Le­bens­stan­dard. Es trifft nicht zu, frü­her nicht, und heute ganz si­cher nicht, dass alles in China aus Bei­jing kommt. Die Pro­vinz­re­gie­run­gen und lo­ka­len Re­gie­run­gen haben eine große Macht; was die Er­he­bung von Steu­ern und  die öf­fent­li­chen Aus­ga­ben an­geht, ist die Zen­tral­re­gie­rung nur für einen re­la­tiv klei­nen An­teil des gan­zen Auf­kom­mens ver­ant­wort­lich. Hier haben wir einen wei­te­ren gro­ßen Un­ter­schied zur west­li­chen Er­fah­rung. Doch was be­deu­tet er?

Dazu möch­te ich zwei­er­lei sagen. Zu al­ler­erst: Der wich­tigs­te po­li­ti­sche Wert in China ist Ein­heit. Sie ge­nie­ßt die erste Prio­ri­tät, und der Grund dafür liegt darin, dass China seit der Pe­ri­ode der strei­ten­den Rei­che dar­auf hin­wirk­te, das zu wer­den, was es heute ist. Daher ist die chi­ne­si­sche Sicht des­sen, wer sie sind, was China ist, we­sent­lich ge­prägt von die­sem Zi­vi­li­sa­ti­ons­staat. An­ders aus­ge­drückt, der Gleich­ge­wichts­zu­stand Chi­nas ist einer der Ein­heit, doch diese Ein­heit ist au­ßer­or­dent­lich schwer zu er­hal­ten, weil die Zen­tri­fu­gal­kräf­te in einem Land die­ser Grö­ßen­ord­nung enorm sind. Der chi­ne­si­sche His­to­ri­ker Wang Gung­wu schätzt, dass China un­ge­fähr wäh­rend der Hälf­te sei­ner zwei­tau­send­jäh­ri­gen Exis­tenz un­ter­schied­li­che For­men der Un­ei­nig­keit durch­lebt hat. An­ders ge­sagt, die Dro­hung der Spal­tung ist stets prä­sent im Be­wusst­sein der Chi­ne­sen und ins­be­son­de­re ihrer Füh­rer. Dies ist der ab­so­lu­te Ge­gen­satz zu Eu­ro­pa. Tat­säch­lich hat der wich­tigs­te Un­ter­schied zwi­schen China und Eu­ro­pa nichts zu tun mit Re­gie­rungs­füh­rung oder De­mo­kra­tie oder auch den Er­fah­run­gen der in­dus­tri­el­len Re­vo­lu­ti­on, so wich­tig diese auch war (für China lag darin ein Grund für das »Jahr­hun­dert der De­mü­ti­gung«). Der wich­tigs­te Un­ter­schied ist, dass zur sel­ben Zeit, als China den Pro­zess der Ei­ni­gung star­te­te, Eu­ro­pa sich exakt in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung ent­wi­ckel­te. Am Ende des rö­mi­schen Im­pe­ri­ums be­gann Eu­ro­pa sich in zahl­rei­che Ter­ri­to­ri­en und schlie­ß­lich Na­tio­nal­staa­ten zu tei­len. Der Gleich­ge­wichts­zu­stand Eu­ro­pas ist also die Tei­lung in viele Na­tio­nal­staa­ten, nicht die eu­ro­päi­sche Union. Hier ist die eu­ro­päi­sche Iden­ti­tät aus­ba­lan­ciert mit dem Na­tio­nal­staat, wäh­rend es in China genau um­ge­kehrt ist. Die­ser fun­da­men­ta­le Un­ter­schied drückt sich in China auf man­nig­fal­ti­ge Weise aus. Wenn sie wis­sen wol­len, warum Mao Ze­dong bis heute eine so po­pu­lä­re Figur ist, po­pu­lä­rer als Deng Xia­o­ping: Maos grö­ß­te Leis­tung be­stand in der Wie­der­her­stel­lung der staat­li­chen Ein­heit. Er er­neu­er­te den Staat als ef­fek­ti­ven Kör­per im Her­zen der chi­ne­si­schen Ge­sell­schaft. Des­halb ist er so po­pu­lär, und das ist der Haupt­grund, wes­halb 1949 ein so ent­schei­den­des Datum in der chi­ne­si­schen Ge­schich­te ist.

Dies also ist das erste Bei­spiel für den Zi­vi­li­sa­ti­ons­staat: in prak­ti­scher, kör­per­schaft­li­cher Hin­sicht. Die zwei­te Frage möch­te ich an einem Bei­spiel er­klä­ren: Hong­kong 1997. Sie er­in­nern sich, das kon­sti­tu­tio­nel­le An­ge­bot der Chi­ne­sen war: »Ein Land, zwei Sys­te­me.« Ich wette mit Ihnen, es gab nie­man­den im Wes­ten oder im Ver­ei­nig­ten Kö­nig­reich der ihnen ge­glaubt hat. Sie glaub­ten, es sei be­deu­tungs­los, sie hiel­ten es für Au­gen­wi­sche­rei; so­bald China die Herr­schaft über Hong­kong hätte, würde es den Weg der Volks­re­pu­blik ein­schla­gen. – Falsch! Ab­so­lut falsch! Zwölf Jahre da­nach ist Hong­kong, was das po­li­ti­sche und Rechts­sys­tem an­geht, min­des­tens so ver­schie­den vom Rest Chi­nas, wie es 1997 war. Die Chi­ne­sen hat­ten es ernst­ge­meint. Warum haben wir ihnen nicht ge­glaubt? Ab­ge­se­hen von Skep­sis oder Zy­nis­mus ge­gen­über chi­ne­si­scher Füh­rung dürf­te der we­sent­li­che Grund der sein, dass wir mit einer Na­tio­nal­staats­men­ta­li­tät den­ken. Ein Bei­spiel dafür wäre der Fall der Ber­li­ner Mauer, die Im­plo­si­on von Ost­deutsch­land ein paar Jahre zuvor: Die Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands er­folg­te ein­zig und al­lein zu den Be­din­gun­gen der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Na­tio­nal­staats­den­ken: Ein Staat, ein Sys­tem. Zi­vi­li­sa­ti­ons­staats­den­ken: Ein Staat, viele Sys­te­me.

Auch im Hin­blick auf die Frage Tai­wans könn­te man sich damit eine Lö­sung vor­stel­len. Eine Mög­lich­keit könn­te so aus­se­hen, dass die Tai­wa­ne­sen ir­gend­wann die Chi­ne­si­sche Sou­ve­rä­ni­tät prin­zi­pi­ell an­er­ken­nen. Die Ge­gen­leis­tung könn­te in dem An­ge­bot ›ein Land, zwei Sys­te­me‹ be­ste­hen. Es wird mög­li­cher­wei­se sogar fle­xi­bler als im Falle Hong­kongs ge­hand­habt wer­den, ab­hän­gig davon, wann die Tai­wa­ne­sen ihr Zu­ge­ständ­nis ma­chen. Ich glau­be, den Tai­wa­ne­sen könn­te er­laubt wer­den, ihre ei­ge­nen Streit­kräf­te zu be­hal­ten. Ich denke auch, dass sie ihr exis­tie­ren­des Wahl­sys­tem wer­den bei­be­hal­ten dür­fen. – Wenn Sie ein Land von die­sen Aus­ma­ßen, von die­ser Größe füh­ren müs­sen, dann müs­sen Sie in der Lage sein, sehr un­kon­ven­tio­nell zu den­ken, denn – ist es wirk­lich ein Land, die­ser Zi­vi­li­sa­ti­ons­staat? Es ist ein Kon­ti­nent. Sämt­li­che Be­grif­fe von Re­gie­rungs­füh­rung usw. un­ter­schei­den sich tief­grei­fend vom Na­tio­nal­staats­den­ken, das vor allem in Eu­ro­pa und Nord­ame­ri­ka vor­herrscht.

Nun stel­len Sie sich vor: 2050 oder viel­leicht auch 2060 oder ’70 wird China die grö­ß­te Volks­wirt­schaft der Welt sein, und damit die ein­fluss­reichs­te Macht der Welt. Sie ist ein Na­tio­nal­staat, aber mit dem Herz­schlag eines Zi­vi­li­sa­ti­ons­staats – denn tat­säch­lich ist sie ja bei­des, und zwi­schen bei­dem gibt es ein in­ter­es­san­tes Span­nungs­ver­hält­nis. Doch ich glau­be, indem China auf­steigt, wird es sich wie­der mehr und mehr in sei­ner Ge­schich­te ein­rich­ten, denn seit dem Ende des 19. Jahr­hun­derts war China durch seine ei­ge­ne Schwä­che ge­zwun­gen, die Be­schrän­kun­gen des eu­ro­päi­schen Na­tio­nal­staats­sys­tems zu über­neh­men. Ab einem ge­wis­sen Punkt wird China nicht mehr im sel­ben Maße dazu ver­pflich­tet sein. Das meine ich durch­aus nicht als Dro­hung, es wird ein­fach frei­er sein, sich sei­nem Selbst­ge­fühl ent­spre­chend aus­zu­drü­cken. Also ver­su­chen Sie sich vor­zu­stel­len, dass sich im Her­zen des glo­ba­len Sys­tems etwas be­fin­det, das in ers­ter Linie ein Zi­vi­li­sa­ti­ons­staat ist. Wie wird das die Funk­ti­ons­wei­se un­se­rer Welt än­dern? Wie wird das die Nor­men und Werte der in­ter­na­tio­na­len Re­gie­rungs­füh­rung be­ein­flus­sen, die Art und Weise, in denen De­bat­ten und Dis­kus­sio­nen in allen mög­li­chen Be­lan­gen ge­führt wer­den, ein­schlie­ß­lich der Rechts­be­grif­fe?

So­viel für den Mo­ment zum Zi­vi­li­sa­ti­ons­staat. Dabei han­delt es sich um ein wirk­lich grund­le­gen­des Kon­zept. Ich werde spä­ter dar­auf zu­rück­kom­men, und zwar im Zu­sam­men­hang mit den Be­grif­fen ›Rasse‹ und ›Staat‹. Doch bevor ich das tue, möch­te ich etwas zum Tri­but­sys­tem sagen. Das ist für mich das zwei­te Cha­rak­te­ris­ti­kum Chi­nas, das es als sehr ver­schie­den von der west­li­chen Er­fah­rung de­fi­niert.

Wie Sie viel­leicht wis­sen, ge­hör­ten Nord­ost­asi­en, Süd­ost­asi­en, In­do­chi­na und China, wie­der­um un­ge­fähr bis vor hun­dert Jah­ren, zu einem Sys­tem von Tri­but­staa­ten, in des­sen Zen­trum sich China be­fand. Chi­nas Vor­herr­schaft war über­wäl­ti­gend. In kul­tu­rel­ler und öko­no­mi­scher Hin­sicht ver­kör­per­te es, wenn sie so wol­len, eine tiefe in­ne­re Qua­li­tät im Her­zen des Sys­tems. Es han­del­te sich um eine Art von sym­bo­li­schem Sys­tem. Herr­scher zoll­ten dem Kai­ser Tri­but und er­hiel­ten im Ge­gen­zug ge­wis­se For­men von Teil­ha­be, Zu­gang zum chi­ne­si­schen Markt usw. Das Sys­tem war sehr fle­xi­bel. Im Laufe der Zeit hat es ver­schie­dens­te Neu­auf­la­gen er­lebt. Im Ver­hält­nis zu Japan war diese Be­zie­hung immer sehr viel fle­xi­bler als zum Bei­spiel mit Blick auf die ko­rea­ni­sche Halb­in­sel. Die­ses Sys­tem hatte für min­des­tens zwei­tau­send Jahre Be­stand, wenn nicht sogar län­ger. Am Ende des 19. Jahr­hun­derts, mit der zu­neh­men­den wirt­schaft­li­chen Schwä­chung des Qing-Rei­ches und dem Er­schei­nen des eu­ro­päi­schen und ja­pa­ni­schen Ko­lo­nia­lis­mus, hörte es schlie­ß­lich auf zu be­ste­hen. Dies scheint das Ende des Tri­but­sys­tems ge­we­sen zu sein.

Nun las­sen Sie uns auf die­ses Dia­gramm schau­en [vgl. Jac­ques 2009, S. 282]. Es hat uns etwas Wich­ti­ges mit­zu­tei­len. Die­ses Dia­gramm zeigt, wie sich der Ex­port­an­teil un­ter­schied­li­cher Län­der in Asien, der vom chi­ne­si­schen Markt auf­ge­nom­men wurde, in­ner­halb eines Zeit­raums von zwölf Jah­ren ge­än­dert hat. Zwölf Jahre sind eine recht kurze Pe­ri­ode. Die gelbe Linie mar­kiert das Jahr 1990, die an­de­re 2002. In die­sem kur­zen Zeit­ab­stand gibt es ein paar er­staun­li­che Än­de­run­gen. Tai­wans Ex­por­te stei­gen von 0 auf über 30%. Korea von 0 auf über 20%. Doch sogar in Süd­ost­asi­en, wei­ter ent­fernt, keine kon­fu­zia­ni­schen Ge­sell­schaf­ten, sind große Än­de­run­gen zu ver­zeich­nen. China nimmt enor­me, ste­tig stei­gen­de Ex­por­te aus die­sen Län­dern auf. Letz­tes Jahr hat der chi­ne­si­sche Markt den ame­ri­ka­ni­schen als Ja­pans grö­ß­ten Ex­port­markt über­trof­fen. Was sagt uns das? Es sagt uns, dass sich die asia­ti­sche Wirt­schaft auf China zen­triert. In wach­sen­dem Maße or­ga­ni­siert sie sich um China herum. China er­setzt Japan, und zwar im Ver­gleich zur zuvor vor­herr­schen­den Si­tua­ti­on auf eine an­de­re Weise. Die­ser Pro­zess wird, wie ich glau­be, an­hal­ten, eine sehr viel fort­ge­schrit­te­ne­re Form an­neh­men und die Ent­wick­lung eines neuen zwi­schen­staat­li­chen Sys­tems in Ost­asi­en be­för­dern. Man könn­te also sagen, bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts han­del­te es sich um das Sys­tem der Tri­but­staa­ten, in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts um ein vom West­fä­li­schen Sys­tem ge­form­tes Ko­lo­ni­al­sys­tem, in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts um eine Art von West­fä­li­schem Sys­tem. Was wir nun sehen, ist die Re­stau­ra­ti­on ei­ni­ger Cha­rak­te­ris­ti­ka des Sys­tems der Tri­but­staa­ten, denn, Sie er­in­nern sich an das oben Ge­sag­te, eine grund­le­gen­de Ei­gen­schaft des Tri­but­sys­tems, die Vor­be­din­gung dafür, war die über­wäl­ti­gen­de Vor­herr­schaft Chi­nas in der Re­gi­on. Diese Ei­gen­schaft bil­det sich ge­gen­wär­tig wie­der her­aus, und sie wird po­li­ti­sche und kul­tu­rel­le Aus­wir­kun­gen haben: Glau­ben Sie etwa ernst­haft, Eng­lisch werde für immer die lin­gua franca sein? Na­tür­lich ist das mög­lich, aber ich glau­be nicht, dass das der Fall sein wird. Dinge stei­gen auf und fal­len. Bis­lang brauch­te jede Spra­che ein för­dern­des Land um so wich­tig zu wer­den. Eng­lisch wird ver­mut­lich eine wich­ti­ge Spra­che blei­ben. Zur­zeit ist sie ja die do­mi­nie­ren­de lin­gua fran­ca in der Re­gi­on. Aber ich denke, Man­da­rin wird eine sehr wich­ti­ge Spra­che wer­den. In Süd­ko­rea und Thai­land wird sie zum Bei­spiel schon in der Schu­le als Ver­kehrs­spra­che an­ge­bo­ten. Der ma­lay­si­sche Kul­tus­mi­nis­ter gab im Au­gust be­kannt, Ma­lay­sia über­le­ge, Man­da­rin an den Schu­len ein­zu­füh­ren. Das ist ein ab­so­lut fas­zi­nie­ren­der Pro­zess. Wir könn­ten hier, ne­ben­bei be­merkt, auch noch Aus­tra­li­en an­füh­ren, das selbst­ver­ständ­lich nie­mals Teil des Tri­but­sys­tems ge­we­sen ist. Aber Aus­tra­li­en spie­gelt diese Ent­wick­lung eben­falls wider, denn es wird un­auf­halt­sam in die chi­ne­si­sche öko­no­mi­sche Ein­fluss­sphä­re hin­ein­ge­zo­gen – in ge­wis­sem Sinne stram­pelnd und schrei­end, denn sei­nem Selbst­ver­ständ­nis nach ist es west­lich, und his­to­risch ge­se­hen han­del­te es sich um eine sehr ras­sis­ti­sche Ge­sell­schaft, was es in man­cher­lei Hin­sicht heute noch ist. Wie Aus­tra­li­en mit die­ser Si­tua­ti­on um­ge­hen wird, bleibt eine sehr in­ter­es­san­te Frage. Ähn­li­ches gilt für Neu­see­land.

Ich be­haup­te nicht, dass das, was wir sehen wer­den, auf eine Re­stau­ra­ti­on des alten Tri­but­sys­tems hin­aus­läuft. Das wird si­cher nicht der Fall sein. Das Tri­but­sys­tem herrsch­te dort, als die Re­gi­on der be­kann­te Teil der Welt war. Heute exis­tiert sie auf­grund der Ex­port­struk­tur und der Wa­ren­strö­me in einem glo­ba­len Kon­text. Viele Ex­port­gü­ter sind Zwi­schen­pro­duk­te und Halb­fer­tig­wa­ren, die, wie etwa im Falle Süd­ko­reas, zur End­fer­ti­gung nach China ge­bracht wer­den, um von dort aus in an­de­re Märk­te z. B. die Nord­ame­ri­kas und Eu­ro­pas ex­por­tiert zu wer­den, daher soll­te dies in einem grö­ße­ren Zu­sam­men­hang ge­se­hen wer­den. Aber Ele­men­te des Tri­but­sys­tems könn­ten den­noch wie­der­her­ge­stellt wer­den. David Kang, ein chi­ne­sisch-ame­ri­ka­ni­scher His­to­ri­ker brach­te zwei Ar­gu­men­te vor, denen ich zu­stim­me. Zu­nächst ein­mal, sagte er, die Men­ta­li­tät, die das Tri­but­sys­tem her­vor­ge­bracht habe, sei nie­mals wirk­lich ver­schwun­den, sie sei »unter die Erde« ge­gan­gen. Wäh­rend der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts habe sie di­rekt unter der Ober­flä­che wei­ter­exis­tiert, und zwar so­wohl bei den Chi­ne­sen als auch in den be­nach­bar­ten Län­dern. Der Grund wes­halb ich auch davon über­zeugt bin, dass sie nie ver­schwun­den ist, be­steht darin, dass ich glau­be, dass Ideen, die Tau­sen­de von Jah­ren exis­tiert haben, nie­mals ein­fach so ver­schwin­den. Sie dau­ern fort, wenn­gleich in neuen For­men und Zu­sam­men­hän­gen.

Und die an­de­re Sache ist: Viele Ex­per­ten für in­ter­na­tio­na­le An­ge­le­gen­hei­ten haben 1990 vor­aus­ge­sagt, dass die Län­der in der Re­gi­on den Auf­stieg Chi­nas fürch­ten und des­halb ver­su­chen wür­den sich ab­zu­si­chern, indem sie sich stär­ker mit den Ver­ei­nig­ten Staa­ten ver­bün­den. Doch dies ist in­ter­es­san­ter­wei­se nie ein­ge­trof­fen. Die Vor­her­sa­gen waren falsch, ab­ge­se­hen von Japan unter Koizu­mi und mög­li­cher­wei­se Tai­wan, wie es sich die DPP vor­stell­te, aber diese Pe­ri­ode ist vor­bei. Alle an­de­ren Län­der ein­schlie­ß­lich ame­ri­ka­ni­scher Ver­bün­de­ter wie Sin­ga­pur, den Phil­ip­pi­nen und Thai­land – und selbst In­do­ne­si­en – haben der Auf­nah­me en­ge­rer Be­zie­hun­gen zu China die höchs­te Prio­ri­tät ein­ge­räumt. Warum? Nun, sie kön­nen sehen, woher der Wind weht. Wenn man in einer Re­gi­on wie die­ser lebt, in der Nach­bar­schaft eines Lan­des von sol­cher Größe, dann weiß man, was zu tun ist, um mit ihm aus­zu­kom­men. Doch es gibt noch einen an­de­ren Grund, der Teil der ›Gene‹ die­ser Re­gi­on ist: Es war immer eine geo­po­li­ti­sche Rea­li­tät, und das ist der fun­da­men­ta­le As­pekt des Sys­tems der Tri­but­staa­ten.

An die­ser Stel­le möch­te ich noch einen Punkt an­spre­chen. Er be­trifft die be­que­me Art und Weise, in der Leute im Wes­ten über die wach­sen­den Be­zie­hun­gen zwi­schen China und Afri­ka dis­ku­tie­ren. Gleich­gül­tig ob es sich um Jour­na­lis­ten oder Aka­de­mi­ker han­delt, oft heißt es: »Ah, der neue Ko­lo­nia­lis­mus!« Das ist allzu be­quem. Nicht, dass die Er­fah­rung des Ko­lo­nia­lis­mus über­haupt keine Be­deu­tung hätte, sie hat mög­li­cher­wei­se sogar eine große. Aber wir müs­sen uns daran er­in­nern, dass China nie­mals als Ko­lo­ni­al­macht in Er­schei­nung ge­tre­ten ist. Am nächs­ten kam das Ver­hal­ten Chi­nas dem Ko­lo­nia­lis­mus hier [scil. in West­chi­na, d. Ü]. Ich komme noch dar­auf zu spre­chen. Wäh­rend der Ming-Dy­nas­tie und spä­ter hatte China bei­spiels­wei­se die Mög­lich­keit, Süd­ost­asi­en zu ko­lo­nia­li­sie­ren, doch das tat es nicht. Statt­des­sen wähl­te es den Weg des Tri­but­sys­tems. Wenn man also die heu­ti­gen Be­zie­hun­gen zwi­schen China und Afri­ka ver­ste­hen will, und wir be­we­gen uns mo­men­tan immer noch an der Ober­flä­che die­ser Frage, dann soll­te man nicht mit dem Ko­lo­nia­lis­mus an­fan­gen. Ich würde mit den Er­fah­run­gen des Tri­but­sys­tems an­fan­gen, doch nicht, weil ich etwa an­näh­me, dass Afri­ka Teil eines neuen Tri­but­sys­tems wer­den könn­te, son­dern um das chi­ne­si­sche Den­ken, die chi­ne­si­sche Men­ta­li­tät zu ver­ste­hen. Und ich glau­be, hier haben wir ein Pro­blem. Der Wes­ten war wäh­rend der letz­ten 200 Jahre nicht nur in öko­no­mi­scher, po­li­ti­scher und ideo­lo­gi­scher Hin­sicht ma­ß­geb­lich, son­dern auch in in­tel­lek­tu­el­ler. Darum neh­men wir im Gro­ßen und Gan­zen an, dass die Kon­zep­te und Moden, die auf un­se­ren ei­ge­nen Er­fah­run­gen, un­se­ren ei­ge­nen Be­dürf­nis­sen un­se­rer ei­ge­nen Ge­schich­te ba­sie­ren, auch für alle an­de­ren gel­ten, weil wir der An­sicht sind, dass der Rest der Welt dem Wes­ten fol­gen werde. Aus den bei­den we­sent­li­chen Punk­ten mei­nes bis­he­ri­gen Vor­tra­ges, dem ›Zi­vi­li­sa­ti­ons­staat‹ und dem ›Sys­tem der Tri­but­staa­ten‹ kön­nen Sie be­reits er­se­hen, dass man China nicht mit west­li­chen Be­grif­fen ver­ste­hen kann. Die in­tel­lek­tu­el­le und po­li­ti­sche Faul­heit, die den Wes­ten cha­rak­te­ri­siert hat, zeigt, wie Cohen in sei­nem Buch [Paul A. Cohen: Dis­co­ver­ing His­to­ry in China: Ame­ri­can His­to­ri­cal Wri­ting on the Re­cent Chi­ne­se Past, New York 1984, d. Ü.] über den Blick der Ge­schichts­schrei­bung auf China schreibt, dass wir, die wir uns für so kos­mo­po­li­tisch hal­ten, furcht­bar pro­vin­zi­ell sind. Wir müs­sen wirk­lich aus die­ser Geis­tes­hal­tung her­aus­kom­men. Wir haben nie­mals an­ders als aus die­ser ver­in­ner­lich­ten Do­mi­nanz her­aus über diese Dinge nach­den­ken müs­sen.

Die drit­te Frage, die ich dis­ku­tie­ren möch­te, ist die der Rasse. Dies ist eine Frage, die nor­ma­ler­wei­se nicht auf­ge­wor­fen wird, nicht ein­mal im Hin­blick auf in­ter­na­tio­na­le Be­zie­hun­gen, be­son­ders dort nicht. Der Grund, wes­halb man sie nicht an­spricht, ist, sie ist zu be­deu­tend, zu hei­kel, zu sehr be­las­tet. Es ist si­che­rer sie in eine Schach­tel zu ste­cken und zu igno­rie­ren. Nun, jeder weiß, dass China über eine Be­völ­ke­rung von 1,3 Mil­li­ar­den Men­schen ver­fügt. Etwas über 90% die­ser Be­völ­ke­rung sehen sich in au­ßer­or­dent­li­cher Weise als ›die­sel­ben‹ an, als der­sel­ben Rasse zu­ge­hö­rig, als die ›Han‹. Ich sage ›au­ßer­ge­wöhn­lich‹ und es ist au­ßer­ge­wöhn­lich, wenn Sie an die nächst­fol­gen­den unter den be­völ­ke­rungs­reichs­ten Staa­ten der Welt den­ken: In­di­en, die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, In­do­ne­si­en, Bra­si­li­en, sie alle sind in höchs­tem Maße ›nicht-ras­sisch‹ [»ir­ra­ci­al«, d. Ü.] und sie den­ken auch so über sich. Nun könn­ten Sie sagen, okay, China ist also of­fen­kun­dig aus den Ras­sen her­vor­ge­gan­gen, die das Han-Volk bil­de­ten. Ja, das ist of­fen­sicht­lich der Fall. Aber der sprin­gen­de Punkt ist, dass die Chi­ne­sen so nicht den­ken. Sie den­ken sie sind we­sent­lich eine Rasse. Warum ist das so? Dies ist eine sehr, sehr wich­ti­ge Frage, wenn wir die chi­ne­si­sche Denk­wei­se ver­ste­hen wol­len. Man könn­te in der Tat viele Dinge dar­über sagen, doch las­sen Sie uns ein­fach zum Zi­vi­li­sa­ti­ons­staat zu­rück­keh­ren. Hier er­ken­nen Sie die Wich­tig­keit der chi­ne­si­schen Ge­schich­te, ins­be­son­de­re ihrer lan­gen Dauer. Zwei Pro­zes­se haben statt­ge­fun­den, der eine ge­prägt von Krieg, Kon­flikt, Be­set­zung, Ab­sorp­ti­on, Ad­ap­ti­on, As­si­mi­lie­rung, zwangs­wei­sen Um­sied­lun­gen durch die Re­gie­rung – nichts Neues in die­ser Pe­ri­ode, für viele Dy­nas­ti­en ein sehr wich­ti­ges In­stru­ment. All­mäh­lich ver­wisch­ten sich da­durch die Un­ter­schie­de zwi­schen den vie­len Völ­kern, die im öst­li­chen Teil Chi­nas leb­ten, bis zu dem Punkt, an dem die Ei­gen­schaf­ten, die sie ge­mein­sam hat­ten, be­deut­sa­mer wur­den als jene, die sie trenn­ten. Dies ist wie­der­um ein Cha­rak­te­ris­ti­kum des Zi­vi­li­sa­ti­ons­staa­tes, durch das sich China von an­de­ren be­völ­ke­rungs­rei­chen Län­dern un­ter­schei­det.

Der zwei­te Pro­zess, der damit ein­her­ging, war der Zi­vi­li­sa­ti­ons­pro­zess, denn letz­ten Endes ist ›Rasse‹ kein bio­lo­gi­sches son­dern ein kul­tu­rel­les Kon­strukt. In sei­nem Kern­land war eine sehr, sehr alte Zi­vi­li­sa­ti­on, die seit frü­hes­ter Zeit re­la­tiv fort­schritt­lich war. Zu­sam­men mit dem Frucht­ba­ren Halb­mond [das Ge­biet im Nor­den der ara­bi­schen Halb­in­sel zwi­schen der Le­van­te und dem Zwei­strom­land, eine der Ur­sprungs­re­gio­nen der Neo­li­thi­schen Re­vo­lu­ti­on, d. Ü.], ist China die erste Hei­mat von Sess­haf­tig­keit und Acker­bau. Sehr früh kam es zur Ent­wick­lung einer re­la­tiv kom­ple­xen Ge­sell­schaft, einer ideo­gra­fi­schen Spra­che, einer sehr an­spruchs­vol­len Li­te­ra­tur sowie der Her­aus­bil­dung staat­li­cher Früh­for­men. Kon­fu­zi­us schrieb un­ge­fähr zu der­sel­ben Zeit, vor zwei­ein­halb tau­send Jah­ren; der große Phi­lo­soph war da­mals der bei wei­tem fort­schritt­lichs­te Den­ker in Fra­gen der Re­gie­rungs­füh­rung. Eine der fas­zi­nie­rends­ten Tat­sa­chen über China ist, dass zwei der Dy­nas­ti­en der letz­ten bei­den Jahr­tau­sen­de keine Dy­nas­ti­en aus dem Han-Volk waren: Die Yuan waren Mon­go­len und die Qing-Man­dschu, In­va­so­ren aus dem Nor­den. Doch ins­be­son­de­re die Man­dschu wur­den na­tu­ra­li­siert, sie wur­den ›ha­ni­siert‹. Dies war die Macht, wenn Sie so wol­len, der chi­ne­si­schen Kul­tur, ihre Kraft, ihre re­la­tiv fort­ge­schrit­te­ne Natur. Die Vi­si­ten­kar­te Chi­nas ist nicht mi­li­tä­ri­sche Macht, es ist Kul­tur. Es gibt die­ses enor­me kul­tu­rel­le Selbst­ver­trau­en, das sich in sei­nen ne­ga­ti­ven For­men in einem Ge­fühl kul­tu­rel­ler Über­le­gen­heit aus­drückt und sich im­pli­zit, manch­mal auch ex­pli­zit, mit einer Nei­gung zum Ras­sis­mus ver­bin­det.

Dies also ist der Pro­zess, durch den das mo­der­ne China ent­stan­den ist. Jedes Land ver­fügt über einen Pro­zess eth­ni­scher Kon­struk­ti­on, und dies ist Chi­nas Pro­zess: die ›Ha­ni­sie­rung‹ Chi­nas. Die­ser Pro­zess hat eine große Stär­ke: Die chi­ne­si­sche Iden­ti­tät ist das, was das Land zu­sam­men­hält und einen sol­chen Zi­vi­li­sa­ti­ons­staat er­mög­licht. Er hat aber auch eine große Schwä­che, und das ist das ge­ring aus­ge­präg­te Ver­ständ­nis der Chi­ne­sen für kul­tu­rel­le Dif­fe­renz. Sie haben wenig Re­spekt für kul­tu­rel­le Dif­fe­renz, weil ihre ei­ge­ne his­to­ri­sche Er­fah­rung in der Art und Weise be­stand, wie frem­de Volks­grup­pen ›ha­ni­siert‹ wur­den. Am klars­ten kommt dies im west­li­chen Teil Chi­nas zum Vor­schein, der sehr viel spä­ter, ab dem 17. Jahr­hun­dert von den Qing, er­obert wurde, Xin­jiang und Tibet usw. Im End­ef­fekt grün­de­ten die Auf­stän­de der letz­ten zwei Jahre in die­sen Pro­vin­zen in den furcht­ba­ren Be­zie­hun­gen zwi­schen den Han und den Ui­gu­ren bzw. Ti­be­tern, die Ge­ring­schät­zung, die viele die­sen Völ­kern ent­ge­gen­brin­gen, das Ge­fühl, diese müss­ten auf ihr Ni­veau er­ho­ben wer­den. Des­halb ist das, was mich am meis­ten be­un­ru­higt, wenn ich an China als glo­ba­le Macht denke, nicht De­mo­kra­tie oder der­glei­chen. Ich will nicht sagen, dass das nicht wich­tig wäre. Es ist ein wich­ti­ges Thema, ob­wohl es in eine Rich­tung aus­schlägt, die wir nor­ma­ler­wei­se nicht dis­ku­tie­ren. Meine Sorge ist diese Hal­tung der Han, ihr schwach aus­ge­präg­ter Sinn für kul­tu­rel­le Dif­fe­renz in einer Welt die ge­kenn­zeich­net ist von kul­tu­rel­ler Dif­fe­renz.

Wenn ich über die Be­deu­tung der Eth­ni­zi­tät rede, dann be­zie­he ich mich al­ler­dings nicht aus­schlie­ß­lich auf China. Den­ken Sie an die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, an ihr Ver­hal­ten als glo­ba­le Macht. Was sind die Bau­stei­ne, um ihr Ver­hal­ten zu ver­ste­hen? Ich denke es sind: Weiße eu­ro­päi­sche Sied­ler, die Ver­nich­tung der ame­ri­ka­ni­schen In­dia­ner, die Rolle der afri­ka­ni­schen Skla­ve­rei, Ma­ni­fest De­sti­ny, die Ver­fas­sung, eine uni­ver­sel­le Mis­si­on und die Gren­ze (»fron­tier«, Gren­ze im ame­ri­ka­ni­schen Sinn einer De­sti­na­ti­on, die immer wei­ter hin­aus­zu­schie­ben ist, d. Ü). Dies, denke ich, führt zum Her­zen der Kon­struk­ti­on der USA, und Sie kön­nen sehen, wie fun­da­men­tal Eth­ni­zi­tät bei der Ent­ste­hung des mo­der­nen Ame­ri­ka war.

Das bringt mich zum vier­ten und letz­ten Punkt der Dif­fe­renz: dem chi­ne­si­schen Staat. Das Ver­hält­nis zwi­schen dem chi­ne­si­schen Staat und der chi­ne­si­schen Ge­sell­schaft ist sehr ver­schie­den von jed­we­der west­li­chen Norm oder, um es auf eine ›un­pro­vo­ka­ti­ve‹ Art zu sagen: Der chi­ne­si­sche Staat er­freut sich grö­ße­rer Au­to­ri­tät, grö­ße­rer Le­gi­ti­mi­tät, grö­ße­ren Re­spekts, grö­ße­rer Ehr­er­bie­tung als jed­we­der west­li­che Staat, und das ob­wohl dort nie­mals je­mand in un­se­rem Sinne seine Stim­me ab­ge­ge­ben hat. Warum? Ich denke, dafür gibt es zwei Grün­de. Ers­tens: Der chi­ne­si­sche Staat wird von den Chi­ne­sen als Ver­kör­pe­rung, als Be­wah­rer und Wäch­ter der chi­ne­si­schen Zi­vi­li­sa­ti­on ge­se­hen. Das ist die ent­schei­den­de Rolle des Staa­tes in den Augen der Chi­ne­sen. Des­halb liegt in China die Le­gi­ti­mi­tät beim Staat. Der an­de­re Grund ist, dass, an­ders als in Eu­ro­pa oder Ame­ri­ka, die Au­to­ri­tät des Staa­tes in den letz­ten tau­send Jah­ren kei­nen ernst­haf­ten Her­aus­for­de­rer ge­habt hat. Der eu­ro­päi­sche Staat muss­te sich mit Hän­den und Füßen weh­ren, um seine Au­to­ri­tät als welt­li­che Kör­per­schaft zu eta­blie­ren, zu­nächst gegen die Kir­che, dann gegen Teile der Aris­to­kra­tie, dann gegen die Bür­ger und schlie­ß­lich gegen die Händ­ler, und all das fin­det sich ko­di­fi­ziert in den Ge­set­zen über einen lan­gen, lan­gen ge­schicht­li­chen Zeit­raum. Dies hat für China nie­mals zu­ge­trof­fen. Die Macht des chi­ne­si­schen Staa­tes hatte nie klare Gren­zen. Wenn wir die Klam­mer­funk­ti­on des chi­ne­si­schen Staa­tes ver­ste­hen wol­len, müs­sen wir diese bei­den Ge­sichts­punk­te be­rück­sich­ti­gen, und auch wenn wir über De­mo­kra­tie dis­ku­tie­ren, müs­sen wir in einer sehr viel grund­sätz­li­che­ren Weise die Natur des chi­ne­si­schen Staa­tes ver­ste­hen. Ich denke, Staat kon­sti­tu­iert sich auf eine fun­da­men­tal an­de­re Weise als im Wes­ten. Wel­che bes­ser ist? Ich weiß es nicht. Sie sind eben un­ter­schied­lich. Wir kön­nen nicht sagen, wel­che bes­ser ist, es han­delt sich ein­fach um grund­sätz­lich an­de­re his­to­ri­sche Er­fah­run­gen über einen sehr, sehr lan­gen Zeit­raum hin­weg. Wird China mit der Zeit of­fe­ner wer­den, ver­ant­wort­li­cher, de­mo­kra­ti­scher? Ja, mög­li­cher­wei­se, ich weiß es nicht. Aber doch, ich denke, das wird es. Mög­li­cher­wei­se wird es ir­gend­wann ein­mal eine Form von all­ge­mei­nem Wahl­recht, eine Art Mehr­par­tei­en­sys­tem geben. Doch selbst dann er­war­te ich nicht, dass eine chi­ne­si­sche De­mo­kra­tie ge­nau­so funk­tio­nie­ren wird wie die west­li­chen. Wir sind an­ma­ßend in Bezug auf die De­mo­kra­tie. Wir den­ken, wir könn­ten sie über­all­hin ver­pflan­zen, un­ge­ach­tet der Tat­sa­che, dass sie sich unter sehr spe­zi­fi­schen Be­din­gun­gen ent­wi­ckelt hat. Auch für Japan gilt, dass die Le­gi­ti­mi­tät sich nicht in Be­grif­fen der Volks­sou­ve­rä­ni­tät be­schrei­ben lässt, son­dern beim Staat liegt, und dies gilt in noch viel grö­ße­rem Maße für China. Wenn Sie üb­ri­gens ein Bei­spiel wün­schen, dass Wah­len und Wahl­recht nicht un­be­dingt zu grö­ße­rer Le­gi­ti­mi­tät füh­ren, dann neh­men sie den ita­lie­ni­schen Staat: Die Ita­lie­ner hat­ten mehr Wah­len als ich warme Mahl­zei­ten hatte. Sie hal­ten stän­dig Wah­len ab – und haben schlie­ß­lich je­man­den als Pre­mier­mi­nis­ter be­kom­men, der den Staat für seine per­sön­li­chen Ziele in Be­schlag nimmt. Wieso? Weil die Ita­lie­ner nie­mals ge­glaubt haben, dass der Staat der le­gi­ti­me Aus­druck des ge­sam­ten ita­lie­ni­schen Vol­kes ist. Sie kön­nen die Frage der Re­gie­rungs­füh­rung und was gut ist, nicht auf die Frage von Wah­len und De­mo­kra­tie re­du­zie­ren. Das ist eine ba­na­le Denk­wei­se.

Zum Schluss möch­te ich noch rasch vier Punk­te vor­brin­gen. Zu­rück zum Auf­stieg Chi­nas. – Ers­tens: Die glo­ba­le Fi­nanz­kri­se ist be­reits ein An­zei­chen für die Ver­schie­bung der öko­no­mi­schen Vor­herr­schaft von den Ver­ei­nig­ten Staa­ten nach China, denn ein ele­men­ta­rer Grund liegt mei­nes Er­ach­tens im wach­sen­den Un­ver­mö­gen der USA, die in­ter­na­tio­na­le Wirt­schafts­ord­nung zu ga­ran­tie­ren, die sie nach dem Zwei­ten Welt­krieg ins Leben ge­ru­fen haben und deren grö­ß­ter Nutz­nie­ßer sie waren. Wir haben es also be­reits mit einer grund­le­gen­den Krise zu tun, die zu­neh­mend erns­ter wird, und man kann alle mög­li­chen Sym­pto­me sehen, die auf einen Nie­der­gang der ame­ri­ka­ni­schen Welt­ord­nung hin­deu­ten. Und als Al­ter­na­ti­ve zeich­net sich ganz klar der Auf­stieg Chi­nas ab.

Zwei­tens: John Iken­ber­ry (ame­ri­ka­ni­scher Pro­fes­sor für in­ter­na­tio­na­le Be­zie­hun­gen, d. Ü.) ar­gu­men­tiert, dass die von Ame­ri­ka ge­schaf­fe­ne in­ter­na­tio­na­le Ord­nung hin­rei­chend offen, in­te­gra­ti­ons­fä­hig und fle­xi­bel sei, so dass sie jed­we­de neu hin­zu­kom­men­de Macht in­te­grie­ren könne. Mir ist na­tür­lich klar, dass das eine grobe Ver­ein­fa­chung ist, aber ich habe meine Zwei­fel, dass es zu­trifft. Zu­nächst ein­mal wird es tech­ni­sche Ver­än­de­run­gen in der öko­no­mi­schen Ar­chi­tek­tur geben: Si­cher­lich wird der IWF all­mäh­lich re­for­miert wer­den, eben­so wie mög­li­cher­wei­se die Welt­bank. Doch der IWF ist oh­ne­hin nicht mehr zeit­ge­mäß, ähn­lich den G7, die von den G20 er­setzt wur­den. Ob­wohl die Mit­tel des IWF auf­ge­stockt wer­den usw., ist er nicht als eine zen­tra­le In­sti­tu­ti­on aus dem Re­form­pro­zess her­vor­ge­gan­gen; er ist eine schwä­cher wer­den­de In­sti­tu­ti­on. Und wenn, wie ich in­ner­halb des nächs­ten Jahr­zehnts er­war­te, in Asien ein ei­ge­ner asia­ti­scher Wäh­rungs­fond mit China als Herz­stück und Japan in einer wich­ti­gen Rolle ins Leben ge­ru­fen wer­den wird, so wird der IWF in einer der öko­no­misch wich­tigs­ten Welt­re­gio­nen nicht mehr von Be­lang sein. Der asia­ti­sche Wirt­schafts­raum ist grö­ßer als die USA und Eu­ro­pa.

Die Welt­bank ist be­reits heute hin­sicht­lich ihrer Kre­di­te und Hil­fen für Afri­ka we­ni­ger wich­tig als China. Wir sehen also be­reits den Zu­sam­men­bruch die­ser Ord­nung und ihrer In­sti­tu­tio­nen in einem zwei­glei­si­gen oder sogar mehr­glei­si­gen Pro­zess, in dem ei­ner­seits die In­sti­tu­tio­nen re­for­miert wer­den, so dass sie ihre Be­deu­tung, wenn­gleich eine schwin­den­de, be­hal­ten wer­den, und gleich­zei­tig neue In­sti­tu­tio­nen ins Leben ge­ru­fen wer­den und eine neue Ord­nung ent­steht, wel­che in ers­ter Linie die Mul­ti­po­la­ri­tät der Welt re­flek­tie­ren wird, aber eben­so auch den Auf­stieg Chi­nas.

Drit­tens: Ich glau­be, der Nie­der­gang der USA ist un­um­kehr­bar. In ge­wis­ser Hin­sicht geht es sich nicht ein­fach um Ge­or­ge W. Bush oder darum, ob die­ser oder jener Prä­si­dent im Amt ist. Ich sage nicht, dass das keine Rolle spielt, aber ich glau­be, wir sind Zeuge einer jener sel­te­nen his­to­ri­schen Wäh­rungs­ver­schie­bun­gen, deren Grün­de wir nicht ver­ste­hen. Ver­mut­lich wer­den wir in hun­dert Jah­ren immer noch dis­ku­tie­ren, worum es sich ei­gent­lich ge­han­delt hat, und was die Grün­de dafür waren. Aber ich denke, es han­delt sich um einen un­er­bitt­li­chen Pro­zess.

Und schlie­ß­lich denke ich, dass China in der kom­men­den in­ter­na­tio­na­len Ord­nung zwar ein do­mi­nie­ren­der Ak­teur sein wird, doch ins­ge­samt wird die Lage kom­pli­zier­ter sein, In­di­en wird eben­falls ein wich­ti­ger Ak­teur sein, Ame­ri­ka wird wich­tig blei­ben usw. Doch China wird das Herz­stück die­ser neuen Ord­nung bil­den, und des­halb ist der Ver­such, China zu ver­ste­hen, wie wir es noch nie zuvor in der Ge­schich­te ver­stan­den haben, so we­sent­lich, wenn wir ver­su­chen wol­len, die Welt, die sich ab­zu­zeich­nen be­ginnt, zu ver­ste­hen. – Vie­len Dank!


Fragerunde

Mi­cha­el Cox: Ich denke, das war gro­ßar­tig, Mar­tin, grö­ß­ten­teils kann ich zu­stim­men. Was aber die Schluss­fol­ge­run­gen an­geht, die du na­he­legst, lass mich ein­mal sagen, ich bin eine Art ame­ri­ka­ni­scher Rea­list, sitze auf die­sem im Nie­der­gang be­find­li­chen He­ge­mon, dem Ende des ame­ri­ka­ni­schen Im­pe­ri­ums, des ame­ri­ka­ni­schen Jahr­hun­derts, und ich höre Mar­tin Jac­ques zu und ich grei­fe nach mei­ner Ka­no­ne – oder ich grei­fe nach mei­nen Sank­tio­nen oder mei­nen Ein­däm­mungs­stra­te­gi­en. Du hast zwar den Be­griff nicht ins Spiel ge­bracht, aber mir er­scheint diese Sicht auf die künf­ti­ge Welt­ord­nung doch sehr von Pes­si­mis­mus ge­prägt. Wahr­schein­lich wür­dest du das ver­nei­nen, aber ich denke, deine Ana­ly­se ist sehr pes­si­mis­tisch, und zwar so­wohl kon­zep­tio­nell als auch in­halt­lich. Du stützt deine Ar­gu­men­ta­ti­on grö­ß­ten­teils auf Ge­schich­te, aber wenn Ge­schich­te über­haupt etwas be­deu­tet, Leh­ren für uns be­reit­hält, dann die, dass, wenn große Mäch­te auf­ge­stie­gen sind, dies un­ver­meid­lich und tra­gi­scher­wei­se zu Krie­gen ge­führt hat. Der Auf­stieg Frank­reichs zum do­mi­nie­ren­den He­ge­mon führ­te zu den Na­po­leo­ni­schen Krie­gen. Des­glei­chen Deutsch­land in Eu­ro­pa, Japan, ja, selbst die Ur­sprün­ge des Kal­ten Krie­ges kön­nen teil­wei­se in die­sen Be­grif­fen auf­stre­ben­der Macht be­schrie­ben wer­den. Des­halb halte ich deine Pro­gno­se für pes­si­mis­tisch, denn wie kann man die ge­schicht­li­chen Kon­se­quen­zen ver­mei­den, so­fern Ge­schich­te über­haupt etwas be­deu­tet, was ganz si­cher der Fall ist.

Der zwei­te Grund für mei­nen Pes­si­mis­mus ist dein Ar­gu­ment der chi­ne­si­schen Be­son­der­heit, die sich nur sehr schwer in­te­grie­ren lasse. In die­sem Zu­sam­men­hang hast du John Iken­ber­ry at­ta­ckiert, der eine nette, fried­vol­le Welt­ord­nung sehen möch­te, eine li­be­ra­le Welt­ord­nung. Ame­ri­ka ver­sucht China in diese fried­li­che Ord­nung zu in­te­grie­ren, um uns die Trans­for­ma­ti­ons­kos­ten zu er­spa­ren, die der Auf­stieg einer neuen Macht üb­li­cher­wei­se mit sich bringt. Mir scheint, du hast ge­sagt, dass China so an­ders ist, dass es diese Re­geln nicht ak­zep­tie­ren wird. Es mag eine Weile mit­spie­len, aber es wird sich nicht für immer daran hal­ten. Des­halb scheint mir deine Ana­ly­se einen dop­pel­ten Pes­si­mis­mus zu be­inhal­ten.

Jac­ques: Das hängt teil­wei­se davon ab, durch wel­che Bril­le man es be­trach­tet. Ich sehe den Auf­stieg Chi­nas und In­di­ens als das Beste an, was der Welt in den letz­ten zwei­hun­dert Jah­ren pas­siert ist. Der Ge­dan­ke, dass wir in ir­gend­ei­ner Weise glück­lich damit sein kön­nen, wie die Welt in den letz­ten bei­den Jahr­hun­der­ten auf der Grund­la­ge von Ko­lo­ni­sa­ti­on und Be­herr­schung der Ent­wick­lungs­län­der durch einen der­art klei­nen Teil der Mensch­heit ge­führt wurde, wie ihn die eu­ro­päi­sche und ame­ri­ka­ni­sche He­ge­mo­nie re­prä­sen­tie­ren, [kann einen kaum zu­frie­den­stel­len]. Ich sehe den Auf­stieg Chi­nas und In­di­ens als grö­ß­ten, ein­zel­nen Akt der De­mo­kra­ti­sie­rung in­ner­halb der letz­ten zwei­hun­dert Jahre an. – Ich stim­me dafür. Dies soll­te als Grund­li­nie [der Ant­wort] ver­stan­den wer­den.

Na­tür­lich hast du ab­so­lut recht, dass his­to­risch ge­se­hen der Auf­stieg einer neuen Macht, der Nie­der­gang einer be­ste­hen­den Macht ein ge­fähr­li­cher Zeit­ab­schnitt ist, und ich stim­me Dir zu, wir leben in einer po­ten­ti­ell ex­trem ge­fähr­li­chen Zeit. Auch hät­test du dein Ar­gu­ment noch stär­ker ma­chen kön­nen: Bis­her ging die Macht von Japan aus, es gab ein paar Rei­be­rei­en hier und da; his­to­risch ge­se­hen je­doch teil­ten die be­tei­lig­ten Län­der eine Menge mit­ein­an­der. China teilt diese Art his­to­ri­scher oder kul­tu­rel­ler Last nicht, was na­tür­lich An­lass zu vie­len Miss­ver­ständ­nis­sen geben kann.

Den­noch glau­be ich, dass es auch ei­ni­ges Er­mu­ti­gen­de gibt. Wenn man sich den Zeit­raum vom Mao­is­mus bis zur Re­form­pe­ri­ode an­schaut, dann sind, un­ge­ach­tet aller Wech­sel im Prä­si­den­ten­amt und auf dem Pos­ten des Ge­ne­ral­se­kre­tärs, die Be­zie­hun­gen zwi­schen den USA und China seit den sieb­zi­ger Jah­ren [des vo­ri­gen Jahr­hun­derts] er­staun­lich sta­bil ge­we­sen. Wir reden schlie­ß­lich nicht über den Kal­ten Krieg. Das Ver­hält­nis glich nie dem zwi­schen der So­wjet­uni­on und den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Bei­den Sei­ten ge­bührt große An­er­ken­nung dafür. Wenn sich jetzt al­ler­dings das Kräf­te­ver­hält­nis än­dert, könn­te diese Be­zie­hung sich ver­än­dern oder zer­bre­chen, daher würde ich nicht sagen, dass wir die Ver­gan­gen­heit ein­fach fort­schrei­ben kön­nen. Aber wir haben zu­min­dest einen er­mu­ti­gen­den An­satz, wir kön­nen das als einen Ak­tiv­pos­ten be­trach­ten, der hof­fent­lich nicht ver­schwen­det wer­den wird.

Der an­de­re Punkt ist: Wie wird China sei­nen Auf­stieg sehen, wie wird es sich in sei­nem Auf­stieg ver­hal­ten? Und hier sind eben­falls zwei As­pek­te zu be­ach­ten. Ers­tens: Chi­nas gan­zes Be­stre­ben seit Be­ginn der Re­form­pe­ri­ode war auf das Wirt­schafts­wachs­tum aus­ge­rich­tet. Über­win­dung der Armut und öko­no­mi­sche Mo­der­ni­sie­rung ge­nie­ßen höchs­te Prio­ri­tät, und alles, was davon ab­len­ken könn­te, jedes mög­li­che Hin­der­nis, etwa in der Hal­tung der USA, muss durch ein gutes Ver­hält­nis ver­mie­den wer­den. China hat sein Haupt­au­gen­merk auf sein wirt­schaft­li­ches Fort­kom­men ge­rich­tet. Der ge­gen­wär­ti­ge Auf­stieg Chi­nas, der Nie­der­gang der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, wird keine mi­li­tä­ri­sche Frage sein, son­dern eine öko­no­mi­sche. Das ist ein grund­sätz­li­cher Un­ter­schied zum Kal­ten Krieg: Es war ein­fach ein un­mög­li­ches Spiel, das für beide Sei­ten in einem furcht­ba­ren mi­li­tä­ri­schen Patt en­de­te.

Dies trifft auf die heu­ti­ge Si­tua­ti­on nicht mehr zu. Ei­ni­ge stür­zen sich jetzt dar­auf, dass China einen Flug­zeug­trä­ger be­sit­ze, aber, meine Güte, sogar Ita­li­en be­sitzt einen, von Groß­bri­tan­ni­en ganz zu schwei­gen. – Ein Land wie China, mit einer so gro­ßen Be­völ­ke­rung und einem der­art hohen Wirt­schafts­wachs­tum, sieht die Dinge sehr lang­fris­tig. In allen für das Land wich­ti­gen Be­zie­hun­gen kann China sagen: »Wir wer­den noch zehn Jahre ab­war­ten.« Wie wird das Ver­hält­nis zwi­schen China und den Ver­ei­nig­ten Staa­ten in zehn Jah­ren aus­se­hen? – Güns­ti­ger für China. Wie wird das Ver­hält­nis zwi­schen China und Japan sein? – Güns­ti­ger für China. Und das Ver­hält­nis zwi­schen China und Tai­wan? – Tat­säch­lich be­zah­len die Tai­wa­ne­sen be­reits heute den Preis. In zehn Jah­ren wird auch die­ses Ver­hält­nis sich wahr­schein­lich güns­ti­ger für China ent­wi­ckeln. Sie kön­nen also sehr lang­fris­tig pla­nen, wie es auch der chi­ne­si­schen Natur ent­spricht. Du kennst doch die alte Ge­schich­te mit Kis­sin­ger und Zhou Enlai – ich weiß nicht, ob sie sich wirk­lich so zu­ge­tra­gen hat – Kis­sin­ger fragt Zhou Enlai: »Was ist Ihre Sicht der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on?« Zhou Enlai ant­wor­tet: »Es ist zu früh, etwas dazu zu sagen.« Dies ist die Men­ta­li­tät des Zi­vi­li­sa­ti­ons­staa­tes. Mit der An­nä­he­rung an diese Hal­tung, füh­ren sie etwas ein, das ihrer Ge­schich­te und Kul­tur ent­spricht. Wir haben es also nicht ein­fach mit einer Wie­der­ho­lung des Ver­gan­ge­nen zu tun, son­dern müs­sen es ein wenig an­ders zu ver­ste­hen ver­su­chen.
Auch wenn ich in mei­ner Ar­gu­men­ta­ti­on sehr gro­ßen Wert auf die Un­ter­schie­de ge­legt habe, be­deu­tet das nicht, dass China nicht vom Wes­ten ler­nen würde. Das tut es selbst­ver­ständ­lich. Die chi­ne­si­sche Mo­der­ni­tät wird ge­nau­so ein Hy­brid sein wie die ja­pa­ni­sche, denn letzt­lich wird jede Ge­sell­schaft, die sich mo­der­ni­sie­ren will, vom Wes­ten ler­nen müs­sen – oder schei­tern. Japan hat das sehr er­folg­reich getan. China hat es ein­mal ver­fehlt, mit schreck­li­chen lang­fris­ti­gen Kon­se­quen­zen. Letzt­end­lich wird China nicht ein­fach in einem apo­ka­lyp­ti­schen Akt die Re­geln um­sto­ßen. Ich denke, das wird ein sehr lang­sa­mer Pro­zess sein. Ich glau­be nicht ein­mal, dass die ge­gen­wär­ti­ge chi­ne­si­sche Füh­rung über­haupt in die­sen Be­grif­fen denkt. Aber wie sieht es aus, wenn wir zwei oder drei Ge­ne­ra­tio­nen wei­ter sind und die Welt sehr viel an­ders aus­se­hen wird als jetzt?

Frage: Wenn Sie ge­zwun­gen wären, des Teu­fels Ad­vo­kat zu spie­len, gegen alles zu ar­gu­men­tie­ren, was sie hier ge­sagt haben, und alle Grün­de nen­nen müss­ten, die dem Auf­stieg Chi­nas ent­ge­gen­ste­hen könn­ten, sagen wir so­zia­le Auf­stän­de, Ein­flüs­se von der rus­si­schen Seite usw. Alles was den jetzt ein­ge­schla­ge­nen Weg, den Sie hier so über­zeu­gend be­schrie­ben haben, zum stop­pen brin­gen könn­te …

Mi­cha­el Cox: An­ders ge­fragt, was kann den Auf­stieg Chi­nas stop­pen?

Frage: Zwei kurze Fra­gen. An­ge­sichts des wech­sel­sei­ti­gen Pro­zes­ses des Auf­stiegs eines nicht­de­mo­kra­ti­schen Han-Chi­na und einer eu­ro­päi­schen Kul­tur und eines Kon­zepts von De­mo­kra­tie, das die­ser Be­dro­hung ein­deu­tig nichts ent­ge­gen­zu­set­zen hat: Was be­deu­tet das für den Auf­stieg einer Un­ter­klas­se in Eu­ro­pa, wel­che das De­mo­kra­tie­prin­zip im Hin­blick dar­auf, ob es der Masse der Be­völ­ke­rung hel­fen kann, di­rekt her­aus­for­dert? Und au­ßer­dem: Als je­mand der zuvor Her­aus­ge­ber einer füh­ren­den Mar­xis­ti­schen Zei­tung ge­we­sen ist: Wie haben die zu­rück­lie­gen­den bei­den De­ka­den Ihre Sicht­wei­se in Bezug auf den Nie­der­gang des Kom­mu­nis­mus in China und an­ders­wo ge­än­dert?

Frage: Sie er­wähn­ten den Nie­der­gang der ame­ri­ka­ni­schen Ord­nung. Be­deu­tet das, dass wir auch den Nie­der­gang des UN-Sys­tems er­le­ben wer­den, da die­ses doch unter der ame­ri­ka­ni­schen He­ge­mo­nie ent­stan­den ist? Der Welt­si­cher­heits­rat er­scheint mir als eine ziem­lich vi­sio­nä­re In­sti­tu­ti­on, da China darin einen stän­di­gen Sitz und somit eine wich­ti­ge Rolle zu spie­len hat. Wird er also eben­falls zer­fal­len oder hat er in einer Welt, die von China be­herrscht wird, eine Zu­kunft?

Frage: Of­fen­sicht­lich sind wirt­schaft­li­cher Er­folg und mi­li­tä­ri­scher Ein­fluss al­lein nicht genug für China, den Sta­tus als do­mi­nie­ren­de glo­ba­le Macht zu er­rin­gen oder zu be­hal­ten. Ich frage mich, Mr. Jac­ques, ob sie glau­ben, dass China die Soft Power haben wird, die nötig ist, um an die­sen Punkt zu ge­lan­gen. Denn wenn man auf große Zi­vi­li­sa­tio­nen wie die Grie­chen, das Rö­mi­sche Im­pe­ri­um oder die Ver­ei­nig­ten Staa­ten schaut, dann re­prä­sen­tie­ren sie alle etwas kul­tu­rell Ein­zig­ar­ti­ges, etwas, das über ihre Gren­zen hin­aus gehen konn­te, das grö­ßer war als sie selbst. Den­ken Sie, dass auch China etwas be­sitzt, das mög­li­cher­wei­se den Rest der Welt in­spi­rie­ren kann?

Jac­ques: Was den Auf­stieg Chi­nas stop­pen könn­te? – China selbst. Das wäre, glau­be ich, am wahr­schein­lichs­ten, wo­mög­lich im Zu­sam­men­wir­ken mit ex­ter­nen Ent­wick­lun­gen. Die große Stär­ke Chi­nas sind seine Größe und sein Zu­sam­men­halt, und seine große Schwä­che sind die Größe und Ver­schie­den­heit. Des­halb gibt es in China Pe­ri­oden, in denen es re­la­tiv stark zu­sam­men­hält und Pe­ri­oden, in denen es re­la­tiv stark frag­men­tiert ist. Wang Gung­wu hat dar­über ge­schrie­ben. Die Ge­schich­te ist sehr kom­plex, aber einer der Grün­de, wes­halb China nie­mals einen Ko­lo­nia­lis­mus, d. h. ein ma­ri­ti­mes Im­pe­ri­um wie die Eu­ro­pä­er – oder, im wei­tes­ten Sinne, die heu­ti­gen USA – ent­wi­ckelt hat, liegt darin, dass die Auf­recht­er­hal­tung des chi­ne­si­schen Staa­tes eine un­ge­heu­er auf­wen­di­ge Tä­tig­keit ist. Seine Ex­pan­si­on [in die Pro­vin­zen, die das heu­ti­ge West­chi­na bil­den, d. Ü.] stellt durch­aus eine Form von Ko­lo­ni­sa­ti­on dar. Aber kul­tu­rel­le Ex­pan­si­on ist nicht das­sel­be wie ma­ri­ti­me Ko­lo­ni­sa­ti­on, es gibt da wich­ti­ge Un­ter­schie­de. China hat sich selbst immer in die­sen Be­grif­fen ge­se­hen, daher ver­fügt es über eine an­de­re Welt­sicht als die Eu­ro­pä­er. Doch es gab Pe­ri­oden, in denen es sehr gut funk­tio­nier­te, wie auch sol­che, in denen In­tro­spek­ti­on und Im­plo­si­on über­wo­gen. Was könn­te Letz­te­res be­wir­ken? Im Mo­ment kann ich nichts er­ken­nen. Aber neh­men wir ein­mal an, die in­ne­re Qua­li­tät ge­rie­te völ­lig außer Kon­trol­le, die Span­nun­gen in der chi­ne­si­schen Ge­sell­schaft wür­den über­hand neh­men, die Füh­rung würde sich dar­über ent­zwei­en, wie dem zu be­geg­nen wäre – ge­spal­ten zwi­schen den un­ter­schied­li­chen In­ter­es­sen, wel­che die so­zia­len und öko­no­mi­schen Ver­än­de­run­gen re­prä­sen­tie­ren – bis hin zu einer Si­tua­ti­on, in der es so auf­rei­bend und schwie­rig würde, dass sie da­durch auf einer fund­men­ta­len Ebene zer­stört würde. Das Land würde sich von die­ser Re­form­pe­ri­ode ab­wen­den, die mög­li­cher­wei­se der am stärks­ten nach außen ge­rich­te­te Zeit­ab­schnitt der lan­gen chi­ne­si­schen Ge­schich­te ist, und würde sei­nen Blick ver­stärkt nach innen rich­ten. Etwas in die­ser Art.

Was die Frage nach der eu­ro­päi­schen De­mo­kra­tie an­geht: Ich bin in der de­mo­kra­ti­schen Tra­di­ti­on auf­ge­wach­sen und würde, wie jeder an­de­re auch, bei dem das der Fall ist, dafür kämp­fen, aber ich denke, dass wir dar­über ein­ge­bil­det, selbst­ge­fäl­lig und an­ma­ßend ge­wor­den sind, dass wir uns ihrer Pro­ble­me und Schwie­rig­kei­ten nicht mehr be­wusst sind. Wir hal­ten es für eine Art ku­ria­le Lö­sung: Wenn China nur de­mo­kra­tisch würde, wäre alles in Ord­nung, auch wenn seine Wirt­schaft mög­li­cher­wei­se auf­hö­ren würde zu wach­sen – was be­stimmt der Fall wäre. Un­se­re ge­sam­te Welt­sicht muss sich än­dern, denn bis­her war es eine west­zen­trier­te Sicht.

Dies bringt mich zum zwei­ten Punkt: Wie hat sich meine Sicht ge­än­dert? Je­mand in Bei­jing hat mir diese Frage auch ge­stellt, und ich finde sie sehr in­ter­es­sant. Wie sich meine Sicht in den letz­ten zwan­zig Jah­ren ge­än­dert hat? Ich habe auf­ge­hört zu glau­ben. Jeder, der Mar­xism Today ge­le­sen hat, weiß, dass die Zei­tung nie­mals ein stren­ger An­hän­ger der Linie des so­wje­ti­schen Kom­mu­nis­mus ge­we­sen ist. In un­se­rem mar­xis­ti­schen Teil ar­gu­men­tier­ten wir eher in der Art von Gram­sci. Doch wir waren von vie­len Rich­tun­gen be­ein­flusst, nicht nur mar­xis­ti­schen. Meine po­li­ti­sche Denk­wei­se hat sich seit den sech­zi­ger Jah­ren ge­än­dert, be­ein­flusst u. a. durch die Mai-Er­eig­nis­se in Paris und den Pra­ger Früh­ling. Die Lek­tü­re von Gram­sci war für mich sehr, sehr wich­tig. Zwar habe ich – wie auch sonst nie­mand – den Zu­sam­men­bruch der So­wjet­uni­on nicht kom­men sehen, aber ich war auch nicht be­stürzt dar­über, da ich das nie­mals für den Weg der Zu­kunft ge­hal­ten und per­sön­lich nichts in­ves­tiert hatte. Für das Ver­ständ­nis des­sen, wie meine Sicht sich ge­än­dert hat, sind zwei Dinge wich­tig: Zum einen: Mar­xism Today war ein hoch­gra­dig west­zen­trier­tes Jour­nal. Ich habe da­mals den Rest der Welt nicht ver­stan­den, denn mir fehl­ten die Res­sour­cen, das Geld und die Zeit zu rei­sen. Ich war ein Opfer mei­ner ei­ge­nen ideo­lo­gi­schen Bil­dung und mei­ner ei­ge­nen In­ter­es­sen. Erst ein paar Jahre nach­dem Mar­xism Today ein­ge­stellt wurde, 1993, reis­te ich pri­vat nach Ost­asi­en. Als ers­tes gilt also fest­zu­hal­ten: Alles, wor­über ich heute Abend ge­spro­chen habe, hätte ich vor zwan­zig Jah­ren nie­mals so ge­sagt. Damit meine ich nicht nur die his­to­ri­schen Ver­än­de­run­gen, son­dern auch meine Be­grif­fe. Die zwei­te Sache, die meine Sicht ver­än­dert hat, ist etwas sehr Per­sön­li­ches. 1993 traf ich meine Frau, die in­disch-ma­lay­si­scher Ab­stam­mung war. Sie trat in mein Leben, und ich lieb­te sie ab­göt­tisch. Ich lern­te etwas über meine Ge­sell­schaft, indem ich sie mit ihren Augen sah, einer Per­son an­de­rer Haut­far­be. Bis dahin dach­te ich, ich würde meine Ge­sell­schaft ken­nen, doch indem ich sie ken­nen­lern­te, einen Men­schen aus einem Ent­wick­lungs­land und einer frü­he­ren Ko­lo­nie, sah ich, dass das nicht der Fall war. Dann reis­ten wir nach Hong­kong, und sie er­fuhr eine große Menge chi­ne­si­schen Ras­sis­mus und letzt­end­lich starb sie in einem Kran­ken­haus auf­grund nach­läs­si­ger Be­hand­lung. Das war das De­sas­ter mei­nes Le­bens. Für fünf Jahre konn­te ich die Ar­beit an mei­nem Buch nicht fort­set­zen. Doch ich habe auch die Be­deu­tung von etwas ver­stan­den, das für mich als Wei­ßem nie­mals eine Rolle ge­spielt hat, außer viel­leicht in einem ge­wis­sen in­tel­lek­tu­el­len, eso­te­ri­schen Sinn, und das ist ›Rasse‹.

Die Ver­ein­ten Na­tio­nen haben von allen In­sti­tu­tio­nen wahr­schein­lich die bes­ten Aus­sich­ten zu über­le­ben, denn die UN um­fas­sen per de­fi­ni­tio­nem alle Na­tio­nen der Welt. Zwar han­delt es sich um ein Pro­dukt der ame­ri­ka­ni­schen Ord­nung, aber die Ame­ri­ka­ner haben sie als die­je­ni­ge be­trach­tet, die am meis­ten Pro­ble­me be­rei­tet, und sie über einen lan­gen Zeit­raum ein­fach igno­riert. Daher würde ich sagen, dass die Aus­sich­ten der UN gut sind, mög­li­cher­wei­se sogar bes­ser als zuvor.

Die Frage nach dem, was China der Welt zu geben ver­mag, ist sehr in­ter­es­sant. Ich würde es nicht ›Soft Power‹ nen­nen. Sie be­gan­nen mit die­sem Be­griff, aber dann lenk­ten Sie Ihre Frage in eine an­de­re, viel in­ter­es­san­te­re Rich­tung. Das Pro­blem mit der Soft Power ist, dass es sich um eine klas­si­fi­ka­to­ri­sche Idee han­delt. Gram­scis Kon­zept der He­ge­mo­nie bie­tet mei­ner An­sicht nach eine reich­hal­ti­ge­re Denk­wei­se, aber darum geht es hier ja nicht.

Ich glau­be, dass jedes Volk, jede Kul­tur ein ei­ge­nes Stück­chen Genie hat. Jede Kul­tur hat ihre ei­ge­ne Ori­gi­na­li­tät. In man­chen Fäl­len drückt sich das stär­ker aus als in an­de­ren, doch ich denke, wenn wir mit die­ser Vor­aus­set­zung an­fan­gen, wer­den wir in der Lage sein, die Welt viel bes­ser zu sehen, als wir das jetzt tun, denn wir hören auf, so viele Dinge zu igno­rie­ren, die Län­der und Völ­ker an­zu­bie­ten haben. Die chi­ne­si­sche Zi­vi­li­sa­ti­on hat das im Grun­de im Laufe ihrer lan­gen Ge­schich­te schon oft ge­zeigt. Den­ken sie an die gro­ßen Fort­schrit­te, die wäh­rend der Sung-, der Ming- oder der Tang-Dy­nas­tie statt­ge­fun­den haben.

Als ich mit Susan Shirk im Radio über ihr Buch Fra­gi­le Su­per­power sprach, sagte sie: »Ich glau­be nicht, dass China der Welt allzu viel zu bie­ten hat.« Mei­nes Er­ach­tens ist das ein schwer­wie­gen­des Miss­ver­ständ­nis. Was China tat­säch­lich an­zu­bie­ten hat, ist eine enorm reich­hal­ti­ge Ta­pis­se­rie von Ideen, Ge­lehr­sam­keit, eine li­te­ra­ri­sche Tra­di­ti­on, fa­mi­lia­le Or­ga­ni­sa­ti­ons­for­men, eine Tra­di­ti­on von Bil­dung, Er­zie­hung und staat­li­cher Re­gie­rungs­füh­rung. Wenn Sie die Idee staat­li­cher Kom­pe­tenz ver­ste­hen wol­len, schau­en Sie nicht auf den Wes­ten, schau­en Sie auf China. Aus mei­ner Sicht wird China ein gro­ßer Fun­dus an zi­vi­li­sa­to­ri­scher Weis­heit sein. Nicht, dass wir uns das ein­fach aus­bor­gen könn­ten, aber wir wer­den si­cher­lich davon ler­nen. Wir kön­nen es nur nicht ver­pflan­zen, wie wir auch un­se­re west­li­chen An­sich­ten nicht auf an­de­re trans­plan­tie­ren kön­nen, ob­wohl wir es nach bes­ten Kräf­ten ver­sucht haben. Wenn man aber ein wenig zu­rück­tritt und die Ge­schich­te der letz­ten vier­hun­dert Jahre im Gan­zen be­trach­tet, wür­den Sie dann ernst­haft die An­sicht ver­tre­ten, dass ein Land wie die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, das keine Vor­ge­schich­te vor der An­kunft der Pil­ger­vä­ter hatte, weil diese zer­stört wurde, tief­grün­di­ger sei als China? Las­sen Sie uns doch bitte ernst­haft blei­ben!

Frage: Wenn das, was Sie sagen, wahr ist, dass China die nächs­te Su­per­macht wird und nicht nur in öko­no­mi­scher Hin­sicht, son­dern auch in so­zia­ler und po­li­ti­scher an Ein­fluss ge­win­nen will, wür­den Sie dann, an­ge­nom­men Sie wären David Mi­li­band oder Hil­la­ry Clin­ton, sagen, dass deren Au­ßen­po­li­tik kor­rekt wäre, oder falls nicht, wie wür­den Sie sie än­dern?

Frage: Wie sehen Sie die Ent­wick­lung der wich­ti­gen wirt­schaft­li­chen Be­zie­hun­gen zwi­schen den Ver­ei­nig­ten Staa­ten und China, ins­be­son­de­re im Hin­blick dar­auf, dass mit den chi­ne­si­schen Er­spar­nis­sen ge­gen­wär­tig die ame­ri­ka­ni­sche Über­kon­sum­ti­on be­zahlt wird?

Jac­ques: Was das Au­ßen­mi­nis­te­ri­um an­geht, glau­be ich, es soll­te grö­ße­re An­stren­gun­gen un­ter­neh­men, über die sich ent­wi­ckeln­de Welt nach­zu­den­ken. Dabei geht es aber nicht nur um das Au­ßen­mi­nis­te­ri­um, es ist eben­so sehr ein Pro­blem der Me­di­en. Wie oft hören sie die Leute von der ›in­ter­na­tio­na­len Ge­mein­schaft‹ reden, wenn sie tat­säch­lich nur den Wes­ten mei­nen? Das ist un­er­hört! Was tut die in­ter­na­tio­na­le Ge­mein­schaft etwa im Falle Myan­mars? Ich be­vor­zu­ge die­sen Namen, denn außer uns be­nutzt nie­mand das Wort Burma, jeder in Ost­asi­en sagt Myan­mar. Tat­säch­lich gibt es in die­sem Fall nur drei Kräf­te, auf die es an­kommt: China, In­di­en und die ASEAN, dies wären die Schlüs­sel­ele­men­te der ›in­ter­na­tio­na­len Ge­mein­schaft‹. Wir müs­sen uns sehr viel stär­ker in die mög­li­che zu­künf­ti­ge Lage hin­ein­ver­set­zen. Ich bin sehr be­sorgt dar­über, denn nach mei­nem Ge­fühl wird Eu­ro­pa nicht ein­mal mehr im Spiel sein, wenn es so­weit kommt. Eu­ro­pa denkt nicht an die Zu­kunft, es ist kein Ak­teur im Hin­blick auf zu­künf­ti­ge Ent­wick­lun­gen. Es ist nur mit sich selbst be­schäf­tigt, und das be­reits über einen sehr, sehr lan­gen Zeit­raum hin­weg. Es lebt in einer Weise in sei­ner Ge­schich­te, die ver­hin­dert, dass es ver­steht, was vor sich geht. Ame­ri­ka ver­steht das, zu­min­dest Teile Ame­ri­kas nach mei­ner Er­fah­rung. Aber Eu­ro­pa macht mir Sor­gen. Es tut mir leid, das so zu sagen, da ich Brite bin, Eu­ro­pä­er. Dies wäre also meine Ant­wort, auch wenn es die Frage viel­leicht nicht ganz be­ant­wor­tet.

Danke dafür, dass mir als letz­te eine so ein­fa­che Frage ge­stellt wurde: Ich weiß es nicht. Es han­delt sich um ein sehr in­ter­es­san­tes Pro­blem: Was wer­den die Chi­ne­sen wegen der enor­men Re­ser­ven un­ter­neh­men die sie in US-Schuld­ver­schrei­bun­gen haben? Sie be­fin­den sich, wie Sie wis­sen, in einer Zwick­müh­le. Jeder sagt das. Wenn sie auf­hö­ren, Ihren Han­dels­über­schuss in US-Schuld­ver­schrei­bun­gen zu in­ves­tie­ren, wird der Dol­lar an Wert ver­lie­ren und damit auch ihre Re­ser­ven. Wenn Sie an­fan­gen, diese Re­ser­ven um­zu­schich­ten, wird der Dol­lar kol­la­bie­ren. Es gibt in die­ser Sache be­reits einen er­heb­li­chen Druck auf die chi­ne­si­sche Re­gie­rung in China selbst. »Warum ste­cken wir so viel Geld, das un­se­re Bau­ern sich hart er­spart haben, in Schul­den, die in US-Wäh­rung no­tiert sind?« Das ist eine gute Frage, aber sie ist ein Re­sul­tat des­sen, wie sich die Dinge im zu­rück­lie­gen­den Zeit­ab­schnitt ent­wi­ckelt haben. Die Chi­ne­sen wer­den sich recht­zei­tig nach neuen An­la­ge­mög­lich­kei­ten um­se­hen müs­sen. Je­mand trug mir letz­te Nacht einen in­ter­es­san­ten Vor­schlag vor. Ich bin nicht selbst dar­auf ge­kom­men, aber ich möch­te sei­nen Ge­dan­ken mit ihnen tei­len, weil er mir ge­fällt. Die­ser Mann sagte also, Roh­stof­fe seien für die Chi­ne­sen eine wich­ti­ge An­la­ge­mög­lich­keit, die a) nütz­lich wäre, da sie große Men­gen davon be­nö­tig­ten, und b) zu­min­dest in Form der sel­te­ne­ren auch als Wert­spei­cher die­nen könn­ten. Ich hielt das für einen sehr in­ter­es­san­ten Vor­schlag.

Aus dem Eng­li­schen über­tra­gen von Jörg Bü­sching