Martin
Jacques
When China
rules the World
Öffentlicher Vortrag an der London School of Economics IDEAS
13. Januar 2010
Einführung
von Jörg Büsching
Die Beschäftigung mit China hatte in
Europa ihre Konjunkturen, seit der
Reisebericht des Marco Polo die Phantasien von Herrschern, Priestern,
Händlern und Abenteurern anregte. Zwar stand dabei von Beginn an die
Ökonomie im Mittelpunkt, vor allem das europäische Interesse an
Erzeugnissen der hochentwickelten chinesischen Handwerkskunst, doch mit
den Missionsversuchen der katholischen Kirche entwickelte sich sehr
frühzeitig auch das Bedürfnis, die chinesische Kultur zu verstehen.
Seinen Höhepunkt erlebte die europäische Bewunderung für China im
Zeitalter der Aufklärung, als Schriftsteller und Philosophen wie
Voltaire das Staatswesen und sein durch Prüfungen rekrutiertes
gebildetes Beamtentum als Vorbild für ein Europa jenseits von
Feudalmacht und Ständeordnung entdeckten.
Von dieser Bewunderung ist wenig
geblieben, nachdem Industrialisierung
und Kolonialismus das globale Machtgleichgewicht zugunsten Europas und
seiner maritimen Imperien verschob (bevor diese im zwanzigsten
Jahrhundert von den USA beerbt wurden). Wenn etwa Friedrich Nietzsche
Kants Moralphilosophie als »Königsberger Chinesenthum« (KSE 6, S.177)
bezeichnet und durch die beginnende Arbeiterbewegung in Deutschland
seine Hoffnung enttäuscht sieht, »[…] dass hier sich eine bescheidene
und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande
herausbilde […]« (ebd. S. 142), dann kann man darin durchaus jene
hochmütige Attitüde erkennen, die sich das Bürgertum, einmal zur Macht
gelangt, vom gleichermaßen verhassten wie beneideten Adel borgte (eine
Haltung, nebenbei bemerkt, die gerade heute wieder in gewissen Kreisen
postmoderner und libertärer Provenienz fröhliche Urstände feiert).
Sowohl die idealisierte Sichtweise der
Aufklärer als auch die
nachfolgende bürgerliche Verachtung waren letztendlich vom
Eurozentrismus geprägte Versuche, die fremde Zivilisation in das eigene
Weltbild zu integrieren. Um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten
Jahrhundert gab es noch einmal eine Welle gesteigerten Interesses, als
Forscher wie der deutsche Sinologe Richard Wilhelm oder Autoren wie der
französische Arzt und Schriftsteller Victor Segalen das Reich der Mitte
bereisten und Übersetzungen chinesischer Werke sowie
Reisebeschreibungen mitbrachten. Nach dem zweiten Weltkrieg sank das
durch Kolonialismus und Bürgerkrieg gebeutelte bevölkerungsreichste
Land der Erde auf den Status eines Entwicklungslandes herab. Das reiche
kulturelle Erbe schien durch die maoistische Kulturrevolution dem
Untergang geweiht zu sein.
Die Globalisierung in ihrer heutigen
Form ist in erster Linie
Ökonomisierung. Kulturelle Fragen spielen in der von Großkonzernen
dominierten Welt der Finanz-, Waren- und Rohstoffmärkte keine Rolle –
dies jedenfalls die Meinung derer, die diese Entwicklung in den
Schaltzentralen der politischen und wirtschaftlichen Institutionen
vorantreiben. Genau an dieser Stelle setzt Martin Jacques’
Argumentation ein: Der sich abzeichnende ökonomische Aufstieg des
Reiches der Mitte werde eben doch politische und kulturelle
Veränderungen mit sich bringen, weshalb es darauf ankomme, die
zivilisatorische Andersartigkeit Chinas zu verstehen. Das ist für
jemanden, der bis 1991 Herausgeber der einflussreichsten marxistischen
Zeitschrift Großbritanniens gewesen ist, eine bemerkenswerte Wendung,
die er am Ende des Vortrages selbst mit teilweise sehr persönlichen
Erfahrungen erklärt.
Dennoch sollte das Persönliche nicht
überbewertet werden. Jacques
liefert nicht nur bedenkenswerte Thesen, die ein mehr und mehr sich in
eine Sackgasse aus Selbstgefälligkeit und technokratischer Ignoranz
manövrierendes Europa (und in besonderer Weise gilt dies vielleicht für
Deutschland) dringend nötig hat, seine Argumentation hebt sich vor
allem auch durch ihre Nüchternheit, ihren Witz und ihren historischen
und geopolitischen Weitblick von ähnlichen Betrachtungen ab, die
entweder nicht von der oben skizzieren eurozentrischen Überheblichkeit
wegkommen oder die politische Analyse durch moralische (Vor-)Urteile
ersetzen zu dürfen glauben.
Die Übersetzung erfolgte nach dem auf
der Homepage der London
School of
Economics veröffentlichten Tondokument
(http://richmedia.lse.ac.uk/publicLecturesAndEvents/20100113_1830_when
ChinaRulesTheWorld.mp3). Für die freundliche Erlaubnis dazu möchte
ich Martin Jacques sowie Frau Dr. Emilia Knight von der LSE ganz
herzlich danken. Ebenso danke ich dem Autor für seine geduldige Hilfe
bei Verständnisproblemen meinerseits. Sollten dennoch gravierende
Missverständnisse bzw. Abweichungen vom Original entdeckt werden, gehen
diese selbstverständlich ganz und gar auf mein Konto.
Bei Reden, insbesondere, wenn sie wie
diese mit Leidenschaft und Freude
am Argument vorgetragen werden, sind Redundanzen, Wiederholungen und
eingeschobene Bemerkungen unvermeidlich. Um der besseren Lesbarkeit
willen habe ich einzelne Formulierungen sprachlich ein wenig geglättet
und, wo es die Argumentation nicht verfremdet, durch Kürzungen
gestrafft. Ansonsten habe ich den Redecharakter soweit wie möglich zu
erhalten versucht, weil ich glaube, dass auch dies, die sprichwörtliche
englische Debattenkultur, zum Verständnis beiträgt. Von Anfang an wird
klar, dass hier nicht, im hohen akademischen Ton Wahrheiten verkündet,
sondern Denkanstöße gegeben werden, die, wie sich in der abschließenden
Fragerunde zeigt, auch ebenso lebhaft wie fair aufgegriffen werden.
Wo es m. E. Verständnisschwierigkeiten
geben könnte, habe ich in
eckigen Klammern zusätzliche Informationen eingefügt. Insbesondere ist
dies dort der Fall, wo sich der Autor auf Personen bezieht, die
hierzulande vielleicht nicht dieselbe Bekanntheit genießen wie im
angelsächsischen Raum, und an Stellen, an denen Jacques auf Karten und
Diagramme verweist, die er in seinem Vortrag verwendet hat. In dem Fall
habe ich die Seiten in seinem Buch (When
China Rules the World. The
Rise of the Middle Kingdom and the End of the Western World,
London
2009) angegeben, auf denen die entsprechenden Dokumente abgebildet sind.
Vortrag
Einleitung von Prof.
Michael Cox
Herzlich willkommen zum Ereignis dieses
Abends, organisiert von LSE
IDEAS. Für all jene, die es noch nicht wissen: IDEAS in
Großbuchstaben
bezeichnet das Zentrum
für das Studium von Diplomatie und Strategie
hier an der London
School of Economics. Wir betreiben es seit nunmehr
zwei Jahren. Ich bin einer der Ko-Direktoren. Der andere ist Professor
O. A. Westad, der auch hier im Publikum sitzt. Wir führen dieses aus
unserer Sicht spannende Projekt gemeinsam. Einer der Gründe, die es so
spannend machen, ist, dass wir so wundervolle Redner präsentieren
können – wie Martin Jacques, der heute Abend einen Vortrag mit dem
unverfänglichen Titel When
China Rules the World halten wird.
Wie Sie wissen, waren wir Experten in
den letzen zwanzig Jahren
geradezu traumhaft darin, Vorhersagen zu machen: Wir sagten das Ende
des Kalten Krieges nicht vorher – und doch fand es statt. Nach dem Ende
des Kalten Krieges sagten wir eine multipolare Weltordnung vorher, und
was erhielten wir? Wir erhielten ein Jahrzehnt der Unipolarität, von
einem neuen amerikanischen Jahrhundert war die Rede. Als Präsident
Bush, der weniger intelligente, im Jahr 2000 das Amt übernahm, was
beunruhigte ihn, wenn man sich seine Prognosen hinsichtlich der
nationalen Sicherheit ansieht: Aufstrebende Mächte. Und was bekam er am
11. September 2001? Nun, er bekam es nicht mit ›aufstrebenden Mächten‹
zu tun, sondern mit nichtstaatlichen Akteuren die in einer Weise
handelten, die niemand vorweggenommen oder vorhergesagt hatte. Und
schließlich, wie sprach die gute Königin von England zu einem Ökonomen
hier an der London
School of Economics: »Wieso hast du nicht
die Finanzkrise vorhergesagt, lieber Junge? Du wirst doch wohl gut
genug bezahlt?«
Hinsichtlich der Weltereignisse der
letzten zwanzig Jahre haben wir uns
also größtenteils geirrt. – Nun, ich kann mich an noch eine andere
Vorhersage erinnern, die in den späten achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts gemacht wurde, als wir nicht das Ende des Kalten Krieges
vorhersagten, und die bezog sich auf Asien. Wir alle, oder einige von
uns, wagten die große Vorhersage, die neue, aufstrebende Macht in Asien
wäre – Japan. Erinnern Sie sich noch: All die aufgehenden Sonnen,
furchtbaren Filme und schrecklichen Bücher – ich habe ein ganzes Regal
voller schrecklicher Bücher, wenn Sie welche kaufen wollen...? –
Bücher, die erklärten, Japan werde die Welt beherrschen, die Nummer
eins werden und all dies. Damals, vor zwanzig Jahren, auf dem Höhepunkt
des Kalten Krieges in Europa, bevor, nur ein paar Jahre später, die
UdSSR kollabierte, sagte niemand vorher, worüber wir uns heute Abend
unterhalten werden. Eine weitere grandiose Fehlprognose, nämlich das
Hervortreten und der Aufstieg von China.
Ich bin hocherfreut, Ihnen heute Abend
einen guten Freund vorstellen zu
dürfen, meinen Kollegen Martin Jacques. Er ist leitender
Gastwissenschaftler in IDEAS,
und zwar im Asien-Forschungszentrum.
Außerdem ist er Autor und Radiomoderator, er war Gastprofessor an der
Renmin-Universität
in Beijing, and der Aichi
Universität und vielen
anderen Hochschulen im asiatisch-pazifischen Raum. Vor vielen Jahren
war er der Herausgeber der Zeitschrift Marxism today, bis
1991, dem
Jahr als die UdSSR zusammenbrach. Ich weiß nicht, ob er das
vorhergesagt hat – hast du, Martin, hast du das richtig vorhergesehen
oder falsch? Na ja, wir alle machen Fehler. Jedenfalls ist Martin ein
großartiger Intellektueller in der Debatte über China. Sein Buch, When
China Rules the World. The Rise of the Middle Kingdom and the End of
the Western World ist außergewöhnlich gut aufgenommen,
diskutiert,
erörtert, und kritisiert worden, wie es sich gehört, und zwar diesseits
des Ärmelkanals, jenseits des Ärmelkanals, diesseits des Atlantiks und
jenseits des Atlantiks, und natürlich hat Martin sein Buch in den USA,
in Europa, in Großbritannien, und selbstverständlich auch in China
angepriesen, wo die erste Auflage nur 100 000 Exemplare betrug, eine,
wie man mir sagte, ziemlich kleine Auflage für China. Martin, ich
hoffe, sie macht dich wenigstens zum Millionär, und dann kannst du
anfangen Lehrstühle in IDEAS
zu unterstützen!
Bevor du jedoch anfängst, Lehrstühle zu
unterstützen, möchte ich dich
auffordern, den Vortrag des heutigen Abends zu halten: When China Rules
the World. Es ist großartig dich wieder hier zu haben und
wir sind
gespannt, was du zu sagen hast.
Martin Jacques
Wer braucht nach einer solchen
Einleitung noch Feinde? – Vielen Dank,
Mick.
Guten Abend. – Nun, vor ein paar
Monaten schlug Mick mir vor, dass ich
heute Abend auch auf einige Buchbesprechungen antworten solle. Ich
werde das nicht in einem umfangreichen intellektuellen, konzeptionellen
Sinn tun, wozu ich hoffentlich in der Taschenbuchausgabe kommen werde,
die im Verlauf dieses Jahres erscheinen wird. Aber ich denke, dass es
tatsächlich von Interesse sein könnte, einiges über die Besprechungen
zu sagen. Mick erwähnte, dass mein Buch sehr gut aufgenommen worden
ist, und er hat recht. Ich glaube aber auch, dass die Rezensionen uns
wirklich Bemerkenswertes über unsere Einstellung gegenüber China
verraten. Das Buch wurde am 12. November [2009 d. Ü] in den Vereinigten
Staaten veröffentlicht und ist wirklich sehr breit besprochen worden:
in der New York Times, der Washington Post, Time und allen
möglichen
Orten. Eine Sache, die mir bei den amerikanischen Rezensionen und
Erwiderungen besonders aufgefallen ist, war ihre Ernsthaftigkeit, die
Art und Weise in der nahezu jede Besprechung auf den Punkt gekommen
ist, sich nicht mit, wie ich das nenne, »Beschwerden über China«
aufgehalten, sondern die Behauptung über den Aufstieg von China, d. h.
eines sehr andersartigen Landes, ernstgenommen hat. Ich denke der Grund
dafür liegt im Wesentlichen darin, dass es in der globalen Macht
Amerika eine kritische Masse von Leuten gibt, die über das große,
globale Bild nachdenken. Und eben weil es eine globale Macht ist, sein
Imperium in Gang halten und über Herausforderungen nachdenken muss, hat
es einen begründeten Informationsbedarf. Deshalb handelt es sich bei
den Erwiderungen auch nicht einfach um ideologische Einwände.
In Ostasien fielen die Antworten anders
aus, wie ich während meiner
Reise durch die Region – mit Ausnahme Japans und Koreas – erfuhr. Für
die Menschen in Ostasien handelt es sich nicht um eine Hypothese,
sondern um einen heute schon stattfindenden Prozess. Es gibt dort eine
Beschäftigung mit dem Thema, die anders ist als z. B. die Diskussion
hierzulande. Sie möchten den Prozess verstehen, um zu wissen, wie die
Zukunft aussehen könnte. Dementsprechend gab es großes Interesse an dem
Buch und intensive Debatten und Argumentationen drumherum. Und kurz
noch zu China: Die zehn Tage die ich dort verbrachte, gehören wohl zu
den spektakulärsten Abschnitten, insbesondere in Beijing, sehr viel
mehr als in Shanghai, wo es außerordentliche Diskussionen und Debatten
um das Buch gab. Ich fand das absolut faszinierend.
Was mich schließlich zu Großbritannien
und Europa bringt, den in
gewisser Weise am meisten enttäuschenden Orten. Zwar wurde das Buch in
Großbritannien sehr breit rezensiert, und die Besprechungen variierten
zwischen solchen die sich sehr positiv, sogar erfreut zeigten und
solchen, die extrem feindselig waren, sowie alle möglichen
Schattierungen dazwischen. Aber im Vergleich zu den USA oder Asien
haben die britischen Rezensionen in mir zwei starke Eindrücke
hervorgerufen. Das erste war: »Wir sind weit weg und das Phänomen ist
für uns noch nicht so recht greifbar.« Dies ist ganz anders als etwa in
Asien. Und zweitens: Großbritannien ist keine globale Macht mehr, und
deshalb gibt es, anders als in der Zeit vor fünfzig oder hundert
Jahren, als wir noch ein Empire hatten – oder das Ende davon – nicht
mehr viele Leute, die einen begründeten Informationsbedarf haben.
Deshalb war ein Charakteristikum der britischen Reaktionen, dass sie
sich durch Fragen ablenken ließen, die sie daran hinderten, das große
Bild zu sehen, Fragen wie die nach Menschenrechten, Demokratie,
apokalyptische Ansichten bezüglich der Umwelt – alles sehr starke
Gefühle gegenüber China. Nichts davon ist falsch, aber es geht doch
nicht darum, was wir mögen oder nicht mögen, sondern es geht darum, den
Aufstieg Chinas zu verstehen und herauszufinden, welchen Weg die
Entwicklung nehmen wird. Mein Buch stellt den Versuch dar zu verstehen,
statt ein Werturteil zu fällen.
Und Europa? Während mein Buch sehr
rasch in etliche asiatische Sprachen
übersetzt worden ist, gibt es in Europa noch nicht sehr viele
Übersetzungen. Einmal sprach ich mit einem Deutschen von der
Süddeutschen Zeitung,
der es auf Englisch gelesen hatte. Ich fragte
ihn, was die deutsche Haltung gegenüber China sei, und er sagte: »Nun
ja, die gegenwärtige Haltung Deutschlands gegenüber China ist die, dass
Deutschland sich momentan nur für Deutschland interessiert. Deutschland
bringt wirkliches Interesse nur für Deutschland auf. Darüber hinaus
interessiert es sich noch für seine Peripherie. Über China denkt es
nicht nach. Insofern es das doch tut, denkt es vor allem an
Menschenrechte, Demokratie … mit anderen Worten«, sagte er, »wieso kann
China nicht so sein wie wir?« – Was natürlich im wesentlichen Will
Huttons [einflussreicher englischer Journalist, Autor des Buches
Writing on the Wall:
China and the West in the 21st Century, London
2007; d. Ü.] Position entspricht.
Diese Haltung führt uns nirgendwo hin.
Aber sie verrät uns eine Menge
über Europa einschließlich Großbritannien: Europa hat keine globale
Perspektive, kein umfassendes Bild mehr, und es hat keinen Sinn mehr
für die Zukunft. – So viel dazu.
Das Buch enthält zwei Elemente:
Dasjenige, welches die größte
Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, weil es im Titel vorkommt – im
Großen und Ganzen haben die Leute mich immer auf den Titel
angesprochen, wenn sie über das Buch diskutierten –, bezieht sich auf
den Aufstieg Chinas und den Umstand, dass ich glaube, dass es mit der
Zeit die Vereinigten Staaten als dominierende und einflussreichste
Macht der Welt ablösen wird. Das ist ein Teil des Buches, derjenige,
der die meiste Beachtung gefunden hat. Der andere Teil versucht die
Natur Chinas zu verstehen als etwas, das sehr verschieden von der
westlichen Erfahrung ist und bleiben wird. Das China von heute, das
China der Vergangenheit und das China der Zukunft werden sich in
vielerlei Hinsicht von unserer westlichen Erfahrungswelt unterscheiden.
Ich glaube, diese Einsicht ist wichtiger als der erste Teil des Buches.
Wir können versuchen zu verstehen, wie ein aufsteigendes China die Welt
verändern wird, aber wichtiger ist meiner Ansicht nach der Versuch zu
verstehen, wie China in dieser vorherrschenden Position sein wird.
Doch bevor wir dazu kommen, werde ich
etwas über den Aufstieg Chinas
sagen. Dafür müssen wir uns aber zuerst noch den jetzigen Zustand der
Welt im Zusammenhang vergegenwärtigen. Das Zeitalter, in dem wir leben,
ist zwar am auffälligsten vom Aufstieg Chinas geprägt, doch in Wahrheit
handelt es sich um den Aufstieg der Entwicklungsländer. Dies ist eine
außergewöhnliche Veränderung. Allmählich mögen wir sie für
selbstverständlich nehmen, doch noch vor zehn Jahren hätten wir das
wahrscheinlich nicht getan und vor fünfundzwanzig Jahren ganz sicher
nicht. Und um 1950 herum wäre es geradezu unvorstellbar gewesen, dass
das Subjekt der Welt einmal nicht mehr der Westen sein würde, sondern
jene bevölkerungsreichen Länder, die vom Westen kolonisiert wurden.
Deshalb behaupte ich in dem Buch, dass das am meisten unterschätzte
Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts die Dekolonisierung, die
nationale Befreiung gewesen ist. Denn dies war es, was Ländern wie
Indien und China die Möglichkeit eröffnete, ein Wachstum zu initiieren,
das sich von der faktischen Stagnation der vorausgegangenen ein- oder
zweihundert Jahre grundlegend unterscheidet.
Dies [scil. die Entwicklung der
Bruttosozialprodukte der größten
Volkswirtschaften bis 2025 bzw. 2050, dargestellt in zwei Diagrammen
nach Berechnungen von Goldman Sachs. Vgl. Jacques 2009 S. 230, d. Ü.]
sind nur Projektionen, selbstverständlich sind es nur Projektionen.
Jeder, der sie wörtlich nähme, wäre ein Narr, aber sie vermögen uns
einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die Zukunft aussehen könnte –
eine wahrscheinliche Annahme. Nebenbei bemerkt könnte es sich sogar um
Unterschätzungen handeln. Diese Daten wurden vor der globalen
Finanzkrise erhoben, daher könnten sie z. B. Brasilien unterschätzen.
Aber schauen wir uns diese auf Wechselkurse [US-Dollar von 2006, d. Ü.]
bezogenen Kennzahlen des BIP an: Um 2025 finden wir China an zweiter
Stelle, es hat die USA nahezu eingeholt. Dann folgen Indien an vierter
und Brasilien an neunter Stelle. Das nächste Diagramm ist natürlich
sehr viel spekulativer, da es sich auf 2050 bezieht. Nebenbei bemerkt,
handelt es sich nicht einfach um Extrapolationen aus der Vergangenheit.
In diese Daten sind bereits fallende Wachstumsraten eingerechnet, da z.
B. China sein zweistelliges Wachstum für die nächsten zwanzig bis
fünfundzwanzig Jahre kaum beibehalten können dürfte. Und dennoch zeigt
das Bild eine außergewöhnliche Entwicklung: Chinas Wirtschaft ist fast
zweimal so groß wie die der USA, die indische fast so groß wie die
amerikanische.
Interessant sind die nächstfolgenden
Länder: Brasilien, Mexiko,
Russland, Indonesien, gefolgt von Japan an achter Stelle. Nur zwei
europäische Länder finden sich unter den ersten zehn. Dies
repräsentiert eine außerordentliche Verschiebung des ökonomischen
Schwerkraftzentrums der Welt. Doch es handelt sich um mehr als das.
Eines der Probleme der Diskussionen über den Aufstieg Chinas und der
Entwicklungsländer allgemein, wie sie bislang im Westen geführt werden,
ist, dass sie davon ausgehen, dass dies ein ökonomisches Phänomen, und
zwar hauptsächlich oder sogar ausschließlich ein ökonomisches Phänomen
sei. Der Grund dafür, weshalb die Leute so denken können, ist die
unterschwellige Annahme, dass die Modernität, die sich diese Länder
aneignen, im Wesentlichen eine westliche Modernität sein wird: Wir alle
befinden uns auf derselben Rolltreppe, wir reisen alle in dieselbe
Richtung; der Westen ist lediglich zufällig im oberen Teil der
Rolltreppe. Das ist sozusagen die historische Sichtweise.
Meines Erachtens handelt es sich dabei
um eine absolut falsch
verstandene Auffassung. Und tatsächlich können wir uns das auch schon
klarmachen, wenn wir an die heutige Welt denken, denn es gibt eine
große Ausnahme unter den Industrieländern, die sich innerhalb der
letzten zweihundert Jahre, seit die industrielle Revolution in
Großbritannien begann, modernisiert haben, und das ist Japan. Jeder,
der sich auch nur ein wenig mit Japan auskennt, weiß: Erstens das Land
ist sehr modern und zweitens es ist nicht westlich. Hinsichtlich seiner
Sitten, seiner sozialen Beziehungen, seiner Werte, der Struktur seiner
Institutionen, der Art und Weise, wie seine Politik funktioniert
unterscheidet es sich tiefgreifend vom Westen. Es handelt sich um einen
Hybriden, der gewisse Elemente westlicher Modernität enthält und viele
eigene. Und mit dem Aufstieg der asiatischen Tigerstaaten und jetzt
Chinas und natürlich auch Indiens werden wir sehr klar sehen, dass
›Modernität‹ nicht einfach ›westliche Modernität‹ bedeutet. Sie kommt
nicht im Singular daher. Es handelt sich nicht einfach um das Produkt
von Märkten, Wettbewerb und Technologie – ein Mechanismus, der ihr in
der neoliberalen Ära zugeschrieben worden ist. Es ist ebenso und
gleichrangig eine Funktion von Geschichte und von Kultur. Und es ist
der Aufstieg von China, der uns dies sehr klar vor Augen führen wird.
Den größten Teil meiner Redezeit des
heutigen Abends möchte ich den
vier fundamentalen Eigenschaften Chinas widmen, in denen es sich
tiefgreifend vom Westen unterscheidet und die auch grundverschieden
bleiben und Chinas Verhalten als globale Macht, der dominanten
Globalmacht aus meiner Sicht, bestimmen werden. Die erste ist
wahrscheinlich die wichtigste. Während der letzten hundert Jahre hat
China sich selbst als Nationalstaat beschrieben. Nun weiß jeder, der
auch nur ein bisschen von der chinesischen Geschichte kennt, dass
hundert Jahre darin ein Nadelstich sind. Auf der Karte sieht man das
Qin-Reich am Ende der Periode der streitenden Reiche, 221 vor Christus
[Vgl. Jacques 2009, S. 74]. Man kann sehen, dass dies bereits die
Grenzen des heutigen östlichen Teils Chinas umfasst. Denken sie sich
zwischen diesem östlichen und dem westlichen Teil Chinas bitte eine
Linie, denn beider Geschichten sind sehr unterschiedlich.
Die nachfolgende Dynastie war die
Han-Dynastie, immer noch zwei
Jahrtausende zurück, und nun kann man bereits sehen, dass die
Ausdehnung des Reiches nicht mehr so weit von den heutigen Grenzen
Chinas entfernt ist. Mit anderen Worten: China in dieser Größenordnung
ist ganz sicher das am längsten existierende Gemeinwesen der Welt. Es
ist nicht ein paar hundert Jahre alt, sondern wenigstens zwei
Jahrtausende. Eine Folgerung daraus ist, dass das chinesische
Verständnis von China und all das, was den Chinesen ihren Sinn für
Identität verleiht, keine Resultate der Nationalstaatsperiode sind,
sondern wesentlich, überwiegend, ja sogar ausschließlich, wenn es um
Grundsätzliches geht, solche der Zivilisationsstaatsperiode: Die sehr
spezifische Natur der chinesischen Familie etwa oder das sehr
andersartige Verhältnis zwischen chinesischem Staat und chinesischem
Volk. Viele chinesische Sitten wie die Ahnenverehrung, natürlich die
ideografische Sprache, der Konfuzianismus: Dies alles sind
Errungenschaften der Zivilisationsstaatsperiode. Ich stelle mir China
gerne wie einen geologischen Querschnitt vor. Die oberste Schicht ist
ein Nationalstaat. Die geologische Struktur ist wesentlich die eines
Zivilisationsstaates. Dies ist vollkommen verschieden von der
westlichen Erfahrung. Die Vereinigten Staaten etwa sind völlig anders,
weil sie nur als Nationalstaat in seiner modernen Form existiert haben
– unter Zerstörung aller vorhergegangen Zivilisationsformen auf ihrem
Gebiet. Aber genauso auch in Europa, in Großbritannien, in Frankreich,
zum größten Teil in Deutschland, in Italien und so weiter: Unser Sinn
für Identität gründet sich in der Nationalstaatsperiode, nicht in etwas
Vorausgegangenem. Zwar mag es einzelne Überlieferungen geben, doch
insgesamt steht unsere Erfahrung in vollkommenem Gegensatz zur
chinesischen.
Der erste Punkt des chinesischen
Konzepts eines Zivilisationsstaates
ist diese außergewöhnlich lange Geschichte. Der zweite Punkt betrifft
Diversität und Größe Chinas; dies ist das andere Charakteristikum, das
China als Zivilisationsstaat definiert. Zur unserer Erinnerung: Allein
die Bevölkerungszahl dieser vier Provinzen [scil. Shandong, Henan,
Guangdong und Sichuan, vgl. Jacques 2009, S. 202, d. Ü.] ist größer als
die der USA. Die Einwohnerschaft der grün und blau eingezeichneten
Provinzen [scil. Hebei, Anhui, Hunan und Hubei, vgl. ebd., d. Ü.] sind
jeweils so groß oder sogar größer als die des Vereinigten Königreichs
oder Frankreichs. Selbst im östlichen Teil Chinas gibt es große
sozio-ökonomische, kulturelle und politische Unterschiede. Wir neigen
dazu, China als etwas Monolithisches anzusehen, teilweise wegen seiner
kommunistischen Regierung, aber auch, weil die Chinesen über einen so
starken Sinn für Identität verfügen, verglichen etwa mit Indien, wo die
regionalen Identitäten viel stärker sind. Doch es gibt große
Unterschiede in diesem Teil Chinas. Und natürlich variiert auch der
Lebensstandard. Es trifft nicht zu, früher nicht, und heute ganz sicher
nicht, dass alles in China aus Beijing kommt. Die Provinzregierungen
und lokalen Regierungen haben eine große Macht; was die Erhebung von
Steuern und die öffentlichen Ausgaben angeht, ist die
Zentralregierung nur für einen relativ kleinen Anteil des ganzen
Aufkommens verantwortlich. Hier haben wir einen weiteren großen
Unterschied zur westlichen Erfahrung. Doch was bedeutet er?
Dazu möchte ich zweierlei sagen. Zu
allererst: Der wichtigste
politische Wert in China ist Einheit. Sie genießt die erste Priorität,
und der Grund dafür liegt darin, dass China seit der Periode der
streitenden Reiche darauf hinwirkte, das zu werden, was es heute ist.
Daher ist die chinesische Sicht dessen, wer sie sind, was China ist,
wesentlich geprägt von diesem Zivilisationsstaat. Anders ausgedrückt,
der Gleichgewichtszustand Chinas ist einer der Einheit, doch diese
Einheit ist außerordentlich schwer zu erhalten, weil die
Zentrifugalkräfte in einem Land dieser Größenordnung enorm sind. Der
chinesische Historiker Wang Gungwu schätzt, dass China ungefähr während
der Hälfte seiner zweitausendjährigen Existenz unterschiedliche Formen
der Uneinigkeit durchlebt hat. Anders gesagt, die Drohung der Spaltung
ist stets präsent im Bewusstsein der Chinesen und insbesondere ihrer
Führer. Dies ist der absolute Gegensatz zu Europa. Tatsächlich hat der
wichtigste Unterschied zwischen China und Europa nichts zu tun mit
Regierungsführung oder Demokratie oder auch den Erfahrungen der
industriellen Revolution, so wichtig diese auch war (für China lag
darin ein Grund für das »Jahrhundert der Demütigung«). Der wichtigste
Unterschied ist, dass zur selben Zeit, als China den Prozess der
Einigung startete, Europa sich exakt in die entgegengesetzte Richtung
entwickelte. Am Ende des römischen Imperiums begann Europa sich in
zahlreiche Territorien und schließlich Nationalstaaten zu teilen. Der
Gleichgewichtszustand Europas ist also die Teilung in viele
Nationalstaaten, nicht die europäische Union. Hier ist die europäische
Identität ausbalanciert mit dem Nationalstaat, während es in China
genau umgekehrt ist. Dieser fundamentale Unterschied drückt sich in
China auf mannigfaltige Weise aus. Wenn sie wissen wollen, warum Mao
Zedong bis heute eine so populäre Figur ist, populärer als Deng
Xiaoping: Maos größte Leistung bestand in der Wiederherstellung der
staatlichen Einheit. Er erneuerte den Staat als effektiven Körper im
Herzen der chinesischen Gesellschaft. Deshalb ist er so populär, und
das ist der Hauptgrund, weshalb 1949 ein so entscheidendes Datum in der
chinesischen Geschichte ist.
Dies also ist das erste Beispiel für
den Zivilisationsstaat: in
praktischer, körperschaftlicher Hinsicht. Die zweite Frage möchte ich
an einem Beispiel erklären: Hongkong 1997. Sie erinnern sich, das
konstitutionelle Angebot der Chinesen war: »Ein Land, zwei Systeme.«
Ich wette mit Ihnen, es gab niemanden im Westen oder im Vereinigten
Königreich der ihnen geglaubt hat. Sie glaubten, es sei bedeutungslos,
sie hielten es für Augenwischerei; sobald China die Herrschaft über
Hongkong hätte, würde es den Weg der Volksrepublik einschlagen. –
Falsch! Absolut falsch! Zwölf Jahre danach ist Hongkong, was das
politische und Rechtssystem angeht, mindestens so verschieden vom Rest
Chinas, wie es 1997 war. Die Chinesen hatten es ernstgemeint. Warum
haben wir ihnen nicht geglaubt? Abgesehen von Skepsis oder Zynismus
gegenüber chinesischer Führung dürfte der wesentliche Grund der sein,
dass wir mit einer Nationalstaatsmentalität denken. Ein Beispiel dafür
wäre der Fall der Berliner Mauer, die Implosion von Ostdeutschland ein
paar Jahre zuvor: Die Wiedervereinigung Deutschlands erfolgte einzig
und allein zu den Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland.
Nationalstaatsdenken: Ein Staat, ein System. Zivilisationsstaatsdenken:
Ein Staat, viele Systeme.
Auch im Hinblick auf die Frage Taiwans
könnte man sich damit eine
Lösung vorstellen. Eine Möglichkeit könnte so aussehen, dass die
Taiwanesen irgendwann die Chinesische Souveränität prinzipiell
anerkennen. Die Gegenleistung könnte in dem Angebot ›ein Land, zwei
Systeme‹ bestehen. Es wird möglicherweise sogar flexibler als im Falle
Hongkongs gehandhabt werden, abhängig davon, wann die Taiwanesen ihr
Zugeständnis machen. Ich glaube, den Taiwanesen könnte erlaubt werden,
ihre eigenen Streitkräfte zu behalten. Ich denke auch, dass sie ihr
existierendes Wahlsystem werden beibehalten dürfen. – Wenn Sie ein Land
von diesen Ausmaßen, von dieser Größe führen müssen, dann müssen Sie in
der Lage sein, sehr unkonventionell zu denken, denn – ist es wirklich
ein Land, dieser Zivilisationsstaat? Es ist ein Kontinent. Sämtliche
Begriffe von Regierungsführung usw. unterscheiden sich tiefgreifend vom
Nationalstaatsdenken, das vor allem in Europa und Nordamerika
vorherrscht.
Nun stellen Sie sich vor: 2050 oder
vielleicht auch 2060 oder ’70 wird
China die größte Volkswirtschaft der Welt sein, und damit die
einflussreichste Macht der Welt. Sie ist ein Nationalstaat, aber mit
dem Herzschlag eines Zivilisationsstaats – denn tatsächlich ist sie ja
beides, und zwischen beidem gibt es ein interessantes
Spannungsverhältnis. Doch ich glaube, indem China aufsteigt, wird es
sich wieder mehr und mehr in seiner Geschichte einrichten, denn seit
dem Ende des 19. Jahrhunderts war China durch seine eigene Schwäche
gezwungen, die Beschränkungen des europäischen Nationalstaatssystems zu
übernehmen. Ab einem gewissen Punkt wird China nicht mehr im selben
Maße dazu verpflichtet sein. Das meine ich durchaus nicht als Drohung,
es wird einfach freier sein, sich seinem Selbstgefühl entsprechend
auszudrücken. Also versuchen Sie sich vorzustellen, dass sich im Herzen
des globalen Systems etwas befindet, das in erster Linie ein
Zivilisationsstaat ist. Wie wird das die Funktionsweise unserer Welt
ändern? Wie wird das die Normen und Werte der internationalen
Regierungsführung beeinflussen, die Art und Weise, in denen Debatten
und Diskussionen in allen möglichen Belangen geführt werden,
einschließlich der Rechtsbegriffe?
Soviel für den Moment zum
Zivilisationsstaat. Dabei handelt es sich um
ein wirklich grundlegendes Konzept. Ich werde später darauf
zurückkommen, und zwar im Zusammenhang mit den Begriffen ›Rasse‹ und
›Staat‹. Doch bevor ich das tue, möchte ich etwas zum Tributsystem
sagen. Das ist für mich das zweite Charakteristikum Chinas, das es als
sehr verschieden von der westlichen Erfahrung definiert.
Wie Sie vielleicht wissen, gehörten
Nordostasien, Südostasien,
Indochina und China, wiederum ungefähr bis vor hundert Jahren, zu einem
System von Tributstaaten, in dessen Zentrum sich China befand. Chinas
Vorherrschaft war überwältigend. In kultureller und ökonomischer
Hinsicht verkörperte es, wenn sie so wollen, eine tiefe innere Qualität
im Herzen des Systems. Es handelte sich um eine Art von symbolischem
System. Herrscher zollten dem Kaiser Tribut und erhielten im Gegenzug
gewisse Formen von Teilhabe, Zugang zum chinesischen Markt usw. Das
System war sehr flexibel. Im Laufe der Zeit hat es verschiedenste
Neuauflagen erlebt. Im Verhältnis zu Japan war diese Beziehung immer
sehr viel flexibler als zum Beispiel mit Blick auf die koreanische
Halbinsel. Dieses System hatte für mindestens zweitausend Jahre
Bestand, wenn nicht sogar länger. Am Ende des 19. Jahrhunderts, mit der
zunehmenden wirtschaftlichen Schwächung des Qing-Reiches und dem
Erscheinen des europäischen und japanischen Kolonialismus, hörte es
schließlich auf zu bestehen. Dies scheint das Ende des Tributsystems
gewesen zu sein.
Nun lassen Sie uns auf dieses Diagramm
schauen [vgl. Jacques 2009, S.
282]. Es hat uns etwas Wichtiges mitzuteilen. Dieses Diagramm zeigt,
wie sich der Exportanteil unterschiedlicher Länder in Asien, der vom
chinesischen Markt aufgenommen wurde, innerhalb eines Zeitraums von
zwölf Jahren geändert hat. Zwölf Jahre sind eine recht kurze Periode.
Die gelbe Linie markiert das Jahr 1990, die andere 2002. In diesem
kurzen Zeitabstand gibt es ein paar erstaunliche Änderungen. Taiwans
Exporte steigen von 0 auf über 30%. Korea von 0 auf über 20%. Doch
sogar in Südostasien, weiter entfernt, keine konfuzianischen
Gesellschaften, sind große Änderungen zu verzeichnen. China nimmt
enorme, stetig steigende Exporte aus diesen Ländern auf. Letztes Jahr
hat der chinesische Markt den amerikanischen als Japans größten
Exportmarkt übertroffen. Was sagt uns das? Es sagt uns, dass sich die
asiatische Wirtschaft auf China zentriert. In wachsendem Maße
organisiert sie sich um China herum. China ersetzt Japan, und zwar im
Vergleich zur zuvor vorherrschenden Situation auf eine andere Weise.
Dieser Prozess wird, wie ich glaube, anhalten, eine sehr viel
fortgeschrittenere Form annehmen und die Entwicklung eines neuen
zwischenstaatlichen Systems in Ostasien befördern. Man könnte also
sagen, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts handelte es sich um das System
der Tributstaaten, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um ein vom
Westfälischen System geformtes Kolonialsystem, in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts um eine Art von Westfälischem System. Was wir nun
sehen, ist die Restauration einiger Charakteristika des Systems der
Tributstaaten, denn, Sie erinnern sich an das oben Gesagte, eine
grundlegende Eigenschaft des Tributsystems, die Vorbedingung dafür, war
die überwältigende Vorherrschaft Chinas in der Region. Diese
Eigenschaft bildet sich gegenwärtig wieder heraus, und sie wird
politische und kulturelle Auswirkungen haben: Glauben Sie etwa
ernsthaft, Englisch werde für immer die lingua franca sein?
Natürlich ist das möglich, aber ich glaube nicht, dass das der Fall
sein wird. Dinge steigen auf und fallen. Bislang brauchte jede Sprache
ein förderndes Land um so wichtig zu werden. Englisch wird vermutlich
eine wichtige Sprache bleiben. Zurzeit ist sie ja die dominierende lingua franca in
der Region. Aber ich denke, Mandarin wird eine sehr wichtige Sprache
werden. In Südkorea und Thailand wird sie zum Beispiel schon in der
Schule als Verkehrssprache angeboten. Der malaysische Kultusminister
gab im August bekannt, Malaysia überlege, Mandarin an den Schulen
einzuführen. Das ist ein absolut faszinierender Prozess. Wir könnten
hier, nebenbei bemerkt, auch noch Australien anführen, das
selbstverständlich niemals Teil des Tributsystems gewesen ist. Aber
Australien spiegelt diese Entwicklung ebenfalls wider, denn es wird
unaufhaltsam in die chinesische ökonomische Einflusssphäre
hineingezogen – in gewissem Sinne strampelnd und schreiend, denn seinem
Selbstverständnis nach ist es westlich, und historisch gesehen handelte
es sich um eine sehr rassistische Gesellschaft, was es in mancherlei
Hinsicht heute noch ist. Wie Australien mit dieser Situation umgehen
wird, bleibt eine sehr interessante Frage. Ähnliches gilt für
Neuseeland.
Ich behaupte nicht, dass das, was wir
sehen werden, auf eine
Restauration des alten Tributsystems hinausläuft. Das wird sicher nicht
der Fall sein. Das Tributsystem herrschte dort, als die Region der
bekannte Teil der Welt war. Heute existiert sie aufgrund der
Exportstruktur und der Warenströme in einem globalen Kontext. Viele
Exportgüter sind Zwischenprodukte und Halbfertigwaren, die, wie etwa im
Falle Südkoreas, zur Endfertigung nach China gebracht werden, um von
dort aus in andere Märkte z. B. die Nordamerikas und Europas exportiert
zu werden, daher sollte dies in einem größeren Zusammenhang gesehen
werden. Aber Elemente des Tributsystems könnten dennoch
wiederhergestellt werden. David Kang, ein chinesisch-amerikanischer
Historiker brachte zwei Argumente vor, denen ich zustimme. Zunächst
einmal, sagte er, die Mentalität, die das Tributsystem hervorgebracht
habe, sei niemals wirklich verschwunden, sie sei »unter die Erde«
gegangen. Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sie
direkt unter der Oberfläche weiterexistiert, und zwar sowohl bei den
Chinesen als auch in den benachbarten Ländern. Der Grund weshalb ich
auch davon überzeugt bin, dass sie nie verschwunden ist, besteht darin,
dass ich glaube, dass Ideen, die Tausende von Jahren existiert haben,
niemals einfach so verschwinden. Sie dauern fort, wenngleich in neuen
Formen und Zusammenhängen.
Und die andere Sache ist: Viele
Experten für internationale
Angelegenheiten haben 1990 vorausgesagt, dass die Länder in der Region
den Aufstieg Chinas fürchten und deshalb versuchen würden sich
abzusichern, indem sie sich stärker mit den Vereinigten Staaten
verbünden. Doch dies ist interessanterweise nie eingetroffen. Die
Vorhersagen waren falsch, abgesehen von Japan unter Koizumi und
möglicherweise Taiwan, wie es sich die DPP vorstellte, aber diese
Periode ist vorbei. Alle anderen Länder einschließlich amerikanischer
Verbündeter wie Singapur, den Philippinen und Thailand – und selbst
Indonesien – haben der Aufnahme engerer Beziehungen zu China die
höchste Priorität eingeräumt. Warum? Nun, sie können sehen, woher der
Wind weht. Wenn man in einer Region wie dieser lebt, in der
Nachbarschaft eines Landes von solcher Größe, dann weiß man, was zu tun
ist, um mit ihm auszukommen. Doch es gibt noch einen anderen Grund, der
Teil der ›Gene‹ dieser Region ist: Es war immer eine geopolitische
Realität, und das ist der fundamentale Aspekt des Systems der
Tributstaaten.
An dieser Stelle möchte ich noch einen
Punkt ansprechen. Er betrifft
die bequeme Art und Weise, in der Leute im Westen über die wachsenden
Beziehungen zwischen China und Afrika diskutieren. Gleichgültig ob es
sich um Journalisten oder Akademiker handelt, oft heißt es: »Ah, der
neue Kolonialismus!« Das ist allzu bequem. Nicht, dass die Erfahrung
des Kolonialismus überhaupt keine Bedeutung hätte, sie hat
möglicherweise sogar eine große. Aber wir müssen uns daran erinnern,
dass China niemals als Kolonialmacht in Erscheinung getreten ist. Am
nächsten kam das Verhalten Chinas dem Kolonialismus hier [scil. in
Westchina, d. Ü]. Ich komme noch darauf zu sprechen. Während der
Ming-Dynastie und später hatte China beispielsweise die Möglichkeit,
Südostasien zu kolonialisieren, doch das tat es nicht. Stattdessen
wählte es den Weg des Tributsystems. Wenn man also die heutigen
Beziehungen zwischen China und Afrika verstehen will, und wir bewegen
uns momentan immer noch an der Oberfläche dieser Frage, dann sollte man
nicht mit dem Kolonialismus anfangen. Ich würde mit den Erfahrungen des
Tributsystems anfangen, doch nicht, weil ich etwa annähme, dass Afrika
Teil eines neuen Tributsystems werden könnte, sondern um das
chinesische Denken, die chinesische Mentalität zu verstehen. Und ich
glaube, hier haben wir ein Problem. Der Westen war während der letzten
200 Jahre nicht nur in ökonomischer, politischer und ideologischer
Hinsicht maßgeblich, sondern auch in intellektueller. Darum nehmen wir
im Großen und Ganzen an, dass die Konzepte und Moden, die auf unseren
eigenen Erfahrungen, unseren eigenen Bedürfnissen unserer eigenen
Geschichte basieren, auch für alle anderen gelten, weil wir der Ansicht
sind, dass der Rest der Welt dem Westen folgen werde. Aus den beiden
wesentlichen Punkten meines bisherigen Vortrages, dem
›Zivilisationsstaat‹ und dem ›System der Tributstaaten‹ können Sie
bereits ersehen, dass man China nicht mit westlichen Begriffen
verstehen kann. Die intellektuelle und politische Faulheit, die den
Westen charakterisiert hat, zeigt, wie Cohen in seinem Buch [Paul A.
Cohen: Discovering
History in China: American Historical Writing on the
Recent Chinese Past, New York 1984, d. Ü.] über den Blick
der
Geschichtsschreibung auf China schreibt, dass wir, die wir uns für so
kosmopolitisch halten, furchtbar provinziell sind. Wir müssen wirklich
aus dieser Geisteshaltung herauskommen. Wir haben niemals anders als
aus dieser verinnerlichten Dominanz heraus über diese Dinge nachdenken
müssen.
Die dritte Frage, die ich diskutieren
möchte, ist die der Rasse. Dies
ist eine Frage, die normalerweise nicht aufgeworfen wird, nicht einmal
im Hinblick auf internationale Beziehungen, besonders dort nicht. Der
Grund, weshalb man sie nicht anspricht, ist, sie ist zu bedeutend, zu
heikel, zu sehr belastet. Es ist sicherer sie in eine Schachtel zu
stecken und zu ignorieren. Nun, jeder weiß, dass China über eine
Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen verfügt. Etwas über 90% dieser
Bevölkerung sehen sich in außerordentlicher Weise als ›dieselben‹ an,
als derselben Rasse zugehörig, als die ›Han‹. Ich sage
›außergewöhnlich‹ und es ist außergewöhnlich, wenn Sie an die
nächstfolgenden unter den bevölkerungsreichsten Staaten der Welt
denken: Indien, die Vereinigten Staaten, Indonesien, Brasilien, sie
alle sind in höchstem Maße ›nicht-rassisch‹ [»irracial«, d. Ü.] und sie
denken auch so über sich. Nun könnten Sie sagen, okay, China ist also
offenkundig aus den Rassen hervorgegangen, die das Han-Volk bildeten.
Ja, das ist offensichtlich der Fall. Aber der springende Punkt ist,
dass die Chinesen so nicht denken. Sie denken sie sind wesentlich eine
Rasse. Warum ist das so? Dies ist eine sehr, sehr wichtige Frage, wenn
wir die chinesische Denkweise verstehen wollen. Man könnte in der Tat
viele Dinge darüber sagen, doch lassen Sie uns einfach zum
Zivilisationsstaat zurückkehren. Hier erkennen Sie die Wichtigkeit der
chinesischen Geschichte, insbesondere ihrer langen Dauer. Zwei Prozesse
haben stattgefunden, der eine geprägt von Krieg, Konflikt, Besetzung,
Absorption, Adaption, Assimilierung, zwangsweisen Umsiedlungen durch
die Regierung – nichts Neues in dieser Periode, für viele Dynastien ein
sehr wichtiges Instrument. Allmählich verwischten sich dadurch die
Unterschiede zwischen den vielen Völkern, die im östlichen Teil Chinas
lebten, bis zu dem Punkt, an dem die Eigenschaften, die sie gemeinsam
hatten, bedeutsamer wurden als jene, die sie trennten. Dies ist
wiederum ein Charakteristikum des Zivilisationsstaates, durch das sich
China von anderen bevölkerungsreichen Ländern unterscheidet.
Der zweite Prozess, der damit
einherging, war der Zivilisationsprozess,
denn letzten Endes ist ›Rasse‹ kein biologisches sondern ein
kulturelles Konstrukt. In seinem Kernland war eine sehr, sehr alte
Zivilisation, die seit frühester Zeit relativ fortschrittlich war.
Zusammen mit dem Fruchtbaren
Halbmond [das Gebiet im Norden der
arabischen Halbinsel zwischen der Levante und dem Zweistromland, eine
der Ursprungsregionen der Neolithischen Revolution, d. Ü.], ist China
die erste Heimat von Sesshaftigkeit und Ackerbau. Sehr früh kam es zur
Entwicklung einer relativ komplexen Gesellschaft, einer ideografischen
Sprache, einer sehr anspruchsvollen Literatur sowie der Herausbildung
staatlicher Frühformen. Konfuzius schrieb ungefähr zu derselben Zeit,
vor zweieinhalb tausend Jahren; der große Philosoph war damals der bei
weitem fortschrittlichste Denker in Fragen der Regierungsführung. Eine
der faszinierendsten Tatsachen über China ist, dass zwei der Dynastien
der letzten beiden Jahrtausende keine Dynastien aus dem Han-Volk waren:
Die Yuan waren Mongolen und die Qing-Mandschu, Invasoren aus dem
Norden. Doch insbesondere die Mandschu wurden naturalisiert, sie wurden
›hanisiert‹. Dies war die Macht, wenn Sie so wollen, der chinesischen
Kultur, ihre Kraft, ihre relativ fortgeschrittene Natur. Die
Visitenkarte Chinas ist nicht militärische Macht, es ist Kultur. Es
gibt dieses enorme kulturelle Selbstvertrauen, das sich in seinen
negativen Formen in einem Gefühl kultureller Überlegenheit ausdrückt
und sich implizit, manchmal auch explizit, mit einer Neigung zum
Rassismus verbindet.
Dies also ist der Prozess, durch den
das moderne China entstanden ist.
Jedes Land verfügt über einen Prozess ethnischer Konstruktion, und dies
ist Chinas Prozess: die ›Hanisierung‹ Chinas. Dieser Prozess hat eine
große Stärke: Die chinesische Identität ist das, was das Land
zusammenhält und einen solchen Zivilisationsstaat ermöglicht. Er hat
aber auch eine große Schwäche, und das ist das gering ausgeprägte
Verständnis der Chinesen für kulturelle Differenz. Sie haben wenig
Respekt für kulturelle Differenz, weil ihre eigene historische
Erfahrung in der Art und Weise bestand, wie fremde Volksgruppen
›hanisiert‹ wurden. Am klarsten kommt dies im westlichen Teil Chinas
zum Vorschein, der sehr viel später, ab dem 17. Jahrhundert von den
Qing, erobert wurde, Xinjiang und Tibet usw. Im Endeffekt gründeten die
Aufstände der letzten zwei Jahre in diesen Provinzen in den furchtbaren
Beziehungen zwischen den Han und den Uiguren bzw. Tibetern, die
Geringschätzung, die viele diesen Völkern entgegenbringen, das Gefühl,
diese müssten auf ihr Niveau erhoben werden. Deshalb ist das, was mich
am meisten beunruhigt, wenn ich an China als globale Macht denke, nicht
Demokratie oder dergleichen. Ich will nicht sagen, dass das nicht
wichtig wäre. Es ist ein wichtiges Thema, obwohl es in eine Richtung
ausschlägt, die wir normalerweise nicht diskutieren. Meine Sorge ist
diese Haltung der Han, ihr schwach ausgeprägter Sinn für kulturelle
Differenz in einer Welt die gekennzeichnet ist von kultureller
Differenz.
Wenn ich über die Bedeutung der
Ethnizität rede, dann beziehe ich mich
allerdings nicht ausschließlich auf China. Denken Sie an die
Vereinigten Staaten, an ihr Verhalten als globale Macht. Was sind die
Bausteine, um ihr Verhalten zu verstehen? Ich denke es sind: Weiße
europäische Siedler, die Vernichtung der amerikanischen Indianer, die
Rolle der afrikanischen Sklaverei, Manifest Destiny, die Verfassung,
eine universelle Mission und die Grenze (»frontier«, Grenze im
amerikanischen Sinn einer Destination, die immer weiter
hinauszuschieben ist, d. Ü). Dies, denke ich, führt zum Herzen der
Konstruktion der USA, und Sie können sehen, wie fundamental Ethnizität
bei der Entstehung des modernen Amerika war.
Das bringt mich zum vierten und letzten
Punkt der Differenz: dem
chinesischen Staat. Das Verhältnis zwischen dem chinesischen Staat und
der chinesischen Gesellschaft ist sehr verschieden von jedweder
westlichen Norm oder, um es auf eine ›unprovokative‹ Art zu sagen: Der
chinesische Staat erfreut sich größerer Autorität, größerer
Legitimität, größeren Respekts, größerer Ehrerbietung als jedweder
westliche Staat, und das obwohl dort niemals jemand in unserem Sinne
seine Stimme abgegeben hat. Warum? Ich denke, dafür gibt es zwei
Gründe. Erstens: Der chinesische Staat wird von den Chinesen als
Verkörperung, als Bewahrer und Wächter der chinesischen Zivilisation
gesehen. Das ist die entscheidende Rolle des Staates in den Augen der
Chinesen. Deshalb liegt in China die Legitimität beim Staat. Der andere
Grund ist, dass, anders als in Europa oder Amerika, die Autorität des
Staates in den letzten tausend Jahren keinen ernsthaften Herausforderer
gehabt hat. Der europäische Staat musste sich mit Händen und Füßen
wehren, um seine Autorität als weltliche Körperschaft zu etablieren,
zunächst gegen die Kirche, dann gegen Teile der Aristokratie, dann
gegen die Bürger und schließlich gegen die Händler, und all das findet
sich kodifiziert in den Gesetzen über einen langen, langen
geschichtlichen Zeitraum. Dies hat für China niemals zugetroffen. Die
Macht des chinesischen Staates hatte nie klare Grenzen. Wenn wir die
Klammerfunktion des chinesischen Staates verstehen wollen, müssen wir
diese beiden Gesichtspunkte berücksichtigen, und auch wenn wir über
Demokratie diskutieren, müssen wir in einer sehr viel grundsätzlicheren
Weise die Natur des chinesischen Staates verstehen. Ich denke, Staat
konstituiert sich auf eine fundamental andere Weise als im Westen.
Welche besser ist? Ich weiß es nicht. Sie sind eben unterschiedlich.
Wir können nicht sagen, welche besser ist, es handelt sich einfach um
grundsätzlich andere historische Erfahrungen über einen sehr, sehr
langen Zeitraum hinweg. Wird China mit der Zeit offener werden,
verantwortlicher, demokratischer? Ja, möglicherweise, ich weiß es
nicht. Aber doch, ich denke, das wird es. Möglicherweise wird es
irgendwann einmal eine Form von allgemeinem Wahlrecht, eine Art
Mehrparteiensystem geben. Doch selbst dann erwarte ich nicht, dass eine
chinesische Demokratie genauso funktionieren wird wie die westlichen.
Wir sind anmaßend in Bezug auf die Demokratie. Wir denken, wir könnten
sie überallhin verpflanzen, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich
unter sehr spezifischen Bedingungen entwickelt hat. Auch für Japan
gilt, dass die Legitimität sich nicht in Begriffen der
Volkssouveränität beschreiben lässt, sondern beim Staat liegt, und dies
gilt in noch viel größerem Maße für China. Wenn Sie übrigens ein
Beispiel wünschen, dass Wahlen und Wahlrecht nicht unbedingt zu
größerer Legitimität führen, dann nehmen sie den italienischen Staat:
Die Italiener hatten mehr Wahlen als ich warme Mahlzeiten hatte. Sie
halten ständig Wahlen ab – und haben schließlich jemanden als
Premierminister bekommen, der den Staat für seine persönlichen Ziele in
Beschlag nimmt. Wieso? Weil die Italiener niemals geglaubt haben, dass
der Staat der legitime Ausdruck des gesamten italienischen Volkes ist.
Sie können die Frage der Regierungsführung und was gut ist, nicht auf
die Frage von Wahlen und Demokratie reduzieren. Das ist eine banale
Denkweise.
Zum Schluss möchte ich noch rasch vier
Punkte vorbringen. Zurück zum
Aufstieg Chinas. – Erstens: Die globale Finanzkrise ist bereits ein
Anzeichen für die Verschiebung der ökonomischen Vorherrschaft von den
Vereinigten Staaten nach China, denn ein elementarer Grund liegt meines
Erachtens im wachsenden Unvermögen der USA, die internationale
Wirtschaftsordnung zu garantieren, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg
ins Leben gerufen haben und deren größter Nutznießer sie waren. Wir
haben es also bereits mit einer grundlegenden Krise zu tun, die
zunehmend ernster wird, und man kann alle möglichen Symptome sehen, die
auf einen Niedergang der amerikanischen Weltordnung hindeuten. Und als
Alternative zeichnet sich ganz klar der Aufstieg Chinas ab.
Zweitens: John Ikenberry
(amerikanischer Professor für internationale
Beziehungen, d. Ü.) argumentiert, dass die von Amerika geschaffene
internationale Ordnung hinreichend offen, integrationsfähig und
flexibel sei, so dass sie jedwede neu hinzukommende Macht integrieren
könne. Mir ist natürlich klar, dass das eine grobe Vereinfachung ist,
aber ich habe meine Zweifel, dass es zutrifft. Zunächst einmal wird es
technische Veränderungen in der ökonomischen Architektur geben:
Sicherlich wird der IWF allmählich reformiert werden, ebenso wie
möglicherweise die Weltbank. Doch der IWF ist ohnehin nicht mehr
zeitgemäß, ähnlich den G7, die von den G20 ersetzt wurden. Obwohl die
Mittel des IWF
aufgestockt werden usw., ist er nicht als eine zentrale
Institution aus dem Reformprozess hervorgegangen; er ist eine schwächer
werdende Institution. Und wenn, wie ich innerhalb des nächsten
Jahrzehnts erwarte, in Asien ein eigener asiatischer Währungsfond mit
China als Herzstück und Japan in einer wichtigen Rolle ins Leben
gerufen werden wird, so wird der IWF
in einer der ökonomisch
wichtigsten Weltregionen nicht mehr von Belang sein. Der asiatische
Wirtschaftsraum ist größer als die USA und Europa.
Die Weltbank ist bereits heute
hinsichtlich ihrer Kredite und Hilfen
für Afrika weniger wichtig als China. Wir sehen also bereits den
Zusammenbruch dieser Ordnung und ihrer Institutionen in einem
zweigleisigen oder sogar mehrgleisigen Prozess, in dem einerseits die
Institutionen reformiert werden, so dass sie ihre Bedeutung, wenngleich
eine schwindende, behalten werden, und gleichzeitig neue Institutionen
ins Leben gerufen werden und eine neue Ordnung entsteht, welche in
erster Linie die Multipolarität der Welt reflektieren wird, aber ebenso
auch den Aufstieg Chinas.
Drittens: Ich glaube, der Niedergang
der USA ist unumkehrbar. In
gewisser Hinsicht geht es sich nicht einfach um George W. Bush oder
darum, ob dieser oder jener Präsident im Amt ist. Ich sage nicht, dass
das keine Rolle spielt, aber ich glaube, wir sind Zeuge einer jener
seltenen historischen Währungsverschiebungen, deren Gründe wir nicht
verstehen. Vermutlich werden wir in hundert Jahren immer noch
diskutieren, worum es sich eigentlich gehandelt hat, und was die Gründe
dafür waren. Aber ich denke, es handelt sich um einen unerbittlichen
Prozess.
Und schließlich denke ich, dass China
in der kommenden internationalen
Ordnung zwar ein dominierender Akteur sein wird, doch insgesamt wird
die Lage komplizierter sein, Indien wird ebenfalls ein wichtiger Akteur
sein, Amerika wird wichtig bleiben usw. Doch China wird das Herzstück
dieser neuen Ordnung bilden, und deshalb ist der Versuch, China zu
verstehen, wie wir es noch nie zuvor in der Geschichte verstanden
haben, so wesentlich, wenn wir versuchen wollen, die Welt, die sich
abzuzeichnen beginnt, zu verstehen. – Vielen Dank!
Fragerunde
Michael Cox:
Ich denke, das war großartig, Martin, größtenteils kann ich zustimmen.
Was aber die Schlussfolgerungen angeht, die du nahelegst, lass mich
einmal sagen, ich bin eine Art amerikanischer Realist, sitze auf diesem
im Niedergang befindlichen Hegemon, dem Ende des amerikanischen
Imperiums, des amerikanischen Jahrhunderts, und ich höre Martin Jacques
zu und ich greife nach meiner Kanone – oder ich greife nach meinen
Sanktionen oder meinen Eindämmungsstrategien. Du hast zwar den Begriff
nicht ins Spiel gebracht, aber mir erscheint diese Sicht auf die
künftige Weltordnung doch sehr von Pessimismus geprägt. Wahrscheinlich
würdest du das verneinen, aber ich denke, deine Analyse ist sehr
pessimistisch, und zwar sowohl konzeptionell als auch inhaltlich. Du
stützt deine Argumentation größtenteils auf Geschichte, aber wenn
Geschichte überhaupt etwas bedeutet, Lehren für uns bereithält, dann
die, dass, wenn große Mächte aufgestiegen sind, dies unvermeidlich und
tragischerweise zu Kriegen geführt hat. Der Aufstieg Frankreichs zum
dominierenden Hegemon führte zu den Napoleonischen Kriegen. Desgleichen
Deutschland in Europa, Japan, ja, selbst die Ursprünge des Kalten
Krieges können teilweise in diesen Begriffen aufstrebender Macht
beschrieben werden. Deshalb halte ich deine Prognose für pessimistisch,
denn wie kann man die geschichtlichen Konsequenzen vermeiden, sofern
Geschichte überhaupt etwas bedeutet, was ganz sicher der Fall ist.
Der zweite Grund für meinen Pessimismus
ist dein Argument der
chinesischen Besonderheit, die sich nur sehr schwer integrieren lasse.
In diesem Zusammenhang hast du John Ikenberry attackiert, der eine
nette, friedvolle Weltordnung sehen möchte, eine liberale Weltordnung.
Amerika versucht China in diese friedliche Ordnung zu integrieren, um
uns die Transformationskosten zu ersparen, die der Aufstieg einer neuen
Macht üblicherweise mit sich bringt. Mir scheint, du hast gesagt, dass
China so anders ist, dass es diese Regeln nicht akzeptieren wird. Es
mag eine Weile mitspielen, aber es wird sich nicht für immer daran
halten. Deshalb scheint mir deine Analyse einen doppelten Pessimismus
zu beinhalten.
Jacques:
Das
hängt teilweise davon ab, durch welche Brille man es betrachtet. Ich
sehe den Aufstieg Chinas und Indiens als das Beste an, was der Welt in
den letzten zweihundert Jahren passiert ist. Der Gedanke, dass wir in
irgendeiner Weise glücklich damit sein können, wie die Welt in den
letzten beiden Jahrhunderten auf der Grundlage von Kolonisation und
Beherrschung der Entwicklungsländer durch einen derart kleinen Teil der
Menschheit geführt wurde, wie ihn die europäische und amerikanische
Hegemonie repräsentieren, [kann einen kaum zufriedenstellen]. Ich sehe
den Aufstieg Chinas und Indiens als größten, einzelnen Akt der
Demokratisierung innerhalb der letzten zweihundert Jahre an. – Ich
stimme dafür. Dies sollte als Grundlinie [der Antwort] verstanden
werden.
Natürlich hast du absolut recht, dass
historisch gesehen der Aufstieg
einer neuen Macht, der Niedergang einer bestehenden Macht ein
gefährlicher Zeitabschnitt ist, und ich stimme Dir zu, wir leben in
einer potentiell extrem gefährlichen Zeit. Auch hättest du dein
Argument noch stärker machen können: Bisher ging die Macht von Japan
aus, es gab ein paar Reibereien hier und da; historisch gesehen jedoch
teilten die beteiligten Länder eine Menge miteinander. China teilt
diese Art historischer oder kultureller Last nicht, was natürlich
Anlass zu vielen Missverständnissen geben kann.
Dennoch glaube ich, dass es auch
einiges Ermutigende gibt. Wenn man
sich den Zeitraum vom Maoismus bis zur Reformperiode anschaut, dann
sind, ungeachtet aller Wechsel im Präsidentenamt und auf dem Posten des
Generalsekretärs, die Beziehungen zwischen den USA und China seit den
siebziger Jahren [des vorigen Jahrhunderts] erstaunlich stabil gewesen.
Wir reden schließlich nicht über den Kalten Krieg. Das Verhältnis glich
nie dem zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Beiden
Seiten gebührt große Anerkennung dafür. Wenn sich jetzt allerdings das
Kräfteverhältnis ändert, könnte diese Beziehung sich verändern oder
zerbrechen, daher würde ich nicht sagen, dass wir die Vergangenheit
einfach fortschreiben können. Aber wir haben zumindest einen
ermutigenden Ansatz, wir können das als einen Aktivposten betrachten,
der hoffentlich nicht verschwendet werden wird.
Der andere Punkt ist: Wie wird China
seinen Aufstieg sehen, wie wird es
sich in seinem Aufstieg verhalten? Und hier sind ebenfalls zwei Aspekte
zu beachten. Erstens: Chinas ganzes Bestreben seit Beginn der
Reformperiode war auf das Wirtschaftswachstum ausgerichtet. Überwindung
der Armut und ökonomische Modernisierung genießen höchste Priorität,
und alles, was davon ablenken könnte, jedes mögliche Hindernis, etwa in
der Haltung der USA, muss durch ein gutes Verhältnis vermieden werden.
China hat sein Hauptaugenmerk auf sein wirtschaftliches Fortkommen
gerichtet. Der gegenwärtige Aufstieg Chinas, der Niedergang der
Vereinigten Staaten, wird keine militärische Frage sein, sondern eine
ökonomische. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied zum Kalten Krieg:
Es war einfach ein unmögliches Spiel, das für beide Seiten in einem
furchtbaren militärischen Patt endete.
Dies trifft auf die heutige Situation
nicht mehr zu. Einige stürzen
sich jetzt darauf, dass China einen Flugzeugträger besitze, aber, meine
Güte, sogar Italien besitzt einen, von Großbritannien ganz zu
schweigen. – Ein Land wie China, mit einer so großen Bevölkerung und
einem derart hohen Wirtschaftswachstum, sieht die Dinge sehr
langfristig. In allen für das Land wichtigen Beziehungen kann China
sagen: »Wir werden noch zehn Jahre abwarten.« Wie wird das Verhältnis
zwischen China und den Vereinigten Staaten in zehn Jahren aussehen? –
Günstiger für China. Wie wird das Verhältnis zwischen China und Japan
sein? – Günstiger für China. Und das Verhältnis zwischen China und
Taiwan? – Tatsächlich bezahlen die Taiwanesen bereits heute den Preis.
In zehn Jahren wird auch dieses Verhältnis sich wahrscheinlich
günstiger für China entwickeln. Sie können also sehr langfristig
planen, wie es auch der chinesischen Natur entspricht. Du kennst doch
die alte Geschichte mit Kissinger und Zhou Enlai – ich weiß nicht, ob
sie sich wirklich so zugetragen hat – Kissinger fragt Zhou Enlai: »Was
ist Ihre Sicht der französischen Revolution?« Zhou Enlai antwortet: »Es
ist zu früh, etwas dazu zu sagen.« Dies ist die Mentalität des
Zivilisationsstaates. Mit der Annäherung an diese Haltung, führen sie
etwas ein, das ihrer Geschichte und Kultur entspricht. Wir haben es
also nicht einfach mit einer Wiederholung des Vergangenen zu tun,
sondern müssen es ein wenig anders zu verstehen versuchen.
Auch wenn ich in meiner Argumentation
sehr großen Wert auf die
Unterschiede gelegt habe, bedeutet das nicht, dass China nicht vom
Westen lernen würde. Das tut es selbstverständlich. Die chinesische
Modernität wird genauso ein Hybrid sein wie die japanische, denn
letztlich wird jede Gesellschaft, die sich modernisieren will, vom
Westen lernen müssen – oder scheitern. Japan hat das sehr erfolgreich
getan. China hat es einmal verfehlt, mit schrecklichen langfristigen
Konsequenzen. Letztendlich wird China nicht einfach in einem
apokalyptischen Akt die Regeln umstoßen. Ich denke, das wird ein sehr
langsamer Prozess sein. Ich glaube nicht einmal, dass die gegenwärtige
chinesische Führung überhaupt in diesen Begriffen denkt. Aber wie sieht
es aus, wenn wir zwei oder drei Generationen weiter sind und die Welt
sehr viel anders aussehen wird als jetzt?
Frage:
Wenn
Sie gezwungen wären, des Teufels Advokat zu spielen, gegen alles zu
argumentieren, was sie hier gesagt haben, und alle Gründe nennen
müssten, die dem Aufstieg Chinas entgegenstehen könnten, sagen wir
soziale Aufstände, Einflüsse von der russischen Seite usw. Alles was
den jetzt eingeschlagenen Weg, den Sie hier so überzeugend beschrieben
haben, zum stoppen bringen könnte …
Michael
Cox:
Anders gefragt, was kann den Aufstieg Chinas stoppen?
Frage:
Zwei
kurze Fragen. Angesichts des wechselseitigen Prozesses des Aufstiegs
eines nichtdemokratischen Han-China und einer europäischen Kultur und
eines Konzepts von Demokratie, das dieser Bedrohung eindeutig nichts
entgegenzusetzen hat: Was bedeutet das für den Aufstieg einer
Unterklasse in Europa, welche das Demokratieprinzip im Hinblick darauf,
ob es der Masse der Bevölkerung helfen kann, direkt herausfordert? Und
außerdem: Als jemand der zuvor Herausgeber einer führenden
Marxistischen Zeitung gewesen ist: Wie haben die zurückliegenden beiden
Dekaden Ihre Sichtweise in Bezug auf den Niedergang des Kommunismus in
China und anderswo geändert?
Frage:
Sie
erwähnten den Niedergang der amerikanischen Ordnung. Bedeutet das, dass
wir auch den Niedergang des UN-Systems erleben werden, da dieses doch
unter der amerikanischen Hegemonie entstanden ist? Der
Weltsicherheitsrat erscheint mir als eine ziemlich visionäre
Institution, da China darin einen ständigen Sitz und somit eine
wichtige Rolle zu spielen hat. Wird er also ebenfalls zerfallen oder
hat er in einer Welt, die von China beherrscht wird, eine Zukunft?
Frage:
Offensichtlich sind wirtschaftlicher Erfolg und militärischer Einfluss
allein nicht genug für China, den Status als dominierende globale Macht
zu erringen oder zu behalten. Ich frage mich, Mr. Jacques, ob sie
glauben, dass China die Soft Power haben wird, die nötig ist, um an
diesen Punkt zu gelangen. Denn wenn man auf große Zivilisationen wie
die Griechen, das Römische Imperium oder die Vereinigten Staaten
schaut, dann repräsentieren sie alle etwas kulturell Einzigartiges,
etwas, das über ihre Grenzen hinaus gehen konnte, das größer war als
sie selbst. Denken Sie, dass auch China etwas besitzt, das
möglicherweise den Rest der Welt inspirieren kann?
Jacques:
Was
den Aufstieg Chinas stoppen könnte? – China selbst. Das wäre, glaube
ich, am wahrscheinlichsten, womöglich im Zusammenwirken mit externen
Entwicklungen. Die große Stärke Chinas sind seine Größe und sein
Zusammenhalt, und seine große Schwäche sind die Größe und
Verschiedenheit. Deshalb gibt es in China Perioden, in denen es relativ
stark zusammenhält und Perioden, in denen es relativ stark fragmentiert
ist. Wang Gungwu hat darüber geschrieben. Die Geschichte ist sehr
komplex, aber einer der Gründe, weshalb China niemals einen
Kolonialismus, d. h. ein maritimes Imperium wie die Europäer – oder, im
weitesten Sinne, die heutigen USA – entwickelt hat, liegt darin, dass
die Aufrechterhaltung des chinesischen Staates eine ungeheuer
aufwendige Tätigkeit ist. Seine Expansion [in die Provinzen, die das
heutige Westchina bilden, d. Ü.] stellt durchaus eine Form von
Kolonisation dar. Aber kulturelle Expansion ist nicht dasselbe wie
maritime Kolonisation, es gibt da wichtige Unterschiede. China hat sich
selbst immer in diesen Begriffen gesehen, daher verfügt es über eine
andere Weltsicht als die Europäer. Doch es gab Perioden, in denen es
sehr gut funktionierte, wie auch solche, in denen Introspektion und
Implosion überwogen. Was könnte Letzteres bewirken? Im Moment kann ich
nichts erkennen. Aber nehmen wir einmal an, die innere Qualität geriete
völlig außer Kontrolle, die Spannungen in der chinesischen Gesellschaft
würden überhand nehmen, die Führung würde sich darüber entzweien, wie
dem zu begegnen wäre – gespalten zwischen den unterschiedlichen
Interessen, welche die sozialen und ökonomischen Veränderungen
repräsentieren – bis hin zu einer Situation, in der es so aufreibend
und schwierig würde, dass sie dadurch auf einer fundmentalen Ebene
zerstört würde. Das Land würde sich von dieser Reformperiode abwenden,
die möglicherweise der am stärksten nach außen gerichtete Zeitabschnitt
der langen chinesischen Geschichte ist, und würde seinen Blick
verstärkt nach innen richten. Etwas in dieser Art.
Was die Frage nach der europäischen
Demokratie angeht: Ich bin in der
demokratischen Tradition aufgewachsen und würde, wie jeder andere auch,
bei dem das der Fall ist, dafür kämpfen, aber ich denke, dass wir
darüber eingebildet, selbstgefällig und anmaßend geworden sind, dass
wir uns ihrer Probleme und Schwierigkeiten nicht mehr bewusst sind. Wir
halten es für eine Art kuriale Lösung: Wenn China nur demokratisch
würde, wäre alles in Ordnung, auch wenn seine Wirtschaft möglicherweise
aufhören würde zu wachsen – was bestimmt der Fall wäre. Unsere gesamte
Weltsicht muss sich ändern, denn bisher war es eine westzentrierte
Sicht.
Dies bringt mich zum zweiten Punkt: Wie
hat sich meine Sicht geändert?
Jemand in Beijing hat mir diese Frage auch gestellt, und ich finde sie
sehr interessant. Wie sich meine Sicht in den letzten zwanzig Jahren
geändert hat? Ich habe aufgehört zu glauben. Jeder, der Marxism Today
gelesen hat, weiß, dass die Zeitung niemals ein strenger Anhänger der
Linie des sowjetischen Kommunismus gewesen ist. In unserem
marxistischen Teil argumentierten wir eher in der Art von Gramsci. Doch
wir waren von vielen Richtungen beeinflusst, nicht nur marxistischen.
Meine politische Denkweise hat sich seit den sechziger Jahren geändert,
beeinflusst u. a. durch die Mai-Ereignisse in Paris und den Prager
Frühling. Die Lektüre von Gramsci war für mich sehr, sehr wichtig. Zwar
habe ich – wie auch sonst niemand – den Zusammenbruch der Sowjetunion
nicht kommen sehen, aber ich war auch nicht bestürzt darüber, da ich
das niemals für den Weg der Zukunft gehalten und persönlich nichts
investiert hatte. Für das Verständnis dessen, wie meine Sicht sich
geändert hat, sind zwei Dinge wichtig: Zum einen: Marxism Today war
ein
hochgradig westzentriertes Journal. Ich habe damals den Rest der Welt
nicht verstanden, denn mir fehlten die Ressourcen, das Geld und die
Zeit zu reisen. Ich war ein Opfer meiner eigenen ideologischen Bildung
und meiner eigenen Interessen. Erst ein paar Jahre nachdem Marxism
Today eingestellt wurde, 1993, reiste ich privat nach
Ostasien. Als
erstes gilt also festzuhalten: Alles, worüber ich heute Abend
gesprochen habe, hätte ich vor zwanzig Jahren niemals so gesagt. Damit
meine ich nicht nur die historischen Veränderungen, sondern auch meine
Begriffe. Die zweite Sache, die meine Sicht verändert hat, ist etwas
sehr Persönliches. 1993 traf ich meine Frau, die indisch-malaysischer
Abstammung war. Sie trat in mein Leben, und ich liebte sie abgöttisch.
Ich lernte etwas über meine Gesellschaft, indem ich sie mit ihren Augen
sah, einer Person anderer Hautfarbe. Bis dahin dachte ich, ich würde
meine Gesellschaft kennen, doch indem ich sie kennenlernte, einen
Menschen aus einem Entwicklungsland und einer früheren Kolonie, sah
ich, dass das nicht der Fall war. Dann reisten wir nach Hongkong, und
sie erfuhr eine große Menge chinesischen Rassismus und letztendlich
starb sie in einem Krankenhaus aufgrund nachlässiger Behandlung. Das
war das Desaster meines Lebens. Für fünf Jahre konnte ich die Arbeit an
meinem Buch nicht fortsetzen. Doch ich habe auch die Bedeutung von
etwas verstanden, das für mich als Weißem niemals eine Rolle gespielt
hat, außer vielleicht in einem gewissen intellektuellen, esoterischen
Sinn, und das ist ›Rasse‹.
Die Vereinten Nationen haben von allen
Institutionen wahrscheinlich die
besten Aussichten zu überleben, denn die UN umfassen per definitionem
alle Nationen der Welt. Zwar handelt es sich um ein Produkt der
amerikanischen Ordnung, aber die Amerikaner haben sie als diejenige
betrachtet, die am meisten Probleme bereitet, und sie über einen langen
Zeitraum einfach ignoriert. Daher würde ich sagen, dass die Aussichten
der UN gut sind, möglicherweise sogar besser als zuvor.
Die Frage nach dem, was China der Welt
zu geben vermag, ist sehr
interessant. Ich würde es nicht ›Soft Power‹ nennen. Sie begannen mit
diesem Begriff, aber dann lenkten Sie Ihre Frage in eine andere, viel
interessantere Richtung. Das Problem mit der Soft Power ist, dass es
sich um eine klassifikatorische Idee handelt. Gramscis Konzept der
Hegemonie bietet meiner Ansicht nach eine reichhaltigere Denkweise,
aber darum geht es hier ja nicht.
Ich glaube, dass jedes Volk, jede
Kultur ein eigenes Stückchen Genie
hat. Jede Kultur hat ihre eigene Originalität. In manchen Fällen drückt
sich das stärker aus als in anderen, doch ich denke, wenn wir mit
dieser Voraussetzung anfangen, werden wir in der Lage sein, die Welt
viel besser zu sehen, als wir das jetzt tun, denn wir hören auf, so
viele Dinge zu ignorieren, die Länder und Völker anzubieten haben. Die
chinesische Zivilisation hat das im Grunde im Laufe ihrer langen
Geschichte schon oft gezeigt. Denken sie an die großen Fortschritte,
die während der Sung-, der Ming- oder der Tang-Dynastie stattgefunden
haben.
Als ich mit Susan Shirk im Radio über
ihr Buch Fragile
Superpower
sprach, sagte sie: »Ich glaube nicht, dass China der Welt allzu viel zu
bieten hat.« Meines Erachtens ist das ein schwerwiegendes
Missverständnis. Was China tatsächlich anzubieten hat, ist eine enorm
reichhaltige Tapisserie von Ideen, Gelehrsamkeit, eine literarische
Tradition, familiale Organisationsformen, eine Tradition von Bildung,
Erziehung und staatlicher Regierungsführung. Wenn Sie die Idee
staatlicher Kompetenz verstehen wollen, schauen Sie nicht auf den
Westen, schauen Sie auf China. Aus meiner Sicht wird China ein großer
Fundus an zivilisatorischer Weisheit sein. Nicht, dass wir uns das
einfach ausborgen könnten, aber wir werden sicherlich davon lernen. Wir
können es nur nicht verpflanzen, wie wir auch unsere westlichen
Ansichten nicht auf andere transplantieren können, obwohl wir es nach
besten Kräften versucht haben. Wenn man aber ein wenig zurücktritt und
die Geschichte der letzten vierhundert Jahre im Ganzen betrachtet,
würden Sie dann ernsthaft die Ansicht vertreten, dass ein Land wie die
Vereinigten Staaten, das keine Vorgeschichte vor der Ankunft der
Pilgerväter hatte, weil diese zerstört wurde, tiefgründiger sei als
China? Lassen Sie uns doch bitte ernsthaft bleiben!
Frage:
Wenn
das, was Sie sagen, wahr ist, dass China die nächste Supermacht wird
und nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch in sozialer und
politischer an Einfluss gewinnen will, würden Sie dann, angenommen Sie
wären David Miliband oder Hillary Clinton, sagen, dass deren
Außenpolitik korrekt wäre, oder falls nicht, wie würden Sie sie ändern?
Frage:
Wie
sehen Sie die Entwicklung der wichtigen wirtschaftlichen Beziehungen
zwischen den Vereinigten Staaten und China, insbesondere im Hinblick
darauf, dass mit den chinesischen Ersparnissen gegenwärtig die
amerikanische Überkonsumtion bezahlt wird?
Jacques:
Was
das Außenministerium angeht, glaube ich, es sollte größere
Anstrengungen unternehmen, über die sich entwickelnde Welt
nachzudenken. Dabei geht es aber nicht nur um das Außenministerium, es
ist ebenso sehr ein Problem der Medien. Wie oft hören sie die Leute von
der ›internationalen Gemeinschaft‹ reden, wenn sie tatsächlich nur den
Westen meinen? Das ist unerhört! Was tut die internationale
Gemeinschaft etwa im Falle Myanmars? Ich bevorzuge diesen Namen, denn
außer uns benutzt niemand das Wort Burma, jeder in Ostasien sagt
Myanmar. Tatsächlich gibt es in diesem Fall nur drei Kräfte, auf die es
ankommt: China, Indien und die ASEAN, dies wären die Schlüsselelemente
der ›internationalen Gemeinschaft‹. Wir müssen uns sehr viel stärker in
die mögliche zukünftige Lage hineinversetzen. Ich bin sehr besorgt
darüber, denn nach meinem Gefühl wird Europa nicht einmal mehr im Spiel
sein, wenn es soweit kommt. Europa denkt nicht an die Zukunft, es ist
kein Akteur im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen. Es ist nur mit
sich selbst beschäftigt, und das bereits über einen sehr, sehr langen
Zeitraum hinweg. Es lebt in einer Weise in seiner Geschichte, die
verhindert, dass es versteht, was vor sich geht. Amerika versteht das,
zumindest Teile Amerikas nach meiner Erfahrung. Aber Europa macht mir
Sorgen. Es tut mir leid, das so zu sagen, da ich Brite bin, Europäer.
Dies wäre also meine Antwort, auch wenn es die Frage vielleicht nicht
ganz beantwortet.
Danke dafür, dass mir als letzte eine
so einfache Frage gestellt wurde:
Ich weiß es nicht. Es handelt sich um ein sehr interessantes Problem:
Was werden die Chinesen wegen der enormen Reserven unternehmen die sie
in US-Schuldverschreibungen haben? Sie befinden sich, wie Sie wissen,
in einer Zwickmühle. Jeder sagt das. Wenn sie aufhören, Ihren
Handelsüberschuss in US-Schuldverschreibungen zu investieren, wird der
Dollar an Wert verlieren und damit auch ihre Reserven. Wenn Sie
anfangen, diese Reserven umzuschichten, wird der Dollar kollabieren. Es
gibt in dieser Sache bereits einen erheblichen Druck auf die
chinesische Regierung in China selbst. »Warum stecken wir so viel Geld,
das unsere Bauern sich hart erspart haben, in Schulden, die in
US-Währung notiert sind?« Das ist eine gute Frage, aber sie ist ein
Resultat dessen, wie sich die Dinge im zurückliegenden Zeitabschnitt
entwickelt haben. Die Chinesen werden sich rechtzeitig nach neuen
Anlagemöglichkeiten umsehen müssen. Jemand trug mir letzte Nacht einen
interessanten Vorschlag vor. Ich bin nicht selbst darauf gekommen, aber
ich möchte seinen Gedanken mit ihnen teilen, weil er mir gefällt.
Dieser Mann sagte also, Rohstoffe seien für die Chinesen eine wichtige
Anlagemöglichkeit, die a) nützlich wäre, da sie große Mengen davon
benötigten, und b) zumindest in Form der selteneren auch als
Wertspeicher dienen könnten. Ich hielt das für einen sehr interessanten
Vorschlag.
Aus
dem Englischen
übertragen von Jörg Büsching