Stefan
Volk
»Das
Faktum der Gesellschaft« und das »Faktum der Vernunft«
Anmerkungen zu Panajotis Kondylis’ Sozialontologie
Unter dem Begriff ›Sozialontologie‹, wie
ihn Panajotis Kondylis prägte, versteht man eine Wissenschaft, welche
die universalen Faktoren oder Kräfte bestimmt, die Gesellschaft und
Geschichte konstituieren. Sie interessiert sich demnach für jene
theoretische Tiefendimension, von der gesagt werden kann: »So ist
Gesellschaft ursprünglich verfasst, und kein Element ihrer
theoretischen Rekonstruktion erübrigt sich oder lässt sich auf eine
noch tiefere und ursprünglichere Dimension reduzieren [...].« (Kondylis
1999:196) Jede konkrete Gesellschaft kann daher zum einen linear an
Hand der historischen und sozialen Tatsachen untersucht werden, was in
erster Linie die positiven Wissenschaften tun, zum anderen vertikal
durch jene konstanten Merkmale, wobei keine der beiden unabhängigen
Wissensgebiete aufeinander reduziert werden darf, so sehr sie »in ihrer
Forschungspraxis ineinandergehen mögen, müssen und dürfen.« Denn –
schreibt Kondylis – »kein Sprung führt von sozialontologischen
Aussagen, also von Aussagen über das sozialontologische Feld in seiner
Gesamtheit und über das Faktum der Gesellschaft zu voll begründeten
Erklärungen von sozialen Tatsachen. Soziologie bleibt immer – und zwar
am liebsten – direkt oder indirekt an geschichtlich geladene Inhalte
gebunden, die sich voneinander wesentlich unterscheiden [...] und sich
ständig thematisch erweitern, um neuen sozialen Tatsachen Rechnung zu
tragen. Sozialontologie beleuchtet hingegen die Art und Weise, wie die
Faktoren oder Kräfte des sozialontischen Feldes in den sozialen
Tatsachen wirken, also die Art und Weise, wie soziale Tatsachen mit dem
Faktum der Gesellschaft zusammenhängen.« (Ebd.:191) Diese Grundmuster
sind »nicht nur in ihrer Ubiquität,« sondern auch in ihrer
Zeitlosigkeit allgemein, »d.h. sie bleib[en] durch alle Wendungen der
kontingenten Kulturideale hindurch dieselbe[n] und ihre Sprache wird
noch beliebig lange nach dem Tod der Akteure verstanden. Geschichtliche
Epochen und Kulturen mögen sich aufgrund ihrer Weltbilder, Religionen
oder Sitten radikal voneinander unterscheiden, sie begegnen sich aber
verstehend wenn sie die spezielle Sprache der kulturellen Kontingenz in
jene allgemein verständliche Sprache übersetzen, soweit das jeweils
möglich ist.« (Ebd.:624 f.)
Der kulturelle Relativismus, gegen dessen Auffassung sich eine
Sozialontologie zum einen richtet, glaubt zwar, dass »die Kriterien für
das Verstehen einer Gesellschaft [...] von dieser selbst zur Verfügung
gestellt [würden],« weshalb »Verstehen [...] nur dann zustande [käme],
wenn man das Selbstverständnis einer Gesellschaft in allen seinen
Einzelheiten und Verzweigungen im sozialen Leben nachvollziehen könnte«
(ebd.:195); doch die Vertreter einer universellen Rationalität weisen
zurecht darauf hin, dass es jenseits der kulturellen Ausgestaltung noch
einen Maßstab geben muss, der nicht durch Kontingenz beeinflusst ist.
Gerade deshalb kommt uns »das politische Verhalten der Zeitgenossen von
Thukydides [...] in seinen Hauptzügen sehr vertraut vor, obwohl uns
ihre Religion, ihre Moral oder ihre Sprache längst fremd geworden
sind.« (Ebd.:625) Diese »diachronische Stabilität des Spektrums, die in
der Synchronie und Gleichursprünglichkeit seiner Aspekte gründet, ist
kein bloßes theoretisches Postulat und keine bloße heuristische
Fiktion, die noch immer der empirischen Bestätigung harrt«, vielmehr
bildet sie – so Kondylis – »eine uralte Erkenntnis oder Vorstellung,
die mehr oder weniger vage in allen Kulturen artikuliert wurde und sich
bereits durch die Lektüre der ältesten Texte, die wir kennen,
rekonstruieren lässt. Sie hat immer darauf abgezielt, die Antwort auf
die elementare Frage zu liefern bzw. das elementare Gefühl zu
erklären,« warum »ständig Neues in einer Welt geschehe, die doch so alt
und irgendwie vertraut anmute. Jene ältesten Texte sprechen ja eine
direkt verständliche Sprache […] und reden von menschlichem
Sozialverhalten und menschlichen Motivationen, die wir ohne weiteres
nachvollziehen können.« (Ebd.:194)
Der andere theoretische Gegner der Sozialontologie ist der
Normativismus, welcher umgekehrt nicht Kontingenz auf Kosten der
Rationalität, sondern Rationalität unter Vernachlässigung der
Kontingenz zu etablieren versucht, eine bestimmte Vorstellung bzw.
einen Anschein von Ordnung hypostasierend und enthistorisierend. Dem
gesellschaftlichen Sein wird ein Sollen unterstellt mit der Konsequenz,
dass der deskriptive Ansatz einer Sozialontologie verfehlt wird, der
stets beides umfassen muss: »sowohl das, was aus
historisch-soziologischer Sicht ›Ordnung‹, als auch das, was aus
derselben Sicht ›Unordnung‹ heißt. Ein Bürgerkrieg gehört ebenso wie
einträchtiger Friede zu den sozialen Situationen, zu jenen also, die
sich, unabhängig von ihren zureichenden Gründen, notwendig innerhalb
des sozialontischen Feldes oder Spektrums abspielen.« Deshalb ist »für
die Sozialontologie [...] alles normal, was zum Sein der Gesellschaft
gehört, d.h. innerhalb von Gesellschaft stattfindet und durch sozial
lebende Menschen getan wird. [...] die Rede von ›Auflösung‹ der
Gesellschaft infolge von ›Unordnung‹« ist dagegen »sozialontologisch
[...] unsinnig [...].« Vielmehr liegt die Gewissheit zu Grunde, dass
»an die Stelle von Gesellschaft« stets »wiederum Gesellschaft«
(ebd.:199) tritt, welche Grade an Ordnung und Unordnung auch immer
empirisch vorliegen mögen. [Einige Zeilen später wird die These noch
einmal herausgestrichen: »Wie ›Ordnung‹, so hat auch das ›‚Soziale‹ in
der Regel eine normative Konnotation, es deutet also nicht auf die
nackte Tatsache menschlichen Zusammenlebens in Gesellschaft hin,
sondern vorzugsweise auf Eigenschaften, die zur besseren Koordinierung
oder Harmonisierung dieses Zusammenlebens beitragen könnten. Die
Sozialität des Menschen wird mit dem gleichgesetzt, was pädagogisch
gesinnte Soziologen seine Sozialisierung bzw. die Fähigkeit dazu
nennen, und entsprechend wird Gesellschaft im stärkeren oder im
schwächeren Sinne aufgefaßt, je nachdem, wie erfolgreich sie die
Sozialisierung ihrer Mitglieder betreibt. Die Absichten dieses
Sprachgebrauchs sind erbaulich, die Folge davon heißt begriffliche
Verwirrung. Tatsächlich sind Anpassung und Aufstand, Wohltat und
Verbrechen gleichermaßen sozial und nur in Gesellschaft denkbar.«
(Kondylis 1999: 200).]
Die Sozialontologie teilt grundsätzlich den »zutiefst subversiven
Charakter der historischen Betrachtung, indem sie die Zerbrechlichkeit
und innere Widersprüchlichkeit von allem aufzeigt, was auf
sozialontischem Feld steht […].« Denn das »Faktum der Gesellschaft […]
ist selbst nicht bloß umfassender, sondern auch flüssiger und offener
als jede einzelne soziale Tatsache, so daß es aus seinem Schoß und
Stoff jene sozialen Tatsachen hervorbringt, die die bereits
kristallisierten sozialen Tatsachen zernagen oder zerstören.«
(Ebd.:191) – »Sozialontologie
bietet« somit »kein
oberstes oder ausschließliches inhaltliches oder normatives Kriterium
zur Betrachtung menschlicher Gesellschaft und Geschichte, sie liefert
nur jene Grundlagenanalyse, aus der hervorgeht, warum die Aufstellung
eines solchen Kriteriums unmöglich ist.« (Ebd.:186)
In seinem auf drei Bände angelegten Werk Das Politische und der Mensch,
dessen theoretischer Ansatz soeben knapp vorgestellt wurde, ging
Panajotis Kondylis von drei zusammenwirkenden, aber analytisch zu
unterscheidenden Faktoren oder Kräften aus, welche »gleichursprünglich
sind« und in einem spannungsreichen Spektrum »nur in bezug aufeinander
gedacht werden können«: von dem Anthropologischen, der sozialen
Beziehung und dem Politischen. »Warum und wie diese drei ontischen
Aspekte des Sozialen zusammengedacht werden müssen, davon handelt
eigentlich die Sozialontologie als ganze.« (Ebd.:206) In »ihrer Einheit
stellen sie das Sein der Gesellschaft als Gegenstand der
Sozialontologie dar.« (Ebd.:216) – Unter der sozialen Beziehung, die im
postum veröffentlichten ersten Band zentral behandelt wird, versteht
Kondylis »einen konstanten, ubiquitären und vom geschichtlichen etc.
Inhalt unabhängigen Mechanismus« (ebd.:109), durch den sich das Handeln
von ego am Handeln von alter zu orientieren vermag. Das Politische
wiederum, das im zweiten Band behandelt worden wäre, worauf der erste
Band aber schon vorausblickend hinweist, bietet die Klammer aller
sozialen Beziehungen, »sozusagen die Interaktion aller Interaktionen«
bzw. die Interaktion zur Lenkung aller Interaktionen (vgl. ebd.: 207).
Es ist »jene besondere soziale Beziehung, die sich das Soziale als zu
ordnendes und zusammenhaltendes Ganzes zum Gegenstand macht.«
(Ebd.:209) »Wo Gesellschaft grundsätzlich verbindlicher Zusammenhang
von Interaktionen ist, da ist das Politische auch« (ebd.:207), welches
wie bereits die soziale Beziehung ein »spannungsreiches, durch die
beiden Extreme der Freundschaft und der Feindschaft abgestecktes Feld
[bildet]« (ebd.:209). Doch obwohl die beiden Spektren »koextensiv« sind
(vgl. ebd.:209 Anm.), sind im Umkehrschluss nicht alle sozialen
Beziehungen als politisch zu verstehen. Vielmehr tritt das Politische
immer erst dann »auf den Plan, wo eine soziale Aktion bzw. Interaktion
unter dem Gesichtspunkt des sozialen Zusammenhalts und der sozialen
Ordnung gesehen werden kann.« (Ebd.:211)
Gesellschaft ist somit »eine
bestimmte Wechselwirkung von Individuen, die eine solche Ausdehnung und
Dichte erreicht, daß sich in ihr die Frage des Zusammenhalts und der
Ordnung in Form der spezifisch politischen Frage nach dem Gemeinwohl
stellt« und der nicht enden wollende Streit beginnt in dem Moment, wo
»es darum geht, das Gemeinwohl verbindlich zu definieren [...].«
(Ebd.:212) Der Rückgriff auf die anthropologische Dimension, das Thema
des anvisierten dritten Bandes, kommt schließlich zum Tragen angesichts
der Tatsache, dass wir es bei sozialen Beziehungen »mit Fähigkeiten und
Eigenschaften« zu tun haben, »die wir zu Recht als menschlich par
excellence zu betrachten pflegen. […] des Menschen Natur ist
bekanntlich Kultur«, das »Sein der Kultur und Sein menschlicher
Gesellschaft stellen praktisch austauschbare Begriffe dar« (ebd.:207),
jedoch ist »die Stimme der (seiner) Natur [...] in allen ihren Tönen
und Nuancen in der Kultur weiter zu hören [...]. [....] Die Kultur des
Menschen ist demnach ebenso Natur wie seine Natur Kultur ist.«
(Ebd.:218) Dies habe »die unzertrennliche Einheit von Kognitivem und
Volitivem« (Kondylis 1984:31) zur Folge, wie Kondylis schon in Macht und Entscheidung
(1984) schrieb. In jeder Identitätsbildung regt sich ein Machtanspruch,
wie auch das nackte Wollen »immer an irgendeine Denkform oder
irgendeinen Denkinhalt gebunden [ist].« (Ebd.:32) »Das Denken
rationalisiert [...] das Bestreben des Wollens, Selbsterhaltung durch
Machterweiterung zu gewährleisten – und zugleich ermöglicht das Denken,
wenigstens ideell, die Machterweiterung, indem es die Forderung nach
Selbsterhaltung auf der breiten Grundlage des Weltbildes stützt.«
(Ebd.:33) Dieses setzt selbst wieder Verstehen, Rationalität und
Sprache voraus, also soziale Interaktion, und mündet schließlich im
Politischen, um den eigenen Machtanspruch mit dem der anderen in
Einklang zu bringen und im Rahmen von Institutionen, Normen oder
Idealen zu sublimieren (vgl. ebd.:50 f.). Diese drei ontischen Aspekte
des Sozialen ergeben Kondylis zufolge zusammen das theoretische
Triptychon der Sozialontologie, welches aufgrund seines Dreiklangs
entfernt erinnert, jedoch nicht zu verwechseln ist mit der
dialektischen Identität von Individuum, bürgerlicher Gesellschaft und
Staat, da wir es hier mit einem amorphen Kraftfeld »ohne Zentrum und
ohne Peripherie« (Kondylis 1999:208) zu tun haben und eben nicht mit
der geordneten Bewegung zu sich selbst kommender Subjektivität.
Nichtsdestotrotz versteht sich diese Wissenschaft, insgesamt
betrachtet, als eine Grundwissenschaft im klassischen Sinne. Denn nicht
einmal dem Geist oder der Vernunft wird Selbständigkeit zugestanden,
sondern jene beiden Vermögen sind selbst wieder funktional auf das Sein
der Gesellschaft zu beziehen. Philosophie entspringt also nicht einem
»klaren, unbestechlichen Intellekt, sondern einem vielfach
undurchsichtigen (anthropologischen und sozialen) ontischen Boden.«
(Ebd.:95) Andererseits behauptet Kondylis immer wieder, eine
Betrachtungsweise entdeckt zu haben, aufgrund derer wertfreie, dem
Relativismus und Normativismus überlegene Forschung möglich sei. Seine
Sozialontologie untergräbt allerdings diesen eigenen Anspruch und zieht
die zugrundeliegende Theorie in den Strudel des Relativismus hinein;
denn sie kann trotz aller Rationalisierungsbemühungen ihren blinden
Fleck, die eigene Willkür, ihren Status als bloß soziale und
historische Tatsache, nicht leugnen. Eine Degradierung der Vernunft
würde somit auch deren Leistungsfähigkeit tiefgreifend beeinträchtigen.
Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt: eine alles umfassende und
determinierende Einheit als solche zu denken, wie in
unserem Fall das Sein
der Gesellschaft (welches also nicht nur als Idee, sondern zugleich
auch als reales Prinzip angenommen werden muss, um eine Korrespondenz
zwischen beiden Ordnungen zu ermöglichen), ist letztlich unmöglich, ja
ein Widerspruch in sich, da sich die Dualität von Denken und Sein nicht
ontologisch aufheben (allenfalls dialektisch entfalten)
lässt. [Das Sein kann »nicht als Inhaltsbestimmung« gedacht
werden, aber »nur als Inhaltsbestimmung analytisch mit einem Begriff
verbunden sein ....« (Henrich 1960: 203)] »Das Wahre« wäre immer nur
»das Ganze bis auf Eins« (Hogrebe 1989:112) (qua Negation)
und damit unbrauchbar. Von dieser Tatsache sollte man auch nicht
dadurch ablenken, dass man auf die offensichtlichen Schwächen seines
theoretischen Gegners, also des Idealismus, verweist, der angeblich die
historische Vielfalt nicht erklären könne. Vielmehr sollte man sich
eingestehen – wie Volker Gerhardt es formuliert hat –, dass, wenn »die Wertfreiheit und
die Wahrheit einer
Deskription maßgebliche Ziele sein können, [...] bereits
eine Vernunft
wirksam sein [muss]« (Gerhardt 2006:18), die kein Werkzeug des Sozialen
wäre, sondern diesem autonom gegenüberträte und dadurch zum
Ausgangspunkt sozialphilosophischer Betrachtungen werden würde. Der
aufklärerische Impetus der Schriften Panajotis Kondylis’ sollte bewahrt
werden – ich denke hier an seine Ideologiekritik, an die Wertfreiheit
als Forschungsaufgabe, an seine Zurückweisung postmoderner
Beliebigkeit, an sein Vertrauen in die Kraft kausaler Analyse, an
seinen nüchternen und realistischen Blick auf die Dinge –, aber sein
Ansatz müsste sich in einen größeren Rahmen einbetten lassen. Die
Sozialontologie wäre allerdings dann keine Universal- und
Grundwissenschaft mehr, sondern eine postmoralische und präpolitische
Philosophie des Sozialen, deren Reichweite durch eben diese beiden
Achsen begrenzt wäre.
Betrachten wir Kondylis’ Ansatz philosophiehistorisch, erinnert er mit
seinen Stärken wie auch mit seinen Schwächen an den Spinozas, einen –
so Kondylis in einem Interview – »der edelsten und unbestechlichsten
Gestalten in der ganzen Philosophiegeschichte« (Kondylis 1994:693),
dessen Ethik
er nach eigenen Angaben bereits mit 14 Jahren zum ersten Male gelesen
hatte. In beiden Fällen haben wir es in der ontologischen
Grundkonzeption mit einem dreigliedrigen Aufbau zu tun: so, wie bei
Spinoza die Attribute der einen Substanz zwischen der Vielheit der Modi
und jener Einheit der Natur vermittelt, macht das sozialontologische
Triptychon bei Kondylis die Zwischenebene, das Spektrum, aus, welches
zwischen dem Sein der Gesellschaft auf der einen Seite und den sozialen
Tatsachen auf der anderen Seite, also zwischen Einheit als Einheit und
Vielheit als Vielheit, einen gedanklichen Übergang ermöglicht. Dabei
bildet das »Sein der Gesellschaft, als Urfaktum betrachtet,« wie
Kondylis schreibt, »den natürlichen Ausgangspunkt der Sozialontologie,
genauso wie das Sein der Welt schlechthin, ebenfalls als Urfaktum, die
gedankliche conditio sine qua non der philosophischen Ontologie gewesen
ist« (Kondylis 1999:196). Spinoza und Kondylis verstehen dieses Sein,
die Substanz, als den Anfangs- und Endpunkt, aus dem alles hervorgeht
und in den alles mündet, ohne »univok und eindimensional« (ebd.:206) zu
sein, da es sich äquivok durch seine Attribute manifestiert und
qualifiziert. Wir kennen, wie im Falle Spinozas, zwei, nämlich das
Denken und die Ausdehnung, bzw. bei Kondylis die drei ontischen Aspekte
des Sozialen. Da sie einer einzigen Substanz angehören, existiert eine
Parallelität der Attribute bzw. Aspekte, d.h. das Sein kann mal unter
dieser, mal unter einer anderen Perspektive betrachtet werden, obwohl
im Hintergrund das ganze Spektrum stets gleichzeitig präsent ist. Und
wie bei Spinoza »die endlichen Wesen [...] einer doppelten Bestimmung
[unterliegen],« (Kondylis 1990:230) da einerseits »Gott die immanente
Ursache der Dinge [ist],« andererseits »die Dinge als Glieder einer
Kette von endlichen Ursachen [erscheinen] und [...] entsprechend
determiniert [werden]« (ebd.:231), d.h. sie sind zugleich in Gott und
in einem anderen (vgl. Spinoza Ethik I 23), argumentiert auch Kondylis,
dass es auf der einen Seite die Perspektive der Sozialontologie gibt,
welche die sozialen Tatsachen nach allgemeinen Gesichtspunkten, mit dem
Faktum der Gesellschaft zusammenhängend, betrachtet, aber auch die der
Sozialwissenschaften und der Geschichte, welche diese konkret zu
erklären versucht, indem sie ihren Gegenstand in eine Kausalkette mit
anderen Gegenständen einreiht. Das Ziel der Erkenntnis ist bei beiden
Philosophen, das Verworrene und Kontingente abzustreifen und die Dinge
in ihren universellen Strukturen unter einer Art der Ewigkeit zu
begreifen. Dies gelingt am besten, wenn die eigenen Affekte beherrscht
werden, was indes bei beiden Denkern allenfalls approximativ zu
erreichen ist. Denn sie können nicht die Tatsache verleugnen, dass jedem, selbst dem
höchsten Wissen noch ein Streben, also eine Unvollkommenheit bzw. ein
Unvermögen, oder, in Kondylis’ Terminologie, eine Entscheidung,
folglich ein unreflektiertes Moment, zugrunde liegt, daher auch die
Erkenntnis niemals vollständig rational sein kann, sondern subjektiv
bleibt. Subjektivität und Bewusstsein spielen in beiden Ansätzen
allerdings eine auffallend marginale Rolle, da diese von der Substanz
bzw. dem Faktum der Gesellschaft als einem Absolutum ausgehen, welches
dogmatisch hinzunehmen ist, während die Philosophie diesem äußerlich
bleibt. Ihr akzidentieller, unselbständiger Status schwächt sie jedoch
selbst. Denn sie kann entweder nur Ausdruck eines endlichen Verstandes
sein und immer bloß eine verzerrte, von der eigenen extensio abhängige
Perspektive auf die Dinge werfen oder sie ist Ausdruck eines
unendlichen Verstandes, könnte aber dann auf Grund ihrer Allgemeinheit
gar nicht mehr diskursiv (sondern müsste intuitiv) erfasst werden.
Nehmen wir all diese dargelegten Entsprechungen zwischen Spinoza und
Kondylis ernst, kann die historische Kritik an jenem – ich denke in
erster Linie an die Kants, Fichtes und Hegels – grosso modo auch auf
diesen appliziert werden.
Den Einwand gegen Kondylis kann man mit den Worten Peter Furths noch
wie folgt formulieren: »Die Ausnahme, auf die Kondylis Anspruch erhebt,
[...] hebt seine Position aus dem Relativismus nicht heraus, sondern
ordnet sie in ihn ein. Was in einer Hinsicht als Ausnahme erscheint,
ist in anderer Hinsicht ein regulärer Fall. Es zeigt sich, daß auch für
Kondylis’ Ansatz gilt, daß sich niemand außerhalb eines Weltbildes
befinden kann. [...] Kondylis springt weit, aber er springt nicht über
Rhodos hinaus.« (Furth 2007:178 f.) Die Bedenken versuchte Kondylis
freilich zu zerstreuen, ohne auf sie näher einzugehen (vgl. Kondylis
1994:688). – Auf dieser prinzipiellen (nicht aber auf ihrer
deskriptiven) Ebene erscheint Kondylis‘ Sozialontologie mit ihrem
(Geltungs-)Anspruch, das Sein des Sozialen wertfrei definieren zu
können, als wenig überzeugend. Eine Vernunft, die das leisten kann,
dürfte nicht wieder einen sozialen und geschichtlichen Charakter haben,
sondern müsste autonom sein. Dies sprengte aber den ganzen Ansatz. Denn
dann setzte man dem Faktum der Gesellschaft ein Vernunftfaktum
entgegen, welches das Soziale zu einem Gegenstandsbereich in Differenz
zu anderen abwertete. Der Nimbus einer »Grundwissenschaft« von allem
»in Bezug auf den Menschen gegebenen Seienden« (vgl.
ebd.:170) wäre dahin, der stolze Name einer Sozialontologie
müsste dem bescheidenen einer bloßen Analytik der Gesellschaft Platz
machen [vgl. Kant AA 3 (Kritik der reinen Vernunft):207 (B 303)]. Nicht
nur das Selbstverständnis, auch der Aufbau der Wissenschaft würde sich
dabei ändern, da sie kein amorphes Kraftfeld mehr beschriebe, sondern
ein in sich gegliedertes und geordnetes Ganzes, das von einem
Einheitspunkt ausginge, nicht mehr polemisch und vernunftskeptisch von
Vielheit. Sie würde nicht, was man ihr gerne unterstellt, die konkrete
Vielfalt der Geschichte leugnen, sich aber zugleich auch der Tatsache
bewusst sein, dass bei Unterscheidungen stets die Seite den Vorzug
genießt, welche »die Kontinuität zum Ursprung wahrt« (vgl. Luhmann
1996:115 f.). Denn die Einheit bzw. der Grund der Unterscheidung von
Einheit und Vielheit ist selbst wieder Einheit, nicht Vielheit.
Erkenntnis ist das Produkt einer Synthesis, enthält also stets beide
Momente, wobei der Schwerpunkt auf den Verstandes- bzw.
Vernunftleistungen liegt, was Kondylis‘ Ansatz außer Acht lässt.
Selbstverständlich darf man gegenüber keiner Seite blind sein, sollte
jedoch wissen, welcher im Zweifelsfall die Priorität gebührt. Unsere
Begriffe ordnen, wie Kant es dargelegt hat, die Sinnlichkeit und
bewirken mit ihr zusammen die Erkenntnis, wie auch (in orthogonaler
Richtung) diese, als Resultat genommen, auf ihre Rationalität (die Frage: worum geht es, was
ist der Fall?) und ihren unergründlichen
Entscheidungscharakter (was
steckt dahinter?) hin zerlegt werden kann. Doch auch bei
diesen beiden Seiten muss
die Vernunft dominieren, welche bemüht ist, die Entscheidung immer
weiter zu rationalisieren, um nicht sogleich wieder diskursiv
untergraben zu werden und damit ein Machtmittel zur Sicherung des
Selbsterhaltungsstrebens preisgeben zu müssen. Wir sind somit zur
intellektuellen Redlichkeit und zur »Verbindlichkeit vernünftiger
Argumentation« (Sandermann 1989:66) geradezu gezwungen, –
verpflichtet! Das selbständige, allgemeingültige und einstimmige Denken
(vgl. Kant AA 5:294 f.) fordert von uns der hypothetische Imperativ der
Klugheit oder sogar der kategorische Imperativ der Moral, welcher
»innerhalb der Vernunft und der sie explizierenden Vernunftphilosophie
der ›höchste Punkt‹ überhaupt« ist (vgl. Brandt 2007:356) . – Kondylis
beschreibt in Macht und
Entscheidung diesen Prozess der Rationalisierung übrigens
selbst, wenn er darauf hinweist, dass »der kontinuierliche
argumentative Kampf der Theoretiker gegeneinander und die dabei vor
sich gehende Verfeinerung von Argumenten und logischen Instrumenten
überhaupt« ein immer rationaleres Weltbild »zur Folge [hat], [...] da
seine einzelnen Bestandteile den Gegenstand minutiöser Untersuchungen
und Auslegungen ausmachen, die feindlicher Prüfung standzuhalten haben
[...].« (Kondylis 1984:109) Sogar Zugeständnisse an Moral und
Gemeinwohl müssen gemacht werden, andernfalls würde die Identität und
der mit ihm sich äußernde Machtanspruch sofort wieder in Frage gestellt
werden (vgl. ebd.:51).
Freilich wird sich der Makel des Irrationalen auf diese Weise niemals
ganz beheben lassen, aber er kann minimiert und schließlich in einem
letzten Schritt sogar aufgehoben werden durch die Idee einer
regulativen Einheit des Ganzen, welche die einzelnen Momente in ihrem
Neben-, Nach- und Miteinander rationalisiert. Die Perspektivenvielfalt
wird in einen Rahmen integriert und ausbalanciert, wie es
beispielsweise im Falle einer modernen Verfassung geschieht, deren zwei
Ziele nach Kant lauten: »1.
conservatio totius, 2. suum cuiusque.« [Kant AA 19:504 (R
7736)] Kondylis erinnert in Der
Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform aber noch
an zahlreiche andere Beispiele, die jene »synthetisch-harmonisierende
Denkfigur« in der Vergangenheit zur Anwendung brachten, etwa an die
Metapher der unsichtbaren Hand, welche »die chaotische Vielfalt des
Geschehens in der freien Wirtschaft« – die einzelnen Egoismen also –
»in funktionierendes Gleichgewicht verwandelt [...].« Oder an das Ideal
der Ehe, welche die ihr zugrundeliegenden »Gefühle und Triebe
objektiviert«, sie in eine »dafür vorgesehene Institution« überführend
(vgl. Kondylis 1991:41 f.) Ganz zu schweigen von dem mittlerweile
aufgegebenen Anspruch der Philosophie, systematisch zu denken. Gäbe es
nicht die übergreifende Idee einer Einheit oder List der Vernunft,
würde das Rationalitätskontinuum letztlich doch auseinanderbrechen und
der Dezisionismus die Oberhand behalten; Kondylis’ Ansatz wäre recht zu
geben.
Denn für ihn war die Vernunft am Ende doch nur »ein Instrument im
Dienste der individuellen oder kollektiven Selbsterhaltung« – also »im
Dienste der Macht im weitesten Sinne des Wortes« (ebd.:149) – und ohne
autonomen Stellenwert. Bestätigt sehen konnte er sich durch die
Tatsache, dass die liberale bürgerliche Moderne historisch gescheitert
war, als ihre gesellschaftlichen Träger der (werdenden, ja nach seiner
These selbst provozierten) Massendemokratie außer Vernunft und
Elitismus nichts entgegensetzen konnten (vgl. ebd.:169 ff.; 1999:142).
Fortlaufend hatte der Liberalismus Zugeständnisse machen müssen, die
schließlich die eigene Substanz aushöhlten; nur noch der Name blieb am
Ende wie eine Hülle und zum polemischen Gebrauch in der politischen
Auseinandersetzung übrig. Nach Kondylis war der liberale Ansatz,
institutionell gesehen, viel zu fragil, viel zu intellektuell,
idealistisch und individualistisch, um gegen jene
Homogenisierungsmaschine, einen sich formierenden, sehr kompakten und
sich wechselseitig stützenden Machtkomplex aus Politik, Ökonomie und
Massenkultur, auch nur den Anflug einer Chance zu haben. Sein Abgesang
in Der Niedergang der
bürgerlichen Denk- und Lebensform ist daher keinesfalls
»›melancholisch‹« zu verstehen, sondern gänzlich unsentimental, da sich
– das alte Lied – Menschen wieder einmal zu viele Illusionen gemacht
und dabei schlicht und ergreifend verkalkuliert hatten. Selbst wenn
bürgerlich-liberale Ordnungsvorstellungen auf dem Papier richtig waren,
taugten sie nicht für die Praxis, da, so mag man mit Spinoza ergänzen,
die Menschen primär ihren Affekten unterworfen sind und sich mehr von
Ressentiments und ihren momentanen Interessen leiten lassen statt von
Einsicht. Folglich sind die »natürlichen Grundlagen des Staates« auch
»nicht den Lehrsätzen der Vernunft zu entnehmen,« sondern den Gesetzen
der Natur im allgemeinen (Spinoza Politischer Traktat I 7). Wer etwas
anderes meint, ist nach Spinoza und wohl auch nach Kondylis ein Träumer
(vgl. ebd. I 5), der eine Satire, aber keine brauchbare Staatslehre
verfasst (vgl. ebd. I 1). Die realen (Macht-)Verhältnisse sind somit
der blinde Fleck einer Vernunftphilosophie, welche ihn jedoch nicht
wahrhaben will, weshalb sie, obwohl im Recht, zumindest scheinbar, am
Ende doch unrecht hat. – Muss daher die Vernunft durch Erfahrung
reformiert werden? Oder wäre es nicht dann um die Vernunft geschehen,
wenn die empirischen und daher zufälligen Bedingungen – also die
Unvernunft im weitesten Sinne – die autonome Vernunft selbst bestimmen
würden (vgl. Kant AA 8:277)? Jedenfalls reicht dieses als Frage
verkleidete (rationale) Gegenargument allein nicht aus, um die Rolle
der Vernunft entscheidend zu stärken. In Zukunft käme es um so mehr
darauf an, den von ihr postulierten Liberalismus »selbst als ein Gut zu
begreifen und nicht zu zögern, in ethischer Parteilichkeit und aus
politischem Selbstinteresse durch couragierte politische Erziehung für
seinen Fortbestand zu sorgen.« (Kersting 2000:58) Dieser ist
historisch, nicht prinzipiell gescheitert.
Kommen wir zum Schluss noch einmal auf unseren Kritikpunkt zu sprechen:
so überzeugend die Ausführungen Kondylis’ auf dem ersten Blick anmuten,
fehlt ihnen doch insofern die letzte Verbindlichkeit, als sie das
Faktum autonomer Vernunft, welches dem Faktum der Gesellschaft
einschränkend entgegentritt, in ihre Argumentation nicht einbeziehen.
Dennoch bleibt Kondylis’ Ausrichtung einer Sozialontologie, welche die
Konstanten menschlicher Gesellschaft fixiert, ohne dabei ein
geschichtsphilosophisches oder sozialpädagogisches Telos im Auge zu
haben, ein Desiderat; sie müsste nur aus einer anderen, nicht
objektivistischen, sondern transzendentalphilosophischen Perspektive
als Sozialphilosophie neu formuliert werden, was zugleich Auswirkungen
auf die interne und externe Theoriearchitektur hätte. Sie selbst wäre
sodann Teil der Moralphilosophie, da nicht davon abgesehen werden kann
(mag Kondylis es auch als irrelevant betrachten), dass wir es in einer
Gesellschaft mit selbstverantwortlichen Individuen zu tun haben. Der
moralische Kosmos überspannte also auch die Sozialphilosophie, obgleich
sich diese, da ein ethisches Gemeinwesen nicht zu erwarten ist, gerade
auch den Grenzen der Moral bewusst wäre und auf der Schwelle zu einer
politischen Philosophie stünde, welche die Aporien der Ethik aufzuheben
versucht. Aufgezeigt zu haben, dass der Rückgriff auf Moral nicht
selbst wieder aus einem moralischen Motiv entspringen muss, ist
sicherlich auch das Verdienst von Panajotis Kondylis’ Werk und der
Tradition, in der er steht; diese Überlegungen führen nicht zu einer
Suspendierung der Moral, wie oft vorschnell unterstellt wird, sondern
zu ihrer Vertiefung durch die Beseitigung ihres plakativen Gebrauchs. –
Betrachten wir die Binnenstruktur einer derart gewendeten Theorie des
Sozialen, müsste in einem interdependenten Figurationsmodell (vgl.
Elias 1971:139 ff.) selbstverständlich von einem Ich als dem zentralen
Korrelationspunkt – theoretischer wie auch praktischer Natur –
ausgegangen werden, denn nicht nur scheitern alle Versuche,
Selbstverhältnisse »aus vorgängigen Sozialbezügen […] zu erklären«,
weil sie »sich notwendig
in denselben Zirkeln [verwickeln],« die sich »für die Erklärung von
Selbstbewußtsein aus Reflexion« ergeben (vgl. Frank 1993:116), sondern
diese können auch nur schwer verständlich machen, »kraft welcher
Instanz Gesellschaften sich korrigieren, verändern, gar revolutionieren
können« und »wieso die moderne Tradition dem Einzelnen […] jene
unvertretbare Würde und jenes unveräußerliche Eigenrecht zuerkannt hat,
das wesentlicher Bestandteil aller Formulierungen der
Menschenrechts-Erklärung war und ist.« (Frank 1991:477) Gleichwohl ist
das Sein des Selbst im sozialen Raum immer schon eingebettet in Weisen
des Mitseins. Es wächst hinein in eine Kultur, »in der ihm Fürsorge und
Geleit zuteil werden« (Henrich 2007:189). Das vertraute Du,
das für die außergewöhnliche Beziehung eines Ichs zu einem anderen
steht, wäre somit an zweiter Stelle zu nennen. Eine dritte Person
würde, auf seine Rechte pochend, die ethische Asymmetrie des
lebensweltlich Partikularen auszubalancieren und Selbstheit und
Andersheit zu neutralisieren versuchen, indem es im Namen der
Gerechtigkeit zu sozialen Ordnungsentwürfen anhält, denen sich
schließlich die vierte Person widersetzt, weil sie trotz intendierter
Vollinklusion ausgeschlossen ist und das Ausgeschlossene, sozusagen die
Kehrseite von Sozialintegration, repräsentiert. Selbstheit, Andersheit,
Inklusion und Exklusion: mit Hilfe dieses Mikrokosmos lassen sich alle
gesellschaftlichen Konstellationen beschreiben. Vielleicht könnte
Kondylis dem noch zustimmen – die Thematik des Selbstseins
korrespondiert mit dem einer Anthropologie, die Position einer zweiten
und vierten Person mit dem Gefälle einer sozialen Beziehung zwischen
Freundschaft und Feindschaft, der Dritte schließlich mit der Dimension
des Politischen, wobei wir es nicht für sinnvoll halten, das Politische
von Ordnungsvorstellungen im allgemeinen abzugrenzen, da die Übergänge
fließend sind, also nicht gesagt werden kann, wo das Politische
eigentlich beginnt, bereits in der Familie oder erst im lokalen
Bereich, im Regionalen, im Nationalen oder im Globalen? Wer hier eine
Unterscheidung vornimmt, müsste ähnlich wie Aristoteles teleologisch
argumentieren. Doch abgesehen davon, dürfte der Unterschied des
skizzierten Modells zu Kondylis vor allem darin liegen, dass laut
dessen Theorie Vorstellungen vom Gemeinwohl eine Gesellschaft zwar
durchziehen, wir aber meinen, dass es überpositiver Normen bedarf, die
in einer von der Sozialphilosophie unabhängigen Politischen
Wissenschaft behandelt werden müssen, um eine Ordnung bewerten zu
können. Dass dies möglich ist, dass nicht jede Ideologie gleich zu
behandeln ist, in diesem Punkt unterscheiden wir uns.
Zusammenfassung
Panajotis Kondylis’ Sozialontologie möchte wertfrei aufzeigen, wie
Gesellschaft an sich verfasst ist noch vor jeder möglichen Konkretion.
Der Erkenntniswert seiner Analysen ist dabei wie immer groß,
reflektiert man aber auf deren epistemologischen Status, ergeben sich
Probleme, die Kondylis mit allzu leichter Hand übergeht. Da nämlich
seinem Ansatz zufolge gerade auch das Wissen und die Wissenschaft als
soziale und historische Tatsachen aufzufassen sind, wird zugleich der
eigene Geltungsanspruch relativiert. An Hand eines Vergleichs mit
Spinoza wird dargelegt, dass die historische Kritik an diesem wieder
sehr aktuell gewordenen Philosophen letztlich auch auf Kondylis
appliziert werden kann. Alternativ plädiert der Text für eine
transzendentalphilosophische Herangehensweise – dem Faktum der
Gesellschaft ein Faktum der Vernunft entgegenstellend –, die aber
Auswirkungen auf die interne und externe Theoriearchitektur hätte. Die
Sozialontologie wäre dann keine holistische Grundwissenschaft mehr,
sondern, obwohl sich selbst als eine postmoralische und präpolitische
Philosophie verstehend, durch eben diese beiden Achsen in ihrem
Einfluss begrenzt.
Vortrag auf dem Symposium Sozial- und kulturphilosophische Grundorientierungen im Zeitalter »planetarischer Politik« im Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg (Oktober 2008)
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