Gabi Rüth
Schatten der Schatten –
Anmerkungen zu Walter Rüths Foto-Sequenz Simply Cuts

Der Lichtpunkt gleitet näher. Woher kennt er das nur? Vor ihm
bewegen sich Schatten, deren Formen zerfließen. Manche sind starr,
geometrisch geformt, nur erkennen kann er sie nicht, sie huschen
vorbei.
Ulrich Schödlbauer, Porca Madonna

1.

Schatten gehören zur Welt. Schatten sind als physikalisch fassbares Phänomen fest verortet in der empirischen Sphäre. Schatten [ahd. scato]: dunkler Raum hinter einem beleuchteten, undurchsichtigen Körper. Zugleich reichen Schatten weit hinaus über jede naturwissenschaftliche Festschreibung: Sie stellen ein vielschichtiges metaphorisches und symbolisches Repertoire. Schatten sind kulturelle Konstrukte. In diesem Sinn werfen Schatten lange Schatten. Das macht sie interessant für Künstler. Ihre Doppelrolle, ihre Zwitterstellung, das Changieren zwischen Alltäglichkeit und Aufgeladensein prädestiniert sie für den Einsatz in ästhetischen Kontexten. Mit der Vokabel Schatten ist unweigerlich eine Fülle von Konnotationen verbunden. Sie evoziert die Vorstellung eines Schatten spendenden Baumes in der Gluthitze eines Sommertages – Labsal verheißend. Zugleich gemahnen Schatten an Teufelspakte, Traumata, verdrängte Begierden, dunkle Gestalten und nicht zuletzt das weitläufige Reich der Toten. O hab’ mit mir Erbarmen, Wer du auch seist, ob wirklich Mensch, ob Schatten (Dante). Wenn Walter Rüth sein sublimes Spiel mit der Kamera eröffnet und für Simply Cuts Schatten einfängt, um sie in der für ihn spezifischen Weise zu präsentieren, sind die Schatten der Schatten stets anwesend.

Für Plinius den Älteren steht ein Schatten am Anfang der Malerei: Die Griechen behaupten theils, daß sie zu Sicyon, theils daß sie bey den Corinthern erfunden sey: alle sagen aber, sie sey darinn bestanden, daß man den Schatten eines Menschen mit Linien umzogen habe. Und so sey sie anfänglich gewesen. Ein Mädchen aus Korinth soll den Schattenriss des Geliebten nachgezeichnet haben, auf dass er trotz leiblicher Abwesenheit anwesend bleibe. Ein Bild, das auf die Existenz des Schattengebers zurückweist und zugleich eine Metamorphose durchläuft, die es abhebt vom Ursprünglichen. Es ist Abbild eines Körpers und dennoch nicht identisch mit ihm; etwas fehlt, aber zugleich kommt anderes hinzu. Der Schattenriss bietet sich als Projektionsfläche für die Erinnerungen und Phantasien des Mädchens an. Das Kunstwerk weist zurück und zugleich nach vorn. Fremde Betrachter assoziieren mit dem Schattenkörper ohnehin vollkommen anderes – gemäß ihrer privaten und kulturellen Prägung. Sie werden die an den Bildern geschulten ästhetischen Kategorien wiederum bei der Betrachtung der realen Welt anlegen. Kunst- und Weltwahrnehmung sind keine Einbahnstraßen. Das nur am Rande. Wenn laut Plinius der Vater der jungen Künstlerin auf der Grundlage ihres Schattenrisses Tonarbeiten fertigt, sich der Abstand zum Ausgangsobjekt vergrößert, hat die Reproduktion sich längst in eine Produktion verwandelt. Aus dem Abbild ist ein Bild geworden – kreativer Akt eines Künstlers, der die Rolle des Kopisten abgelegt, sich aus empirischen Korsetten befreit hat.

Im Zusammenhang mit Walter Rüths Schatten-Sequenz ist die ursprüngliche Verankerung des Schattens in der Kunst relevant. Sie ist nicht hintergehbar. Folgt man Plinius’ These von der Geburt der Malerei aus dem Schatten implizieren Rüths Schattenarbeiten auch Aussagen über die Kunst. Sie sind selbstreflexiv.

Simply Cuts fungiert wie andere Kunstwerke – auf merkwürdig doppelte Weise, bedingt durch den zurückverfolgbaren Ausgang von einem außerhalb liegenden Etwas – als Bindeglied zwischen materieller und immaterieller Welt. Kunst hat, wenn sie es ernst meint, zwei Anker: einer steckt in der Welt der Sinnlichkeit, der andere im Reich der Ideen. Kunst bringt auf buchstäblich phantastische Weise zur Anschauung, was ansonsten in der Sphäre des Denkens, der Diskurse, des Abstrakten verbliebe. Kunst ist sinnliche Erscheinung, in der Ideen ihren Widerhall finden: Umbrae idearum. In diesem Sinn lassen sich Giordano Brunos Schatten der Ideen als Metapher für die Kunst lesen. Mit diesen Schatten hebelt Bruno jedes antithetische Programm aus, er wertet Philosophie und Kunst, Vernunft und Sinnlichkeit als gleichrangige Facetten der Weltwahrnehmung. Was aber die Schatten der Ideen angeht (…), so sind diese genau die, die am meisten zum Ziel zu führen vermögen, wenn durch sie der Aufstieg geschehen soll, und unter ihnen soll man nicht schlafen. Walter Rüth erfüllt in seiner fotografischen Auseinandersetzung Giordano Brunos Postulat. Die Schatten-Bilder sind (auch) Gestalt gewordener Geist.

Aber was muß ich sehen!
Kann das natürlich geschehen?
Ist es Schatten? Ist’s Wirklichkeit?
Wie wird mein Pudel lang und breit!
(Faust)

2.

Der Bezugsrahmen ist markiert. In ihm findet Rüth mit seinem subtilen Kamera-Spiel eine eigene Position. Er verhilft den Schatten zu einem Soloauftritt – und verweist zugleich auf das bunte Ensemble, das hinter den Kulissen die Fäden in der Hand hält.

Die Proben laufen. Auf der Bühne agiert eine Tänzerin. Ein Lichtkegel verfolgt sie. Ihr Körper wirft einen klaren Schatten. In ihm verdoppelt sich jede Bewegung, jeder Schritt, jede Geste. Dann eine Veränderung: Plötzlich scheint der Schatten losgelöst von der Tänzerin zu agieren. Er folgt nach wie vor exakt ihrer Choreographie – doch eher als mimetisch agierendes Einzelwesen denn als Schatten. Auf diesen Moment der Ablösung hat es Christiane Neudecker abgesehen. In ihrer Erzählung Wo viel Licht ist lässt sie einen Lichtkünstler experimentieren, um herauszufinden, wann der Schatten als nicht mehr der Gestalt zugehörig wahrgenommen wird: Bei zwei Sekunden Verzögerung gehört der Schatten noch zur Tänzerin, der Zuschauer begreift ihn als Teil von ihr. Aber dann kippt etwas. Schon bei drei Sekunden empfindet man den Schatten als Verfolger. Irgendwo dazwischen also passiert die Abkopplung, irgendwann zwischen der zweiten und der dritten Sekunde. Es bedarf eines wohl kalkulierten Eingriffs von außen, um die Tänzerin von ihrem Schatten zu befreien – oder den Schatten von ihr. Er ist der Mann, der deinen Schatten stehlen wird, so war ihr der Softwarekünstler aus Deutschland vorgestellt worden. Das bleibt in der Erzählung nicht ohne Konsequenzen – die Autorin hat die Lektion, die die Literatur im Fall eines solch geradezu blasphemischen Vergehens vorgibt, gelernt: Schatten stiehlt man nicht ohne Strafe.

Das wirft die bange Frage auf: Was geschieht mit Walter Rüth? Auch er ist der aktive Dritte im Bunde, vollzieht mit seiner Kamera einen harschen Schnitt, trennt, was eigentlich untrennbar ist: die Person und ihren Schatten. Mehr noch: Er verbannt die Ursprungsgestalt aus dem Sujet, präsentiert die fotografierten Objekte auf vollkommen neutralem Hintergrund. Damit vollzieht er exakt das Verfahren, das er in grab_art etabliert hat: das Herauslösen von Gegenständen unterschiedlichster Art aus ihren Kontexten, um sie auf neue Weise zu präsentieren – gleichsam jungfräulich. In dem Moment, in dem ein Betrachter sie in Augenschein nimmt, verlieren sie ihre Unschuld. Das ist Teil des ästhetischen Konzepts, das Ulrich Schödlbauer folgendermaßen umschreibt: »Ergreifen, was uns ergreift« lautet die Formel dafür, die aber insofern ungenau bleibt, als dieses Ergreifen niemals und nirgends als ein einziger Akt vorgestellt werden kann, sondern eher dem Balancieren auf einem Hochseil gleicht. So etwas geht nur Zug um Zug, es ist weniger ein Vorankommen als ein ausgleichendes Sich-Hineintasten in immer neue Lagen, in immer neue Gleichgewichtskonstellationen, in denen die derart radikal verkürzte Welt ebenso ein neues Aussehen bekommt wie der Artist, obwohl beide nicht wirklich aus ihrer Vertrautheit entlassen werden.

Und nun stehen sie da, die Schatten, in ihrer ganzen Pracht. Sie wollen als das gesehen werden, was sie sind. Doch was sind sie? Schwarze Bildflächen, deren Umrisse zu Spekulationen Anlass geben? Wovon kündet etwas, das auf das Abbild seiner Oberfläche reduziert wurde? Etwas, das die charakteristischen Merkmale der Person, besser: einer Persönlichkeit, eben nicht mehr oder nur teilweise oder nur verzerrt wiedergibt? Das dennoch mit aller Macht als etwas Figuratives interpretiert werden will? Das Individuelle, das innere Eigensein scheint getilgt. Es bleiben Masken, denen Rüth ihren Auftritt gewährt.

In diesem Sinn erweist sich Simply Cuts als Schule des Sehens und vor allem des Deutens. Für einen Löwen in der Hitze der Savanne mag ein Schattenfleck angenehme Kühle und erfrischenden Schlaf bedeuten, für einen Psychiater vermag er die verdeckten Traumata eines Patienten zu symbolisieren. Die Bedeutungen der Dinge erwachsen aus dem Kontext dessen, der sie wahrnimmt. Jakob Johann von Uexküll macht in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen Tier und Mensch. Folgt man seiner Argumentation, so haben die Dinge keine Bedeutung an sich, vielmehr wandelt sich die Bedeutung entsprechend dem wahrnehmenden Subjekt und seiner sich aus jeder Sinnesinsel ergebenden Umwelt: Jeder von uns beobachtete Gegenstand wechselt nicht bloß seinen Bedeutungston, sondern auch den Aufbau all seiner Eigenschaften, sowohl der stofflichen wie der formalen, von Umwelt zu Umwelt. Jedes Gespräch mit einem Betrachter der Simply Cuts liefert einen Beleg für Uexkülls These, hält aber zugleich eine Pointe parat: Die schwarzen Bildflächen, um es so neutral wie möglich auszudrücken, sind Vorlage zur Interpretation, liefern eine Projektionsfläche, ohne sich jedoch in dieser Funktion zu erschöpfen. Rüths Schattenkabinett scheint ein Eigenleben zu führen, scheint über eine eigene Umwelt – im Sinne Uexkülls – zu verfügen, die nicht unbedingt jedem zugänglich sein muss. Und somit haben sie auch einen gravierenden Mehrwert gegenüber Uexkülls eigener Schatten-Deutung. Für ihn ist die objektive Welt eine Mär, der positivistisch ausgerichtete Wissenschaftler anhängen, ein Schatten, der verwechselt wird mit einer Welt, die sich gleich einem Puzzle aus einer Vielzahl von Umwelten zusammensetzt: Sie machen den Schatten zum Herrn der Wirklichkeit, rügt Uexküll bereits in der Einleitung seines Erinnerungsbuches: Denn die objektive Welt ist nichts anderes als ein sehr durchsichtiges Schattenbild aller menschlichen Umwelten und besitzt nicht die mindeste eigene Realität. Genau das ist in Bezug auf Rüths Schatten fraglich. Von einem gewissen Punkt an bleiben sie rätselhaft. Und so soll es sein.

»Zu dir will ich, Geist des Bösen und Herrscher der Schatten«,
antwortete der Ankömmling und blickte Voland unter gesenkten Brauen
hervor unwirsch an. »Wenn du zu mir kommst, warum sagst du mir
nicht ›Guten Tag‹, ehemaliger Zöllner?« fragte Voland barsch. »Weil
ich nicht will, daß du gute Tage hast«, antwortete der Ankömmling
frech.
(Michail Bulgakow, Der Meister und Margarita)

3.

Losgelöst aus ihrem gewöhnlichen Doppel-Kontext liegen die Schatten hingestreckt da: wundersame Figuren, die die physikalischen Gesetzmäßigkeiten brechen, Gestalten, die eine eigenwillige Physiognomie behaupten. Monsieur Etienne de Silhouette hätte seine Freude daran. Oder auch nicht, denn es handelt sich ja nicht um Schattenrisse, bei denen die Körper als Schatten erscheinen, sondern die Schatten erscheinen vielmehr als Körper. Das ist ein anderes Spiel. Es lässt keine physiognomischen Studien des Originals zu, weil es kein Abbild ist, sondern ein Zwitterwesen, das die Emanzipation einfordert. Rüths schwarze Wesen: weder Schattenriss noch Spiegelbild, ohne sichtbaren Rückverweis auf ein Original – sondern selbst zum Original geworden. Dieser Status ist neu, befördert vom Blick durchs Objektiv und die Entscheidung für diesen speziellen Bildausschnitt. Das legt eine Interpretation nahe: Der Druck auf den Auslöser wird zum surrealen Akt. Die Schatten werden aus ihrer gewöhnlichen Umgebung gelöst – ähnlich den sorgsam präparierten Ohren und Händen der Surrealisten: Alberto Giacomettis Gipshand auf The Surrealist Table oder Joan Mirós an eine Leiter geheftete Ohrmuschel in Carnaval d’Arlequin. Die losgelösten Hände, das einzelne Ohr fungieren nicht länger als Teile eines nun verlorenen Körpers, sondern werden zu selbstständigen Objekten, die ihre Symbolkraft aus der neu geschaffenen künstlichen Umgebung beziehen. So gewinnen sie eine originäre Bildsprache. Dasselbe gilt für Simply Cuts. Die Schatten sind objets trouvés im Sinn der Surrealisten – allerdings werden sie hier solo präsentiert. Entscheidend ist: Weder in den Bildern der Surrealisten noch auf den Fotoarbeiten wird der Moment der Abtrennung gezeigt. Das ist Teil des Spiels: Nur das Ergebnis darf gesehen werden. Wie es dazu kam, muss ausgespart bleiben, sonst verliert der Effekt an Wirkung: Die Materialisierung, die in diesem Umfeld zustande kommt, soll die Grenzen zwischen Imagination und Realität zum Verschwinden bringen. Die »objets« werden zu Beweisstücken für die Wirklichkeit einer antirationalistischen, Traum und Realität konjugierenden Welt. Werner Spies bezieht sich in seinem Katalog Die surrealistische Revolution auf die innovativen Bildensembles der Surrealisten. Auch Simply Cuts stößt in die Lücke zwischen Imagination und Realität. Hierin findet das Wechselspiel von Fremd- und Vertrautheit statt. Es sind einerseits Figuren, die jeder aufmerksame Spaziergänger buchstäblich auf der Straße liegen sehen kann – vorausgesetzt, die Sonne scheint –, zugleich können die Wesen, derart losgelöst von Ort und Zeit, auch Träumen, Visionen oder Rauschzuständen entstammen. Repräsentieren die Schatten auf dem Foto die eigenen Schatten? Das Verdrängte im Sinne C.G. Jungs? Oder handelt es sich vielmehr um Wesen gänzlich anderer Natur? Suchen sie uns heim oder sind es Wohltäter? Hinweise für unterschiedlichste Interpretationsansätze sind gegeben. Einige Schatten-Szenen wirken wie Variationen des Spiegel- und Doppelgängermotivs, womit sich wiederum eine Verbindung zu den Surrealisten ergibt. In Le Sens de la nuit (1927), einer nächtlichen Strandszene von René Magritte, ist frontal ein vornehm gekleideter Herr mit Melone zu sehen, die Augen geschlossen. Eine ähnlich aussehende Person – nun in Rückenansicht – bewegt sich Richtung Meer – wobei sich beide Figuren einen Schatten teilen. Der Schatten bindet sie gewissermaßen aneinander, unterstützt die spontane Interpretation, dass es sich nicht um zwei Personen, sondern lediglich um zwei Ansichten einer Person handelt. Doch am voranschreitenden Fuß der rückwärtigen Figur beginnt der Schatten sich zu teilen. Er verdoppelt sich. So gesehen scheint es sich nun eher um zwei Personen mit (eventuell) identischem Äußeren zu handeln. Eine verwirrende Szene. Sie wirft viele Fragen auf. Unter anderen auch diese: Wer oder was ist das Original? In Simply Cuts ist die Entscheidung gefallen. Dank eines spezifischen Zugriffs gelang den Schatten die Emanzipation. Anders formuliert: Rüths ästhetisches Konzept stellt Brechts berühmten Vers auf den Kopf: In Simply Cuts sieht man nur das Dunkle, die im Lichte sieht man nicht. Dem Verlust der Konturen, dem Moment der Auflösung einer Person in eine Schattenfläche setzt Rüth seine Schatten-Parade entgegen. Der Schatten nivelliert nicht die Individualität, er garantiert sie. Es geht nicht um den Verlust von Originalität, sondern um ihren Gewinn. Wer genau hinschaut, sieht allerdings, dass das alte Spiel sich fortsetzt: Längst sind den Schatten Schatten gewachsen.

Die Surrealisten schätzten – auch wenn die Belege zahlenmäßig eher überschaubar sind – das Medium der Fotografie zur Umsetzung ihrer Programmatik. Der Grund: Fotografie verfügt a priori über einen Doppelcharakter. Einerseits hat sie dokumentarische Qualitäten, vermag exakt festzuhalten, was zu sehen ist, zugleich sprengt sie diesen Rahmen, ist ein Foto doch nie identisch mit dem, was es abbildet. Vielmehr schafft es eine eigene Bildrealität, gibt einen interpretierten Wirklichkeitsmoment wieder – das gilt einmal mehr, wenn es sich nicht um Reportage- sondern künstlerische Fotografie handelt. Geradezu hymnisch klingt das Lob Dalís: Zusätzlich zu der enormen Strenge, der das fotografische Faktum auf der einen Seite unseren Geist unterwirft, ist dieses außerdem und VOR ALLEM DER SICHERSTE TRÄGER DER POESIE und der geschickteste Vorgang, um die feinsten Wechselwirkungen einzufangen, die sich zwischen Realität und Surrealität ergeben. Die Tatsache der fotografischen Umwandlung allein bedeutet schon ein vollständiges Neufinden: nämlich das Einfangen einer JUNGFRÄULICHEN WIRKLICHKEIT.

Frauen mit Schatten nehmen gewöhnlich ein schlimmes Ende.
(Tolstoi, Anna Karenina)

4.

Peter Schlemihls wohlbekannte Geschichte beginnt mit einer höflich vorgetragenen Bitte: Verzeihen Sie mir die freilich kühne Zumuthung. Sollten Sie sich wohl nicht abgeneigt finden, mir diesen Ihren Schatten zu überlassen. Was folgt, lässt sich in einen Satz fassen: Peter Schlemihl kommt dem Wunsch des Herrn in Grau nach – und wird seines Lebens nicht mehr froh. Warum eigentlich nicht? Der vertraute Text gibt ein Rätsel auf, das um genau diese Frage kreist: Warum muss der Schlemihl leiden? Er könnte getrost ohne Schatten, aber mit seinem Fortunati Glücksseckel von dannen ziehen, erhobenen Hauptes seine Schattenlosigkeit tragen, den mitleidigen oder verächtlichen Blicken der anderen statt triefender Larmoyanz ein sattes Selbstbewusstsein entgegensetzen – der treue Bendel steht ohnehin an seiner Seite. Er könnte die schöne Mina heiraten, Projekte sponsern in der Stadt, die ihn als Grafen Peter willkommen heißt. Er könnte die Armen speisen, die Kranken pflegen (wie es später im Schlemihlio geschieht), seiner Frau ein treuer Mann sein, schließlich ist er – und das sollte den Ausschlag geben – noch im Besitz seiner Seele und (diese Verknüpfung legt der Text nahe) eines intakten Wertesystems. Peter Schlemihl wäre also durchaus als schattenloser, aber glücklicher Mensch denkbar. Welche frühe Schuld hat er auf sich geladen? Wofür die selbstauferlegte Buße? Und büßet er, so ist es Buße der Versöhnung. Thomas Mann wertet den Schatten als Symbol aller bürgerlichen Solidität und menschlichen Zugehörigkeit und sieht in Schlemihl/Chamisso die Gezeichneten und Ausgeschlossenen dieser Welt, heimatlos Umherstreifende. Der Text allerdings widerspricht dieser Lesart: Schlemihl ist von Beginn der Geschichte an ein Fremder in der Fremde (nicht erst nach dem Handel). Auch später wird er nicht vertrieben, sondern hat eine klare Entscheidung für sein Siebenmeilenstiefel-Leben getroffen: Ich werde allein unstät in der Welt wandern. An keiner Stelle präzisiert er, warum das Leben ohne Schatten für ihn so wenig lebenswert ist. Das legt einen kühnen Schluss nahe: Es gibt keine Begründung. Das würde auch zu der gewissen Unwirschheit passen, mit der Chamisso auf diese Frage reagiert haben soll.

Gibt es keine textimmanente Notwendigkeit, aber eine generationenübergreifende intuitive Schlüssigkeit des Textes, der zu Folge die Schattenlosigkeit etwas Unanständiges, Anrüchiges, schwer zu Fassendes ist, dann muss die Ursache außerhalb des Textes liegen: gewissermaßen in uns. Eine Disposition, die bereits vor der Lektüre existiert. Es sind die Schatten der Vergangenheit, die ihre subtile Wirkkraft entfalten. Im Lager war ich viele Jahrhunderte gealtert. <…>Zum Schluss ähnelten wir uns wie ein Ei dem anderen, wir waren zu ununterscheidbaren Schatten, waren austauschbar geworden, und so konnte man jeden Tag einige von uns ermorden und durch neue Gefangene ersetzen, ohne dass es auffiel. Die Schatten mit den knochigen Gesichtern sahen alle gleich aus, wir waren nicht mehr wir selbst. Wir waren keine Menschen mehr, sondern nur Angehörige einer Spezies. Das Tilgen der Individualität, das Unsichtbarwerden des Einzelnen in der Menge der Lagerhäftlinge, die Abwesenheit jeder menschlichen Regung bindet Philippe Claudel in Brodecks Bericht metaphorisch an den Schatten. Auch diese Schatten und seine Konnotationen sind Teil des stets mitlaufenden Subtextes.

Die tradierten Deutungsparadigmen weisen eine deutliche Hierarchisierung auf: der Schatten ist negativ, das Licht positiv konnotiert. Wir brauchen den Schatten, um das Licht zu erkennen wie wir die Hölle als angsterfüllten Gegenraum zum Himmel benötigen. Der Schatten wird zum Steigbügelhalter degradiert, gebunden an eine Sphäre der Körperlichkeit, der sinnlichen Wahrnehmung, die es auf dem Weg zur wahren Erkenntnis zu überwinden gilt. Der erkennende Geist korrespondiert mit der Helligkeit, dem Licht. Der Weg ist vorgegeben: aus dem Dunkel der Höhle hinauf ins Helle. So lautet das platonische Postulat. Zugleich attestiert Platon der materiell gebundenen, auf den mimetischen Akt begrenzten Kunst im Gegensatz zum Geist Zweitklassigkeit. Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der anderen Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst.

Dieser platonische Ballast lässt sich nur schwer abschütteln. Aber er kann auf raffinierte Weise kenntlich, ja sichtbar gemacht werden. Walter Rüth eröffnet einen ästhetischen Raum, der Schattenstudien dieser Art ermöglicht. Man könnte auch mit einem Augenzwinkern formulieren: Bei ihm erfahren die Schatten Erlösung.

Aber wenn wir uns aufmachen, jemanden im Innern zu verstehen? Ist
das eine Reise, die irgendwann an ihr Ende kommt? Ist die Seele ein
Ort von Tatsachen? Oder sind die vermeintlichen Tatsachen nur die
trügerischen Schatten unserer Geschichten?
(Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon)

5.

Rüths Fundstätte ist die Welt, so wie er sie vorfindet. Dort bedient er sich. Für das Aufgefundene und sorgsam Präparierte hält er einen neuen Ort parat: einen gänzlich künstlichen. Das gilt für jede seiner grab_art Werkgruppen, auch für die Serie Simply Cuts. An diesem Kunstort – er ist Ermöglichungsgrund – erscheint das Vertraute auf neue Weise: Rüths Fotografien, die Bilder sind, die manchmal wie Fotografien aussehen, obwohl sie zweifellos Fotografien sind, zeigen höchst künstliche Wesen, formuliert Ulrich Schödlbauer. Die künstlichen Schattenwesen scheinen die Betrachter geradezu herauszufordern – in ihrer Präsenz, ihrer Selbstbehauptung, ihrer Forderung nach Respekt. Sie sind mehr als sie vorher waren, als sie noch auf der Straße lagen, über Zäune oder Bänke krochen, sich an Mauern emporwanden. Sie sind auch mehr als die Summe der tradierten Deutungsmuster, die mit ihnen aufgerufen werden – sie sind eigenständig geworden. Diese auf Fotopapier gebannte Eigenständigkeit hat zwei Facetten, folgt man W.J.T. Mitchell: Gemälde (pictures) sind die konkreten, materialen Objekte, in oder auf denen immaterielle Bilder (images) erscheinen. Man kann ein Gemälde (picture) aufhängen, aber man kann kein Bild (image) aufhängen. Das Bild (image) scheint ohne irgendein sichtbares Hilfsmittel zu schweben. Mitchells hierauf basierende Analogie ist gewagt, das räumt er ein, läuft allerdings auf eine bestechende Pointe hinaus. Er entwirft eine kulturelle Ökologie der symbolischen Formen, in der er images mit Gattungen vergleicht, die pictures hingegen als Organismen betrachtet, deren Ausprägung durch die Gattung bestimmt wird. Nach seinem Gedankenexperiment sind images so etwas wie die inneren Bilder, die die Menschheit bewegen, die sich immer aufs Neue in materialen Bildern manifestieren. Er setzt also ein vakantes ideelles Bilderreservoir voraus, das über magische Qualitäten verfügt. Die Bedingung für ein solches Überdauern ist die Kraft des immateriellen Bildes, ja seine Lebendigkeit, seine Vitalität: Wächst es, reproduziert es sich, gedeiht es und verbreitet es sich? Mitchells Formulierung weist den Weg in eine Betrachtung der Bilder als eine Form von Lebewesen: Bilder sind nicht einfach passive Wesen, die mit ihren menschlichen Wirten koexistieren. Sie verändern die Art, in der wir denken, sehen und träumen. Sie funktionieren unsere Erinnerungen und Vorstellungen um, bringen neue Maßstäbe und neue Wünsche in die Welt.

Die Betrachtung von Bildern als Lebewesen hat etwas Betörendes. Der Gedanke der Vitalität, der damit verbunden ist, führt zurück zu Rüths Simply Cuts. Mit leichter Geste, ohne jede Anstrengung, will es scheinen, hat er etwas gebannt, das weit zurückweist und neue Perspektiven eröffnet. Seine Schatten-images leben.

Literatur

GIORDANO BRUNO: Über die Schatten der Ideen, in: Elisabeth von Samsonow (Hg): Giordano Bruno, München 1999
MICHAIL BULGAKOW: Der Meister und Margarita, aus dem Russischen von Thomas Reschke, Berlin 1994
ADELBERT VON CHAMISSO: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte, München 2007 (Nachdruck der Erstausgabe von 1814)
PHILIPPE CLAUDEL: Brodecks Bericht, aus dem Französischen von Christiane Seiler, Reinbek bei Hamburg 2009
SALVADOR DALÍ: Das fotografische Faktum, in: Werner Spies (Hg.): Die surrealistische Revolution, Düsseldorf 2002
PASCAL MERCIER: Nachtzug nach Lissabon, München/Wien 2004
W.J.T. MITCHELL: Bildtheorie (Kapitel 9: übersetzt von Gabriele Schabacher), Frankfurt a.M. 2008
CHRISTIANE NEUDECKER: Wo viel Licht ist, in: Das Siamesische Klavier, München 2010
GAIUS PLINIUS SECUNDUS: Naturgeschichte, übersetzt von Johann Daniel Denso, Rostock und Greifswald 1764
ULRICH SCHÖDLBAUER: Porca Madonna, in: Die Ethik der Nassrasur, Heidelberg 1997
ULRICH SCHÖDLBAUER: Walter Rüth: grab_art http://www.iablis.de/iab2/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=424
WERNER SPIES (HG.): Die surrealistische Revolution, Katalog zur Ausstellung, Düsseldorf 2002
LEW TOLSTOI: Anna Karenina, übersetzt von Rosemarie Tietze, München 2009
JAKOB VON UEXKÜLL: Niegeschaute Welten. Die Umwelten meiner Freunde. Ein Erinnerungsbuch, Frankfurt a. M. 1949 (Erstausgabe 1936)
JAKOB VON UEXKÜLL, GEORG KRISZAT: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Bedeutungslehre (hrsg. von Thure von Uexküll und Ilse Grubrich-Simitis), Frankfurt a. M. 1970

Ausstellung Simply Cuts (2011) in: Grabbeau. Museum im Netz