Vorwort

Wirklichkeit besitzt ein Phantasiepotential: theoretisch, praktisch, selbst technisch sind immer auch andere Zugänge denkbar, Deutungen und Deutungsmöglichkeiten geben sich die Klinke in die Hand, Deutungen der Deutungen konkurrieren gegeneinander und auch die Rede vom Realitätskern erweist sich bei näherem Hinsehen als extrem deutungsbedürftig, sprich kontrovers deutbar. Es ist eine müßige Frage, ob die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft unterschiedliche Wirklichkeiten thematisieren oder unterschiedliche Aspekte der einen Wirklichkeit, wenn es keine Instanz gibt, die diese eine Wirklichkeit zwischen oder hinter all den Aspekten herauszufischen versteht. Was für die Disziplinen gilt, das gilt für jede Art von konkurrierenden Theorien.

Weniger müßig erscheint diese Frage, sobald man lebendige Kulturen in den Blick nimmt, die miteinander um die Gestaltung derselben Wirklichkeit oder Wirklichkeitsinseln konkurrieren oder neue Realitätsräume erzeugen, die in keinem Koordinatensystem sicher verankert sind. Dann werden die einfachsten Fragen z.B. ethischer Art unlösbar oder sie lösen sich unter der Hand, auf Zuruf oder per Handschlag. Manche, auch daran besteht kein Zweifel, werden ausgekämpft und müssen sogar ausgekämpft werden – aber dieses Müssen selbst wird zum Problem, weil es von der jeweils gegnerischen Seite anders interpretiert wird. Selbst die Idee der Zwillingskonkurrenz ist ein Konstrukt und ein Phantasma, an dem teilzuhaben man die andere Seite nur einladen kann. Ob sie die Einladung annimmt oder ausschlägt, bleibt bis zum Schluss ungewiss, ungeachtet aller Regularien, die es dafür gibt.

Die Sprachen der Welt zeichnen nicht nur für die besprochene Welt verantwortlich, sondern auch für jede Art von Sprachlosigkeit. Nirgendwo geht es nur ›um die Sprache‹, in der jemand sich verständigt. Insofern enthält jeder ›Rückgang‹ aufs sprachliche Medium auch einen Kern von Verstummen. Die wichtigen Fragen müssen praktisch beantwortet, die Lösungen nicht nur ›ausgehandelt‹, sondern auch ›umgesetzt‹ werden. Hapert es bei der Umsetzung, so gelten die Antworten über kurz oder lang als wertlos. Das betrifft sogenannte ›nüchterne Realitäten‹ wie die überlebensnotwendige Regulierung von Märkten, die Energie‑, Einwanderungs‑, Bildungs‑ oder Sozialpolitik und natürlich auch das System außen‑ wie innenpolitischer Grundsatzdeklarationen, in denen sich eine Politik und ihre Kommentatoren eingerichtet haben. Es betrifft auch, das nebenbei, Konzepte wie das der Kultur oder der Wissenschaften von ihr, die für intellektuelle und künstlerische Beschäftigung sorgen, von ethischen Höhenflügen ganz zu schweigen. Und es betrifft die wichtigste aller Realitäten, das ›Zukunftspotential‹, das man einer gegebenen Konstellation oder Sache oder Realität zuspricht – oder dem, was man dafür nimmt.

Die Liste der niemals eingetretenen Zukünfte ist lang. Sie pflastern den Weg der Zivilisationen und sind ein wichtiger Teil der Lebenswelt. Gedanken, selbst wertlos erscheinende, werden selten entsorgt, sie geistern durch die als gegeben angenommenen Wirklichkeiten, als seien gerade sie das Wirkliche, das in den Köpfen keine Heimstatt findet. ›Hartnäckige Irrtümer‹ nennt man sie in der Regel, aber auch diese Ärgernis erregende Hartnäckigkeit dient, positiv betrachtet, einem guten Zweck. So wie sie sind, erscheinen sie, alles in allem, als Stellvertreter ausstehender Wahrheiten oder künftiger Wissensformationen in einem Spiel aufeinander folgender, sich überkreuzender und einander nicht zu knapp bekämpfender Gewissheiten, dessen Akteure in der Regel, da institutionell abgesichert, zur Selbstgewissheit neigen, grundlos, wie stets, mit Folgen, wie man sie aus Geschichten kennt.

Auch Unsicherheiten, Unklarheiten, Ungereimtheiten besitzen weltaufschließende Funktion. Und das ist zurückhaltend formuliert. Sie besitzen vielerlei weltaufschließende Funktionen, vom Ungenügen am scheinbar gesicherten Wissen und seiner hypothetischen Vollständigkeit über Material‑ und Ressourcenprobleme und den trickreichen Bedeutungs‑ und Manipulations-Pluralismus der Sprachen und Methoden bis hin zur keineswegs zufälligen oder überflüssigen Interpretationsbreite tradierter und virulenter Glaubenssysteme. Wo gekämpft wird, muss nach Gründen selten lange gesucht werden, obgleich sie nicht immer den angebotenen Deklarationen zu entnehmen sind. Die Widrigkeiten des Denkens und die der Existenz (und der Subsistenz) kommen ohne einander nicht aus, sie fordern einander und fordern einander heraus. Daran darf gedacht werden, wenn ein selbstzufriedener Konstruktivismus und Konzeptualismus ›kein Problem‹ darin findet, Realität einmal so und einmal anders zu interpretieren. Nein, dieses Problem geht nicht weg, es scheint sich kaum vom Fleck zu rühren, es ist ein Jedermanns-Problem, und dies nicht nur aus Motivationsgründen. Philosophie, Literatur, Kunst, Religion partizipieren daran, und das ist wenig gesagt. Sagen wir: sie gehen nicht weg, weil es dieses Problem gibt.

April 2011
Die Herausgeber