Herbert Ammon
In memoriam Walther Rathenau – Was tun
mit einem schwierigen Patrioten?

I.

Was bedeuten deutsche Geschichtsdaten – einschließlich der hinsichtlich der NS-Verbrechen etablierten Gedenkdaten – in einem Land, welches unter permanenter Beschwörung seiner nationalen historischen Verantwortung im Begriffe ist, sich seiner nationalstaatlichen (und nationalhistorischen) Insignien restlos zu entledigen? Beim anstehenden Gedenktag, dem 90. Jahrestag der Ermordung Walther Rathenaus, werden derlei ketzerische Fragen mit Sicherheit nicht zu vernehmen sein. Stattdessen die Formeln der bundesrepublikanischen Geschichtsliturgie: der vorausblickende Europäer Rathenau, der liberale Demokrat Rathenau, als Dreingabe der deutsch-jüdische Patriot Rathenau... Warum sollten sich in der konsumistisch gegenwartsbezogenen Gesellschaft jüngere Generationen von Deutschen, erst recht ›Migranten‹, mit Fragen an die deutsche Geschichte befrachten, von der Tragik des Todes eines Mannes wie Rathenau beeindrucken lassen?

Nichtsdestoweniger ist der 24. Juni 1922 ein Eckdatum, an dem die anscheinend unheilbare Misere deutscher Geschichte exemplarisch hervortritt. Am späten Vormittag des 24. Juni 1922 fuhr Walther Rathenau, auf dem Rücksitz im offenen Wagen, von seiner Villa in Berlin-Grunewald ins Auswärtige Amt. Nach wenigen hundert Metern, an der Ecke Königsallee /Erdener Straße, zog ein schwerer Tourenwagen gleichauf, darin junge Männer in Staubmänteln und Lederkappen. Ein Mann erhob sich und feuerte aus einer Maschinenpistole auf Rathenau, ein anderer warf noch eine Handgranate hinterher, der Wagen jagte davon... Knapp vier Wochen später wurden die Attentäter Kern und Fischer, Freikorpskämpfer aus der Marinebrigade Ehrhardt sowie, nach deren Verbot, Mitglieder des von Ehrhardt dirigierten Geheimbunds O.C. (»Organisation Consul«) auf der Saalburg bei Bad Kösen (damals in der preußischen Provinz Sachsen) gestellt. Kern wurde von der Kugel eines Polizisten tödlich getroffen, worauf sich sein Freund Fischer erschoss. Die ›nationale Rechte‹ Weimars stilisierte die beiden toten Attentäter alsbald in alljährlichen Gedenkfeiern zu nationalen Märtyrern...

Die Ermordung Rathenaus war der vorläufige Endpunkt jener Serie von Attentaten von ›rechts‹, welche im Gefolge der November-Revolution den bürgerkriegsähnlichen Alltag der jungen Weimarer Republik akzentuierten. Keiner der vorausgegangenen Morde und Mordversuche – wenige Wochen zuvor war ein Blausäure-Anschlag auf Philipp Scheidemann missglückt – wühlte das Volk so auf wie der Tod Rathenaus. Im Berliner Lustgarten strömten spontan 200 000 Menschen zusammen, im ganzen Reich kam es zu Massenkundgebungen, in denen für einen Augenblick die schwache Republik neue Energien zu mobilisieren schien. Im Reichstag erhob Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) Anklage: »Einen beredteren Anwalt für die Freiheit des deutschen Volkes hätten sie in ganz Deutschland nicht finden können... Niemals habe ich einen Mann edlere vaterländische Arbeit verrichten sehen als Dr. Rathenau... Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. – Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts.«

Diese Feinderklärung Wirths, verständlich aus der Empörung des Augenblicks, traf auch die gemäßigte Rechte und trug so wiederum nur zur Verschärfung der Atmosphäre bei. Sie erfasste auch nicht die gesamte politische Wirklichkeit der Republik: Die extreme Linke kämpfte nicht minder verbissen gegen die bürgerliche Republik, gegen Klassenverrat und das imperialistische Diktat von Versailles wie die Rechtsradikalen gegen die Novemberverbrecher, die jüdisch-bolschewistische Verschwörung und den Versailler Schandfrieden. Was Rathenau betrifft, so hatte er auch auf der Linken seine Feinde: Auf der Linken, vor allem im Umfeld der USPD, hatte man Rathenau als Kriegsverlängerer beschimpft, das Organisationsgenie dieses Großkapitalisten war den Linken so suspekt wie dessen politischen Reformideen. Sie verübelten ihm Sätze wie: »Den Generalstreik einer besiegten Armee nennen wir Revolution. Die Arbeitsaufnahme einer neuen Versuchsarmee nennen wir deutsche Gegenrevolution«, die er im Juni 1919 unter der Überschrift »Revolution aus Versehen« veröffentlichte. (W.R.: Kritik, S. 13-18; siehe auch W.R. Schriften, S. 311)

II.

Die Rathenau-Mörder kamen von rechts. »Spürten wir doch sehr bestimmt, daß jene Gewalt, die uns trieb, nicht eigentlich unser eigen Wesen war, sondern Ausfluß mystischer Mächte, die zu erkennen der reine Intellekt mit all seinen Methoden nicht ausreichen konnte.« (Salomon, S. 205f.) Mit derlei Sätzen in seinem nach der Haftentlassung verfassten Roman Die Geächteten (1929) suchte der Mittäter Ernst von Salomon (1900-1972) der bösen Tat im Nachhinein eine Art Rechtfertigung zu geben. In dem fiktiven ›Gespräch‹ zwischen ihm, dem zum Zeitpunkt der Tat nicht einmal Zwanzigjährigen, und Erwin Kern legt er diesem Worte in den Mund, die dem Traum von der ›Deutschheit‹ gewisse Konturen geben sollen, in Wirklichkeit Salomons eigene nationalrevolutionären Sentiments zu Beginn einer neuen ›Kampfzeit‹ um 1929 widerspiegeln: antiwestlich und antikapitalistisch (»die Mächte, die sich der Tyrannei des Wirtschaftlichen unterworfen haben«), Sympathien für das bolschewistische Russland. Kern wird als edler, von Todesahnungen beseelter Held vorgestellt, der in Rathenau einen geachteten Feind sieht, »der größer ist als alle, die um ihn stehen«. Rathenaus Tod soll »das Volk in seine Schicksalslinie zwingen«, soll verhindern, dass »dieser Mann dem Volk noch einmal einen Glauben schenke...« (Ibid., S. 209-213). Gemeint war der Glaube an das verhasste System von Weimar.

Die Hintergründe des Mordes sind bis heute nicht ganz aufgeklärt. Martin Sabrow, der mit einer Dissertation über den Rathenau-Mord seinen Ruf als Zeithistoriker begründete, vertritt die These, der Antisemitismus sei nicht das Hauptmotiv der Verschwörer um den Kapitän Ehrhardt gewesen. Diese hätten vielmehr durch eine Serie von Attentaten ›die Roten‹ erneut zu einem revolutionären Aufstand provozieren wollen, um sodann im Gegenschlag ihre eigene Diktatur etablieren zu können – eine ›erfolgreichere‹ Reprise des im März 1920 gescheiterten Kapp-Putsches.

Sabrows Analyse hebt sich ab von der im Dezember 1922 verkündeten Urteilsbegründung des Leipziger Staatsgerichtshofs gegen 13 Beteiligte und kommt der Selbstdeutung Salomons (der während der NS-Ära mit seiner jüdischen Lebensgefährtin liiert blieb) nahe. Offenkundig spielt aber Salomon das antisemitische Moment herunter. Dass Rathenau in extrem rechten Zirkeln als einer der ›Weisen von Zion‹ galt, kehrt bei Salomon nur als ironisch-distanzierte Pointe wieder.

Tatsächlich war die Atmosphäre, in der die Attentatspläne geschmiedet wurden, diesbezüglich aufgeladen: Seit der Novemberrevolution grassierte in ganz Mitteleuropa der Antisemitismus, die von ›weißen‹ Emigranten aus Russland mitgebrachten ›Protokolle der Weisen von Zion‹ zirkulierten in hohen Auflagen. Für alles Unglück, für die nationale Schmach, die über Deutschland mit der Niederlage 1918 hereingebrochen war, hatte man in ›nationalen‹ Kreisen Erklärungsmuster in Form von Verschwörungstheorien parat. Und seit Rathenaus Eintritt in das Kabinett des ›Erfüllungspolitikers‹ Wirth kursierte unter jenen Aktivisten, die sich zur Rettung Deutschlands berufen fühlten, der hasserfüllte Reim: »Haut immer feste auf den Wirth, haut ihn, dass der Schädel klirrt, knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!« (oder in Textvariante: Auch Rathenau, der Walther, erreicht kein hohes Alter. Knallt ab usw.)

III.

Manchen Historikern erscheint der Mord an Rathenau als geradezu zwangsläufig, als unvermeidlicher Zielpunkt seiner Biographie. Schon vor dem Weltkrieg hatte der Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau eine glänzende Rolle gespielt, erfolgreicher Repräsentant des deutschen Judentums in der wilhelminischen Gesellschaft: Großindustrieller und Bankier, Berater der Politik in Berlin, Referent auf internationalen Konferenzen, Autor von Büchern und zahllosen Aufsätzen zu Themen der Politik und der Philosophie. In der Figur des Dr. Arnheim hat Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften Rathenau als allzu elegante, in zu vielen Sujets dilettierende Erscheinung karikiert. Das Bild Musils verdeckt die eigentliche Problematik dieser Persönlichkeit, Rathenau war »zerrissen wie das eigene Volk« (Fritz Stern). Hinter seiner Eitelkeit verbargen sich tiefe Unsicherheit, Einsamkeit und bis ins Pathologische reichende Sensibilität hinsichtlich seiner jüdisch-deutschen Doppelexistenz: »In den Jugendjahren eines deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann«, schrieb Rathenau 1911 in einem als Replik »auf einen Artikel des Herrn Geheimrat...« untertitelten Aufsatz »Staat und Judentum, eine Polemik«. (In: W.R. Schriften, S. 108)

Der Junggeselle Rathenau litt unter seiner Einsamkeit, er warb um Seelenfreundschaft bei seinen Freunden. Diese bewegten sich im Umkreis der von Gobineau, Wagner und Houston Stewart Chamberlain inspirierten völkischen Neoromantik. Gegenüber dem ausgeprägt ›semitisch‹ wirkenden, ›rassefremden‹ Rathenau kultivierte man Vorbehalte. Rathenau reagierte einerseits mit einem Aufsatz »Höre Israel!« (1902), in dem er bei seinen Glaubensgenossen zu geringe Assimilationsbereitschaft sowie patriotische Indifferenz rügte, er verteidigte andererseits sein Festhalten am Judentum. Im Kriegsjahr 1916 beschwor er seinen völkisch gestimmten Freund Wilhelm Schwaner (»Wilm«): »Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches, keinen anderen Stamm, kein anderes Volk als deutsches. Vertreibt man mich von meinem deutschen Boden, so bleibe ich deutsch, und es ändert sich nichts.« (Ibid., S. 114)

Rathenau war nicht frei von Schwächen, in seinen philosophischen Schriften überwiegt der Hang zum hohen Pathos – eine zeittypische Tendenz, die auch den als ›idealistisch‹ empfundenen Nationalismus seiner Freunde kennzeichnet. Zeitlebens fühlte er sich unter einem starken Rechtfertigungsdruck, was ihn nur umso mehr ins Zwielicht rückte. 1912 warnte Rathenau davor, England unnötig herauszufordern und gehörte zu den Kritikern von Tirpitz´ Flottenrüstung. In der Julikrise 1914 hielt er das Ultimatum Österreichs an Serbien für überzogen. Als der Krieg kam, trat er als Leiter der Rohstoffabteilung ins Preußische Kriegsministerium ein, seine Organisationskraft sicherte das Überleben der deutschen Kriegswirtschaft. Rathenau lernte seinerseits Ludendorffs Organisationstalent schätzen, unterstützte dessen Berufung an die Spitze der OHL. Als Mahner zu einem Ausgleichsfrieden, als Warner vor dem Kriegseintritt der USA wurde er den auf ›Siegfrieden‹ setzenden ›vaterländischen‹ Kreisen suspekt. Anfang Oktober 1918, als Ludendorff den Krieg verloren gab und auf schnellstmöglichen Waffenstillstand drängte, behielt Rathenau einen kühlen Kopf. Er schrieb am 4. Oktober 1918: »Der Volkswiderstand, die nationale Verteidigung, die Erhebung der Massen ist zu organisieren.« (Ibid., S. 296)

In seiner 1919 zusammen mit der »Kritik der dreifachen Revolution« veröffentlichten Schrift »Apologie« glaubte Rathenau, sich von diesem Aufruf zu einer »Levée en masse« distanzieren zu müssen, ein psychologischer Fehler. Es war Ludendorff, der im November 1919, als bereits die ›Dolchstoßlegende‹ die Runde machte, vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstags Rathenaus Patriotismus in Zweifel zog. Ludendorff zitierte aus einem der letzten Artikel Rathenaus, in der dieser seine bei Kriegsausbruch gehegten Zweifel hinsichtlich der Führungsqualitäten des Kaisers öffentlich gemacht hatte. Ludendorff unterstellte nun Rathenau, er habe nie an einen deutschen Sieg geglaubt. Das besagte Zitat kehrt bei Salomon in einer gespreizten Selbstreflexion des Attentäters Kern wieder.

Wer Belege für Rathenaus zweifelhaften Patriotismus suchte, wer an sinistere Machenschaften glaubte, der fand sie in Rathenaus Aktivitäten seit der Revolution: Mitgründer der Deutschen Demokratischen Partei, 1919 Berater der Regierung für die Verhandlungen in Versailles, 1920 Mitglied der Sozialisierungskommission, Teilnehmer an den Verhandlungen über die Reparationsfrage, die im ›Londoner Ultimatum‹ vom Mai 1921 gipfelten, wo die Schuldensumme auf 132 Milliarden Goldmark fixiert wurde. Im selben Monat übernahm Rathenau unter Wirth den Posten als Wiederaufbauminister. Als ›Erfüllungspolitiker‹ und Jude zog er nun allen Hass auf sich. Dass die AEG zuvor einige Freikorps finanziert hatte, wollte man nicht wissen.

Welche Rolle spielte der Rapallo-Vertrag, der außenpolitische Erfolg des Außenministers Rathenau, in den Attentatsplänen ? Wiederum führt hier die nachträgliche Stilisierung Salomons, man habe erst jetzt den Mordplan gefasst, um das ›System‹ zum Einsturz zu bringen, in die Irre. Bereits nach seiner Rückkehr aus Genua Anfang Mai 1922 war Rathenau vor Mordplänen – ein katholischer Priester informierte Wirth unter Bruch des Beichtgeheimnisses – gewarnt worden. In einer Mischung aus Fatalismus und Hochmut hatte Rathenau Sicherheitsmaßnahmen abgelehnt.

IV.

Der Mord an Rathenau steht als bedrückendes Zeichen auf dem Weg in die deutsche Katastrophe. Festzuhalten ist hier: Teile der ›nationalen Rechten‹, darunter Leute wie Salomon, entdeckten erst nach dem Mord ihre Vorliebe für deutsche Realpolitik im Zeichen von ›Rapallo‹. Ihre Sympathie galt im Übrigen mehr den Amibitionen des Truppenamtschefs Seeckt als der auf Ausgleich bedachten Politik des ermordeten Außenminister Rathenau. Dessen Patriotismus – Vaterlandsliebe und Vernunft – lernte man in Deutschland erst zu schätzen, als es zu spät war.

Und heute, wo man der Ermordung Rathenaus gedenkt, wird man bemüht sein, dessen historische Größe in die gewünschte Perspektive zu rücken: Rathenau, orientiert auf Verständigung mit dem Westen, habe in Rapallo das Abkommen mit dem sowjetischen Außenkommissar Georgij Tschitscherin nur unter Bedenken unterzeichnet. Richtig. Zur Tragik seines Todes gehört indes noch ein anderes Faktum: Wenige Tage vor dem Attentat dachte Rathenau angesichts der französischen Intransigenz an eine Umorientierung seiner Außenpolitik. Auf einer Zeitung notierte er unmittelbar vor seinem Tode: »Unerfüllbar«. (Speicher)

Literatur

BERGLAR, PETER: Walther Rathenau. Ein Leben zwischen Philosophie und Politik, Graz-Wien-Köln 1987
RATHENAU, WALTHER: Kritik der dreifachen Revolution – Apologie, Nördlingen 1987
DERS.: Walther Rathenau Schriften, mit einem Beitrag von Golo Mann, hrsg. von Arnold Hartung, Berlin 21981
SABROW, MARTIN: Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 1999
DERS.: Die Macht der Erinnerungspolitik, in: Der Tagesspiegel v. 24.06.1997
SALOMON, ERNST VON: Die Geächteten, Reinbek 1975
SPEICHER, STEPHAN: Mann mit zu vielen Eigenschaften, in: FAZ v. 18.12.1993
STERN, FRITZ: »Ich wünschte, der Wagen möchte zerschellen«, in: Die Zeit v. 02.12.1988
STÜRMER, MICHAEL: Ein Visionär der Vernetzung, in: FAZ v. 31.12.1993 (Beilage: Ereignisse und Gestalten)