Herbert Ammon
In memoriam Walther Rathenau – Was tun
mit einem schwierigen Patrioten?

I.

Was be­deu­ten deut­sche Ge­schichts­da­ten – ein­schlie­ß­lich der hin­sicht­lich der NS-Ver­bre­chen eta­blier­ten Ge­denk­da­ten – in einem Land, wel­ches unter per­ma­nen­ter Be­schwö­rung sei­ner na­tio­na­len his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung im Be­grif­fe ist, sich sei­ner na­tio­nal­staat­li­chen (und na­tio­nal­his­to­ri­schen) In­si­gni­en rest­los zu ent­le­di­gen? Beim an­ste­hen­den Ge­denk­tag, dem 90. Jah­res­tag der Er­mor­dung Walt­her Ra­then­aus, wer­den der­lei ket­ze­ri­sche Fra­gen mit Si­cher­heit nicht zu ver­neh­men sein. Statt­des­sen die For­meln der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Ge­schichts­lit­ur­gie: der vor­aus­bli­cken­de Eu­ro­pä­er Ra­then­au, der li­be­ra­le De­mo­krat Ra­then­au, als Drein­ga­be der deutsch-jü­di­sche Pa­tri­ot Ra­then­au... Warum soll­ten sich in der kon­su­mis­tisch ge­gen­warts­be­zo­ge­nen Ge­sell­schaft jün­ge­re Ge­ne­ra­tio­nen von Deut­schen, erst recht ›Mi­gran­ten‹, mit Fra­gen an die deut­sche Ge­schich­te be­frach­ten, von der Tra­gik des Todes eines Man­nes wie Ra­then­au be­ein­dru­cken las­sen?

Nichts­des­to­we­ni­ger ist der 24. Juni 1922 ein Eck­da­tum, an dem die an­schei­nend un­heil­ba­re Mi­se­re deut­scher Ge­schich­te ex­em­pla­risch her­vor­tritt. Am spä­ten Vor­mit­tag des 24. Juni 1922 fuhr Walt­her Ra­then­au, auf dem Rück­sitz im of­fe­nen Wagen, von sei­ner Villa in Ber­lin-Gru­ne­wald ins Aus­wär­ti­ge Amt. Nach we­ni­gen hun­dert Me­tern, an der Ecke Kö­nigs­al­lee /Er­de­ner Stra­ße, zog ein schwe­rer Tou­ren­wa­gen gleich­auf, darin junge Män­ner in Staub­män­teln und Le­der­kap­pen. Ein Mann erhob sich und feu­er­te aus einer Ma­schi­nen­pis­to­le auf Ra­then­au, ein an­de­rer warf noch eine Hand­gra­na­te hin­ter­her, der Wagen jagte davon... Knapp vier Wo­chen spä­ter wur­den die At­ten­tä­ter Kern und Fi­scher, Frei­korps­kämp­fer aus der Ma­ri­neb­ri­ga­de Ehr­hardt sowie, nach deren Ver­bot, Mit­glie­der des von Ehr­hardt di­ri­gier­ten Ge­heim­bunds O.C. (»Or­ga­ni­sa­ti­on Con­sul«) auf der Saal­burg bei Bad Kösen (da­mals in der preu­ßi­schen Pro­vinz Sach­sen) ge­stellt. Kern wurde von der Kugel eines Po­li­zis­ten töd­lich ge­trof­fen, wor­auf sich sein Freund Fi­scher er­schoss. Die ›na­tio­na­le Rech­te‹ Wei­mars sti­li­sier­te die bei­den toten At­ten­tä­ter als­bald in all­jähr­li­chen Ge­denk­fei­ern zu na­tio­na­len Mär­ty­rern...

Die Er­mor­dung Ra­then­aus war der vor­läu­fi­ge End­punkt jener Serie von At­ten­ta­ten von ›rechts‹, wel­che im Ge­fol­ge der No­vem­ber-Re­vo­lu­ti­on den bür­ger­kriegs­ähn­li­chen All­tag der jun­gen Wei­ma­rer Re­pu­blik ak­zen­tu­ier­ten. Kei­ner der vor­aus­ge­gan­ge­nen Morde und Mord­ver­su­che – we­ni­ge Wo­chen zuvor war ein Blau­säu­re-An­schlag auf Phil­ipp Schei­de­mann miss­glückt – wühl­te das Volk so auf wie der Tod Ra­then­aus. Im Ber­li­ner Lust­gar­ten ström­ten spon­tan 200 000 Men­schen zu­sam­men, im gan­zen Reich kam es zu Mas­sen­kund­ge­bun­gen, in denen für einen Au­gen­blick die schwa­che Re­pu­blik neue En­er­gi­en zu mo­bi­li­sie­ren schien. Im Reichs­tag erhob Reichs­kanz­ler Jo­seph Wirth (Zen­trum) An­kla­ge: »Einen be­red­te­ren An­walt für die Frei­heit des deut­schen Vol­kes hät­ten sie in ganz Deutsch­land nicht fin­den kön­nen... Nie­mals habe ich einen Mann ed­le­re va­ter­län­di­sche Ar­beit ver­rich­ten sehen als Dr. Ra­then­au... Da steht der Feind, der sein Gift in die Wun­den eines Vol­kes träu­felt. – Da steht der Feind – und dar­über ist kein Zwei­fel: Die­ser Feind steht rechts.«

Diese Feind­er­klä­rung Wirths, ver­ständ­lich aus der Em­pö­rung des Au­gen­blicks, traf auch die ge­mä­ßig­te Rech­te und trug so wie­der­um nur zur Ver­schär­fung der At­mo­sphä­re bei. Sie er­fass­te auch nicht die ge­sam­te po­li­ti­sche Wirk­lich­keit der Re­pu­blik: Die ex­tre­me Linke kämpf­te nicht min­der ver­bis­sen gegen die bür­ger­li­che Re­pu­blik, gegen Klas­sen­ver­rat und das im­pe­ria­lis­ti­sche Dik­tat von Ver­sailles wie die Rechts­ra­di­ka­len gegen die No­vem­ber­ver­bre­cher, die jü­disch-bol­sche­wis­ti­sche Ver­schwö­rung und den Ver­sailler Schand­frie­den. Was Ra­then­au be­trifft, so hatte er auch auf der Lin­ken seine Fein­de: Auf der Lin­ken, vor allem im Um­feld der USPD, hatte man Ra­then­au als Kriegs­ver­län­ge­rer be­schimpft, das Or­ga­ni­sa­ti­ons­ge­nie die­ses Gro­ß­ka­pi­ta­lis­ten war den Lin­ken so su­spekt wie des­sen po­li­ti­schen Re­form­ide­en. Sie ver­übel­ten ihm Sätze wie: »Den Ge­ne­ral­streik einer be­sieg­ten Armee nen­nen wir Re­vo­lu­ti­on. Die Ar­beits­auf­nah­me einer neuen Ver­suchs­ar­mee nen­nen wir deut­sche Ge­gen­re­vo­lu­ti­on«, die er im Juni 1919 unter der Über­schrift »Re­vo­lu­ti­on aus Ver­se­hen« ver­öf­fent­lich­te. (W.R.: Kri­tik, S. 13-18; siehe auch W.R. Schrif­ten, S. 311)

II.

Die Ra­then­au-Mör­der kamen von rechts. »Spür­ten wir doch sehr be­stimmt, daß jene Ge­walt, die uns trieb, nicht ei­gent­lich unser eigen Wesen war, son­dern Aus­fluß mys­ti­scher Mäch­te, die zu er­ken­nen der reine In­tel­lekt mit all sei­nen Me­tho­den nicht aus­rei­chen konn­te.« (Sa­lo­mon, S. 205f.) Mit der­lei Sät­zen in sei­nem nach der Haft­ent­las­sung ver­fass­ten Roman Die Ge­äch­te­ten (1929) such­te der Mit­tä­ter Ernst von Sa­lo­mon (1900-1972) der bösen Tat im Nach­hin­ein eine Art Recht­fer­ti­gung zu geben. In dem fik­ti­ven ›Ge­spräch‹ zwi­schen ihm, dem zum Zeit­punkt der Tat nicht ein­mal Zwan­zig­jäh­ri­gen, und Erwin Kern legt er die­sem Worte in den Mund, die dem Traum von der ›Deutsch­heit‹ ge­wis­se Kon­tu­ren geben sol­len, in Wirk­lich­keit Sa­lo­mons ei­ge­ne na­tio­nal­re­vo­lu­tio­nä­ren Sen­ti­ments zu Be­ginn einer neuen ›Kampf­zeit‹ um 1929 wi­der­spie­geln: an­ti­west­lich und an­ti­ka­pi­ta­lis­tisch (»die Mäch­te, die sich der Ty­ran­nei des Wirt­schaft­li­chen un­ter­wor­fen haben«), Sym­pa­thi­en für das bol­sche­wis­ti­sche Russ­land. Kern wird als edler, von To­des­ah­nun­gen be­seel­ter Held vor­ge­stellt, der in Ra­then­au einen ge­ach­te­ten Feind sieht, »der grö­ßer ist als alle, die um ihn ste­hen«. Ra­then­aus Tod soll »das Volk in seine Schick­sals­li­nie zwin­gen«, soll ver­hin­dern, dass »die­ser Mann dem Volk noch ein­mal einen Glau­ben schen­ke...« (Ibid., S. 209-213). Ge­meint war der Glau­be an das ver­hass­te Sys­tem von Wei­mar.

Die Hin­ter­grün­de des Mor­des sind bis heute nicht ganz auf­ge­klärt. Mar­tin Sab­row, der mit einer Dis­ser­ta­ti­on über den Ra­then­au-Mord sei­nen Ruf als Zeit­his­to­ri­ker be­grün­de­te, ver­tritt die These, der An­ti­se­mi­tis­mus sei nicht das Haupt­mo­tiv der Ver­schwö­rer um den Ka­pi­tän Ehr­hardt ge­we­sen. Diese hät­ten viel­mehr durch eine Serie von At­ten­ta­ten ›die Roten‹ er­neut zu einem re­vo­lu­tio­nä­ren Auf­stand pro­vo­zie­ren wol­len, um so­dann im Ge­gen­schlag ihre ei­ge­ne Dik­ta­tur eta­blie­ren zu kön­nen – eine ›er­folg­rei­che­re‹ Re­pri­se des im März 1920 ge­schei­ter­ten Kapp-Put­sches.

Sab­rows Ana­ly­se hebt sich ab von der im De­zem­ber 1922 ver­kün­de­ten Ur­teils­be­grün­dung des Leip­zi­ger Staats­ge­richts­hofs gegen 13 Be­tei­lig­te und kommt der Selbst­deu­tung Sa­lo­mons (der wäh­rend der NS-Ära mit sei­ner jü­di­schen Le­bens­ge­fähr­tin li­iert blieb) nahe. Of­fen­kun­dig spielt aber Sa­lo­mon das an­ti­se­mi­ti­sche Mo­ment her­un­ter. Dass Ra­then­au in ex­trem rech­ten Zir­keln als einer der ›Wei­sen von Zion‹ galt, kehrt bei Sa­lo­mon nur als iro­nisch-dis­tan­zier­te Poin­te wie­der.

Tat­säch­lich war die At­mo­sphä­re, in der die At­ten­tats­plä­ne ge­schmie­det wur­den, dies­be­züg­lich auf­ge­la­den: Seit der No­vem­ber­re­vo­lu­ti­on gras­sier­te in ganz Mit­tel­eu­ro­pa der An­ti­se­mi­tis­mus, die von ›wei­ßen‹ Emi­gran­ten aus Russ­land mit­ge­brach­ten ›Pro­to­kol­le der Wei­sen von Zion‹ zir­ku­lier­ten in hohen Auf­la­gen. Für alles Un­glück, für die na­tio­na­le Schmach, die über Deutsch­land mit der Nie­der­la­ge 1918 her­ein­ge­bro­chen war, hatte man in ›na­tio­na­len‹ Krei­sen Er­klä­rungs­mus­ter in Form von Ver­schwö­rungs­theo­ri­en parat. Und seit Ra­then­aus Ein­tritt in das Ka­bi­nett des ›Er­fül­lungs­po­li­ti­kers‹ Wirth kur­sier­te unter jenen Ak­ti­vis­ten, die sich zur Ret­tung Deutsch­lands be­ru­fen fühl­ten, der hass­er­füll­te Reim: »Haut immer feste auf den Wirth, haut ihn, dass der Schä­del klirrt, knallt ab den Wal­ter Ra­then­au, die gott­ver­damm­te Ju­den­sau!« (oder in Text­va­ri­an­te: Auch Ra­then­au, der Walt­her, er­reicht kein hohes Alter. Knallt ab usw.)

III.

Man­chen His­to­ri­kern er­scheint der Mord an Ra­then­au als ge­ra­de­zu zwangs­läu­fig, als un­ver­meid­li­cher Ziel­punkt sei­ner Bio­gra­phie. Schon vor dem Welt­krieg hatte der Sohn des AEG-Grün­ders Emil Ra­then­au eine glän­zen­de Rolle ge­spielt, er­folg­rei­cher Re­prä­sen­tant des deut­schen Ju­den­tums in der wil­hel­mi­ni­schen Ge­sell­schaft: Gro­ß­in­dus­tri­el­ler und Ban­kier, Be­ra­ter der Po­li­tik in Ber­lin, Re­fe­rent auf in­ter­na­tio­na­len Kon­fe­ren­zen, Autor von Bü­chern und zahl­lo­sen Auf­sät­zen zu The­men der Po­li­tik und der Phi­lo­so­phie. In der Figur des Dr. Arn­heim hat Ro­bert Musil im Mann ohne Ei­gen­schaf­ten Ra­then­au als allzu ele­gan­te, in zu vie­len Su­jets di­let­tie­ren­de Er­schei­nung ka­ri­kiert. Das Bild Mu­sils ver­deckt die ei­gent­li­che Pro­ble­ma­tik die­ser Per­sön­lich­keit, Ra­then­au war »zer­ris­sen wie das ei­ge­ne Volk« (Fritz Stern). Hin­ter sei­ner Ei­tel­keit ver­bar­gen sich tiefe Un­si­cher­heit, Ein­sam­keit und bis ins Pa­tho­lo­gi­sche rei­chen­de Sen­si­bi­li­tät hin­sicht­lich sei­ner jü­disch-deut­schen Dop­pel­exis­tenz: »In den Ju­gend­jah­ren eines deut­schen Juden gibt es einen schmerz­li­chen Au­gen­blick, an den er sich zeit­le­bens er­in­nert: wenn ihm zum ers­ten Male voll be­wu­ßt wird, daß er als Bür­ger zwei­ter Klas­se in die Welt ge­tre­ten ist und daß keine Tüch­tig­keit und kein Ver­dienst ihn aus die­ser Lage be­frei­en kann«, schrieb Ra­then­au 1911 in einem als Re­plik »auf einen Ar­ti­kel des Herrn Ge­heim­rat...« un­ter­ti­tel­ten Auf­satz »Staat und Ju­den­tum, eine Po­le­mik«. (In: W.R. Schrif­ten, S. 108)

Der Jung­ge­sel­le Ra­then­au litt unter sei­ner Ein­sam­keit, er warb um See­len­freund­schaft bei sei­nen Freun­den. Diese be­weg­ten sich im Um­kreis der von Go­bi­neau, Wag­ner und Hous­ton Ste­wart Cham­ber­lain in­spi­rier­ten völ­ki­schen Neo­ro­man­tik. Ge­gen­über dem aus­ge­prägt ›se­mi­tisch‹ wir­ken­den, ›ras­se­frem­den‹ Ra­then­au kul­ti­vier­te man Vor­be­hal­te. Ra­then­au re­agier­te ei­ner­seits mit einem Auf­satz »Höre Is­ra­el!« (1902), in dem er bei sei­nen Glau­bens­ge­nos­sen zu ge­rin­ge As­si­mi­la­ti­ons­be­reit­schaft sowie pa­trio­ti­sche In­dif­fe­renz rügte, er ver­tei­dig­te an­de­rer­seits sein Fest­hal­ten am Ju­den­tum. Im Kriegs­jahr 1916 be­schwor er sei­nen völ­kisch ge­stimm­ten Freund Wil­helm Schwa­ner (»Wilm«): »Ich habe und kenne kein an­de­res Blut als deut­sches, kei­nen an­de­ren Stamm, kein an­de­res Volk als deut­sches. Ver­treibt man mich von mei­nem deut­schen Boden, so blei­be ich deutsch, und es än­dert sich nichts.« (Ibid., S. 114)

Ra­then­au war nicht frei von Schwä­chen, in sei­nen phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten über­wiegt der Hang zum hohen Pa­thos – eine zeit­ty­pi­sche Ten­denz, die auch den als ›idea­lis­tisch‹ emp­fun­de­nen Na­tio­na­lis­mus sei­ner Freun­de kenn­zeich­net. Zeit­le­bens fühl­te er sich unter einem star­ken Recht­fer­ti­gungs­druck, was ihn nur umso mehr ins Zwie­licht rück­te. 1912 warn­te Ra­then­au davor, Eng­land un­nö­tig her­aus­zu­for­dern und ge­hör­te zu den Kri­ti­kern von Tir­pitz´ Flot­ten­rüs­tung. In der Ju­li­kri­se 1914 hielt er das Ul­ti­ma­tum Ös­ter­reichs an Ser­bi­en für über­zo­gen. Als der Krieg kam, trat er als Lei­ter der Roh­stoff­ab­tei­lung ins Preu­ßi­sche Kriegs­mi­nis­te­ri­um ein, seine Or­ga­ni­sa­ti­ons­kraft si­cher­te das Über­le­ben der deut­schen Kriegs­wirt­schaft. Ra­then­au lern­te sei­ner­seits Lu­den­dorffs Or­ga­ni­sa­ti­ons­ta­lent schät­zen, un­ter­stütz­te des­sen Be­ru­fung an die Spit­ze der OHL. Als Mah­ner zu einem Aus­gleichs­frie­den, als War­ner vor dem Kriegs­ein­tritt der USA wurde er den auf ›Sieg­frie­den‹ set­zen­den ›va­ter­län­di­schen‹ Krei­sen su­spekt. An­fang Ok­to­ber 1918, als Lu­den­dorff den Krieg ver­lo­ren gab und auf schnellst­mög­li­chen Waf­fen­still­stand dräng­te, be­hielt Ra­then­au einen küh­len Kopf. Er schrieb am 4. Ok­to­ber 1918: »Der Volks­wi­der­stand, die na­tio­na­le Ver­tei­di­gung, die Er­he­bung der Mas­sen ist zu or­ga­ni­sie­ren.« (Ibid., S. 296)

In sei­ner 1919 zu­sam­men mit der »Kri­tik der drei­fa­chen Re­vo­lu­ti­on« ver­öf­fent­lich­ten Schrift »Apo­lo­gie« glaub­te Ra­then­au, sich von die­sem Auf­ruf zu einer »Levée en masse« dis­tan­zie­ren zu müs­sen, ein psy­cho­lo­gi­scher Feh­ler. Es war Lu­den­dorff, der im No­vem­ber 1919, als be­reits die ›Dolch­sto­ß­le­gen­de‹ die Runde mach­te, vor dem Un­ter­su­chungs­aus­schuss des Reichs­tags Ra­then­aus Pa­trio­tis­mus in Zwei­fel zog. Lu­den­dorff zi­tier­te aus einem der letz­ten Ar­ti­kel Ra­then­aus, in der die­ser seine bei Kriegs­aus­bruch ge­heg­ten Zwei­fel hin­sicht­lich der Füh­rungs­qua­li­tä­ten des Kai­sers öf­fent­lich ge­macht hatte. Lu­den­dorff un­ter­stell­te nun Ra­then­au, er habe nie an einen deut­schen Sieg ge­glaubt. Das be­sag­te Zitat kehrt bei Sa­lo­mon in einer ge­spreiz­ten Selbst­re­fle­xi­on des At­ten­tä­ters Kern wie­der.

Wer Be­le­ge für Ra­then­aus zwei­fel­haf­ten Pa­trio­tis­mus such­te, wer an si­nis­te­re Ma­chen­schaf­ten glaub­te, der fand sie in Ra­then­aus Ak­ti­vi­tä­ten seit der Re­vo­lu­ti­on: Mit­grün­der der Deut­schen De­mo­kra­ti­schen Par­tei, 1919 Be­ra­ter der Re­gie­rung für die Ver­hand­lun­gen in Ver­sailles, 1920 Mit­glied der So­zia­li­sie­rungs­kom­mis­si­on, Teil­neh­mer an den Ver­hand­lun­gen über die Re­pa­ra­ti­ons­fra­ge, die im ›Lon­do­ner Ul­ti­ma­tum‹ vom Mai 1921 gip­fel­ten, wo die Schul­den­sum­me auf 132 Mil­li­ar­den Gold­mark fi­xiert wurde. Im sel­ben Monat über­nahm Ra­then­au unter Wirth den Pos­ten als Wie­der­auf­bau­mi­nis­ter. Als ›Er­fül­lungs­po­li­ti­ker‹ und Jude zog er nun allen Hass auf sich. Dass die AEG zuvor ei­ni­ge Frei­korps fi­nan­ziert hatte, woll­te man nicht wis­sen.

Wel­che Rolle spiel­te der Ra­pal­lo-Ver­trag, der au­ßen­po­li­ti­sche Er­folg des Au­ßen­mi­nis­ters Ra­then­au, in den At­ten­tats­plä­nen ? Wie­der­um führt hier die nach­träg­li­che Sti­li­sie­rung Sa­lo­mons, man habe erst jetzt den Mord­plan ge­fasst, um das ›Sys­tem‹ zum Ein­sturz zu brin­gen, in die Irre. Be­reits nach sei­ner Rück­kehr aus Genua An­fang Mai 1922 war Ra­then­au vor Mord­plä­nen – ein ka­tho­li­scher Pries­ter in­for­mier­te Wirth unter Bruch des Beicht­ge­heim­nis­ses – ge­warnt wor­den. In einer Mi­schung aus Fa­ta­lis­mus und Hoch­mut hatte Ra­then­au Si­cher­heits­maß­nah­men ab­ge­lehnt.

IV.

Der Mord an Ra­then­au steht als be­drü­cken­des Zei­chen auf dem Weg in die deut­sche Ka­ta­stro­phe. Fest­zu­hal­ten ist hier: Teile der ›na­tio­na­len Rech­ten‹, dar­un­ter Leute wie Sa­lo­mon, ent­deck­ten erst nach dem Mord ihre Vor­lie­be für deut­sche Re­al­po­li­tik im Zei­chen von ›Ra­pal­lo‹. Ihre Sym­pa­thie galt im Üb­ri­gen mehr den Ami­bi­tio­nen des Trup­pen­amts­chefs Seeckt als der auf Aus­gleich be­dach­ten Po­li­tik des er­mor­de­ten Au­ßen­mi­nis­ter Ra­then­au. Des­sen Pa­trio­tis­mus – Va­ter­lands­lie­be und Ver­nunft – lern­te man in Deutsch­land erst zu schät­zen, als es zu spät war.

Und heute, wo man der Er­mor­dung Ra­then­aus ge­denkt, wird man be­müht sein, des­sen his­to­ri­sche Größe in die ge­wünsch­te Per­spek­ti­ve zu rü­cken: Ra­then­au, ori­en­tiert auf Ver­stän­di­gung mit dem Wes­ten, habe in Ra­pal­lo das Ab­kom­men mit dem so­wje­ti­schen Au­ßen­kom­mis­sar Ge­or­gij Tschit­sche­rin nur unter Be­den­ken un­ter­zeich­net. Rich­tig. Zur Tra­gik sei­nes Todes ge­hört indes noch ein an­de­res Fak­tum: We­ni­ge Tage vor dem At­ten­tat dach­te Ra­then­au an­ge­sichts der fran­zö­si­schen In­tran­si­genz an eine Um­ori­en­tie­rung sei­ner Au­ßen­po­li­tik. Auf einer Zei­tung no­tier­te er un­mit­tel­bar vor sei­nem Tode: »Un­er­füll­bar«. (Spei­cher)

Li­te­ra­tur

BER­GLAR, PETER: Walt­her Ra­then­au. Ein Leben zwi­schen Phi­lo­so­phie und Po­li­tik, Graz-Wien-Köln 1987
RA­THEN­AU, WALT­HER: Kri­tik der drei­fa­chen Re­vo­lu­ti­on – Apo­lo­gie, Nörd­lin­gen 1987
DERS.: Walt­her Ra­then­au Schrif­ten, mit einem Bei­trag von Golo Mann, hrsg. von Ar­nold Har­tung, Ber­lin 21981
SAB­ROW, MAR­TIN: Die ver­dräng­te Ver­schwö­rung. Der Ra­then­au-Mord und die deut­sche Ge­gen­re­vo­lu­ti­on. Fi­scher Ta­schen­buch-Ver­lag, Frank­furt 1999
DERS.: Die Macht der Er­in­ne­rungs­po­li­tik, in: Der Ta­ges­spie­gel v. 24.06.1997
SA­LO­MON, ERNST VON: Die Ge­äch­te­ten, Rein­bek 1975
SPEI­CHER, STE­PHAN: Mann mit zu vie­len Ei­gen­schaf­ten, in: FAZ v. 18.12.1993
STERN, FRITZ: »Ich wünsch­te, der Wagen möch­te zer­schel­len«, in: Die Zeit v. 02.12.1988
STÜR­MER, MI­CHA­EL: Ein Vi­sio­när der Ver­net­zung, in: FAZ v. 31.12.1993 (Bei­la­ge: Er­eig­nis­se und Ge­stal­ten)